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Guest User

"Was ist denn bloß mit Reiner los?" - Dr. Oll, Teile I-IV

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Feb 21st, 2019
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  1. Grüße gehen raus an den Meister Dr. Oll.
  2.  
  3. Original Pastes:
  4. https://pastebin.com/YdU1QJXt
  5. https://pastebin.com/WBjf8m5i
  6. https://pastebin.com/a6r7BbHW
  7. https://pastebin.com/aXF9CHYD
  8.  
  9.  
  10. Was ist denn bloß mit Reiner los?
  11.  
  12. Zunächst: Behindert ist er nicht. Mit den Genen ist alles soweit in Ordnung, sieht man mal von den Kauleisten ab, die so gut aufeinanderpassen wie Pizza und Nutella. Dafür hat Reiner mit den Haaren Glück, denn er hat sowohl dichtes und volles Haupt- als auch Körperhaar. Da müssen die meisten Männer sich entscheiden, er nicht. Aber in Sachen Pensi ist dann wieder Schmalhans der Küchenmeister.
  13. Insgesamt aber ein Paket, das schlimmer hätte ausfallen können. Man stelle sich unsere Fettsau mit großen, abstehenden Ohren vor.
  14.  
  15. An den Genen liegt es nicht. Hätte man Reiner nach der Geburt vertauscht und in einem bürgerlichen Haushalt aufwachsen lassen, gäbe es den Drachenlord heute nicht.
  16. Aber Reiner durfte nicht in bürgerlichen Verhältnissen aufwachsen, sondern musste seine formativen Jahre im Alptraumhaus Asbach (ASB8) verbringen: Ein im Wendejahr ’89 schon reichlich verlottertes Anwesen, bewohnt und nicht betrieben von einem Pärchen ohne nennenswerte Schulbildung, Ambition oder Reflexionsvermögen und insgesamt der Beweis, dass in strukturschwachen Gegenden Grundbesitz und Proletentum Hand in Hand gehen können.
  17.  
  18. Reiners Mutti: Bei seiner Geburt wohl Mitt- bis Endzwanzigerin, schon damals nicht recht ansehnlich und für das nächste Vierteljahrhundert vollauf damit beschäftigt, so richtig rettungslos aus dem Leim zu gehen und allen Nähten zu platzen. Von der eigenen Tochter „Stinkie“ genannt, muss sie sich unmittelbar nach dem Ableben ihres nichtsnutzigen Mannes einen neuen Stecher suchen (und landet bei einem Fernfahrer), weil sie auch jenseits der vierzig nicht in der Lage ist, auch nur ein Trauerjahr lang selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.
  19.  
  20. Reiners Vati: ein bildungsferner, ambitionsloser Malocher, der (schichttypisch) jede Tätigkeit jenseits körperlicher Arbeit als Drückebergerey abtut, des Hochdeutschen nicht mächtig ist, bis weit in die Neunziger hinein seine Garderobe aus den Siebzigern spazierenträgt (komplett mit Schnurres und Pädobrille) und seiner Familie weder Auslandsreisen noch Zukunftsperspektive verschaffen kann und sie stattdessen mit vernagelter Weltsicht und uninformierten Meinungen für die Zukunft ruiniert.
  21.  
  22. Ein harter, ekliger Spekulatius:
  23. Dass Reiner Gewalt für ein probates Lösungsmittel für alltägliche Probleme hält, hat er selber mehrfach handfest bewiesen.
  24. Und es ist nun einmal Tatsache, dass Gewalttäter in den allermeisten Fällen vorher selbst Opfer von Gewalt waren – so haben sie ja gelernt, dass Gewalt sehr wohl eine Lösung ist, auch wenn in der Schule stets das Gegenteil gepredigt wird.
  25. Erinnert sei auch an Reiners wiederholte Äußerungen vor der Kamera, sein Vater hätte Verhalten, wie die Häider es zeigen, mit den ultrabrutalsten Maulschellen quittiert, die man sich nur vorstellen kann.
  26. Man bedenke weiterhin, dass das Winklersche Weibsvolk gar nicht schnell genug aus dem Alptraumhaus verschwinden konnte und seitdem nie wieder dorthin zurückgekehrt ist.
  27. Alles keine Beweise, aber doch Hinweise auf Rudis Gewalttätigkeit.
  28. Hingewiesen sei auch darauf, dass Rudi kein brutaler Schlägertyp gewesen sein muss, um Schaden bei Reiner anzurichten. Drohungen oder die berühmte ausgerutschte Hand können schon reichen, um die Entwicklung des Kindes nachhaltig zu schädigen.
  29.  
  30. So oder so wächst Reiner in sehr suboptimalen Verhältnissen auf, angewiesen auf eine Mutter, die von Jahr zu Jahr weiter in ihrem Panzer aus Kummerspeck verschwindet und dabei freilich versäumt, ihrem Sohn die nötige Fürsorge zukommen zu lassen.
  31. Reiners Entwicklungsdefizite beginnen in der oralen Phase. Fehlende Fürsorge in dieser Phase kann eine lebenslange orale Fixierung verursachen: davon betroffene Leute stecken sich gern Dinge in den Mund (Muselpfeife, Alkohol, Käsemakkaroni), können übermäßige Esser, Säufer, Raucher werden und seltsames Kussverhalten entwickeln. Viele kochen auch gern für sich und andere, was mit dem Themenkomplex von versorgen und versorgt werden erklärbar ist.
