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Paul Julius Möbius - Geschlecht und Unbescheideuheit

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Feb 12th, 2021
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  1. Geschlecht und Unbescheideuheit
  2. Es handelt sich diesmal nicht um eine wichtige Sache, sondern um einen dreisten Jüngling, um den jungen Otto Weininger, der vor Kurzem Doktor der Philosophie geworden ist.
  3. Am 26. Juni erhielt ich zur Besprechung ein dickes Buch mit folgendem Titel:
  4. Geschlecht und Charakter. von Dr. Otto Weininger. Wien und Leipzig, 1903, W. Braumüller, Gr. 8º, XXIII u. 599 S. (8 M.)
  5. Ich las es und hatte dabei eine recht unangenehme Empfindung, als ob ich in einen Copirspiegel sähe und mein eigenes Bild ins Unförmliche verzerrt erblickte. Der Verfasser trug ungefähr das vor, was ich vorgetragen habe, aber mit unerträglichen Uebertreibungen und allerhand unerfreulichen Zusätzen. Der Eintruck, den diese Karrikatur meiner Anschauungen auf mich machte, wurde dadurch nicht verbessert, dass der Verfasser ungezogen über mich sprach. Ich schrieb nach Wien, um mich nach dem unbekannten Verfasser zu erkundigen, und erhielt die Antwort, Weininger sei ein 24-25 jähriger Jüngling, der zu den schönsten Hoffnungen berechtige. In meiner Besprechung, die ich in "Schmidts Jahrbüchern der gesammten Medicin" (Augustheft) veröffentlicht habe, zog ich Weininger etwas an den Ohren, aber ich machte es nicht schlimm. Damit man sehe, es sei doch eigentlich gnädig dabei abgegangen, sei die Besprechung wieder abgedruckt.
  6. „Es ist schwer, gerecht über W's Buch zu sprechen. Die Meisten werden es mit Widerwillen aus der Hand legen, und man kann ihnen nicht Unrecht geben. Jedoch hat es viele Vorzüge. Wenn auch der Vf. in sich das nicht überwunden hat, was er überwinden möchte, wenn es ihm hier an Sophrosyne, dort an positiven Kenntnissen oder wenigstens an Einsicht in die Schwierigkeit der Sache fehlt, so finden wir doch in ihm einen hochbegabten Mann, der sehr viel gelesen hat, scharf zu denken sucht und, obwohl er sehr jung sein muss, mancherlei Erfahrungen gesammelt hat. Wenn ihn auch seine Leidenschaft für das Spielen mit Begriffen vor keiner Verschrobenheit zurückscheuen lässt und schliesslich zu Verkehrtheiten aller Art führt, so bleibt es doch erfreulich, dass er energisch auf eine denkende Zusammenfassung hindrängt.
  7. Nun kommt aber die ungünstige Seite. Die meisten Gedanken über die Eigenart der Geschlechter, die der Vf. vorbringt, stehen schon in den Schriften des Ref., ja auch der Titel ist einer Titelreihe des Ref. nachgeahmt. Der Unterschied ist erstens der, dass der Ref. seine Sachen in anspruchsloser Form, oft wie gesprächsweise mitgetheilt hat, während der Vf. immer im hohen Chore redet und den Dingen ein philosophisches Mäntelchen umhängt, und zum anderen der, dass der Vf. die Gedanken übertreibt und verzerrt, theoretischen Spekulationen zu Liebe. Das alles wäre nicht schlimm. Man kann von einem jungen Manne nicht lauter eigene Gedanken verlangen, und wenn er die Gedanken systematisch vorträgt, so ist es auch ein Verdienst. Wenn aber ein Schriftsteller, nur um nicht als Plagiarius zu erscheinen, seinen Vorgänger verunglimpft, so hört der Spass auf und das Strafbare beginnt. Der Vf. verwahrt sich auf S. 344 gegen die Verwechslung seines "Standpunktes" mit den "hausbackenen" Ansichten von P. J. Möbius. Er steigert die Arroganz dadurch, dass er erklärt, die Behauptung des Ref., die talentirten Weiber seien Zeichen der Entartung, wäre irrig, die sexuellen Zwischenformen wären durchaus eine normale Erscheinung. .Also der Mann im Philosophenmantel will bestimmen, was normal und was pathologisch sei!
  8. Der Vf. nennt seine Arbeit „eine principielle Untersuchung“, er sollte sagen, eine, die alles auf die Spitze treibt. Wer sich von der Erfahrung überwachen lässt, der weiss, dass je mehr wir ins Weite und ins Tiefe kommen, alles um so düsterer und unsicherer wird. Wer aber alles aus der Idee deducirt, der hat leichtes Spiel, wenn er Consequenzen macht und da hinaus läuft, wo die Erfahrung im Stiche lässt. Jener kann, da wir über das Letzte doch nichts Sicheres wissen, milde sein; dieser kennt keine Schonung, er weiss alles und richtet wie ein Gott.
  9. Das Princip des Vfs. ist, dass der absolute Mann (M) dem absolutcn Weibe (W) gegenüber stehe, dass aber die wirklichen Menschen M mit wechselnder Beimischung von W, oder W mit etwas M seien. Dadurch erleichtert er sich die Sache sehr, denn, wenn etwas mit der Erfahrung nicht stimmt, so kann er sagen, ja das liegt an der Beimischung von M oder W. Das Ergebniss ist, dass W keine Seele hat, dass es ihm an Charakter. Gedächtniss, Denken, Phantasie, Genie, Ethik ganz fehlt, dass sein ganzes Wesen Sexualität und sein eigentliches Thun Kuppeln ist. Ein lch im eigentlichen Sinne des Wortes, Genialität, Logik, Ethik, Ästhetik, das Alles kommt nur M zu. Eine ganz eigenthümliche Färbung bekommt die Sache durch Hereinziehung der „Ethik“ Kants. Sittlich ist nur ein Handeln aus Maximen, also ist die Mutterliebe nicht sittlich u. s. f. Der Kantianismus lässt den Vf. auch mit einer Absurdität enden. Weil im Coitus der Mensch nicht als Zweck, sondern nur als Mittel betrachtet wird, ist vollkommene Enthaltsamkeit allein sittlich, und dem Weibe ist nur dadurch zu helfen, dass es nicht mehr als Weib angesehen wird.
  10. Das Buch W‘s ist deshalb so dick geworden, weil der Vf. seine Gedanken überhaupt hat loswerden wollen. Wir bekommen lange Vorträge über Genialität, Logik usw. zu hören, manches Gute (z. B. über die Erbärmlichkeit mancher modernen Psychologie), viele Schroffheiten. Vielleicht wird dem Vf. noch einmal bei seiner Gottähnlichkeit bange."
  11. Dio Strafe des Schicksals liess nicht lange auf sich warten. Ich bekam einen langen, etwas formlosen Brief W’s, der am 17. August in Syrakus geschrieben ist. Der Schreiber ist sehr entrüstet ; ich hätte ihn des Plagiates, eines heuchlerischen, hehlerischen Benehmens und der Verlästerung Anderer beschuldigt; ich müsse entweder beweisen, was ich gesagt habe, oder öffentlich widerrufen. Er, W., gebe mir drei Wochen Zeit, dann werde er mich der böswilligen Verläumdung zeihen und mich zwingen, ihn vor Gericht zu verklagen.
  12. Auf diesen Brief habe ich natürlich nicht geantwortet. Abgesehen von anderen Gründen steht mir der Sinn nicht nach persönlichem Verkehre mit W. Jedoch bei näherer Überlegung der Angelegenheit bin ich zu der Ansicht gekommen, es möchte ganz gut sein, den „hingeworfenen Handschuh“ (so drückt sich W. aus) aufzunehmen. Denn es liegt mir daran, vor einem weiteren Kreise als vor dem der Fachgenossen zu erklären, wie ich über W‘s Buch denke. Es wäre mir peinlich, wenn es je heissen sollte: „Möbius und Weininger sagen ...“ Deshalb will ich reine Wirthschaft machen und, W‘s Buch so eingehend besprechen, wie es in einer Zeitschrift nicht möglich ist. Es wird dabei möglich sein, manche sachliche Bemerkung anzubringen, sodass der verneinende Geist nicht allein zu reden hat.
  13. Habe ich gesagt, was ich sagen will, so bin ich mit W. fertig. Er kann dann drucken lassen, was er will. Verklagen werde ich ihn nicht. Ja, wenn es sich um silberne Löffel handelte – aber in schriftstellerischen Sachen brauche ich die Gerichte nicht, da werde ich schon allein mit meinen Gegnern fertig.
