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- Danke für nichts, ihr Narren
- Köln feiert Karneval während die Inzidenzen wieder in die Hunderte gehen. Eine Geschichte des Idiotentums in Zeiten der Pandemie.
- Von Hilmar Klute
- Es gibt eine allegorische Szene in der mehr als 100-jährigen, dabei zumal in diesen Tagen so zeitlosen Novelle "Der Tod in Venedig", dem poetischen Fiebertraum der übersteuerten Luxusgesellschaft am Abgrund. Es ist bei Thomas Mann der Vorabend der Pandemie - die indische Cholera wurde in die europäischen Häfen geschleppt, und der Dichter der Deutschen lässt seinen an Hitze, an versagtem Begehren und an Ruhmüberdruss dahinschmelzenden Dichter Gustav von Aschenbach eine Gruppe von verkleideten Straßenmusikanten beobachten. Geckenhaftes Gebaren, Kunstlachen und ein dreckiger Refrain, bei dem das Publikum grölt und klatscht. Am Schluss der grobkantigen Darbietung sieht Aschenbach den obersten Spaßvogel zur Tür gehen: "Dort endlich warf er auf einmal die Maske des komischen Pechvogels ab, richtete sich, ja schnellte elastisch auf, bleckte den Gästen auf der Terrasse frech die Zunge heraus und schlüpfte ins Dunkel." Da zeigt also der Tod seine Fratze, oder ist es die Todesverachtung?
- Es ist fast schon zu naheliegend, wie sehr sich die schmale Novelle aufdrängt beim Blick aufs Deutschland dieser Tage, und im Rheinland - überhaupt in dem Bundesland an Rhein und Ruhr, in dem ein Viertel der deutschen Bevölkerung auf engem Raum nach Kräften lebt - zeigt sich das Närrische ja traditionell unterm Brennglas, sogar auch, wenn gerade mal kein Karneval ist. Auch in diesem Herbst schieben sich Hunderttausende mit einem gesamtgesellschaftlichen "Leck mich" durch die rheinischen Altstädte - und jetzt, vor dem Hintergrund aller pandemischen Erkenntnisse, muss man sagen: Danke, ihr Narren, und wir anderen, seien wir Rheinländer, von der Ruhr (wie der Autor) oder von sonst wo, wir werden es trotzdem weiterhin für angezeigt halten, ein paar simple, vernünftige Voraussetzungen für das Überleben unserer Mitmenschen einzuhalten.
- Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker gehört nicht dazu. Sie hat pünktlich zur Jeckenstunde den Kölner Karneval ausgerufen, während die übrige Republik dabei ist, die Zugänge zum öffentlichen Raum auf das 2-G-Maß runterzufahren. Die Jeckenstunde schlug am 11. November, dem Tag, an dem kleine Mädchen und Jungen gerne mit Laternen zum Martinszug gehen wollen. Mancherorts war es den Kindern gestattet, eine Stunde lang ohne Eltern auf dem Schulhof zu stehen. In Köln durften die Kinder an diesem Tag nicht singen. In München wurde den Kindern mitgeteilt, dass Bibelstunden und anderes, auf dass sie sich akribisch vorbereitet hatten, erst im Sommer wieder stattfinden werden. Danke für nichts.
- Mehr als 30 Prozent der Deutschen (gemischtes Milieu, Nazis, Sportler, Journalisten, Schauspielprominenz) möchten bitte weiterhin nicht geimpft werden. In den Kitas, Schulen und in nahezu sämtlichen Betrieben vergeht unterdessen kein Tag, an dem nicht weitere Kinder oder Kollegen positiv auf das Virus getestet werden. Die Schulen, die jetzt sehr lange nicht in der Lage waren, auch nur das Spartenthema Luftfilter auszudiskutieren, werden bald wieder zum seelenzerquetschenden Bildschirm- oder Wechselunterricht zurückkehren, die Intensivstationen füllen sich zuvörderst mit den erwähnten störrischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die sich nach wie vor jeder Impfung verweigern, weil sie ihre Freiheit nicht staatlichem Zwang opfern wollen. (Auch deren Behandlung übernimmt dann in Deutschland übrigens die Kasse, also die Solidargemeinschaft. Manchmal muss man sich schon wundern, nein?)