  32.  
  33. Vom Vater kriegt ein kleiner Junge die Welt erklärt. Beim Älterwerden erlebt er dann, dass Vati eben doch nicht alles weiß und lernt, Ansichten zu revidieren. Es sei denn, er wächst hinter den sieben Bergen auf, dann bleibt die Autorität des Vaters ungeprüft und noch der letzte Schwachsinn aus dem Weltwissen eines fränkischen Proleten wird im Kopp des Jungen zur Gewissheit.
  34.  
  35. Geboren am 2. August: Ein Kann-Kind, heißt, um im Herbst ‘95 die Schule besuchen zu dürfen, muss Reiner eine Tauglichkeitsprüfung bestehen. Reiners Schulkarriere beginnt also erst ’96 und gleich auf der Sonderschule.
  36. So ist das erste, was er lernt, dass er nicht wie die anderen Kinder ist. Reiner ist von Stund an ein ganz besonderer Mensch. Solche Andersartigkeit wird natürlich von vielen als defizitär ausgelegt – und es ist ein ebenso natürlicher und gesunder Schachzug, darauf mit einem „nicht schlechter, nur anders“ zu reagieren. Reiner reagiert – sicherlich darin bestärkt oder gar angeleitet von seinen Eltern, die natürlich auch die Folgen ihrer Verwahrlosung nicht wahrhaben wollen – mit einem „nicht anders, sondern besser“. Alle anderen können nur nicht verstehen, was für ein Supertyp der Reiner ist, die sehen halt nur, dass er nicht ins Raster passt und halten ihn deshalb für dümmer.
  37.  
  38. Typisch für solche Idiotenargumentation ist freilich auch, dass man die Diagnose der dummen Anderen gern akzeptiert, wenn man selbst Vorteile davon hat.
  39.  
  40. Ihr Kind kann keine Rechtschreibung? Nicht seine Schuld, nicht ihre Schuld, ihr Kind hat „LRS“.
  41. Ihr Kind ist schlecht in der Schule, hat deshalb keine Freude am Unterricht und macht deshalb nicht richtig mit? Nicht seine Schuld, nicht ihre Schuld, ihr Kind hat „ADS“.
  42. Und weil das echte, richtige Krankheiten sind, kann man da etzadla nichts gegen machen, kommt von allein, geht von allein und wenn nicht, ei, dann wird halt nichts aus dem Abitur. Muss ja auch nicht sein, Papi und Mami haben ja auch nur die Haubdschuleeeeh geschafft.
  43.  
  44. Reiner hat keine LRS. Mit dem Hirn ist biologisch wie gesagt alles in Ordnung.
  45. Es ist nur Tatsache, dass Kinder nicht von allein Lesen und Schreiben lernen. Dazu ist viel Fleiß und stures Wiederholen und Wiederholen und Wiederholen nötig. In einem Umfeld, in dem die einzigen Druckerzeugnisse das Telefonbuch und der Shell-Autoatlas sind, ist diese Wiederholung nur mit elterlichem Druck zu bewerkstelligen. Wenn aber die Eltern sich nicht kümmern, lernt der Jung halt nicht lesen und schreiben. und wenn er diese Grundvoraussetzungen nicht hat, stellt sich auch keine Freude am Unterricht ein, sondern jede Stunde ist eine Qual. Da lässt man sich dann gern „ADS“ attestieren, um eine Entschuldigung für das elterliche Versagen zu haben. Und wenn die Eltern dumme Bauerndullis sind, wird ihnen natürlich nicht klar, dass diese Diagnose eben nicht heißt, dass man sich jetzt nicht mehr um das Verhalten des Kindes kümmern muss.
  46.  
  47. Reiner ist ein sehr dummer Mensch. Und wie bei fast allen dummen Menschen sind daran seine Eltern schuld. Wenigstens war er ein warnendes schlechtes Beispiel für die jüngere Schwester, um die sich dann zumindest so weit gekümmert wurde, dass sie eine normale Schule besuchen und einen Abschluss abliefern konnte.
  48.  
  49.  
  50. Kinder brauchen Strukturen und Konsequenz. Handlung a zeigt Folge b; so lernen Kinder, Handlung a entweder zu wiederholen oder zu unterlassen. Wenn aber Handlung a mal Folge b zeigt und mal nicht, und Handlung c ebenfalls mal Folge b hat und mal nicht, verstehen Kinder bald die Welt nicht mehr, fühlen sich überfordert und fürchten ständig, irgendwas falsch zu machen. Außerdem reagieren sie auf negative Folgen bald aggressiv, weil sie diese nicht mit eigenem Fehlverhalten kausal verknüpfen können und sich also ungerecht behandelt fühlen.
  51.  
  52. Weiterhin ist Kausalität ein Modell, das schon im frühkindlichen Hirn immer wieder benutzt wird, um die Welt zu verstehen. Wenn die Eltern sich um ihr Kind nicht kümmern und ihm nur immer mal wieder Zuneigung zukommen lassen, dann bringen sie ihrem Kind ohne es zu wollen bei, dass zwischen dem Geliebtwerden und seinem Verhalten irgendein Zusammenhang bestehen muss. Das Kind lernt, dass Liebe verdient werden will und entwickelt Sendungsbewusstsein und Geltungsdrang.
