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Jul 15th, 2019
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  1. Multiplex
  2.  
  3. "Die erste Kino-Erinnerung: Meine Mutter
  4. will mit mir und meinem Bruder in König
  5. der Löwen gehen, aber wir kommen nicht
  6. rein, weil die Vorstellung ausverkauft ist.
  7. Ich fange an, bitterlich zu heulen.
  8. Das Kino war klein und schön und lag
  9. in der Altstadt. Es hat dann später zugemacht.
  10. Geschieht ihm recht. Das neue war
  11. viel besser. Es war ein Multiplex. Dort gab
  12. es nicht nur immer freie Plätze. Sondern
  13. auch riesige Softdrinks. Später sogar Wodka-
  14. Zitrone in der Dose. Und MTV!
  15. Zu Hause empfingen wir nur die Öffentlich-
  16. Rechtlichen. Bis heute kämpfe
  17. ich mit der Bildungslücke, die eine privatsenderlose
  18. Jugend in mir hinterlassen hat.
  19. Im Wartebereich des Multiplex aber hing
  20. ein großer Fernseher, auf dem MTV lief.
  21. Als wir einmal kein Geld für den Eintritt
  22. hatten, saß ich mit einem Freund den
  23. ganzen Abend im Foyer und habe Videoclips
  24. gesehen. Mindestens zehnmal lief
  25. Blue von Eiffel 65: »I am blue, Da ba dee
  26. da ba daa; Da ba dee da ba daa; Da ba dee
  27. da ba daa.« Bei Wikipedia steht: »Die Textzeile
  28. ›Da Ba Dee‹ wurde verwendet, da sie
  29. sprachen- und länderübergreifend verständlich
  30. ist.« Das stimmt. So wie das
  31. Multiplex auch überall gleich ist.
  32. Wenn ich mich unwohl fühle, neu und
  33. fremd bin in einer Stadt, weiß ich, wo ich
  34. hingehe. Als ich mit 16 eine Freundin
  35. meiner Mutter in Kanada besuchte, lief
  36. ich tagelang durch Halifax, nichts zu tun,
  37. außer mit dem Weltschmerz eines 16-Jährigen
  38. klarzukommen. Die Bars wiesen
  39. mich ab, weil ich noch nicht volljährig war.
  40. Dann fand ich den Weg ins Multiplex und
  41. sah mir mittags um eins Shooter mit Mark
  42. Wahlberg an. Mit einem Liter Cola und
  43. zwei Fremden, Mike
  44. und Lara, die ich
  45. nicht vergessen werde, denn Leute, die sich
  46. mittags um eins Shooter ansehen, verbindet
  47. etwas Spezielles. Als ich später nach Berlin
  48. zog, war logischerweise mein erster Schritt
  49. der ins Sony Center, diesen geilen Nicht-
  50. Ort, zu James
  51. Bond, Spectre. Ich weiß
  52. nicht mehr, wie viele Stockwerke es runterging,
  53. es waren viele, lange rote Gänge, es
  54. war die Spätvorstellung kurz vor Mitternacht,
  55. es war dunkel und satt. Auch in
  56. Hamburg war das Erste, was ich unternahm,
  57. ein Besuch im Cinemaxx. Mit zwei
  58. Freunden war ich planlos und frierend
  59. durch die Stadt gelaufen und dann willkürlich
  60. in Soul Kitchen von Fatih Akin
  61. gestolpert, mit Astra und warmen Nachos.
  62. Überhaupt, Nachos. Warm und mit
  63. Salsa oder, wenn es draußen kalt ist oder es
  64. einem richtig dreckig geht, mit Käsesoße.
  65. Und mit richtig viel Geräusch, während
  66. man sie isst. Im Programmkino undenkbar.
  67. Jeder Cineast würde mich umbringen. Was
  68. soll ich sagen – ein Film ohne Nachos, da
  69. kann ich auch zu Hause bleiben.
  70. Ich hoffe, dass es dem Multiplex nicht
  71. wie den Einkaufszentren ergeht. Geshoppt
  72. wird entweder im Internet oder in schicken
  73. Boutiquen, die sich an eine klar definierte
  74. Kundschaft richten. Für das Kino hieße
  75. das: entweder Netflix oder superspezialisierte
  76. Programmkinos für statusbewusste
  77. Liebhaber. Es wäre ein großer Verlust.
  78. Neider und Connaisseure sagen ja, das
  79. Multiplex sei seelenlos. Weil dessen Besucher
  80. Banausen seien und die Mitarbeiter
  81. nichts von Kino verstünden und sich nicht
  82. für die Zuschauer interessierten. Massenabfertigung!
  83. Da kann ich nur sagen: An
  84. einem der heißesten Tage 2018, an dem
  85. noch dazu das DFB-Pokalfinale in Berlin
  86. stattfand, ging ich ins Multiplex der »Neuköllnarcaden
  87. «. Ich wollte den Berlinern,
  88. dem Fußball und der Hitze entkommen,
  89. zudem war ich angetrunken und kannte
  90. Black Panther noch nicht, der schon fast
  91. nirgends mehr gezeigt wurde. Es war, ohne
  92. Übertreibung, niemand da. Ich ging also
  93. auf die Kasse zu, und der nette, etwa
  94. 18-jährige Junge sagte halb verzweifelt, halb
  95. belustigt: »Black Panther?« Er gab mir eine
  96. Karte, Nachos, ein Bier und führte mich in
  97. den Saal. Sie haben den Film nur für mich
  98. gezeigt. Da wusste ich: Ich bin zu Hause."
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