- Die Jecken müssen derweil an die Fässer, der Karnevalsprinz ist zwar infiziert, aber das ist ja eigentlich auch lustig, nicht wahr? Eine Parodie aufs Impfen, eine Satire auf den Tod. "Kölner Humor, der nur noch brutal und grob ist": Diesen Satz hat der zarte Wut-Dichter Rolf Dieter Brinkmann Anfang der Siebzigerjahre in seinen Kassettenrekorder geschnaubt. Man kann auf Youtube seine Köln-Beschimpfung anhören (https://www.youtube.com/watch?v=RacsxZPrpwo) und mitlachen über die unverstellte power, mit der Brinkmann die Wörter Deutz, Kalk und Klingelpütz ausspricht. "Dann gibt's noch kölsche Professoren: Am liebsten würden sie überall Kölsch lehren." Karl Lauterbach, der Typ unlustiger SPD-Rheinländer also, den es glücklicherweise auch immer schon gab, sagte kürzlich: Jede abgesagte Karnevalsveranstaltung sei eine gute Karnevalssitzung.
- Was entgegnet ihm darauf Henriette Reker, hier in dieser Zeitung? "Klar, wenn wir gar nichts erlauben, kann auch nichts passieren. Nach dieser Logik dürften Sie auch keine Kinder in die Schule lassen - dafür sitzen sie dann zu Hause und werden depressiv." Der Satz von Frau Reker stammt wirklich aus einem Interview, nicht aus einer Büttenrede. Er zeigt auf kaum zu überbietende Weise den finalen Zynismus einer Politik, die nicht begreift, nur aus dem einen Grund: weil sie nicht will. Nicht einmal die Tatsache, dass der Kölner Karneval dazu beiträgt, dass demnächst weitere Kinder zu Hause sitzen und depressiv werden, weil sie nicht zur Schule gehen können.
- Gleich am ersten tollen Tag wälzte sich nun eine Masse von Tausenden, allesamt natürlich geimpft, genesen oder getestet, mit ihren lustigen Hüten durch die Zülpicher Straße in Frau Rekers Köln. Alle, und jetzt kommt der erste und letzte schlechte Karnevalsscherz, auf der Suche nach dem "3-G-Stirn"! Ja, wo isset denn? Nicht da, Prinz Sven Oleff hat Corona.
- "Jeder und jede muss am Ende für sich entscheiden, ob und wie der 11.11. begangen werden soll", sagt Reker. Ist es das, was gemeint ist in dieser bleiernen Zeit, in der kein Politiker mehr Verantwortung für eine Entscheidung übernehmen will? Wenn stattdessen immer davon die Rede ist, dass die Politik nur die Rahmenbedingungen schaffen sollte für dies und aber eben auch jenes, ist doch letztlich egal? Oder was ist die Botschaft von Köln an die Menschen im Land, die großen und die kleinen, die jungen und die alten, die noch gesunden und schon kranken, was sollen sie mitnehmen vom großen rheinischen Superspreader-Spaß? Ist es nach zwei Jahren einigermaßen disziplinierten Pandemielebens jetzt das Zeitalter der Todes-Lustbarkeit, wie in den Jahrhunderten der Pest, als das Volk mit dem Sensenmann durch die Gassen tanzte? Ist Köln im Jahr 2021 ein Vanitas-Revival?
- Nachdem die Pest einst durch Europa gerast war, erfanden die Übriggebliebenen in kindlichem Eifer ein Fest nach dem anderen: Fastnacht, Narrenfest, Eselsfest, bis Martin Luther irgendwann die Fensterläden zuknallte und donnerte: "Denn als nu der Mißbrauch mit Saufen, Spielen, Mußiggang und allerlei Sund gaht, so erzurnen wir mehr Gott auf die heiligen Tag denn auf die anderen." Aber das Trauma der Seuche war größer als Luther. "Gerade das Bewusstsein der Hinfälligkeit verschreibt die Menschen dem Genuss des Augenblicks und lässt sie Feiern von barbarischer Prunkhaftigkeit feiern", schreibt der Mediävist Horst Fuhrmann.
