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Im Fegefeuer

Jul 11th, 2013
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  1. Sächsische Zeitung online
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  3. Donnerstag, 11.07.2013
  4. Im Fegefeuer
  5. Der Fall Lothar König bringt die Staatsanwaltschaft in Erklärungsnot. Ein Blick hinter die Kulissen.
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  7. Ein kleines Büro im Dachgeschoss des Justizzentrums Dresden. Die aufgeheizte Stahldecke sorgt für hohe Temperaturen. Hier arbeitet Oberstaatsanwalt Jürgen Schär. Sein Computer steht in der hintersten Ecke. Nur der Besprechungstisch unterscheidet sein Büro von dem seiner Kollegen. Regale, ein antiker Stuhl, an der Wand ein gerahmtes Zitat: „In den Gerichtshöfen müssen die Gesetze sprechen, und der Souverän muss schweigen“ steht da, das „politische Testament“ des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm II., dem Alten Fritz. Schär, bekennender Antifaschist und Mitglied der Linkspartei, leitet die Abteilung II der Staatsanwaltschaft Dresden – Amtsdelikte und politische Straftaten.
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  9. Derzeit ist die Temperatur in Schärs Büro noch höher. Das liegt nicht am Wetter, sondern am politischen Klima, verursacht durch den Prozess gegen Jenas Stadtjugendpfarrer Lothar König, der am Dienstag voriger Woche geplatzt ist. Das von Anfang an politisch brisante Verfahren droht der Staatsschutzabteilung um die Ohren zu fliegen – vor allem ihrem Chef. Heute ist der Fall Thema im Landtag.
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  11. Lothar König gilt in der Abteilung als ein Rädelsführer bei den Demos und Krawallen gegen den Neonaziaufmarsch am 19. Februar 2011 in Dresden. Der 59-jährige Pfarrer mit dem Rauschebart soll zur Gewalt gegen Polizisten aufgerufen haben. Doch seine Verteidiger konnten in dem drei Monate dauernden Prozess am Amtsgericht Dresden zeigen, dass Königs Aufwieglerrolle vermutlich in vielen der zehn Anklagepunkte nicht nachweisbar ist. Polizisten verstrickten sich in Widersprüche, Beweisvideos waren in der Anklage falsch verwandt worden, entlastende Videos, gefilmt auf Königs Lautsprecher-Wagen, ließen Vorwürfe unerwartet in einem anderen Licht erscheinen. Das blamiert die Sonderkommission „19/2“ der Dresdner Kripo. Verteidiger Johannes Eisenberg sagt, er habe den Eindruck, die Ermittler hätten eine „Fälscherwerkstatt“ betrieben.
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  13. Verantwortlich für die Anklage ist die Staatsanwaltschaft. Schlimmer hätte es für sie wohl nicht kommen können. Wie war es möglich, dass sie ohne klare Beweise in den politisch aufgeheizten Prozess zieht? Hätten Staatsanwälte nicht direkt bei der Soko sitzen müssen, um Vorwürfe besser beurteilen zu können? Seit Dienstag vergangener Woche machen Schär und seine Mitarbeiter daher wieder, was sie so oft seit dem 19. Februar 2011 tun mussten: Sie verfassen Berichte. An Vorgesetzte, an Ministerien und an den Landtag, dem heutigen „Souverän“, um es mit dem Alten Fritz an Schärs Bürowand zu sagen.