  14. W. glaubt, ich hätte ihn einen Plagiarius genannt. Ei, wie werde ich denn!? Das wäre ja unhöflich, wohl gar eine Beleidigung. Nein , so etwas thue ich nicht. Auch ist ja der Wortlaut ganz klar, und nur dadurch, dass W. für einen Augenblick von seinem gewöhnlichen Scharfsinne verlassen worden ist, könnte er auf jenen unglücklichen Gedanken kommen. lch habe gesagt, er habe gedacht, die Leute könnten ihn für einen Plagiarius halten, und deshalb habe er von oben herab und unschicklich von mir geredet. So wird es wohl auch gewesen sein. Mein Aufsatz über den physiologischen Schwachsinn des Weibes ist im Frühjahre 1900 erschienen. Er erregte ziemliches Aufsehen und war, wie W. in seinem Briefe schreibt, in allen Händen. W. war damals etwa 22 Jahre alt. Bei seiner erstaunlichen Frühreife muss man zwar vorsichtig sein, aber wahrscheinlich ist es doch, dass er damals noch im Werden war, dass sein philosophisches Lehrgebäude noch nicht errichtet war. Er wird das Heftchen gelesen, an den Gesprächen darüber theilgenommen und sich dann gesagt haben: "Ich werde einmal zeigen, wie man es machen muss, wie man das Problem im wahrhaft philosophischen Geiste bearbeiten muss." Als er dann sich hinein versenkte, kam er, soweit wie das Thatsächliche in Frage kommt, zu denselben Ergebnissen wie ich, und darüber könnte er selbst nicht zweifelhaft sein, wenn er auch wusste, dass er mich an Tiefe und Gedankenreichthum weit übertrifft. Es war ihm unangenehm, denn so ein junger Mann möchte Anderen nichts verdanken, möchte ein Original auf eigene Faust hin sein. Es könnte jemand kommen und sagen: "Aha, da ist auch Einer, der über den physiologischen Schwachsinn des Weibes schreibt" , oder "im Grunde behauptest du doch das, was Möbius behauptet hat". So wäre er als der Nachfolger eines Mannes erschienen, der sich so gemein gemacht hat, dass er Allen verständlich schreibt, der wahrscheinlich die höheren philosophischen Weihen gar nicht empfangen hat. Dem wollte er vorbeugen, und deshalb protestirte er gegen die Gemeinschaft mit meinen hausbackenen Ansichten. Wenn es mir auch gar nicht eingefallen ist, W. einen Plagiarius zu nennen, so habe ich doch seinen Titel eine Nachahmung genannt. Er schreibt nun, sein Titel sei schon im Anfange des Jahres 1902 gewählt worden. Natürlich ist es so, wenn er es schreibt. Er fügt aber hinzu, dass er vor der Veröffontlichung seines Buches meine Schrift "Geschlecht und Entartung" gesehen habe. Auf dem Umschlage dieses Heftes steht fünfmal "Geschlocht und -". Wenn jemand diese meine Titelreihe sieht und dann auch "Geschlecht und -" wählt, so zeugt das denn doch von Mangel an Zartgefühl.
  15. Aber ich habe gesagt, die Hauptgedanken über die Geschlechtsverschiedenheit seien schon bei mir zu finden.
  16. Natürlich denke ich nicht daran, zu behaupten, ich hätte funkelnagelneue Wahrheiten entdeckt. Die geistige Verschiedenheit der Geschlechter ist seit undenklichen Zeiten so oft besprochen worden, dass im einzelnen wohl schon alles gesagt worden ist, was überhaupt gesagt werden kann. Wenn man jedoch die wichtigsten in der Litteratur erhaltenen Aeusserungen durchgeht, so sieht man, dass es sich fast immer um Aperçus, Aphorismen, selten um zusammenhängende Gedankengänge handelt. Bei den Indern, im alten Testamente, bei den griechischen Dichtern, bei Plato und Aristoteles, bei den Römern, bei den Kirchenschriftstellern , überall findet mun eine Menge von Aussprüchen über das Weib, aber nirgends eine systematische Besprechung. Erst seit der Renaissance wird das Thema ausführlicher behandelt. Einige ältere Schriften, die die Vorzüge der Weiber darthun sollen, habe ich im "Schwachsinn" citirt. Es sind aber auch Bücher gegen die Weiber erschienen. Eins, das über die Bosheit der Weiber handelt und in französischer Sprache verfasst ist, habe ich gelesen. Man findet da allerhand Behauptungen und als Belege historische Ausführungen; auf jeden Fall genügen solche Darlegungen unseren Ansprüchen nicht. Aber auch bei den Neueren ist verhältnissmässig wenig zu finden. Da sind die älteren Moralisten und die Dichter, die Philosophen und die (im weiten Sinne) anthropologischen Schriftsteller. Alles habe ich nicht gelesen, aber ich glaube doch das Wichtigste kennen gelernt zu haben. Bei den Dichtern und den Moralisten erwartet man von vornherein mehr Geistesblitze, als erschöpfende Besprechungen. Am meisten kann man wohl aus Shakespeare und aus Goethe lernen, nur muss man sich das Einzelne zusammentragen. In dem Aufsatze über Goethe und die Geschlechter habe ich versucht, ein Bild von Goethes Auffasung zu geben; etwas Zusammenhängendes kommt aber doch nicht heraus. Von den Philosophen ist Kant reich an guten Bemerkungen (bes. in der Anthropologie), er bleibt jedoch ganz fragmentarisch. Mehr bietet Schopenhauer, aber auch er lässt viele Lücken. Manche seiner Ausführungen hat E. von Hartmann vervollständigt, und dieser Philosoph hat auch der "Frauenfrage" im engeren Sinne verdienstliche Auseinandersetzungen gewidmet. Ganz vortreffliche, aber abgerissene Bemerkungen verdanken wir Nietzsche. Alle die Genannten, von Shakespeare bis zu Nietzsche, stimmen in den Hauptpunkten überein, ein Ergebniss, das wohl zu beachten ist. Ihnen stehen die Gleichmacher gegenüber. Das sind meist Leute, die ihren Ausgang von politischen oder gesellschaftlichen Ansichten genommen haben und wegen ihrer Vorstellung von der Freiheit oder von der Gerechtigkeit die natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern beseitigen möchten. Am wichtigsten sind die Bücher von Mill und von Bebel geworden ; es genügt, sie zu nennen, da sie als Quellen doch nicht in Betracht kommen. Die vertreter der Wissenschaft haben bis auf die neueste Zeit sehr wenig geleistet. Eine kurze, aber gute Besprechung des weiblichen Wesens findet man bei Ploss-Bartels. Das Buch von Ellis über Mann und Weib ist eine sehr fleissige und dankenswerthe Zusammenstellung, aber nach der Gedankenseite hin äusserst schwach. Das Beste scheint mir, wie ich schon früher gesagt habe, der Aufsatz von Lombruso-Ferrero zu sein. lch sehe hier natürlich von den vielen Arbeiten ab, die einzelne Fragen behandeln.
  17. Will ich mir all diesen Vorgängern gegenüber ein Verdienst zuschreiben, so könnte es nur das sein, zum ersten Male eine „principielle“ Bearbeitung gegeben zu haben. lch habe nicht auf einzelne Mängel oder Fehler des Weibes hingewiesen, sondern ich habe gezeigt, dass auf allen Gebieten, mit Ausnahme eines, die Gehirnleistungen des Weibes beträchtlich geringer sind als die des Mannes. lch habe das damit begründet, dass das Weib ganz und gar Geschlechtswesen ist, und ich habe das teleologische Prinzip zum Führer gewählt. Der Zweck des Weibes ist. Kinder zu gebären und die Kinder, die länger als alle thierischen Jungen pflegebedürftig sind, zu pflegen. Nur als Mutter hat das Weib einen Vorzug vor dem Manne, das Organ der Kinderliebe ist bei ihm stärker entwickelt, sodass es den Kindern, und überhaupt den Schwachen und Hilfebedürftigen, mehr sein kann als der Mann. Aus diesen Aufstellungen habe ich mit mehr Entschiedenheit als meine Vorgänger praktische Folgerungen gezogen. Für neu halte ich ferner den Nachweis des zu dem angeborenen hinzutretenden erworbenen physiologischen Schwachsinnes und die Darlegung, dass die Talente der Mädchen männliche sekundäre Geschlechtsmerkmale sind, d. h. dass die ungewöhnlich begabten Mädchen eine Mischung weiblicher mit männlicher Art darstellen.
