Not a member of Pastebin yet?
Sign Up,
it unlocks many cool features!
- Das Ende aller Träume
- Trotz grünem Sozialminister bleibt die von ÖVP und FPÖ beschlossene "Sozialhilfe neu" in Kraft. Was das bedeutet, zeigt sich im türkis-blau regierten Oberösterreich. Wer arm ist, wird jetzt noch ärmer
- NINA HORACZEK
- POLITIK, FALTER 34/20 VOM 19.08.2020
- Für das Land Oberösterreich sind es 275 Euro und 67 Cent. Für Manfred N.* (alle Namen der Redaktion bekannt) das Ende seiner Träume. Der Traum, noch einmal im eigenen Bett zu schlafen. Der Traum, für seine "Mädels" kochen zu dürfen. Gesehen haben die beiden längst erwachsenen Töchter den Vater schon seit Jahren nicht mehr. "Soll ich ihnen sagen:'Kommts den Papa in der Notschlafstelle besuchen!'?", fragt Manfred N.
- Im April 2019 beschloss die damalige Koalition aus ÖVP und FPÖ die sogenannte "Sozialhilfe neu". Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) versprach, "den Zuzug ins Sozialsystem" zu bekämpfen. Statt bisher Mindeststandards in der Sozialhilfe legte Türkis-Blau mit diesem Gesetz Maximalbeträge für Sozialhilfeempfänger fest. Diese müssen seitdem von den Bundesländern umgesetzt werden. Das türkis-blaue Oberösterreich und das türkise Niederösterreich waren die Ersten, die das Gesetz umsetzten.
- In Oberösterreich zeigen sich die Auswirkungen des Gesetzes besonders stark. Gekürzt wird mit dem "Sozialhilfe-Grundsatzgesetz" vor allem bei Zuwanderern und bei Familien mit vielen Kindern. In Oberösterreich verliert eine Familie mit vier Kindern, die Sozialhilfe bezieht, dadurch pro Monat 373,93 Euro. Auch für Manfred N. bleiben jetzt nur 481,63 Euro zum Leben. Für sein Bett im Vierbettzimmer einer Notschlafstelle zahlt er jeden Monatsersten 120 Euro. Das Land Oberösterreich sieht darin einen gemeinsamen Haushalt. Weil er als Bewohner einer Notschlafstelle, die jeden Tag von 18 Uhr bis 7.30 Uhr geöffnet ist, nicht alleinstehend sei, sank seine Sozialhilfe von 917,35 Euro auf 642,15 Euro. Zusätzlich werden ihm 160,54 Euro abgezogen, weil er als Obdachloser keine Miete zahlen müsse. So bleiben Herrn N. nur 481,61 Euro im Monat. Vor der Sozialhilfe neu war es fast das Doppelte. "Wie soll ich mir etwas sparen, um irgendwann eine Kaution leisten zu können?", fragt er.
- Zwar hob der Verfassungsgerichtshof Ende 2019 jenen Teil des Gesetzes, nach dem eine Familie für jedes weitere Kind weniger Sozialhilfe bekommt, auf. Geändert hat das wenig. "In Oberösterreich wurde das Gesetz so repariert, dass kinderreiche Familien unter dem Strich genauso wenig Geld bekommen", kritisiert Josef Pürmayr, Geschäftsführer der Sozialplattform Oberösterreich. Als "Experimentierfeld für Verschärfungen im Sozialbereich" bezeichnet Pürmayr deshalb sein Bundesland.
- Familien sind nicht die Einzigen, die bei der oberösterreichischen Sozialhilfe neu draufzahlen. Thomas G., 26, hat zwei Aufenthalte auf der Psychiatrie hinter sich. Vor einigen Monaten konnte er ein Zimmer in einem Übergangswohnheim beziehen. In seiner betreuten Unterkunft hat Thomas G. sein eigenes Zimmer, kocht sein eigenes Essen, führt sein eigenes Leben. Weil sich die Bewohner aber Küche und Bad teilen, erhält Thomas G. statt der vollen 917,35 Euro Sozialhilfe nur 642,15 Euro. Wieder ein gemeinsamer Haushalt. "Dabei ist diese Wohnform so konzipiert, dass die Menschen keinen gemeinsamen Haushalt führen, sondern lernen, alleine zu leben", sagt seine Betreuerin.
