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AzwarTrapYT

Untitled

Dec 8th, 2020
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  1. Inhalt
  2.  
  3. Der Vater reitet in der Nacht mit seinem kranken Jungen zurück zum Hof durch einen magischen und gespenstischen Erlenbruchwald (woraus sich vermutlich das Wort "Erlkönig" ableitet). Das Kind leidet dabei an zunehmend schweren Halluzinationen, bei dem ihm immer wieder der bedrohlich anmutende Erlkönig erscheint und ihn in sein Reich zu seinen Töchtern locken will. Der Vater versucht den Jungen zu beruhigen und beeilt sich nach Hause zu kommen. Die rechtzeitige Rückkehr misslingt und das Kind verstirbt in seinen Armen.
  4.  
  5. Interpretationsansätze
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  7. Es gibt im Wesentlichen 3 Interpretationen:
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  9. Interpretation A) Die offensichtliche Interpretation ist praktisch deckungsgleich mit der Inhaltsangabe, nämlich dass der Junge unter Fieber o.ä. leidet und schließlich im Wahn verstirbt.
  10.  
  11. Interpretation B) Eine andere Interpretation ist, dass der Junge Opfer sexuellen Missbrauchs durch seinen Vater ist. Dabei ist der Vater zweigesichtig zu betrachten: Es gibt den missbrauchenden Vater (den Erlkönig) und es gibt den guten und beschützenden Vater, der die Folgen seines Missbrauchs schön redet, indem er seinen Jungen beruhigt.
  12.  
  13. Interpretation C) Die dritte Variante ist, dass der Erlkönig für die beginnende pubertäre Lust des Knabens steht, der versucht ihn mit erotischen Fantasien in sein Reich zu locken. Der Junge verliert seine Unschuld und seine Kindheit. Der Tod des Jungens steht dabei für den endgültigen Übertritt in die Erwachsenenwelt, in die Sexualität und der Ablösung von der Familie. Der Vater versucht dies zu verhindern, indem er ihn rechtzeitig ins elterliche Heim zurückbringen will, aber die aufkommenden männlichen Triebe des Jungen sind unaufhaltsam.
  14.  
  15. Alle 3 zuvor genannten Interpretationen gehen davon aus, dass der Erlkönig reine Fiktion des Jungen ist und in Wirklichkeit nicht existiert. Ein weiterer, aber selten beachteter Interpretationsansatz ist, die Erscheinung des Erlkönigs nicht nur der Einbildung des Jungen zuzuschreiben, sondern als physisches Erlebnis zu betrachten.
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  19. Die Ballade »Der Erlkönig« stammt aus der Feder von Johann Wolfgang von Goethe und wurde im Jahr 1782 als Einlage für das Singspiel »Die Fischerin« verfasst. Für die Ballade, die der literarischen Epoche von Sturm und Drang zuzuordnen ist, bediente sich Goethe an einer dänischen Volkssage, die sich um den »Ellerkonge«, zu deutsch »Elfenkönig«, dreht. In der Ballade »Der Erlkönig« beschreibt der Dichterfürst den nächtlichen Ritt eines Vaters mit seinem kranken Sohn. Während des Ritts durch den Wald beginnt der Sohn in den Armen seines Vaters zu fantasieren, indem er die Figur des Erlkönigs wahrnimmt. Dieser möchte den Sohn mit Versprechungen in sein Reich locken, woraufhin der Junge Angst bekommt. Der Vater möchte seinen Sohn dadurch beruhigen, dass er die Wahrnehmungen seines Sohnes als harmlose Naturphänomene erklärt. Im Verlauf der Ballade steigert sich der Zugriff des Erlkönigs auf den Jungen jedoch, bis dieser schlussendlich tot in den Armen seines Vaters liegt.
  20.  
  21. Rein formal betrachtet besteht die Ballade aus acht Strophen mit jeweils vier Versen. Diese weisen einen durchgehenden Paarreim mit dem Reimschema »aabb« auf, was den dialogartigen Charakter der Ballade unterstreicht. Dieses Schema wird insbesondere in den Strophen 2, 4 und 6 sichtbar. Auffallend ist allerdings, der wechselnde inhaltliche Aufbau dieser Strophen. Während die einzeiligen Aussagen des Vaters in V. 5 und V. 8 die zweizeilige Aussage des Sohnes in V. 6/7 wie eine schützende Hülle umschließen, ändert sich dies in den Strophen 4 und 6. Sowohl der Vater als auch der Sohn wechseln sich nun in einem jeweils zweizeiligen Dialog ab. Der Sohn eröffnet die Strophe dabei jeweils mit der Frage danach, ob der Vater den Erlkönig nicht auch wahrnimmt (V. 13/14, V. 21/22). Der Vater hingegen erklärt die Wahrnehmungen seines Sohnes rational mit Naturphänomenen. Dies ist typisch für Goethe, der als einer der ersten Dichter naturmagische Balladen verfasste, die den Konflikt zwischen dem Volksglauben und dem aufgeklärten Menschen behandeln. Im Erlkönig übernimmt der Sohn die Rolle des für die Magie der Natur empfänglichen einfachen Menschen und der Vater die Position des rational denkenden Menschen der Aufklärung.
  22.  