  18. Nach mir ist nun W. mit seiner „principiellen Untersuchung" gekommen. Der vollkommene Mangel an Bescheidenheit, der dem Jünglinge eigen ist, drückt sich sehr gut in der Selbstanzeige aus, die er für die "Zukunft" (vom 22. August 1903) geschrieben hat. „Ich glaube in diesem Buch das psychologische Problem des Geschlechtsgesetzes gelöst und eine abschliessende Antwort auf die sogenannte Frauenfrage gegeben zu haben". Er hat geleistet „eine völlig phrasenreine, bis zum Ietzten Ende menschlichen Wissens geführte Erforschung des Wesens der Frau und die Hebung der Streitfrage auf ein Niveau, auf dem die bisherigen Erörterungen sich nicht bewegt haben". Donnerwetter ! Ich werde nun zeigen, dass das, was in W‘s Buche brauchbar ist, schon von mir gesagt worden ist, und dass das, was er hinzugethan hat, milde gesagt, schwach begründet, gerade herausgesagt, Unsinn ist.
  19. W‘s Buch zerfällt in zwei Theile. Der erste ist, wie er sagt, „biologisch-psychologisch". Das „Biologische" stammt natürlich aus Büchern. Es ist aber zuzugeben, dass W. fleissig gelesen hat und dass er die Sache geschickt mit seinen Lesefrüchten garnirt hat, dass die Aufmachung, wie sich die KaufIeute ausdrücken, gut ist. Der Jüngling schreibt mir zwar, ich als Mediziner hätte zu wenig biologische Kenntnisse, aber er kann mein Lob ruhig annehmen, denn ein bischen habe ich mich doch auch um die Sachen gekümmert. Nun habe ich sorgfältig gesucht, was etwa in diesem ersten Theile neu sein möchte, aber ich habe nichts gefunden. Es soil das kein Vorwurf sein. Die Fragen, die in Betracht kommen, sind vielfach besprochen, und der Hinzutretende hat nur unter den Ansichten zu wählen. W. schliesst sich den Ansichten an, die auch ich für die richtigen gehalten habe. Eine wichtige Frage ist die, wo steckt die Geschlechtlichkeit? W. antwortet im Anschlusse an Steenstrup (1840): im ganzen Körper. Ich habe gesagt (Ueber das Somageschlecht, Umschau, Januar 1903): jede Zelle ist geschlechtlich abgestempelt. W. sagt: jede Zelle ist geschlechtlich charakterisirt (p. 16). W. hat mich dabei nicht nachgeahmt (was in diesem Falle schon aus den Daten hervorzugehen scheint), sondern es ist ein glückliches Zusammentreffen. Bei mir will das nicht viel sagen, aber auch mit Schopenhauer hat W. sein Glück zusammengeführt. W. glaubt, das Naturgesetz entdeckt zu haben, nach dem die Geschlechter einander anziehen. Seine Erkenntniss habe ihn „zur Entdeckung eines ungekannten, blos von einem Philosophen einmal geahnten Naturgesetzes geführt" (p. 32). Im Folgenden trägt er die bekannten Anschauungen Schopenhauers vor. Später ist er bedenklicher geworden, denn in den Anmerkungen (p. 488) sagt er, die Stellen Schopenhauers seien ihm, als er den Text schrieb, unbekannt gewesen, „so eng sich meine Darstellung speciell mit der Schopenhauers sachlich, ja manchmal wörtlich berührt". Diese Geschichte ist typisch. Die Capitel Schopenhauers über die Geschlechtsliebe sind das Erste, was ein junger Mann von dem Philosophen kennen zu lernen pflegt, und selbstverständlich hat sie auch W. Gekannt, denn wie wäre er sonst dazu gekommen, von der Ahnung eines Philosophen zu reden? Aber als er schrieb, hat er die Gedanken, die Erinnenrugen waren, für eigene Eingebungen gehalten. Das Gedächtniss , das nach W. beim Genialen überaus treu ist, hat ihn im Stiche gelassen. Wer einmal solchen Erinnerungstäuschungen unterliegt , dem widerfährt es öfter, und so erklärt sich manches. Aehnlich ist es auch W. bei seinem Leitmotive gegangen, dem „Principe der sexuellen Zwischenstufen". Abgesehen von den später zu besprechenden Uebertreibungen bringt W. doch gar nichts neues vor. Der Ausdruck sexuelle Zwischenstufen ist längst gebräuchlich, und dass die geistigen Abweichungen der männischen Weiber und der weibischen Männer zu ihnen gehören, das habe ich früher kurz, in der Abhandlung „Geschlecht und Entartung" ausführlich auseinander gesetzt. Diese Abhandlung erwähnt W. nicht. In dem Briefe an mich sagt er, er habe Kenntniss von ihr gehabt. Nun hat er entweder sie gelesen und dann hätte er, mindestens in einer Anmerkung, auf ihren Inhalt hinweisen müssen, oder er hat sie nicht gelesen, und dann hat er sich nicht so unterrichtet, wie es sich gehört hatte. In dem Capitel „die emancipirten Frauen" legt W. dar, dass das Bedürfnis nach Emancipation nur bei männlich gearteten Weibern vorhanden sei, und dass die sogenannten berühmten Frauen durch das Männliche in ihnen betühmt geworden seien. Ueber diese Dinge habe ich an verschiedenen Orten gesprochen, und ich habe mich nicht mit Behauptungen begnügt, sondern durch Besprechung der einzelnen Personen und besonders durch Prüfung der Vererbung die Aussagen begründet. lch erinnere an meinen Aufsatz über die mathematischen Weiber, an die Ausführungen in der „Stachyologie“ und in „Kunst und Künstler“. Aber ich habe auch darauf hingewiesen, dass bei den verschiedenen Künsten die Verhältnisse verschieden sind, dass z. B. Mathematik und bildende Künste ganz männlich sind, während an der Poesie das Weib (d. h. das principielle Weib W‘s) einen Antheil zu haben scheint. Hätte W. darauf geachtet, so hätte er vielleicht weniger in Bausch und Bogen abgeurtheilt. Im Praktischen treffen wir wieder zusammen. lch hatte gesagt, man solle den Weibern, die „einen Teil der sekundären männlichen Geschlechtsmerkmale, d. h. bestimmte Talente und den Drang nach Freiheit“ haben, nichts in den Weg legen, ihnen vielmehr ihren Weg erleichtern. W. sagt (p. 87) : „Freien Zulass zu allem, kein Hindernis in den Weg derjenigen, deren wahre psychische Bedürfnisse sie .. zu männlicher Beschältigung treiben". Aber die „Frauenbewegung" sei schädlich, weil Viele durch Mode. Ueberredung usw. verleitet würden, mitzulaufen und in ihren Schaden hineinzulaufen. So hatte ich gesagt. „Aber weg mit der Parteibildung, weg mit der unwahren Revolutionierung, weg mit der ganzen Frauenbewegung“, sagt W. Der erste Theil des Buches enthält noch ein Kapitel über „Homosexualität und Päderastie". Dass er darin etwas Neues gesagt habe, wird W. wohl selbst nicht glauben. Er schliesst sich übrigens der richtigen Ansicht an, der auch ich mich angeschlossen habe, dass das verkehrte geschlechtliche Empfinden immer auf angeborener Anlage beruhe. Endlich stellt das 5. Capitel eine Art von Ueberleitung zum 2. Theile dar. W. betont darin, wie ich es gethan habe, dass die Psychologie auf Erkenntniss des individuellen Charakters ausgehen sollte, dass der „Charakterologie“ die Morphologie entsprechen müsse (dabei nennt er mich), dass die Physiognomik, die wir alle unwillkürlich ausüben, an sich berechtigt sei (vgl. meinen Aufsatz über Entartung).
  20. Der 2. Theil des Buches ist überschrieben: die sexeellen Typen, d. h. es soll nun der Charakter des principiellen Mannes und des principiellen Weibes geschildert werden. Während aber der 1. Theil relativ nüchtern und geordnet ist, überlässt sich W. im 2. ohne Bedenken seinem Redebedürfnisse. Wir müssen alles hören, was ihm während seiner Collegien eingefallen ist, und die zum Thema gehörigen Ausführungen sind versteckt unter einer wuchernden Masse „philosophischer“ Gedanken. Es ergiebt sich, dass das principielle Weib ausschliesslich Geschlechtswesen ist, dass es in alien anderen Beziehungen negative Eigenschaften hat. Es fehlt ihm die Bewusstheit des Mannes, es lebt nicht sowohl in Begriffen als in Gefühlen, Gedächtniss und Phantasie gehen ihm ab, sein Handeln ist triebmässig, es hat kein verhältniss zur Begriffsmoral, insbesondere steht es mit der Wahrheit auf gespanntem Fusse. Das ist der berechtigte Kern in W.s Ausführungen, und es ist thatsächlich eben das , was ich unter der Bezeichnung des physiologischen Schwachsinnes beschrieben habe. Aber freilich ist das von mir entworfene Bild durch schauderhafte Uebertreihungen verzerrt, und W.s Maasslosigkeit hat eine Karrikatur geliefert, vor der man erschrickt.
