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- Deutsche Bahn
- Die Zerstörer
- Nein, die Deutsche Bahn hat sich nicht selbst ins Desaster manövriert. Dieses historische Versagen besorgte wesentlich eine einzige Partei: die CSU. Eine Abrechnung.
- Von Holger Gertz
- 21. April 2023 - 8 Min. Lesezeit
- Bahnfahren im Jahr 2023 ist vor allem ein fortgesetzter Vermeidungsprozess. Der routinierte Reisende weiß: Stress und Warterei können am besten dadurch vermieden werden, dass schon bei der Routenplanung auf die Vermeidung von Umstiegen geachtet wird. Das ist das Wichtigste, denn wenn die erste Bahn schon verspätet ist, wird er den sogenannten Anschluss nicht kriegen, dann muss er auf dem Weg etwa von Bremen nach München in Hannover ewig auf die nächste Verbindung warten. Nichts gegen Hannover Hbf. Aber wer dort größere Teile seiner Lebenszeit wartend verplempert und mittlerweile von jeder Bahnhofstaube mit Umarmung und Gimme four begrüßt wird, weil er halt schon hundertmal sein Le-Crobag-Croissant mit ihr geteilt hat, der ist offen für Alternativen und findet im aktuellen Fahrplan ja auch Routen übers Ruhrgebiet. Dauert ewig lange, dafür ist kein Umstieg nötig. Das ist das Kriterium, nach dem im Jahr 2023 eine Fahrt mit der Deutschen Bahn zu buchen ist: mögliche Übel gegeneinander abzuwägen und sich dann für das kleinste zu entscheiden. Denn heftig wird es sowieso.
- Vergangenen Montag also, ICE 613 von Bremen nach München, Abfahrt 14.44 Uhr, geplante Reisezeit irrsinnige acht Stunden und acht Minuten – eine Fahrzeit, die durch Deutschland Reisende aus etwa Frankreich oder Spanien in schiere Fassungslosigkeit stürzt: Ist dieses Deutschland womöglich gar kein modernes Land?
- 8 Stunden 8 Minuten also. Aber: kein Umstieg.
- Bahnhass bringt nichts. Man muss sich schon die Verantwortlichen vorknöpfen
- Doch dann fährt der ICE 613 schon zwanzig Minuten verzögert ab, wegen „Verspätung aus vorheriger Fahrt“, irgendwas ist wieder kaputt. Auch danach macht die Bahn ihrem Ruf als Witzbetrieb jede Ehre, „it’s a classic“, würde Beckenbauer sagen, der alte Hubschraubermitflieger. Das Bordbistro ist dicht, „aufgrund eines kurzfristigen Personalausfalls“, knarzt die Lautsprecherstimme, bevor man sie, irgendwas anderes ist jetzt kaputt, auf Höhe Osnabrück nur noch abgehackt hören und also nicht mehr verstehen kann. Hinter Dortmund ist das Bistro geöffnet, einen Cappuccino gibt es nicht, ein Mitarbeiter des Bistros federt durch die Gänge und gibt den hinreißenden Satz zu Protokoll, dass in diesem ICE leider „ein bisschen Milchmangel“ herrsche.
- Foto: Imago
- Dann: Umleitung zwischen Stuttgart und Ulm, ein Notarzteinsatz, immer bitter, am Ende kommt der ICE 613 kurz nach Mitternacht mit 74 Minuten Verspätung in München an. Der Bordlautsprecher entlässt die Passagiere mit einer vertraut gewordenen Formel in die Nacht: „Für die entstandenen Unannehmlichkeiten bitten wir um Entschuldigung.“
- Sich am Ende so einer Reise über Ansagen aufzuregen, ist allerdings eine Wutumleitung, psychologisch erklärbar. Jemand, dem größere Zusammenhänge zu abstrakt vorkommen (oder der zu bequem ist, sie sehen zu wollen), richtet seine Aggression auf Näherliegendes. Menschen, die während der Pandemie gegen das Coronavirus hätten geifern müssen, geiferten gegen Maßnahmen des angeblich bevormundenden Staates, sie suchten sich kleinere, erreichbare Ziele, dann fühlten sie sich gleich nicht mehr so ohnmächtig. Bei der Bahn sind diese Ziele Fahrkartenkontrolleurinnen, die sich bepöbeln lassen müssen, oder Zugbegleiter, die „To Zwiggau goes no train today“ sagen oder den Klassiker: „We wish you a very good Johnny“. Es gibt Bücher, mittlerweile fast Regalmeter davon, in denen solche Ansagen ausgebreitet werden, im Spätkapitalismus lässt sich alles zu Geld machen, auch Bahnhass. Aber das schlechte Englisch von Schaffnern zu behämen, ist auch nur eine Verlagerung einer Wut, die andere verdient hätten, nämlich die, die verantwortlich sind.