  53.  
  54. Freilich werden nur die wenigsten Leute ständig bedingungslos geliebt – folglich entwickeln sehr, sehr viele Menschen eine narzisstische Tendenz. Wer aber mit normaler Selbstreflexionsfähigkeit ausgestattet ist, lernt halt irgendwann, sich selbst realistisch einzuschätzen, seine Stärken und Schwächen zu akzeptieren und entwickelt folglich gesunden Selbstwert.
  55. Reiner ist dafür zu blöde. Er kann nichts richtig, also kann er gar nicht anders, als die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Und weil er gelernt hat, dass es Anerkennung nicht für umme gibt, muss er sie sich verdienen, um sie aber zu verdienen, muss er Leistung zeigen. Wie aber Leistung zeigen, wenn man eigentlich nichts kann?
  56.  
  57. Was hat Reinerle eigentlich gelernt? Dass er ein danz doll besonderer Mensch ist. Also bildet er sich darauf etwas ein – er hat ja sonst nichts, worauf er sich etwas einbilden könnte. Und beginnt also, seinen Sonderstatus zur Leistung umzudeuten und dafür lauthals Anerkennung einzufordern. Reiner braucht länger als die anderen, alles fällt ihm schwerer – also muss er auch für schlechtere Leistungen mehr gelobt werden als die anderen.
  58. Wenn seine Sonderschule integrativ war, ist er in einer Klasse mit richtig behinderten Kindern, also so ganz armen Würstchen, bei denen die Chromosomenzahl nicht stimmt. Von den genetisch gesunden Kindern wird in solchen Klassen gefordert, dass sie besondere Rücksicht nehmen, besondere Reife zeigen, sich bescheiden.
  59. Dann kommt aber so ein geltungssüchtiger Quallemann wie Reiner daher, den seine immer fetter werdende Mutti auch schon ganz gut rundgenudelt hat und fordert ständig Sonderlob. Das bleibt ihm verwehrt, heißt für ihn: ‘Ich werde gemobbt.‘ Im Lesen und Schreiben wird er dann womöglich noch von einem fleißigen Mädel mit Martin-Bell-Syndrom überholt und ist endgültig unten durch.
  60.  
  61. Endlich aus der Schule raus wird er postwendend in eine ‘berufsvorbereitende Maßnahme‘ gesteckt und landet zwischen lauter anderen Dullis, die zwar noch Zahlen und Buchstaben verwechseln, aber trotzdem fest davon überzeugt sind, die Welt würde sich um ihren Arsch drehen. Und hier, zwischen lauter großmäuligen Hauptschulversagern, ist Reiner zum ersten Mal im Leben unter seinesgleichen.
  62. Jetzt hat er zwei Aufgaben:
  63. 1.) Seinen Platz in der Gruppe finden, also sich anpassen, Vorbilder emulieren, Teil eines Ganzen werden.
  64. 2.) Ein Distinktionsmerkmal entwickeln, also unverwechselbar werden
  65. Reiner erledigt beides zusammen, indem er sich einer Subkultur anschließt. Dazu braucht es wiederum zwei Dinge, die im Leben eines Jungen natürlich nicht fehlen dürfen, nämlich laute Mucke und schön saufi machen. Als Meddler kann er beides tun.
  66. Warum wird er Meddler? Hibbhobber und Raver sind zu sportlich. Das sind durchtrainierte Tänzer, die gern Drogen nehmen und im Club das Oberteil ausziehen. Reiner hat Herrentitten und keine Kohle für Drogen, also sind Raver und Hibbhobber gleich der Feind.
  67. Was Subkulturen anbelangt, sind Meddler sowas wie der Besenwagen. Wer die Aufnahmekriterien anderer Kreise nicht erfüllt, findet seine Heimat im Meddl. Man muss nicht tanzen können, nicht mitsingen und braucht nicht groß Kohle für Drogen oder Markenklamotten – ein Bändschirt reicht. Man kann auch aussehen wie mit dem Brotkanten aus dem Wald gelockt und genau so riechen, egal, basst scho. Hauptsache man hat ein großes Maul und kann herumposen. Reiner und der Meddl, das passt wie Faust aufs Gretchen. Die Erbärmlichkeit der peer group kann man sich ja schönsaufen und reden muss man mit dem Gesocks auch nicht, dafür ist die Mucke ja eh zu laut.
  68. Der Spezialwortschatz der Meddler bietet Reiner außerdem herrliche Gelegenheit, endlich mal Fachmann zu sein. Die vielen verschiedenen Genn-Rehs sind für ihn unverzichtbares Fachwissen und natürlich hält er sich sofort für einen mit allen Wassern gewaschenen Profi, weil er Pagahnmeddl und Deffmeddl auseinanderhalten kann – wenn ihm jemand vorher zweimal g’sacht hat, dess des etzadla fei Pagahnmeddl is.