  21. Weil das so ist, deshalb will ich mir die Mühe machen, nunmehr W.s Eigentum auszusondern und seinen Werth zu prüfen.
  22. Aber ehe ich den Philosophen W. näher betrachte, will ich des sachlichen Interesses wegen auf die Frage nach der Abnormität der geschlechtlichen Zwischenstufen eingehen. W. behauptet schlankweg, sie seien eine normale Erscheinung , und er bildet sich ein, durch einige Citate den Beweis dafür geliefert zu haben. Es handelt sich um einige Thatsachen aus der Naturgeschichte, die allgemein bekannt sind, dass nämlich bei einigen Pflanzen Vermischung der Geschlechter vorkommt, dass hie und da ein Thier einige Merkmale des anderen Geschlechtes zeigt, dass weiblich e Eigenschaften durch den Sohn auf seine Tochter vererbt werden können, usw. Es ist natürlich ganz lächerlich, auf solche Weise darthun zu wollen, der Hermaphroditismus beim Menschen sei eine normale Erscheinung. Vom normalen Menschen bis zum ausgeprägten Hermaphroditen führt eine Reihe von Stufen ; je normaler der Mensch, um so entschiedener ist er Mann oder Weib, je näher er dem Hermaphroditen steht, um so abnormer ist er. Dass das vom Körperlichen gilt, haben längst alle Sachverständigen eingesehen ; dass auch die scheinbar rein geistigen Abweichungen vom Geschlechtstypus krankhafte Erscheinungen sind, das einzusehen ist eben der Fortschritt. Wer klar denken kann, braucht eigentlich keine Beweise. Wer Beweise braucht, findet sie darin, dass jede, auch die geringste Abweichung vom Typus die Fruchtbarkeit vermindert, dass in jedem Falle noch andere krankhafte Zustände nachzuweisen sind, dass durch den Gang der Vererbung der Zusammenhang des abnormen Geschlechtscharakters mit anderweiten Storungen dargethan wird. In „Geschlecht und Entartung“ ist die Sache genauer auseinandergesetzt. Es versteht sich doch eigentlich von selbst, dass über die Zugehörigkeit zum Normalen nur der urtheilen kann, der die Abweichungen kennt, d. h. der Patholog. Aber sobald wie allgemeine Begriffe in Frage kommen, scheint den Leuten Sachkenntniss entbehrlich zu sein. Neulich hat ein Zeitungsredakteur, der mich recensirte, gesagt, er wisse doch auch, was Entartung sei. Nein, Zeitungschreiber und Philosophen haben da nicht mitzureden. Bedauerlich ist, dass durch das Bestreben mancher der sogenannten Homosexuellen, sich für normal zu halten, immer neue Wirrungen entstehen. Sie halten etwas für wahr, weil sie es wünschen. Ihr bedrängter Zustand entschuldigt den Wunsch, aber an den Thatsachen wird dadurch nichts geändert.
  23. Ich glaube, in „Geschlecht und Entartung“ gezeigt zu haben, wie weit das Princip der Zwischenstufen reicht, zum mindesten angedeutet zu haben, was sich daraus machen lässt. Aber man darf doch nicht übersehen, dass es nur eine beschränkte Geltung hat. Das ist ohne weiteres begreiflich, wenn man einsicht, dass das Zwischenreich der Pathologie gehört. Durch das Princip wird sozusagen das Terrain gereinigt, d. h. es werden die Formen ausgeschieden, die durch die Entartung zu unreinen Vertretern eines Geschlechtstypus geworden sind und die daher zu Irrthümern führen können. Es wird also durch das Princip eine vorbereitende Arbeit gethan, denn erst dann, wenn die Zwischenformen ausgeschieden sind, kann das Auge klar sehen. Die Erfahrung zeigt, dass die Zwischenformen um so seltener werden, je näher sie der Mitte zwischen beiden Geschlechtern stehen. Als Mitte hat man den Hermaphroditismus verus anzusehen. Er ist enorm selten. Etwas häufiger ist der sogenannte Pseudohermaphroditismus. Dann folgen die Hypospadie, die Gynäkomastie usw. usw. Alles Zustände, die noch als Curiositäten gelten. Relativ häufig sind die weibischen Männer und die männischen Weiber, deren Abweichung sich hauptsächlich im Geistigen zeigt, während am Körper nur geringe Andeutungen des anderen Geschlechtes wahrzunehmen sind. Aber auch sie bilden nur einen geringen Bruchtheil des Volkes. Versuche zu Schätzungen sind nur bei den Personen mit verkehrtem Geschlechtsgefühle gemacht worden: In unserer entarteten Bevölkerung kann man etwa eins auf tausend rechnen. Noch grösser ist die Zahl der Personen, die für ganz normal gelten und bei denen nur die sorgsame Prüfung einzelne Charaktere des anderen Geschlechtes nachweisen kann. Ueber ihre Zahl ist begreiflicherweise nichts zu sagen. Sie verlieren sich allmählich in der annähernd normalen Masse. Aber auch dann, wenn man die Grenzen des Zwischenreiches weit steckt, bleiben die Zwischenform en immer Ausnahmen. Durch W.s Uebertreibungen, der die Zwischenformen für das Normale hält, wird die Auffassung von vornherein schief. Es ist gerade so, als ob Jemand sagen wollte: Von den Menschen, die ich kenne, ist keiner ganz gesund, also ist die Krankheit das eigentlich Normale. Wären in der That die Zwischenformen die Wirklichkeit und die Typen nur die gedachten Enden der Reihe, so wäre der Hermaphrodit das realste Geschöpf. Er ist es aber nicht, sondern er ist nur das Extrem einer krankhaften Abweichung. Um ihn gruppiren sich die schwächeren Grade der Abweichung von der rechten Art, alle zusammen aber sind eine Abart, die sich aum wirklichen Volke verhält, wie sich die weissen Mäuse zu den grauen verhalten. Das Ideal ist nicht der absolute Mann, das absolute Weib, von denen eins gar nichts mit dem anderen gemein hätte, sondern der absolute Mensch, der aus Gründen der Zweckmässigkeit in die beiden Geschlechter zerspalten ist. Der Grundstock menschlichen Wesens ist beiden Geschlechtern eigen, nicht principielle Unterschiede trennen sie, sondern ihre Verschiedenheit ist quantitativ. Der Demiurgos hatte sozusagen schon ein Modell für die Lebewesen geformt, als er einsab, dass er mit einer Doppelform mehr erreichen würde. Nun liess er Männlein und Weiblein ausgehen, und je nach der Aufgabe der Art liess er beide verschieden sein. Beim Menschen erwies es sich als zweckmässig, die einfache Urform, beim Manne wesentlich weiter zu entwickeln, insbesondere das Gehirn sehr reich auszustatten, während beim Weibe nur einige passende Verbesserungen auzubringen waren.
  24. Hat das Princip der Zwischenformen seinen Dienst gethan, sind die Zwitterbildungen, wenigstens bis auf geringe Reste, ausgeschieden, so behalten wir die eigentliche Menschheit übrig, und sie zerfällt in richtige Männer und richtige Weiber. Weil wir bei Betrachtung der Zwischenformen alle als krankhaft erkannt haben, tragen wir als Gewinn den Satz davon: Je gesunder ein Mensch ist, um so entschiedener ist er Mann oder Weib.
  25. Zur Erkennung der Geschlechtsunterschiede kann jenes Princip nichts helfen. Hier hilft überhaupt kein Princip, sondern die Erfahrung allein.
  26. Dagegen zum Verständnisse der Verschiedenheit und zur Weiterführung der Untersuchung hilft wirklich ein anderes Princip, nämlich das teleologische. Nur muss es richtig verstanden werden. Das teleologische Princip ist, schulmässig zu reden, eine heuristische Methode, d. h. seine Anwendung besteht darin, dass gefragt wird, wie hätte sich die Sache gestalten müssen, wenn dieser oder jener Zweck verfolgt warden wäre. Das Princip behauptet also nicht, dass ein Zweck verfolgt worden sei, sondern es sagt nur: wenn dies beabsichtigt wurde, ist jenes zu erwarten. Jeder unbefangene Mensch verwendet dieses Princip, ja auch Die, die in abstracto dagegen eifern, können es in concreto nicht entbehren. Auch bei der Betrachtung der Geschlechtsunterschiede ist es thatsächlich nicht zu entbehren.
  27. Andere Principien wüsste ich nicht zu nennen. Die Augen aufmachen und sich durch teleologische Betrachtungen in die Verhältnisse hineinfinden, das ist Alles. Dieser Weg führt mir zu bescheidenen Ergebnissen, aber er führt wenigstens nicht nach Wolkenkukuksheim.