- Klarer Auftrag: Menschen und Zeug von hier nach da bringen. Einfach komplett ignoriert
- Der größere Zusammenhang: die Bahnreform von 1994. Die gute alte Bahn ist seitdem wie ein Privatunternehmen aufgestellt, einerseits dem Gemeinwohl verpflichtet, andererseits auf Börsenfitness getrimmt und also gewinnorientiert. Deshalb gab es in den Jahren und Jahrzehnten nach der Privatisierung: die Schließung von Bahnhöfen, den massiven Personalabbau, das zentrale öffentliche Reisemittel wurde auf Verschleiß und so direkt gegen die Wand gefahren. In der Hitze der Profitgier verdrängt wurde, dass eine Bahn Menschen und Zeug von hier nach da bringen soll, das ist ihr Sinn und Zweck. Stattdessen: wurde bei Auslandsgeschäften Geld verbrannt, in Deutschland nur noch auf rentable Strecken gesetzt, etliche Groß- und Mittelstädte wurden vom Fernverkehr einfach abgehängt, Gleise zurückgebaut, die Anzahl der Weichen praktisch halbiert. Gibt es keine Weichen mehr, kann ein Zug nicht mehr – Achtung – ausweichen, wenn ein vor ihm fahrender Zug liegen geblieben ist. Dann bleibt, siehe ICE 613 von Bremen nach München, das Bistropersonal des einen Zuges im anderen Zug hängen. Es ist der größere Zusammenhang. Aber es ist im Detail immer wieder auch ganz simpel.
- Nämlich so: Die Deutsche Bahn, privatwirtschaftlich organisiert, aber zu 100 Prozent in Staatsbesitz, ist von politischen Entscheidern in den erbärmlichen Zustand versetzt worden, in dem sie jetzt ist. Und wesentlich verantwortlich für den Zustand der Bahn sind die Bundesverkehrsminister – in den für die Verkehrswende wegweisenden Jahren 2009 bis 2021 waren das, in der Reihenfolge ihres Auftretens, Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt, sehr kurz Christian Schmidt, Andreas Scheuer. Alle von der CSU, alle aus Bayern, es sind alle sehr selbstbewusste, für Kritik kaum empfängliche Super-Egos, wie sie die CSU seit Jahren und Jahrzehnten in beachtlicher Schlagzahl respektive Taktung hervorbringt. Früher in der ziegenledernen Variante, heute in der maßgeschneiderten, à la Andi Scheuer. „Wir brauchen einen Wow-Effekt bei der Bahn, keinen Oh-no-Effekt“, hat Scheuer mal bei der Präsentation eines neuen ICE gesagt. Die Art, in der jemand redet, erzählt nun aber immer auch was über die Art, in der derjenige denkt. Und wer die Bahnprobleme in Comicsprache erfasst, wer beim Reden klingt, als würde er parallel auf einen Soundbuzzer hämmern, ist seinem Amt überhaupt nicht gewachsen. Denn er hat nicht im Ansatz begriffen, worum es geht.
- Worte reichen nicht aus, um das Desaster zu vermessen, man muss mal wieder in die Zahlen gehen, sie werden ganz nüchtern geliefert vom Unternehmen selbst, aber auch vom Netzwerk Europäischer Eisenbahnen (NEE) oder vom Verkehrsbündnis Allianz pro Schiene. Verschiedene Initiativen widmen sich der Bahn seit Jahrzehnten, warnen seit Jahrzehnten vor den Entwicklungen, aber die Bundesverkehrsminister von der Hochleistungspartei CSU waren taub bei jedem Alarm. Oder es war ihnen, gut bayerisch, grad wurscht – und jetzt alles auf die Bahnchefs abzuwälzen, funktioniert auch nicht, die Bundesregierung hätte über den Aufsichtsrat ja jederzeit eingreifen können.
- Bei den Investitionen in die Schiene liegen wir so weit hinten wie im Eurovision Song Contest
- Also, Zahlen bitte: Schon 2018 kam heraus, dass die Bahn 16 Prozent ihrer Schienen stillgelegt hat, auf aktuell gut 33 000 Kilometer. Es wurde abgebaut statt ausgebaut – anders natürlich auf der Straße. Von 2018 bis 2021 seien nur 67 Kilometer Schiene neu in Betrieb genommen worden, bilanzierte zum Ende von Scheuers Dienstzeit das NEE. „Zum Vergleich: Der Zubau von Straßen beträgt deutschlandweit (...) jährlich rund 10 000 Kilometer.“
- Der Bundesverkehrsminister Dobrindt, geboren im oberbayerischen Peißenberg, hat während seiner Amtszeit für Verkehrsprojekte in seiner Heimatregion die Finanzierung organisiert, etwa für eine Ortsumfahrung mit Tunnel in Oberau, Kosten: mehr als 200 Millionen Euro. Der Bürgermeister des Ortes wusste, wem zu danken war, und hatte zum Spatenstich ein Schild dabei, auf dem „Alexander-Dobrindt-Tunnel“ stand, der Münchner Merkur promovierte den Minister zum „Tunnelgott“.