  69. Jetzt ist Reiner wer, jetzt hat er was. Jetzt hat er auch Leute, die ihn toll finden müssen, nur weil er ein bestimmtes Schört trägt und ohne Rücksicht auf Verluste mit der hässlichen Rübe wackelt. Davon wird er natürlich nicht klüger: In seiner neuen Rolle als Stimmungskanone scheitert er innerhalb eines Jahres in drei beruflichen Tätigkeiten, dann verlängert die Zeitarbeitsfirma seinen Vertrag nicht mehr. Die nächste wirft ihn gleich nach dem ersten Fehlversuch aus der Kartei, vermutlich wegen großem Maul und Inkompetenz gepaart mit Trägheit und Respektlosigkeit. Aber als Meddler darf er auch stolz darauf sein, dumm wie Schifferscheiße durchs Leben zu watscheln. Bestätigung und Anerkennung findet er auch dafür, einfach der größte Hohldübel der Gruppe zu sein; der dickste ist er ohnehin.
  70. In dieser Phase muss vermutlich auch ein besoffenes Kekswichsen dafür herhalten, später als bisexuelle Erfahrung hochgejuxt und nimmermüde zum Beweis der eigenen Bewandertheit herausposaunt zu werden – aber Reiners Sexualität verdient eine gesonderte Behandlung.
  71.  
  72. Mit der Tätigkeit als Türstopper beim Plaste-Jakob hat Reiner endlich auch eine Identität als Mann, der wie es sich für einen Mann gehört eine Arbeitsstelle hat.
  73. Jetzt müsste eigentlich die Zeit stillstehen. Reiner hat nach einigen Anlaufschwierigkeiten endlich einen Platz gefunden, wo er immer sein kann, er hat eine Gruppe, die ihm die Anerkennung liefert, die er zum Funktionieren braucht und die ihn stützen kann, bis Reiner sich in seiner überschaubaren Welt zurechtfindet, sich eine geeignete Vaterfigur sucht und ein Gespür für den eigenen Wert entwickelt. Als mittelprächtiger Sonderschüler mit schlechtem Start hat Reiner es doch noch geschafft.
  74. Aber Pustekuchen: die Firma macht pleite und Reiner ist plötzlich allein und völlig schrankenlos, weil Rudi eingebuddelt wird.
  75.  
  76. Aus dem Hochgefühl heraus wird Reiner in eine völlig neue Situation geschleudert, die er aber erstmal bis zum Anschlag auskostet: Endlich darf er tun und lassen, was er will. Statt in die Zukunft zu schauen, die plötzlich alles andere als rosig aussieht, verlässt er sich ganz auf seine imaginierten Fähigkeiten als großer Zampano – schließlich ist er das ja eben noch gewesen! Mutti weg? Na endlich! Die olle Presswurst hat sich eh nie gekümmert und zuletzt immer nur rumgeheult. Arbeit weg? Scheißegal, es ist ja trotzdem Kohle die schwere Menge da! Und als Erstgeborener übernimmt er den Hof, ob in echt oder nur pro forma ist ja ersma egal, sowohl ihm als auch der minderjährigen Dorfjugend, die er jetzt im Erdgeschoss bewirtet, bis es da aussieht wie bei Cracknegers unterm Bett, komplett mit Graffiti und Löchern in der Wand.
  77. Langeweile kommt auch nicht auf, denn endlich darf Reiner ins Internet.
  78. Statt in sich zu gehen, die Lage realistisch zu bewerten und rasch die richtigen Schlüsse zu ziehen, spielt Reiner König der Drachenschanze, legt sich in edler Bescheidenheit den Beinamen „Lord“ zu und schwelgt in der irrigen Annahme, dass jetzt endgültig das süße Leben seine Vollendung gefunden hat.
  79. Und das Verhängnis nimmt seinen Lauf.
  80.  
  81. Eine von Rudis ganz besonders schlauen Ideen war der Verzicht aufs Internet. Gut, wer soll einem ambitionslosen Proleten auch Emails schreiben wollen; welche Nachrichten oder Wissensressourcen über die Welt soll auch einer nutzen, der fest davon überzeugt ist, alles eh schon besser zu wissen? Rudi wäre nur damit konfrontiert worden, wie klein und erbärmlich seine Welt eigentlich wirklich ist, also entscheidet er kurzerhand, dass ihm die größte Erfindung der Moderne nicht ins Alptraumhaus kommt und damit basta.
  82. Kaum wird er eingebuddelt, hält das Internet Einzug in der Drachenschanze.
  83. Und ein immerhin schon volljähriger Jungmann, dem bislang als Wichsvorlage nur die Unterwäschemodelle aus dem Quellekatalog zur Verfügung standen, kann endlich die für seine Generation längst obligatorische Pornosozialisierung nachholen – und schießt sich prompt den ohnehin schon gestörten Trieb rettungslos kapott.
  84. Das Internet ist der letzte Baustein in dieser entscheidenden Lebensphase von Reiner. Die Herrschaftsübernahme in der Schanze, absolute Pflichtfreiheit und jede Menge Tagesfreizeit gepaart mit für Reinersche Verhältnisse haufenweise Kohle haben schon dazu geführt, dass er seine Situation fatal fehlinterpretiert hat: Anstatt zu erkennen, dass ohne feste Arbeitsstelle und familiären Rückhalt seine Zukunft in ernster Gefahr ist, erklärt er sich selbst zum ‘Lord‘ und lässt sich von einer Blase minderjähriger Nichtsnutze als Partykönig feiern, der in der Schimmelburg seine Vasallen mit Schnaps freihält und etwa aufkommende trübsinnige Gedanken einfach brüllend aus der Rübe schüttelt, bis sie rot anläuft.