  28. Nun also zu dem Philosophen W. ! Er ist, um es kurz zu sagen, eine unglückliche Figur, so recht ein Priester zweiter Classe, wie sich Dühring ausdrückt, und ein Scholastiker durch und durch. Er glaubt dadurch zu sachlichen Kenntnissen zu kommen, dass er ohne Rücksicht auf die Erfahrung verallgemeinert und das, was bedingungsweise gilt, für bedingungslos gültig erklärt. Wo es heisst „einige“, da setzt er „alle“, wo es heisst „weniger“, da sagt er „gar nichts“. Der Scholasticismus besteht darin, dass man durch Hantieren mit Begriffen etwas zu erfahren glaubt. Er ist bequem und thut dem menschlichen Hochmuthe wohl. Je geringer das wirkliche Wissen ist, um so grösser ist die Neigung zur Scholastik, und deshalb, neigen junge Culturen und junge Menschen immer nach ihr hin. Ist einer junge und hat er überdem etwas Anlage zum Hochmuthe, so wird ihn die Scholastik stark locken. Mit der Zeit wird er in dem Aburtheilen immer sicherer und dann urtheilt er mit gleicher Sicherheit über das, was man wissen kann, und über das, was man nicht wissen kann. Die Schamhaftigkeit des Denkens besteht darin, dass man mit zarter Scheu auf schwierige Fragen antwortet, lieber zu wenig als zu viel behauptet, und in dem Grade, wie die Möglichkeit der Erfahrung abnimmt, hervorhebt, dass unser Urtheilen nur ein Vermuthen ist. W. sagt einmal sehr richtig, wie es schon Lessing gethan hat, dass man immer am meisten von den Tugenden rede, die man nicht hat. Ueberaus häufig spricht er von der Schamhaftigkeit. Z. B. erkIärt er so und so oft, das Mitleid tauge nichts, es sei nicht schamhaft, denn es respektire das Leiden des Anderen nicht. Sollte, nebenbei gesagt, W. einmal ins Wasser fallen und von einem menschenfreundlichen Retter herausgezogen werden, so möge er doch an diese Schrulle Nietzsches denken: Hätte der Andere sein Leiden respektirt, so könnte er es nicht mehr. Also, das, was W. fehlt, ist gerade die Schamhaftigkeit des Denkens. Ich will den jungen Mann nicht kränken und glaube gern, dass er sonst der schamhafteste Mensch sei, aber die Urtheile in seinem Buche sind schamlos. Es käme nicht viel darauf an, wenn das Ansehen der Philosophie nicht darunter litte. Leider ist die Schamlosigkeit ein altes Uebel der Philosophen. Unglaublich gross war sie bei den sogenannten nachkantischen Philosophen, und was war die Wirkung? Das freche Aburtheilen dieser Leute hat die Philosophie verächtlich gemacht, sodass kein anständiger Mensch mehr etwas mit ihr zu thun haben wollte, sodass schon der Name Philosoph ernsthaften Leuten den Geschmack verdarb. Der Ekel vor dem in den tag hinein reden der angeblichen Philosophen bewirkte, dass auch die echten Philosophen nicht gehört, ja verachtet wurden, und dass andererseits die Gelehrten sich jeder philosophischen Bildung entschlugen und geradezu knotenhaft redeten, sobald wie allgemeine Fragen zu beantworten waren. Die Schamlosigkeit der angeblichen Philosophen ist daran schuld, dass der grosse Fechner sein Leben unbeachtet verbringen musste , während des Ruhmes Kränze auf gemeinen Stirnen entweiht wurden. (Es sei W. zur Ehre gerechnet, dass er mit Verehrung von Fechner spricht, aber ich kann ihn versichern, dass, wenn Fechner noch lebte, er ihn weit von sich weisen würde.) W. hat die schlimme Zeit nicht erlebt. Ich war Doktor der Philosophie, als er noch gar nicht auf der Welt war, ich habe die Begeisterung für Büchner, für Strauss, für Dubois-Heymond usw. Erlebt, ich habe langsam die Theilnahme für Philosophisches wieder erwachen sehen, und ich hoffe, dass nun eine bessere Zeit kommen werde. Aber noch sind die Unwissenheit und der Verdacht überall gross. Lesen nun die Leute W.s Buch, so denken sie: Also so sehen die Philosophen aus, und wenden sich mit Grausen. Deshalb sage ich: Nein, so sehen die echten Philosophen nicht aus, so sehen die Spassphilosophen aus. Ich habe W. auch einen Priester zweiter Classe genannt. Damit meine ich nicht, dass er für irgend eine Religion einträte, sondern dass seine Lehre im Grunde eine rechte Pfaffenlehre ist. Er hat die Wahrheit und die Sittlichkeit gepachtet. Man Iese p. 208 ff.. ob nicht aus dieser Schwärmerei in Kantischen Redensarten der echte Pfaffenhochmuth spricht. Er behagt sich im Kantischen Rigorismus, weil er sich als reiner Pflichtmensch als unvergleichlichen Prachtkerl fühlt. Er hat sich aus Kant zusammengesucht, was ihm passt: Den Selbsteweck, das intelligible lch, die absolute Freiheit usw., und diesen alten Unsinn schlägt er uns unzählige Male um die Ohren. Eigentlich steht dem W. der Kantianismus nicht. Er sieht aus wie ein junger Mann in einem modernen englischen Anzuge mit Zopf und Schnallenschuhen. Wie kommt es, dass er sich gerade in die Kantische Scholastik verliebt hat? lch will es ihm im Vertrauen sagen. Er möchte anders sein, als er ist, und deshalb hat er gerade nach dem ihm Fremdesten gegriffen und sich darein verputzt.
  29. Nach dieser allgemeinen Einleitung wollen wir einmal sehen, was der philosophische Jüngling aus der Lehre von den Geschlechtsunterschieden gemacht hat. Damit der Leser eine Probe schmecken könne, will ich ihm einmal zeigen, wie W. spricht. Er entwirft eine Tafel des doppelten Lebens: links stehen Eigenschaften, die allen lebenden Wesen zukommen, Individuation, Wiedererkennen, Lust, Geschlechtstrieb, Enge des Bewusstseins, Trieb; rechts stehen Eigenschaften, die dem Manne allein zukommen. Individualität, Gedächtniss, Werth, Liebe, Aufmerksamkeit, Wille (p. 378). In den rechts stehenden Eigenschaften erkenne man die Idee des ewigen Lebens. „Wie jenes Leben von irdischer Speise sich nährt, so bedarf dieses der geistigen Atzung (Symbol des Abendmahles)." Diese Worte stehen auf p. 379! Dann fährt er fort (p. 380): „Das absolute Weib , dem Individualität und Will mangeln, das keinen Theil hat am Werthe und an der Liebe, ist, so können wir jetzt sagen, von jenem höheren, transscendenten metaphysischen Sein ausgeschlossen. Die intelligible hyperempirische Existenz des Mannes ist erhaben über Stoff, Raum und Zeit; in ihm ist Sterbliches genug, aber auch Unsterbliches. Und er hat die Möglichkeit, zwischen beiden zu wählen: zwischen jenem Leben, das mit dem irdischen Tode vergeht, und jenem, für welches dieser erst eine Herstellung in gänzlicher Reine bedeutet. Nach diesem vollkommen zeitlosen Sein, nach dem absoluten Werthe, geht aller tiefste Wille im Manne: er ist eins mit dem Unsterblichkeitsbedürfniss. Und dass die Frau kein Verlangen nach persönlicher Fortdauer hat, wird so endlich ganz klar: in ihr ist nichts von jenem ewigen Leben, das der Mann durchsetzen will und durchsetzen soll gegen sein ärmliches Abbild in der Sinnlichkeit." Na? Und einen solchen Mann wage ich zu tadeln !
  30. Zu diesem tollen Schwadroniren ist W. nun freilich nicht mit einem Male gekommen, er hat sich vielmehr erst allmählich hineingeredet. Wir müssen daher vom Anfange anfangen.
  31. Das 1. Capitel des 2. Theiles enthält einleitende Bemerkungen.
  32. Das 2. handelt von dem Geschlechtstriebe, und in ihm wird richtig gesagt, dass man nicht einem Geschlechte einen stärkeren Geschlechtstrieb zuschreiben könne als dem anderen, dass der Mann als der angreifende scheinbar mehr betheiligt sei , dass aber dafür die Geschlechtlichkeit das ganze Leben des Weibes erfülle. Die Spaltung des Triebes in Detumescenzund Kontrectation-Trieb, die Moll vorgeschlagen hat, und die mir eine höchst bedenkliche Sache zu sein scheint, gefällt W. ausserordentlich, und schnell erklärt er ohne Gründe, das Weib habe nur den 2. Theil. Auch das ist eine recht dreiste Behauptung, dass das Weib im Gegensatze zum Manne von jedem Punkte der Hautfläche aus geschlechtlich erregbar sei. Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, heisst es hier und im Weiteren unzählige Male.