- Noch ein paar Zahlen? Während andere europäische Länder ihre Bahnen seit Jahren für die Zukunft und den dringend benötigten Verkehrswandel ausstatten, investierte Deutschland in die Bahn in peinlichem Ausmaß. Staatliche Investitionen in die Schieneninfrastruktur: 2012 (Dienstzeit Ramsauer) gab Spitzenreiter Schweiz 349 Euro pro Bürger aus, Österreich 258 Euro, Deutschland 51 Euro. 2016 (Dienstzeit Tunnelgott Dobrindt): Schweiz 378 Euro, Österreich 198 Euro, Deutschland 64 Euro. 2021 schließlich (Dienstzeit Scheuer): Luxemburg 607 Euro, Schweiz 413 Euro, Deutschland im Vergleich mit ausgewählten europäischen Ländern wieder sehr weit hinten, Eurovision-Song-Contest-artig auf dem viertletzten Platz, 124 Euro.
- Foto: Imago
- Deutsche Verkehrspolitik ist immer noch wesentlich: Straßenverkehrspolitik. Ramsauer, Dobrindt und Scheuer könnten, prioritätengemäß, auch als „die Drei von der Tankstelle“ in die verkehrspolitische Geschichte eingehen.
- Zum folkloristischen Verständnis der Angelegenheit gehört, man hört und liest es manchmal, dass die Deutschen nun mal ihre Autos lieben, die Schweizer dagegen aber ihre Züge. Als wäre das naturgegeben, in der Schweiz, wo ja – Bahn-Aficionados wissen es – der Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr nicht zufällig so aussieht wie jene Schaffnerkelle, mit der früher die Eisenbahnen dirigiert wurden. Und wo die Züge 2022 eine Pünktlichkeitsquote von 92, 5 Prozent hatten. Deutschland: 65,2 Prozent.
- Übrigens: Nur wenige von uns werden noch leben, wenn die Bahn wieder funktioniert
- Tatsächlich sind die Züge in der Schweiz aber gar nicht pünktlich, weil in der Schweiz auch so viele Uhren produziert werden, weil die Kühe auf der Wiese so freundlich den Zügen hinterherwinken und weil das eine halt gefühlt zum anderen passt. Es geht gar nicht um Gefühle – es geht um Fakten. Tatsächlich sind die Züge in der Schweiz so pünktlich, weil in die Bahn investiert wird, mehr und entschlossener und also zukunftsorientierter als in Deutschland, das kein Bahnland ist, sondern ein Jammerland. Wo man im Netz die Außenministerin dafür hinhängt, dass sie immer ebend sagt statt eben. Nur wirken sich solche Sprachschnitzer auf das Leben der Bürger nicht aus, nicht mal Guttenbergs zusammengeklebte Doktorarbeit hat sich auf das Leben der Bürger ausgewirkt.
- Die Bahnpolitik in Deutschland und also maßgeblich die Tätigkeit von Ramsauer, Dobrindt, Scheuer wirkt sich dagegen maximal aufs Leben der Bürger aus. Ein zentrales Verkehrsmittel for the people ist heruntergewirtschaftet worden. Es ist, als wären die Krankenkassen nur noch eingeschränkt nutzbar. Man muss diese Unfassbarkeit ruhig mal auf sich wirken lassen, wenn man auf einem Bahnhof rumsteht, wartend: Dass jetzt so viel gebaut und geflickt wird bei der Bahn, ist nicht „die Schuld“ vom amtierenden Verkehrsminister Wissing, der halt gerade etwas bequem weggehasst wird – es ist die Folge jahrzehntelanger Schlamperei. Aus dem Bericht des Bundesrechnungshofs 2019: „Das an Kapazitätsgrenzen stoßende Schienennetz ist marode.“
- Die Deutsche Bahn befindet sich durch das wesentliche Wirken der Herren Ramsauer, Dobrindt und Scheuer in einem nahezu irreparablen Zustand, die derzeit laufende „Generalsanierung“ ist auf etwa vier Jahrzehnte veranschlagt. (Hoffentlich kommt es nicht zu Verspätungen.) Das Fahrplan-Modell aus der Schweiz sollte bis 2030 nach Deutschland übertragen werden, nun ist die Zielvorgabe für den Deutschlandtakt bis 2070 verschoben wurden. Zwanzigsiebzig! Dann ist der junge Fußballspieler Jamal Musiala 67. Billie Eilish, 69, geht dann hoffentlich noch einmal auf Welttournee. Zwanzigsiebzig bedeutet auch, dass sehr, sehr viele Leserinnen und Leser keine funktionierende Deutsche Bahn mehr erleben werden. Politisches Vollversagen lässt sich selten klarer erkennen an jedem einzelnen Tag, an dem man in Hannover oder sonst wo dicke Tauben betrachtet.
- Die Drei von der Tankstelle haben also ganze Arbeit geleistet. Ums mal mit dem Scheuer Andi zu sagen: Wow.
- Team
- Text Holger Gertz
- Digitales Storytelling Niklas Keller
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