  85. In diese aus Selbstüberschätzung erzeugte Hochphase wird dann noch der Weg ins Internet frei und zu dem, was Reiner zum ganz großen Glück noch fehlt:
  86. PUUUSSIES! Weiße Pussies, schwarze Pussies, spanische Pussies, gelbe Pussies, heiße Pussies, kalte Pussies, nasse Pussies, stinkende Pussies, haarige Pussies, blutige Pussies, bissige Pussies, Seidenpussies, Samtpussies, Nylonpussies, sogar Pferdepussies, Hundepussies, Hühnerpussies. Und Reiner guckt sie sich alle an und schrubbelt sich dabei den Pimmel kurz und klein.
  87. Soviel Spaß man als Meddler auch haben kann, ist diese Subkultur eine ziemlich deutliche Männerdomäne. Die Meddlpussy an sich ist eine seltene Sorte und wird meistens innerhalb einer Meddlerclique wie ein Wanderpokal herumgereicht – freilich nur unter den erfolgreichen Toppmeddlern. Quallemänner wie Reiner haben da natürlich keine Chance. Das Internet ist dagegen ein Wunderland, in dem es Pussies an jeder Ecke gibt und alle sind sie willig und dauergeil.
  88. Für Reiner ist Sex untrennbar mit dem Internet verbunden. Wenn sowas ginge, wären er und das Internet längst im Bett gelandet. Man denke daran, dass er mit der Drachenlady nicht einfach irgend einen romantischen Bockmist versuchen und versemmeln konnte; seine Avancen bestanden darin, sie ins Internet zu locken. In dem exakten Moment, in dem er drauf und dran war, von Ariellers heißen, lüsternen Lippen zu kosten, surfte er auf Youtube herum. Über seine Seggsschreib-Eskapaden und den Heiratsantrag muss man an dieser Stelle wohl keine Worte mehr verlieren.
  89. IRL hat Reiner mit Weibsvolk überhaupt keine Erfahrung. Die könnten ebensogut auf dem Mond leben, Reiners Sphären kommen mit denen der Weiblichkeit nicht in Berührung. Dahingehende Versuche scheitern kläglich, da bleibt der Pimmel einfach schlaff.
  90. Im Internet und fürs Internet dagegen steht der Fisch so kerzengerade, wie der Fisch halt stehen kann.
  91. Der psychsomatische Narzissmus hat eine sexuelle Komponente, die mit einer Verschiebung oder Ununterscheidbarkeit von Subjekt und Objekt der sexuellen Begierde zu tun hat. Vor Verbreitung der Selbstaufnahme war typisch narzisstisches Verhalten, das eigene Gemächt im Spiegel zu betrachten. Reiners Späherbilder sind ziemlich dasselbe. Sie entstehen nicht für eine andere Person, sie sind Ergebnis einer Situation. Wird Reiner von Wollust überwältigt und resultiert diese Wollust in einer Erektion, nimmt er ein Beweisfoto davon auf, für später, fürs Internet. Ein echter Narzisst würde solche Aufnahmen auch als Wichsvorlage nutzen können, denn er verschiebt wie gesagt die Grenzen zwischen Objekt und Subjekt seiner Begierde, bis alles durcheinandergerät. Wenn Reiner tatsächlich von den eigenen Späherbildern geil wird, ist ihm das vermutlich nur ein weiterer Beweis für seine zusammen-gesponnene Bisexualität. Bemerkenswert ist weiterhin, dass sich seine Zeigefreudigkeit vermutlich dergestalt psychosexuell einsortieren lässt, seine Offenheit oder Freizügigkeit genannte Schamlosigkeit ebenso vermutlich nicht. Die ist einfacher erklärt als Folge seiner Vereinsamung: in der Verwahrlosung, die durch Abwesenheit sozialer Kontakte entsteht, verlernt Reiner zusehends, was sich gehört und was nicht – selbiges gilt übrigens für sein Essverhalten. Der nächste Schritt ist dann das bereits beschriebene Kompensationsverhalten, das aus jeder beliebigen Eigenschaft eine lobenswerte Besonderheit bastelt, die er sich dann auf die Fahne schreibt.
  92.  
  93. Die Frauen, die Reiner aus dem Internet herausfischt, sind keine realen Personen, die mit ihm auf einer Ebene existieren könnten. Er ist halt was Besonderes. Er sieht die Frauen und sie benehmen sich so, wie er sich das Benehmen von Frauen wünscht: Sie zeigen ihm die Fut und lassen sich ficken. Dass es sich um Darstellerinnen handelt, registriert er nur nebenbei.
  94. Trifft er Frauen auf anderen, also nicht-pornographischen Internetseiten, ändert sich jedoch nichts an ihrer Existenz als „Frauen im Internet“: Sie haben eine Fut und Reiner will sie sehen.
  95.  
  96. Die Wichsmarathons, mit denen Reiner seine verspätete Ankunft im Internet zelebrierte, haben ihn auf zweifache Weise konditioniert: Zum einen haben sie Reiner gelehrt, dass das Internet ein herrlicher Ort ist, an dem er Triebabfuhr und Lustgewinn erleben darf. Diese Lektion wird in Teil IV noch eine Rolle spielen.