  33. Wichtiger ist das 3. Capitel. Die alte wohlbekannte Thatsache, dass im geistigen Leben des Weibes Gefühle eine wichtigere Rolle spielen als in dem des Mannes, giebt zu tiefsinnigen Ausführungen Veranlassung. Schopenhauer hat gesagt, Gefühl besage, das Etwas im Bewusstsein gegenwärtig sei, das nicht Begriff, nicht abstrakte Erkenntniss der Vernunft ist. W. erfindet einen neuen Ausdruck: Henide, und ist sehr stolz darauf. Nun heisst es, das Weib denkt in Heniden, der Mann denkt artikulirt, er lebt bewusst, sie lebt unbewusst: aut, aut.
  34. Das 4. Capitel handelt von der Genialität. Natürlich lässt sich W. die Gelegenheit nicht entgehen, ausführlich darzulegen, was er sich unter Genie denkt. Man kann auch anderer Ansicht sein, indessen das gehört nicht hierher. Sehr gut hat mir folgender Satz gefallen (p. 133): „In der Jugend, so lange man selbst noch nicht gefestigt ist, sucht ja wohl ein jeder sich dadurch zu festigen, dass er den anderen anrempelt“. Der Schluss ist begreiflicherweise, dass Genialität dem Weibe nicht zukomme. Einverstanden.
  35. Das 5. Capitel handelt von Begabung und Gedächtniss; wir erfahren, dass hohe geistige Fähigkeiten hauptsächlich ein gutes Gedächtniss voraussetzen. Das heisst freilich, das Pferd am Schwanze aufzäumen. Im allgemeinen ist das Gedächtniss eine Funktion der Grundkräfte, d. h. es merkt sich Einer das, wozu er befähigt ist. Ein begabter Mensch hat ein reicheres Leben als ein anderer, denn das, was er erlebt, erregt ihn tiefer als den Oberflächlichen, und die Ereignisse prägen sich ihm deshalb ein, weil er einen bedeutenden lnhalt hineingelegt hat. Da im grossen und ganzen das Weib nur persönliche Interessen hat, an den Sachen keinen rechten Antheil nimmt, so wird selbstverständlich der lnhalt seines Gedächtnisses relativ ärmlich sein. Aber die Behaupt nng. für Ereignisse, die mit gleicher Gemüthsbetheiligung erlebt worden sind, habe das Weib ein schlechteres Gedächtniss als der Mann, ist rein aus der Luft gegriffen. Wenn also W. (p. 158) sagt, die Continuität des persönlichen Gedächtnisses fehle gänzIich beim Weibe, so schweift er wieder in Uebertreibung aus. Noch dreister ist die Aussage (p. 166), dem Weibe gehe jegliches Unsterblichkeitsbedürfniss völlig ab. Fühlt er denn bei der gleichen gar keine Scham?
  36. Gedächtniss und Unsterblichkeit hängen so zusammen, dass das Gedächtniss die Erinnerungen am Vergehen hindert, sie nach W.s Redeweise zeitlos macht, dass das Zeitlose allein werthvoll ist, dass das Strehen nach Werth daher in letzter Linie auf das Ewige gerichtet sei.
  37. Beim Weibe fehlen Gedächtniss, Strehen nach Werth, Verlangen nach Unsterblichkeit. Dieses Thema wird auch im 6. Capitel behandelt, das „Gedächtniss, Logik, Ethik“ überschrieben ist. Durch kühne Sprünge gelangt der Begriffskünstler auf die Logik (er nennt es „einen gänzlich neuartigen Uebergang“!) und stellt fest, dass es für das absolute Weib kein principium identitatis (und contradictionis und exclusi tertii) giebt, dass das Weib keine Logik besitzt. Dieser oft gehörte Satz ist in gewissem Sinne richtig, bei W. aber ist er falsch. Die Gesetze der Logik sind die des Willens selbst (vgl. meine Arbeit „über Schopenhauer“, p. 179), nach ihnen läuft jedes ungestörte geistige Geschehen ab, und auch das Thier ist der Logik unterworfen. Der Mangel an Logik, der uns bei den Weibern so sehr auffällt, ist darauf zurückzuführen, dass sie theils nicht bei der Sache sind, theils unfähig sind, mit Begriffen grösseren Umfanges zu arbeiten.
  38. Der Weg zur Ethik geht über das Gedächtniss. Alles Vergessen ist unmoralisch, „es ist Pflicht, nichts zu vergessen“. Dass ein Wesen , das kein Gedächtniss und keine Logik hat, auch kein Verhältniss zur Ethik hat, das kann man sich denken. Das Weib ist nicht widermoralisch, aber es ist „amoralische“. Dieser von nun an unzählige Male wiederkehrende Ausdruck ist sehr komisch. Freilich könnte man die Weiber amoralisch nennen, denn sie beschäftigen sich am liebsten mit Amor, aber W. will sagen unethisch. Wenn jemand vor „diesbezüglich“ (p. 287, 581) nicht zurückscheut, dann darf man allerdings von seinem Sprachgefühle nicht viel verlangen. lch hatte gesagt, das Weib sei nicht unmoralisch, aber moralisch defekt. Schön klingt es auch nicht. aber immer noch besser als amoralisch. Gemeint hatte ich, die Moral des Weibes sei Gefühlsmoral, die Begriffsmoral sei nicht seine Sache. Bei W. giebt es überhaupt nur Begriffsmoral, also geht das Weib natürlich ganz leer aus. Das Hauptstück der weiblichen „Amoralität“ ist die „Verlogenheit“. Auf p. 187 wird die Verlogenheit fälschlich vom schlechten Gedächtnisse abgeleitet; ein guter Lügner braucht gerade ein gutes Gedächtniss (vgl. Talleyrand). An anderen Stellen wird sie anders abgeleitet. Ich hatte gezeigt, dass die relative Verlogenhoit des Weibes durch die Nothwendigkeit der Verstellung im Geschlechtsleben und durch das Verlangen des Schwachen nach einer Waffe erklärt werde. Aber davon will W. nichts wissen, und er kennt nur die absolute Verlogenheit. Nach ihm lügt das Weib, auch wenn es die Wahrheit spricht (p. 384). Es widersteht mir, auf diese hohlen Declamationen weiter einzugehen. Nur noch etwas Scherzhaftes ! Auf p. 193 heisst es: „Der Mann kommt sich gewissenlos und unmoralisch vor, wenn er an irgend einen Punkt seines Lebens längere Zeit hindurch nicht gedacht hat“. Was für herrliche Männer müssen in den Horsälen und Kaffeehäusern Wiens zu finden sein.
  39. Das 7. Capitel eröffnet ein Collegium metalogicum, und ihm folgt ein Abriss der „Ethik“. Die Pflicht ist alles, der Mensch hat nur Pflichten gegen sich selbst, und „es hat weiter keinen Sinn, dass er der Pflicht gehorche.“ Der Prophet fängt an, zu rasen.
  40. Noch toller ist das 8. Capitel: Ich-Problem und Genialität, Variationen über das Thema: Der Genius ist der lebendige Mikrokosmus. Die endlosen Wiederholungen tragen sehr dazu bei, das Lesen schmerzhaft zu machen.
  41. Das 9. Capitel, „männliche und weibliche Psychologie“, kehrt „zu der eigentlichen Aufgabe der Untersuchung“ zurück. Diesmal geht es glatt ab. Wir wissen schon, dass das Weib von Gedächtniss, Logik und Ethik entblösst ist. Nun heisst es kurz: „Das absolute Weib hat kein lch !“ (ganz fett gedruckt), und alles wird noch einmal durchgekaut. lch will nur auf Einiges hinweisen. Auf p. 253 steht ganz unsinniges Zeug über den Verbrecher. Auf p. 255 heisst es, der Mann sei deshalb weniger geeignet zur Krankenpflege, weil er die Schmerzen der Kranken nie mit anschen könnte, dadurch völlig aufgerieben werden würde! Auf p. 255 wird ansgeführt, dass das Weib die Einsamkeit nicht kenne, „ein verschmolzenes Leben“ führe. Das ist richtig, denn der Zweck des Weibes macht eine Art von Parasitendasein nöthig. Der Vf. aber erkennt daraus, dass das Weib „keine Monade ist“ (die Männer sind nämlich welche). „Und wo die Sexualität erloschen ist, dort fehlt auch jedes Mitleid: im alten Weib ist nie auch nur ein Funken jener angeblichen Güte mehr“ (p. 256). Auf p. 257 beginnen schamlose Bemerkungen über die Schamhaftigkeit. „Der absolute Beweis für die Schamlosigkeit der Frauen liegt jedoch darin, dass Frauen untereinander sich immer ungescheut völlig entblössen.“ Man sieht hier, was für Vorstellungen W. von einem Beweise hat, und man fragt sich, wo er denn seine Erfahrungen gesammelt haben möge. Gegen den Schluss hin heisst es (p. 269): „So ist denn ein ganz umfassender Nachweis geführt, das W (d. h. das absolute Weib) seelenlos ist, dass es kein Ich und keine Individualität, keine Persönlichkeit und keine Freiheit, keinen Charakter und keinen Willen hat.“
  42. Indem ich das alles noch einmal durchlese und jede Übelkeit dabei mannhaft niederkämpfe, fühle ich mich veranlasst, den Hut vor mir abzunehmen.