- Barbarisch kommt einem manches erst im Rückblick vor. Der Karnevalsverein "Langbröker Dicke Flaa" in der Kleinstadt Gangelt im Kreis Heinsberg ist mit einem Bierkranz und Getränkebons inzwischen im Bonner "Haus der Geschichte" vertreten. Die historische Leistung: In Gangelt fand der erste Corona-Karneval statt, die Memento-Mori-Urfete sozusagen, trotz vieler Infizierter wurde kräftig gefeiert, bis Aschermittwoch alle Schwüre von Treue brachen. Die Jecken in Gangelt wollen auch dieses Jahr wieder Karneval feiern, hilft ja nichts, es steckt ihnen im Blut. Im Feiern, das schreiben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Ende der Vierzigerjahre in der "Dialektik der Aufklärung", entrinnen die Menschen der Zivilisation. Genuss sei die Rache des Menschen am Denken: "Man muss gegen die Regeln handeln, alles soll verkehrt geschehen."
- Der Zauber des Karnevals liegt darin, dass er sich dabei nun selbst Regeln auferlegt, die auch den Humorlosesten zum Lachsack umdekoriert. Schiffchenmütze, rote Nase und ein Vereinsapparat, der in kleinwitziger Art die Anarchie behauptet - so geht der idiotensichere Humor für den Jedermann. Der Präsident der Kölner Karnevalsgesellschaft heißt Christoph Kuckelkorn. Er wird von dpa dieser Tage wie folgt zitiert: "Selbst wenn die Inzidenzen in die Hunderte gehen sollten, heißt das nicht unbedingt, dass die Krankheitsverläufe weitreichende Einschränkungen für Geimpfte und Genesene rechtfertigen." Karneval, ruft Kuckelkorn, "ist seelenreinigend!" Es gehört zum humoristischen Gesamtzusammenhang dieses Zitats, dass Kuckelkorn der größte Bestattungsunternehmer der Stadt ist. Beim Vorbeiflanieren am Kölner Kuckelkorn-Schaufenster staunte man mal über ein dort beworbenes Bücherregal in Sargform. Nach dem Tod der Leseratte müssen die Angehörigen nur die Regalbretter rausnehmen - fertig ist die Schnitterkiste, in der eben noch die Josephsromane von Thomas Mann ruhten. Gewusst wie. Tod mit Pfiff. Das ist Kuckelkorn. Das ist Köln. So wird ein Schuh draus oder sonstwas.
- "Jeck, jeht net weg!" Diesen Satz tippt der rheinische FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff in seinen Twitter-Akkord und kriegt sich kaum ein vor Freude, dass die trunkenen Karnevalsvögel zu Tausenden direkt vor seinem Bonner Wahlkreisbüro herumtorkeln. Und wenn de Jeck doch wegjeht? Bei einer paarhunderter Inzidenz? Dazu die Spaßbremse Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut, der immerhin nicht am 11.11., aber doch schon am 12.11. mitteilt, dass nach Lage aller Erkenntnisse aus zwei Jahren Pandemie von 50 000 Infizierten 3000 im Krankenhaus landen und 200 schließlich sterben werden.
- Thomas Mann zeichnet in seiner Novelle den Weg der Seuche vom Gangesdelta Richtung Europa nach. Die Ähnlichkeit zum Corona-Geschehen ist schon in vielen Lektüretipps für den Lockdown herausgearbeitet worden. Von der Furcht ist im "Tod in Venedig" übrigens auch die Rede. Gemeint ist die Furcht der Verwaltung Venedigs vor wirtschaftlichen Schäden, wenn die Menschen das Maskenspiel nicht suchen, sondern vor ihm fliehen.
- Diese Furcht, schreibt Mann, war "mächtiger in der Stadt als Wahrheitsliebe und Achtung vor internationalen Abmachungen".
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