  97. Zum anderen wurde das Internet seine Anlaufstelle, wann immer er von der Wollust eines Jungmannes überwältigt früher zum Quellekatalog gegriffen hätte. Aber jetzt öffnet Reiner, wann immer der Späher zuckt, den Brauser. Das hat zur Folge, dass er das Internet sexualisiert hat.
  98. Frauen im Internet sind also Sexobjekte. Weil sich Objekt und Subjekt in Reiners Spatzenhirn ständig verschieben und durcheinandergeraten, sind sie auch Sexsubjekte. So dient er sich regelmäßig als eine Art Erfüllungsgehilfe weiblicher Lust an, als ein Objekt, an dem ein supponiertes Subjekt sich abregen kann – freilich nur, um dieses Objekt dann mit Anerkennung und Lob für die vollbrachte Leistung zu überschütten. In dieses Wirrwarr gehört Reiners hartnäckiges Verlangen danach, von einem Subjekt/Objekt gesagt zu bekommen, dass sein Seggsgeschreibsel es zum Abspritzen gebracht habe. Im betreffenden Dialog wählte er aussagekräftig übrigens die Anrede “Frrrau“. Einfach Frau.
  99. Etzadla doch noch ein Wörtchen zu Reiners Seggsschreiben: Diese bestehen ausnahmslos aus stümperhaften Versuchen, hundertmal gesehene Standard-Pornoszenen in Text zu verwandeln. Wie der Rest seines Vokabulars sind sie völlig abgegriffene, generische Versatzstücke, Sprechblasen, Worthülsen. Und als ob er das wüsste, beeilt sich Reiner jedes Mal, bevor er wieder abgegriffene Textbausteine aufeinanderstapelt wie ein Besoffener, der nach zehn Bier versucht mit Legosteinen zu spielen, zu behaupten, seine Seggsschreiben seien ja sowas von hochgradig individualisiert und deshalb besonders wirkungsvoll.
  100.  
  101. Die Internetfrau, die auf ihn reagiert, ist Sexualobjekt und -subjekt zugleich. Objekt, weil er fest davon ausgeht, dass sie ihm wie alle anderen Internetfrauen alsbald die Fut zeigen wird, weil alle Frauen im Internet halt ständig spitz wie Nachbars Lumpi sind. Das weiß er genau, da kennt er sich aus. Subjekt, weil er ihnen genüsslich zu Willen sein will, damit sie ihn dafür bewundern. Die Späherbilder liegen ja schon bereit und für Reiner bedeutet es Lustgewinn, diese Momentaufnahme des voll funktionsfähigen Spähers dorthinein zu stecken, wo er ihn reinstecken will: ins Internet. Er selbst als Objekt seiner eigenen psychosomatischen Begierde macht sich zum Objekt der supponierten Begierde der Internetfrau. Diese wird dadurch zum Subjekt aufgewertet, damit sie Reiner die Anerkennung zollen kann, die er braucht. Diese Anerkennung muss, damit sie wertvoll ist, damit sie funktioniert, eben von einem Subjekt kommen, das er als solches ermächtigt hat.
  102. Und weil es sich bei dem reagierenden Gegenüber um eine Internetfrau handelt, ist es auch völlig gleichgültig, ob es diese Frau auch IRL gibt. Ein reales Treffen mit dieser Frau würde Reiner sowieso nicht verkraften, es würde keinesfalls so ablaufen, wie er das gerne hätte. Denn dass es keine Frau gibt, die zur Schanze kommt und ihm dort die Fut zeigt, ist ihm (oder zumindest einem Teil von ihm) inzwischen klar. Und wenn es eine solche Frau gibt, könnte er nichts mit ihr anfangen. Denn zum Späher wird sein stinkendes Fischlein nur im Internet. Und dort kann es wieder und wieder und wieder mit demselben Lustgewinn in die Internetfrau gesteckt werden. Egal welche. Das ist ja keine echte Frau, es ist immer wieder nur eine Inkarnation der Internetfrau.
  103.  
  104. Einwand: Die von RBS interviewte Dame, die Reiner auf Deubel komm raus in die Schanze locken wollte. Das war keine Internetfrau wie oben beschrieben, die muss er über ein Medium kennengelernt haben (vermutlich Younow), das Reiners Weltsicht vom Internet abgrenzt und trennt. Schdriemen ist nicht Internet – klingt falsch, macht aber in Reiners Spatzenhirn durchaus Sinn; wird hoffentlich auch in Teil IV erklärt.
  105.  
  106. Als Narzisst hat Reiner ein sehr instabiles Selbstbild, das ständig von außen gestützt werden muss. Er braucht andere Menschen, die ihm sagen, dass er toll ist. Er interessiert sich also sehr für die Funktion, die andere Menschen für ihn haben, nicht so sehr für die Menschen als vollständige Persönlichkeiten.
  107. Außerdem trifft es ihn nach wie vor sehr arg, wenn andere Menschen ihm sagen, dass er scheiße ist. Nach all den Jahren ist er verlässlich durch Feld-, Wald- und Wiesenhäid zu triggern, nach all den Jahren kann er dieses Grundrauschen an Abneigung nach wie vor nicht ignorieren, sondern bettelt weiterhin darum, ihn doch endlich, endlich zu verschonen.
  108.  
