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Guest User

Untitled

a guest
Jun 24th, 2017
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  1. Morgens aufzuwachen ist für mich jeden Tag als würde ich mich aus meinem Grab freiwühlen. Es geht mir nicht schlecht, aber meine Träume sind in den meisten Nächten derart abgefahren, dass sie loszulassen ein ziemlicher Gewaltakt ist.
  2. Eigentlich eher das Gegenteil, denn loslassen braucht keine Kraft. Das klingt wieder falsch. Macht nachdenklich. Papa nannte das immer Gedankenkäfige. Egal, ob du dem kleinsten Floh oder dem stärksten Mann eine Falle stellen und ihn einfangen willst, bring' den Gedanken zum Vorschein, aus dem sie nicht mehr rauskommen.
  3. Und mit sowas spielen meine Gedanken wiederum herum, noch ehe ich einen Fuß auf den Boden gesetzt habe. Siehst du, was diese frühen Morgen mit mir machen? Gerade deshalb: ganz langsam und nichts überstürzen.
  4. Ich wache auf, noch bevor ich beurteilen kann, ob der weg schon längst oder noch lange nicht geklingelt hat. Vor dem Fenster singt ein Vogel – weder sonderlich penetrant, noch störend – und davon bin ich sicher aufgewacht. Die Sonne sticht mir in die Augen, sobald ich blinzle. Fensterwand, Ostseite; Liegt gegenüber der Tür und dazwischen einen schmalen länglichen Raum aufspannt. Ein Schrank, zwei schlichte Regal und ein verzettelter Schreibtisch. Und ein zu enges Bett, in dem ich mich gerade herumwälze. Mein Zimmer trägt in meinem Kopf, seit ich eingezogen bin, den Namen Licht am Ende des Tunnels. Findet seltsamerweise keiner sonderlich originell.
  5. Der Wecker zeigt Acht nach Sechs. Das liegt zwar zwei Stunden vor dem programmierten Alarm, aber lässt dir genug Zeit, um mich an einem potenziell spektakulären Morgen kennenzulernen und nicht direkt die alltägliche Katastrophe zu erleben. Willkommen im Zirkus. Genieß' die Verwandlung.
  6.  
  7. Ich rolle nicht so grazil wie gewünscht von der Bettkante auf den Fußboden und werfe den Bademantel um, der mit einer großen Schottlandflagge gemustert ist. Rabe liegt mit ihrem gewohnten Gewicht in der Tasche – sie dort zu platzieren, bevor ich abends ins Bett falle, ist das einzige in meinem Tagesablauf, was ich noch nie vergessen habe. Ich erwecke sie zum Leben, während mein Körper auf Autopilot das Bad ansteuert. Sie kräht und glüht mir entgegen.
  8. Rabe ist eigentlich nur ein Smartphone. Sie ist mein Smartphone. Sie ist genauso lebensnotwendig wie alle Dinge, die «eigentlich nur» irgendetwas sind. Ohne sie müsste ich mich an alles allein erinnern und würde folglich alles vergessen. Ich habe gern meinen Geist frei zum Denken, meine Sinne aufmerksam und mein Bewusstsein so selbstbewusst wie möglich. Gedächtnis lässt sich auslagern. Ich würde dir von meinem traurigen Leben erzählen, bevor ich Rabe bekam; aber stattdessen erlaube ich mir einfach den naheliegenden Witz: Ich mich daran kaum noch erinnern kann.
  9. Ich sehe den Mann im Spiegel eindringlich an, steige keine fünf Minuten unter die Dusche und verbringe danach fast eine halbe Stunde damit die Frisur wiederherzustellen, mit der ich davor aus dem Bett kam. Ich brauche mich nicht zu rasieren, da meine Gene es kaum zulassen. Ich werfe Scotty wieder über und schlendere blendend wach zurück in mein Zimmer.
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