- Einmal pro Woche arbeitet Thomas G. als Billeteur in einem Kino. 81 Euro pro Monat verdient er sich dazu. Als er noch die Mindestsicherung bezog, durfte er das Geld behalten. Jetzt wird es ihm von der Sozialhilfe abgezogen.
- Sie sei "extrem unglücklich" über dieses Gesetz, sagt Oberösterreichs Soziallandesrätin Birgit Gerstorfer (SPÖ). "Es ist unwürdig, was da auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen wird." Weil die Sozialhilfe neu mit den Stimmen von ÖVP und FPÖ beschlossen wurde, bleibe ihr nichts übrig, als das Gesetz umzusetzen, klagt die Soziallandesrätin. Oberösterreich wird türkis-blau regiert. In der Proporzregierung stellt aber die SPÖ die Soziallandesrätin. "Ich würde mir wünschen, dass der Sozialminister dieses Grundsatzgesetz auf Bundesebene klarer definiert", sagt Gerstorfer. Derzeit lasse das Bundesgesetz zu viele Interpretationsmöglichkeiten. "Von Gewalt bedrohte Frauen, die in einem modernen Frauenhaus ein Zimmer mit eigener Kochnische haben, erhalten die volle Sozialhilfe", sagt Gerstorfer. "Landet eine Frau in einem älteren Frauenhaus mit Gemeinschaftsküche, gilt das als ,Haushaltsgemeinschaft' und sie bekommt viel weniger."
- Im grün geführten Sozialministerium sieht man sich dafür nicht zuständig. "Das Land Oberösterreich hat den Spielraum, näher festzulegen, unter welchen besonderen Umständen es sich nicht um eine Haushaltsgemeinschaft handelt", sagt die Sprecherin von Sozialminister Rudolf Anschober (Grüne). Eine Änderung des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes sei im türkis-grünen Regierungsprogramm nicht vorgesehen. An dieser Frage waren die Grünen in den Regierungsverhandlungen gescheitert.
- Deshalb bekommt Dschawad keine Schultasche. Und das, obwohl er bald seinen ersten Schultag hat. Dschawad, seine drei älteren Schwestern und seine Eltern leben in Wels. Die Familie stammt aus Afghanistan und hat vor 13 Jahren subsidiären Schutz bekommen. Weil eine Rückkehr in ihre Heimat derzeit lebensgefährlich ist, dürfen sie in Österreich bleiben.
- Jahrelang arbeitete der Vater in einer Reinigungsfirma, die Mutter kümmerte sich um die Kinder. Doch vor sieben Jahren fuhr ein Auto Herrn Akram nieder. Es folgten viele Operationen, noch mehr Schmerzen, in die Knochen geschraubte Metallplatten und Hände, die ihm bis heute nicht gehorchen. Zur Krankheit gesellte sich eine schwere Depression. Eine Zeitlang sorgte Frau Akram für das Familieneinkommen. Doch im Oktober 2019 verlor auch sie ihren Job.
- Subsidiär Schutzbedürftige verlieren bei Arbeitslosigkeit den Anspruch auf Familienbeihilfe. Zwar erhält Frau Akram Notstandshilfe, weil sie lange genug gearbeitet hat. Sozialhilfe gibt es für die Familie aber keine. Und damit auch keine Schultasche für Dschawad aus dem Schulstartpaket des Sozialministeriums. "Voraussetzung für den Anspruch auf ein Schulstartpaket stellt ein Mindestsicherungs-beziehungsweise Sozialhilfebezug im Haushalt dar", sagt die Sprecherin des grünen Sozialministers. Als subsidiär Schutzberechtigte haben Dschawads Eltern auf beides keinen Anspruch mehr. Obwohl im Sozialhilfe-Grundsatzgesetz klar definiert ist, dass subsidiär Schutzbedürftige künftig nicht mehr Unterstützung bekommen dürfen als Asylwerber, heißt es aus dem Büro von Minister Anschober (Grüne), den Ländern sei es freigestellt, diese Personengruppe "über das System der Sozialhilfe abzusichern".