  109. Instabil ist das Selbstbild, weil es sich ständig sowohl Überschätzung als auch Selbsthass gefallen lassen muss. Wird es gelobt, steigert es sich zum Supermann. Bleibt das erwartete Lob aus, dann deshalb, weil es nicht verdient wurde. Und das ist eine Schande, für die man sich schämen muss und Strafe verdient.
  110. Deshalb ist Reiner so ein Quallemann: Die ständige Fresserei passt auf mehrere Arten zu seinem instabilen Selbstbild. Diese sind in keiner besonderen Reihenfolge:
  111.  
  112. - Fressi als Liebesersatz. Wenn Reiner frisst, schüttet sein Körper Glückshormone aus und er fühlt sich gut. Das ist der Teufelskreis, in dem fast alle Fettsäcke stecken: Weil sie selbst und andere sich hässlich finden, fressen sie, um sich zu trösten und werden noch fetter und fressen, um sich zu trösten und…
  113. - Fettsein als Strafe: Wenn ein Fettsack deswegen gehänselt wird, dass er ein Fettsack ist, lernt er seine Wanstigkeit als negative Eigenschaft kennen. Hat er darüber hinaus ein geringes Selbstwertgefühl, kann er den Speck nutzen, um sich selbst dafür zu bestrafen, dass er so ein Fettsack ist.
  114. - Fettsein als Zeichen der Instabilität: Der fette Leib wird zusehends konturloser. Was einmal ein erkennbarer Menschenkörper war, verzerrt sich, verliert seine Definitionen (was ist Hals, was ist Kinn?). Wer wie Reiner ‘aus dem Leim geht‘, tut das auch im übertragenen Sinne: Das Ich, das Selbst, verlieren ihre klaren Grenzen, gehen auseinander.
  115. - Fettsein als Größenwahn: Wer in der ständigen Angst lebt, übersehen, ignoriert, missachtet zu werden, wünscht sich natürlich eine stattliche Erscheinung. Reiner wäre gern Einssechsenneunzig. Die Gewichtszunahme registrierte er als positiven Selbstzuwachs und dachte, er würde stattlicher. Stattdessen wurde er ein Quallemann.
  116.  
  117. Zu diesem widersprüchlichen Bild passt auch Reiners Meisterstück, das einzige Format, das ihm je Anerkennungserfolg brachte, so stümperhaft es auch ausgeführt wurde. Welche Arbeit, welchen Aufwand Reiner in die Fidios investiert haben muss, lässt sich nur ahnen, aber gewiss bleibt: Da steckt so richtig ernsthaft was von ihm selbst drin, und zwar eine tüchtige Portion.
  118. Die Rede ist natürlich von “vier Drachen und der Meddl“. Thematisch bleibt Reiner dabei völlig bei seinem Leib- und Magenthema: Reiner. Die Ausführung dieses Themas aber lässt Rückschlüsse auf sein Innenleben zu.
  119. Reiner zerlegt sich in mehrere Versionen von sich. Einerseits wird das Selbst dadurch vermehrt, größer gemacht, kann noch mehr Anerkennung einheimsen und Lob genießen, kann noch penetranter und geltungssüchtiger auftreten. Mehrere Reiners sind einfach so was wie ein Reiner mit Reinerbooster: noch lauter, noch nerviger, noch schlechter zu ignorieren.
  120. Gleichzeitig ist die Zerlegung des Ichs wieder ein Ausdruck für die Instabilität: Das Selbst fällt ja tatsächlich auseinander und die Trümmer suchen danach eine Heimat, einen Halt (“wo du immer bist“), ein bisschen Frieden. Kriegen sie natürlich nicht, denn sie kommen ja nicht miteinander aus: Schon gibt es Streit um diese Heimat, schon vergessen sie die Namen der anderen (absichtliche Browokadsjon!) – die Reiners hassen die Reiners. Und schließlich der Wunschtraum des Narzissten: Der Teil des Selbst, der keine Anerkennung verdient hat, der gescheitert ist, für den man sich schämt – bomm, den sprengt man einfach in die Luft und er verschwindet, ohne auch nur einen Fettfleck zu hinterlassen.
  121. “Vier Drachen“ ist Reiners bestes Format und das einzige Material, das er je ins Netz gerotzt hat, das keine direkt abgestümperte Reinerversion irgendeines anderen Formats ist. Es ist die einzige originelle Idee, die Reiner in seinem ganzen Leben je hatte.
  122. Andere tanzen im Internet – also macht Reiner das auch. Andere veröffentlichen Leddsbläis, also macht Reiner das auch. Andere machen Riwjus von Meddlzedehs, also macht Reiner das auch. Auch seine Vorstellung von notwendiger Ausrüstung, die gestalterische Durchführung von Videos, das nervig aufgesetzt gutgelaunte Herumhampeln vor der Kamera, das Fratzenschneiden bis zum Xichtskrampf– es ist alles, alles abgekupfert.
  123.  
  124. Reiners Internetkarriere beginnt mit einem gewaltigen Anerkennungsvorschuss. Reiner liebt das Internet. Er hat es nicht nur sexualisiert (siehe Teil III), seine Wichsmarathons haben auch dazu geführt, dass er sich darauf konditioniert hat, das Internet als Ort der Treibabfuhr und des Lustgewinns zu verstehen.