  43. Man sollte es nicht glauben, aber es wird im 10. Capitel: „Mutterschaft und Prostitution“, noch ekelhafter. W. sieht ein, dass Jeder seinen Schmähungen die Mutterliebe entgegenhalten werde. Ja, sagt er, das bedeutet nichts, denn die Mutterliebe ist unsittlich, und überdem ist die Mutter nur die Hälfte vom Weibe, die andere Hälfte ist die Dirne. In Kants Sinne ist nur ein Handeln aus Maximen wahrhaft sittlich, das Guthandeln aus natürlicher Neigungist nur eine Art von Vorstufe. Nach W. aber ist es unsittlich, d. h. nach deutschem Sprachgebrauche verwerflich. Später erklärt er die Liebe überhaupt für unsittlich, und es zeigt sich dabei, was für eine dürre Pflanze W.s Ethik ist. Der gesund Empfindende wendet sich von einer Lehre, die mit Herzlosigkeit gleichbedeutend ist, entrüstet ab, ja Leute, die härter urtheilen als ich, möchten meinen, die "Ethik" habe eine verzweifelte Aehnlichkeit mit der Ruchlosigkeit. Ueber die Mutterliebe will ich an einer anderen Stelle reden, es lohnt sich kaum, auf W.s Sätze einzugehen. Aber über die Dirne muss ich noch ein paar Worte sagen. Das Dirnenthum ist eine Form der Entartung, und die Dirne entspricht dem Verbrecher bei den Männern. Gewiss gehört zur Kenntniss des Menschen auch die des Verbrechers, aber die Criminalanthropologie ist ein Gebiet für sich, denn in halbwegs normalen Verhältnissen ist der Verbrecher eine Ausnahme. So ist auch die Dirne in einem noch nicht verrotteten Volke eine Ausnahme. Höchstens im Schmutze der Grossstadt mag es manchmal scheinen, als ob die Hälfte der Weiber aus Dirnen bestünde. Wäre es wirklich so, so wären wir längst zu Grunde gegangen. Ja, seinem eigenen Volke, das W. allerdings mit Schmutz bewirft, hat nur die Reinheit des Familienlebens die Existenz bewahrt, denn die jüdischen Frauen gelten mit Recht in ihrer Mehrzahl für gute Gattinnen und gute Mütter. Die Gleichstellung von Mutter und Dirne ist widerlich und sinnlos. Will aber W. jede Koketterie, die ja auch bei dem harmlosen Thiere vorkommt, zum Dirnenthume rechnen, so begeht er eine höchst tadelnswerte Verschiebung der Begriffe. Im Einzelnen trifft man begreiflicherweise noch viel Schlimmes, und der Jüngling behauptet allerhand Dinge, die niemand wissen kann, er am wenigsten. Muthvoll z. B. erklärt er, es gebe kein Weib, das nicht in Gedanken die Treue gebrochen habe, ohne dass es sich aber Vorwürfe machte. Auf p. 277 erfahren wir, dass bedeutende Menschen stets nur Prostituirte geliebt haben. Und so geht es fort.
  44. Im 11. Capitel, "Erotik und Aesthetik", beginnt das philosophische Phantasiren wieder. Ueber die kühne Aesthetik W.s, die in dem Satze gipfelt, die Natur werde von der Kunst geschaffen, nicht umgekehrt, wollen wir nicht weiter reden. Es würde zu weit führen, und ich kann da auf „Kunst und Künstler“ verweisen. Dagegen scien der „Liebe“ W.s noch einige Worte gewidmet. W. bringt Liebe und geschlechtliches Verlangen in Gegensatz, beide zugleich seien nicht möglich, die Berührung zerstöre die Liebe. Etwas ist ja an der Sache, aber W. verzerrt wieder die Wahrheit. Vielleicht könnte man am besten von „scheuer Liebe“ reden, wenn man die „hohe“ Liebe meint, von der Wolfram von Eschenbach singt. Sie scheint unter drei Bedingungen vorzukommen, als Einleitung zur echten Liebe, als dichterische Fiction und als krankhafte Erscheinung. Die normale scheue Liebe ist Sache der noch unerfahrenen Jugend, die süsse „Eselei“, das beliebte Thema der Dichter. Der schwärmende Jüngling weiss noch nicht, was er will, ist er aber ein annähernd normaler Mensch, so bleibt er nicht in diesem Stadium. Ist er ein Dichter, so wird er aus sozusagen technischen Gründen wünschen, dass die Schwärmerei von der Realität getrennt bleibe, denn jene ist seiner poetischen Thätigkeit förderlicher. Petrarca z. B. schlachtete seine scheue Liebe aus. Ueber das „Ewigweibliche“ Goethes habe ich an anderer Stelle schon gesprochen. Unmerkliche Stufen führen in das Pathologische hinein. Im entarteten Menschen spaltet sich die Liebe, der Mensch zerfällt in Heinrich und Wolfram, und neben solchen Doppelwesen finden wir hier rein sinnliche, dort rein schwärmerische Menschen. Der Liebeschwärmer, der die Berührung scheut, zeigt stets auch andere Zeichen der Entartung; seine Karrikatur und Vollendung ist der an der sogenannten Erotomanie Leidende. Diese Dinge stehen in ziemlich naher Beziehung zur Hysterie, und gerade in W.s Darstellung ist der hysterische Charakter unverkennbar.
  45. Das 12. Capitel mit dem tiefsinnigen Titel: „Das Wesen des Weibes und sein Sinn im Universum“, muss uns etwas länger beschäftigen. Gleich im Anfange (p. 342) steht ein schöner Satz: „Der tiefststehende Mann steht noch unendlich hoch über dem hochststehenden Weibe“. Das unterstreicht er zweimal, der muthige junge Mann. Dann folgt die etwas unsaubere Ausführung über die Kuppelei. W. erklärt nämlich, das einzige Positive, was man vom Weibe aussagen könne, sei das, dass sei kuppele. Es liegt auf der Hand, dass das Weib, dessen Lebensaufgabe die Fortpflanzung der Art ist, für die geschlechtlichen Angelegenheiten mehr Interesse haben muss als für alle anderen, dass sie in der Vereinigung der Geschlechter und im Kinde den Sinn des Lebens sehen und, stolz auf ihren Beruf, den Dienst ihres Gottes, soweit wie die Sitte es gestattet , fördern wird. Wozu also W.s Declamationen ! ?