- 280 Euro bleibt der Familie jeden Monat für die sechsköpfige Familie von der Notstandshilfe übrig, nachdem sie Miete und Strom bezahlt hat. Eine Schultasche soll Dschawad trotzdem kriegen. "Ich werde wieder Schulden bei Bekannten machen", sagt seine Mutter. Wie fast jeden Monat. Denn auch die Nachmittagsbetreuung für ihre Kinder muss sie zur Gänze zahlen, eine Ermäßigung erhalten nur Sozialhilfebezieher. 500 Euro spart sich die Familie jeden Monat dafür ab. "Ich muss sie doch in die Betreuung schicken, weil ich ihnen bei den Hausaufgaben nicht helfen kann", sagt Frau Akram.
- Die Familie Akram sei mit ihrem Problem nicht allein, sagt Magdalena Danner vom Verein Migrare in Linz. An die 10.000 subsidiär Schutzberechtigte leben in Österreich. Geraten sie in Not, droht vielen subsidiär Schutzberechtigten die Rückkehr in ein Flüchtlingsquartier. "Da müssen Menschen, die sich hier ein eigenes Leben aufgebaut haben, zurück in eine Flüchtlingsunterkunft, die langfristig keine menschenwürdige Wohnsituation darstellt", kritisiert Danner. Speziell für Kinder sei das kein Umfeld, in dem sie sich entwickeln und entfalten können. "Retraumatisierungen, Ängste und Integrationsverhinderung stehen so an der Tagesordnung." Gerade in Zeiten von Corona seien Migranten besonders von Arbeitslosigkeit betroffen.
- Der gelernte Maurer Manfred N. wird in diesem Leben keinen Job mehr finden. Vor wenigen Wochen hat er seinen 60er gefeiert. Mit Dosenbier im Park vor dem Linzer Bahnhof. "Man wird ja nur einmal im Leben 60", sagt er. Mehr als Dosenbier ging sich selbst zu seinem Festtag nicht aus. Einen großen Traum hat er aber noch: einmal noch eine eigene Wohnung. "Sie muss nicht groß sein. Nur so groß, dass ich meine Kinder zum Essen einladen kann."
- Bei der Familie Akram in Wels hat es sich ausgeträumt. "Meine Kinder sind klug. Sie haben keine Wünsche. Sie wissen, dass wir uns nichts leisten können", sagt Frau Akram. Bleiben ihr ein paar Cent vom Einkaufen übrig, kommen sie in eine kleine Schatulle, den Schatz der Kinder. So haben sie zumindest ein bisschen das Gefühl, auch Taschengeld zu kriegen. Normalerweise gibt es für ihre Kinder nur das Gewand, das die Mutter mit der Hand aus günstig gekauften Stoffen näht. Ist der Cent-Berg in der Schatulle genug angewachsen, ziehen die Mädchen gemeinsam los. "Wenn sie genug Taschengeld beisammenhaben, leisten sie sich beim H&M ein schönes Kleid, das alle drei abwechselnd tragen."
- Ihre Kinder seien fleißig und lieben die Schule, schwärmt die Mutter. Nur an einem Tag wollen die Kinder zu Hause bleiben. "Vor dem ersten Schultag fürchten sie sich", erzählt Frau Akram. Da berichten alle Mitschüler von ihren Ferienerlebnissen. "Nur meine Kinder, die haben nichts zu erzählen."
Advertisement
Add Comment
Please, Sign In to add comment