  125. Von Anfang an gönnt Reiner sich keine Hemmungen. Schließlich ist das Internet der Ort zur Triebabfuhr und er ist es gewöhnt, mit dem Pimmel in der Hand davor zu hocken. Also sieht er auch nicht ein, warum anderen Trieben im Internet besser die Zügel angelegt gehörten, schließlich fühlt er sich hier pudelwohl. Also kann er nach Herzenslust abmeddln, herumbrüllen, schnaufen, schwitzen, rülpsen und die Luft zum Stinken bringen. Alles ganz wie zu Hause, denn dort ist er ja gleichzeitig.
  126. Reiner hat das Internet nie beruflich genutzt, er war immer gleichzeitig online und in der Schanze. Dieselbe Destabilisierung wie bei seinem Ich lässt sich bei seinem Zuhaus konstatieren: Gleichzeitig völlig isoliert und den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt. Zu allem Überfluss muss er sich dann von dem langhaarigen Schielböckchen noch eine Roomtour aufschwatzen lassen, so dass sein Publikum auch noch in den letzten Winkel der Schanze kriechen kann.
  127.  
  128. Zu Beginn seiner Youtube-Laufbahn bemerkt Reiner zu seiner immensen Zufriedenheit, dass alle Zahlen, die mit seiner neuen Existenz zu tun haben, kontinuierlich zunehmen: mehr Abos, mehr Views, mehr Interesse der Öffentlichkeit. Dieses Interesse ist Aufmerksamkeit, ist Anerkennung, ist die Bestätigung, die das instabile Selbst braucht, um sich gut zu fühlen. Jeder, der ihn abonniert, liebt ihn und die Abos steigen ins Unermessliche. Zumindest für Reiner, weil sein Spatzenhirn den Aussagewert von Zahlen absolut nicht einschätzen kann. Längen- und Gewichtseinheiten sind ihm Bücher mit sieben Siegeln – nicht, dass es sieben Siegel bräuchte, den Inhalt von Büchern für Reiner unzugänglich zu machen – und was die Abozahlen tatsächlich bedeuten, ahnt er ebensowenig wie er den Namen des Kultusministers kennt.
  129. Bald geht er davon aus, dass seine Reichweite groß genug ist, um jede beliebige Person zu erreichen. Wenn er also eine wichtige Ansage an irgendeinen Untertanen vornehmen will, macht er das einfach per Video, weil er davon ausgeht, dass der betreffende Untertan diese Nachricht sofort erhalten wird. Dass er sein Publikum nicht kontrollieren kann, hat Reiner bis heute nicht kapiert.
  130. Weiterhin macht er sturheil alles so wie seine Vorbilder. Er benutzt dieselbe Kamera, hat Saftboxen aufgestellt und eine grüne Tischdecke an eine Wand gepinnt, das muss doch reichen! Den qualitativen Unterschied zwischen den Profivideos und dem Kinderscheiß, den er in Netz rotzt, bemerkt er nicht. Er bemerkt nur, wie schwer es ihm fällt, Videos zu produzieren, wie lang er dazu braucht. Also will er nach altem Brauch besonders kräftig für seinen harten Einsatz gelobt werden.
  131. Und weil seine Vorbilder nach fuffzich oder hundert Videos eine Zuschauerschaft angehäuft haben, die sich nicht nur für den Inhalt der Videos interessiert, sondern auch für deren Hersteller, und deshalb Fragmichwas- oder GuckmalmeinLeben-Videos aufnehmen, macht Reiner das auch. Er überspringt einfach die Phase, in der sich eine Zuschauerschaft ansammeln sollte.
  132. Schließlich hat er ja Abonennten und Viewss n Höhen, die er nicht mehr fehlerfrei addieren kann. Dass das nur daran liegt, dass er im Kopf nur „eins, zwei, viele“ zählten kann, geht ihm natürlich nicht auf.
  133. Was ihm an Abneigung aus dem Internet entgegenschlägt, kann er bisher wegdenken. Die Häider sind nur eine kleine, aber laute Minderheit, es gibt viel mehr „Drachis“, die ihn toll finden und die jedes Wort glauben, dass ihm aus dem schiefen Maul fällt. Wenn er sich an die Häider wendet, dann mit der Absicht zu verhandeln. Reiner feilscht in dieser Phase um die wichtige Anerkennung wie ein Teppichhändler: die Häider haben was Wichtiges übersehen, er ist doch eigentlich super, das wollen die nur nicht kapieren, also erklärt ers uns nochmal.
  134. Gleichzeitg stellt er sich im Internet immer stärker dar und behauptet natürlich, das Gegenteil sei der Fall. Ist etzadla alles nur Show, Leude! Genauso behauptet er, die Meinung anderer völlig uninteressant zu finden und sich einen Dreck darum zu kümmern, ob andere ihn toll finden. Genauso behauptet er, nicht geweint zu haben und schickt als Beweis eine Liveaufnahme seiner rotgeweinten Schweinsäuglein raus. Von jetzt an ist eigentlich fast immer und fast ausnahmslos das genaue Gegenteil von dem, was Reiner behauptet, die Wahrheit.
  135. Das bemerkt ein junger Schwabe mit viel Tagesfreizeit und kann ein Liedchen dazu singen. Und Reiner hörts und bricht umgehend alle Verhandlungen ab.
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