  23. Was auf den ersten Blick wie ein Fiebertraum des Sohnes wirkt, der den Konflikt zwischen einem alten und einem neuen Naturverständnis widerspiegelt, hat allerdings noch eine deutlich tiefere Ebene. Dies wird sowohl anhand der Wortwahl als auch durch die verwendeten Stilmittel deutlich. Das gilt vor allem für die Schlüsselworte Vater, Kind, Sohn, Mutter und Töchter, die die Mitglieder einer typischen Familie beschreiben. Da diese Schlüsselworte meist in Verbindung mit dem Possessivpronomen »mein« eingeleitet werden (z. B. V. 13 »Mein Vater«, V. 5 »Mein Sohn«, V. 12 »Meine Mutter«), deutet sich ein familiärer Kontext an. Goethe greift zudem zum Stilmittel der Anapher1, um die Bedeutung dieser familiären Akteure zu unterstreichen (V. 3/4 »er«, V. 18/19 »Meine Töchter«). Insbesondere in V.18/19 kommt die rhetorische Figur der Repetitio2 hinzu, welche die Bedeutung durch die Wiederholung nochmals verstärkt.
  24.  
  25. Gleich von Beginn an setzt Goethe zudem das Stilmittel des Kontrasts ein. Das wird beispielsweise anhand der Zeilen drei und vier (»Er hat den Knaben wohl in dem Arm, er fasst ihn sicher, er hält ihn warm«) deutlich, welche die schützenden Eigenschaften des Vaters den Eigenschaften einer stürmischen Nacht gegenüberstellen (V. 1). Durch diesen Kontrast lässt sich im übertragenen Sinne eine doppeldeutige Verbindung zum Erlkönig herstellen, der den Jungen durch seine Aussagen aus dem Schutz seines Vaters beziehungsweise der Familie locken möchte (z. B. V. 9/10 »Du liebes Kind, komm geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel ich mit dir«). Diese beiden Zeilen deuten auch bereits auf ein sexuelles Motiv des Erlkönigs hin, das er gegenüber dem Jungen haben könnte.
  26.  
  27. Auffallend ist auch die Intensitätssteigerung in den Avancen des Erlkönigs. So lockt dieser den Sohn in V. 18/19 beispielsweise mit seinen Töchtern, wobei Goethe diesen verlockenden Umstand in V. 20 durch die Repetitio »Und wiegen und tanzen und singen dich ein« bekräftigt. Auch Alliterationen3 wie »bunte Blumen« (V. 11) und »gülden Gewand« (V. 12) untermauern die Versprechungen des Erlkönigs, da dem jeweiligen Objekt direkt eine positive Eigenschaft zugeordnet wird. Ihren Höhepunkt erreichen die Versuche des Erlkönigs schließlich in V. 25/26. Die Aussage »Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt« scheint eindeutig. Sie deutet darauf hin, dass der Erlkönig eine pädophile Neigung hat und den Jungen missbrauchen möchte. Unter diesem Aspekt betrachtet erscheint auch der Dialog zwischen Vater und Sohn in einem anderen Licht.
  28.  
  29. Während der Sohn seinen Vater in V. 6/7, 13/14 und 21/22 direkt auf das Handeln des Erlkönigs anspricht, tut der Vater dies als Fantasie ab. Das wiederum ähnelt einer für den Kindesmissbrauch innerhalb einer Familie typischen Situation. Oft ist es nämlich der Fall, dass die Erzählungen der Kinder zunächst auch als Fantasie abgetan werden, bis es zu spät ist. In der Ballade wird diese Tatsache dadurch widergespiegelt, dass es der Vater erst mit der Angst zutun bekommt (V. 29), als der Sohn den Übergriff des Erlkönigs schildert (V. 27/28 »Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst der mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan!«). Die Intensität des Hilfegesuchens wird abermals durch eine Repetitio in V. 27 (»mein Vater«) unterstrichen. Das Ächzen des Kindes (V. 30), das oberflächlich dem Fieberwahn zugeschrieben werden kann, verstärkt auf der tieferen Bedeutungsebene den Eindruck eines sexuellen Übergriffs des Erlkönigs, den der Vater nicht erkennt oder erkennen will.
  30.  
  31. Interessant ist auch der Tempuswechsel, den Goethe in V. 32 vornimmt. Während die gesamte Ballade im Präsens verfasst wurde, wechselt er in V. 32 (»In seinen Armen das Kind war tot«) ins Präteritum und überlässt dem Leser damit einen für seine Werke typischen Interpretationsspielraum. Die Schilderung des Ritts im Präsens und der Tod des Kindes in der Vergangenheit lassen die Vermutung zu, dass der Junge nicht körperlich tot ist. Vielmehr deutet dieser Kunstgriff im übertragenen Sinne auf den seelischen Tod des Jungen hin, der durch den Übergriff des Erlkönigs seine Kindheit verloren hat. Das wiederum schließt den Kreis im Bezug auf das Thema des Kindesmissbrauchs.
  32.  
  33. Unter dem Strich ist diese Deutung dieser vielschichtigen Ballade allerdings nur eine von vielen. Dies gilt vor allem, da Goethe den Interpretationsspielraum durch den bewussten Einsatz von Leerstellen, in vielen seiner Werke wie auch in »Faust« oder im Zauberlehrling beabsichtigte, um das Denken der Lesen anzuregen.
  34.  
  35.  
  36. Anmerkungen und Stilmittel
  37. 1 Anapher: Wiederholung eines oder mehrerer Wörter an Satz-/Versanfängen. Beispiel: „Er schaut nicht die Felsenriffe, er schaut nur hinauf“.
  38. 2 Repetitio (Stilmittel): Wiederholung von Satzgliedern mit dem Ziel, eine Aussage zu verstärken.
  39. 3 Alliteration: Bei der Alliteration beginnen mehrere Worte mit dem gleichen Anfangslaut. Beispiel: „Milch macht müde Männer munter.“
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