  46. Den Einwurf, es gebe doch weibliche Personen, die anders seien, als er das Weib schildert, weist W. mit der Erklärung ab, solche seien hysterisch. „Jene Frauen, die als Beweise der weiblichen Sittlichkeit angeführt werden, sind stets Hysterikerinnen“ (sic). Nun folgt eine Iange Auseinandersetzung, in der der junge Doctor der Philosophie uns klar macht, was es eigentlich mit der Hysterie auf sich babe. Im Anschlusse an die Lehren von Breuer und Freud betrachtet er die hysterischen Störungen als die Wirkungen eines inneren Kampfes. Der natürliche Mensch im Weibe verlange durchaus nach der geschlechtlichen Vereinigung , ihm trete aber eine zweite Persönlichkeit gegenüber, denn durch Erziehung und Sitte seien dern Weibe die männlichen Anschauungen von Schamhaftigkeit, Jungfräulichkeit usw. suggerirt worden. In ihrer unbewussten Verlogenheit halte die Patientin das künstliche lch für das wahre, das echte für den Feind, oder den „Gegenwillen". Dadurch, dass das natürliche Ich unterjocht werde, entstehe die Krankheit , die geheimen Wünsche werden in körperliche Störungen „konvertirt", wie Freud sagt. An alledem ist so viel richtig, dass der Kampf zwischen Fleisch und Geist (um es kurz zu sagen) im weiblichen Leben eine grosse Rolle spielt, und dass doch viele weibliche Personen kein Bewusstsein davon haben, weil von vornherein das fleischliche lch unter die Schwelle des Bewusstseins gedrückt wird; ferner, dass bei Personen mit hysterischer Anlage der innere Kampf sich sehr oft in hysterischen Symptomen entlädt, und dass Viele, die wegen übermenschlicher Tugend gerühmt worden sind, in Wirklichkeit Hysterische gewesen sind (Büsserinnen, Heilige). Dagegen kann davon gar keine Rede sein, dass bei allen Hysterischen der Widerstreit zwischen Begehren und Sitte zu Grunde liege, noch weniger davon , dass ein solcher Widerstreit hysterisch mache. Die Hypothese von Breuer und Freud ist durchaus nicht allgemein anerkannt, anch ich halte sie für eine unzulässige Verallgemeinerung. Doch das sind schliesslich innere Angelegenheiten der Neurologen. Charakteristisch ist, dass in diesen schwierigen Fragen, bei denen die Sachverständigen nicht einig sind und nur mit Vorsicht reden, der philosophische Jüngling gar keinen Zweifel kennt; er schwadronirt darauf los und wäscht den Aerzten den Kopf. Ich will nur noch einige Curiositäten notiren. "Wer aber sich hypnotisiren lässt, der begeht die unsittlichste Handlung, die denkbar ist" (p. 364). Der Scharfsinn der Hysterischen ist nach W. ein Theil der suggerirten Pseudo-Persönlichkeit ! Nebenbei gesagt: Die Mehrzahl der Kranken ist eine stumpfsinnige Gesellschaft, und der Scharfsinn ist bei den Hysterischen gerade so eine Ansnahme wie sonst. Die Hysterische ist nach W. der Typus der folgsamen Frau und ihr Gegentheil, die Megäre, ist nie hysterisch (p. 368). Es sollte mich freuen, wenn W. einmal nähere Bekanntschaft mit der hysterischen Megäre machte. Frigide Frauen „sind, wie ich, in Übereinstimmung mit Paul Solliers Befunden, hervorheben kann, stets Hysterikerinnen" (p. 370). Wo mag sich denn der Kliniker W. seine werthvollen Erfahrungen erworben haben?
  47. Der zweite Theil des Capitels (der Sinn im Universum) ist grauenhaft. Aus ihm stammt die auf p. 19 wiedergegebene Stelle. Es geht ganz nach der Art der früheren Spassphilosophen zu: Der Mann ist das Subjekt, das Weib das Objekt, der Mann ist die Form, das Weib die Materie, der Mann ist das Etwas, das Weib das Nichts. Das Weib ist die Schuld des Mannes, der Verbrecher im Manne hat das Weib geschaffen, denn es ist nichts als die Objektivirung seiner Sinnlichkeit. Wenn jemand gar keine Scheu kennt, dann hat er freilich leicht philosophiren.
  48. Das Abscheulichste im ganzen Buche ist das 13. Capitel, und bei ihm hat die Uebelkeit über meinen guten Willen gesiegt. Dieses Capitel, das ebensogut hätte wegbleiben können, handelt vom Judenthume, d. h. W., der erklärt, er sei selbst Jude, schimpft unbändig auf das Judenthum. Dem Juden wie dem Weibe fehle die Persönlichkeit, der Geist, „die kantische Vernunft", der Jude sei kein Gentleman, sei ganz schamlos, usw. Inwieweit W. Unrecht hat, das habe ich nicht zu untersuchen, aber dass eine solche Prostitution ekelhaft ist, das weiss ich.
  49. Nun kommen wir, Gott sei Dank, zum letzten Capitel, „Weib und Menschheit" , und auvh bei ihm können wir uns kurz fassen. Das Weib ist, wie wir wissen , die verkörperte Geschlechtlichkeit und sonst nichts. Wird die Geschlechtlichkeit verneint, so muss das Weib verschwinden, und die Geschichte ist aus. In der That sagt W. (p. 456): „Es ist aber gezeigt, dass die Frau nicht ist, und in dem Augenblicke stirbt, da der Mann gänzlich nur sein will". Die „Ethik" lehrt, dass der Mensch nie als Mittel, sondern immer nur als absoluter Zweck zu betrachten ist. In der geschlechtlichen Vereinigung aber wird der Mensch als Mittel betrachtet. Die Ethik verlangt daher vollkommene Keuschheit, Aufhören der Geschlechtlichkeit, Tod des Weibes. Hätte W. sein Buch so endigen lassen, so ware Consequenz in dem Unsinne. Aber nein, der Hase schlägt einen Haken. W. macht schnell eine neue Entdeckung und sagt (p. 450): „In der Frau ist noch ... eine letzte, wenn auch noch so kümmerliche Spur der intelligiblen Freiheit; wohl deshalb, weil es kein absolutes Weib giebt." Also der Hermaphroditismus rettet dem Weibe das Leben. Die „kümmerliche Spur der intelligiblen Freiheit"(!) scheint mächtig zu wachsen, wenn der Mann von dem eigentlichen Weibe nichts mehr wissen will. Auf p. 457 lesen wir, dass, wenn der Mann vollkommen keusch ist, allerdings das Weib untergeht, „aber nur, um aus der Asche neu, verjüngt, als der reine Mensch sich emporzuheben."
  50. Man könnte glauben, W. scherze, aber er scherzt niemals. Natürlich fällt einem das 4. Buch des jungen Schopenhauer ein: Der Wille wendet sich, verneint das Bisherige und macht der Noth ein Ende. Aber bei Schopenhauers Phantasieen hat man den Eindruck des tiefsten Ernstes, und bei W. hat man ihn nicht. Die Geschichte macht den Eindruck einer hysterischen Contrefaçon. Ich sage nicht, dass es ihm nicht Ernst sei, aber es macht den Eindruck, als wäre es nicht. Mit peinlichem Gefühle, Widerwillen gemischt mit Bedauern, schliesst man das Buch.
  51. Wie kommt es, dass es dem bedauernswerthen jungen Manne so sehr missglückt ist? In den alten Zeiten ist es zuweilen vorgekommen, dass sich Ungeduldige, denen der rechte Weg zu lang vorkam, dem Teufel verschrieben, um ihre Wünsche befriedigt zu sehen. Der Teufel versprach, ihnen alles Gute rasch und ohne Mühen zu verschaffen, am Ende aber war es Wind, und die Geschichte ging betrübsam aus. Das ist W.s Schicksal: Er hat sich dem Begriffsteufel verschrieben, und dieser hat ihn geäfft . Dem Menschen ist die Vorschrift gegeben, sich mit saurer Mühe Erfahrungen zu erwerben. Erfahrung auf Erfahrung legend baut er sich eine Treppe, die ihn allmählich zu weiterer Umsicht führt . Fliegen kann er nicht, versucht er es, so ereilt ihn das Schicksal des Ikarus. Das Besondere an W.s Schicksal ist, dass er versucht hat, zwei Herren zugleich zu dienen. Im ersten Theile seines Buches hat er versucht, sich auf festen Boden zu stellen, und obgleich sich sein hochfahrendes Wesen schon da verräth, so hat er doch mit seinem "Principe" der Zwischenformen einen relativ bauchbaren Leitfaden gewonnen. Wäre er diesem Principe treu geblieben, so hätte er einsehen müssen, dass die Verschiedenheit der Geschlechter immer nur relativ sein kann. Zwischenformen wären ja sonst nicht möglich . Aber, der böse Geist hat ihm eingeblasen, er dürfe die Relativität nicht anerkennen, das sei Oberflächlichkeit, er müsse auf das Absolute ausgehen. Diesem bösen Geiste dient W. im zweiten Theile seines Buches, und so zerstört er wieder, was er im ersten Theile, als er sich noch an bewährte Muster anschloss, aufgerichtet hat. Wie kann sich das mischen, was „principiell“ verschieden ist? Kann der Charakter, „ein konstantes einheitliches Sein", in Stückchen zertheilt werden? Lässt sich das intelligible Ich zerspalten? Ueberall herrscht die greulichsto Wirrniss, und nichts passt zusammen. Will W. ein Priester zweiter Classe sein, so begnüge er sich mit der Scholastik, dann bildet er wenigstens „ein einheitliches Sein." Dann braucht er die biologischen Kenntnisse, von denen er sich mit Mühe eine so grosse Menge verschafft hat, gar nicht, und alles geht leicht im reinen Aether des Gedankens vor sich. Aber nach beiden Seiten hin dienern, rechts Biolog und links Scholastiker sein, das geht nicht.
  52. W. ist ein geistreicher Mensch (vgl. p. 132), wäre es nicht besser, er schriebe Feuilletons?
  53. Nun nehme ich für immer von W. Abschied. Es ist wahr, ich habe ihn ein wenig gezaust, aber da trösten mich seine eigenen Worte. Er sagt (p. 230), man beweise einem seine Achtung dadurch, dass man sich mit ihm beschäftigt, und man ehre ihn, wenn man ihn zu erkennen sucht. Also muss er doch einsehen, dass ich ihn achte und ehre.
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