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  15. Unter Beobachtung
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  17. Keine Abteilung der Staatsanwaltschaft steht so stark unter öffentlicher Beobachtung wie die von Jürgen Schär. Der Mann ist etwas jünger als Lothar König und zählt zum Urgestein der Staatsanwaltschaft. In der Wende-Zeit wurde er zum Interims-Behördenleiter gewählt, weil der damals junge Jurist mit fünf Dienstjahren politisch unbelastet war. Als Chef der Staatsschutzabteilung ist er heute für die Verfolgung aller politischen Straftaten in Sachsen verantwortlich. Ein Job, den wohl kaum ein Kollege Schärs freiwillig machen würde. Er ermittelte ab dem Jahr 2000 gegen kriminelle Vereinigungen wie die „Skinheads Sächsische Schweiz“ (SSS) oder Mittweidas Nazischläger „Sturm 34“. Wie so oft sah er sich auch am 19. Februar 2011 die Demo vor Ort an. In Schärs Abteilung liegen viele solcher aufwendigen Verfahren gegen Nazi-Banden, Hooligans und eine Antifa-Schlägergruppe. Seit Jahren klagt Schär, dass er dafür mehr als eine Handvoll Staatsanwälte braucht.
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  19. Fast jede Demo, bei der Steine fliegen, Polizisten angegriffen oder Teilnehmer in ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit behindert werden, sorgt für neue Arbeit. Am 19. Februar 2011 kamen weit über 1.000 Verfahren gegen Rechtsextreme und Gegendemonstranten zusammen. Mutmaßliche Steinewerfer und solche, die anstachelten, Polizeiketten zu durchbrechen. Nicht zu vergessen die Verfahren gegen Hunderte Blockierer, die sich friedlich auf die Straße gesetzt und so den Neonazi-Aufmarsch mit verhindert hatten.
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  21. Auch ihre Fälle landeten in der Staatsschutzabteilung. Schär selbst hat in seinem Büro unter dem Dach 40 Beschuldigten die Lage erklärt. Die meisten akzeptierten eine Einstellung und zahlten eine Geldauflage. Andere ließen es auf einen Prozess ankommen und wurden verurteilt oder freigesprochen, je nach dem, was ihnen nachgewiesen werden konnte. Verurteilte erhielten geringe Geldstrafen, die fast mildesten Sanktionen, die das Strafgesetz zulässt. Oberstaatsanwalt Schär selbst hat in Prozessen mehrfach sogar die Aussetzung diese Strafen auf Bewährung gefordert. Weniger geht nicht bei nachgewiesener Schuld.
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  23. Die öffentliche Wahrnehmung ist bis heute eine andere. Das lässt sich auch auf fachliche Mängel in der Abteilung II und der Soko „19/2“ zurückführen. Etwa mit umstrittenen Funkzellenabfragen. Die Polizei nutzte diese per Gerichtsbeschluss erhobenen Handydaten auch in Verfahren gegen friedliche Blockierer. Zwar hatte Schär selbst vor Bekanntwerden des Fehlers angeordnet, dass diese Daten nicht verwertet werden – doch die Wirkung war verheerend. Solche Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung sind nur bei schweren Straftaten möglich.
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  25. Und mittendrin zwei Verfahren gegen den Jenaer Pfarrer. Schon vor dem 19. Februar 2011 gab es eines wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Angeblich stand König im Kontakt mit einer observierten Antifa-Schlägertruppe. Bei den Demos in Dresden kurvte er in seinem blauen „Lauti“ an vorderster Front umher und wurde auch wegen schweren Landfriedensbruchs verfolgt. Das war die Ausgangslage. Eine viel kritisierte Razzia in Pfarrerdiensträumen im August 2011 hielt den Beschwerden vor Gericht stand. Der Anfangstatverdacht scheint für einen solch schweren Eingriff selbst bei einem Seelsorger ausreichend gewesen zu sein. Doch nach dem geplatzten Prozess bleibt der Eindruck, Schär hat sich bei dem zotteligen Pfarrer verrannt. Aber auch jetzt denkt die Staatsanwaltschaft nicht daran, klein beizugeben. „Warum haben Königs Verteidiger jetzt nur eine Einstellung des Verfahrens beantragt, wenn sie ihn für unschuldig halten?“, wundert sich Behördensprecher Lorenz Haase.
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  27. Auffällig ist, dass selbst in außergewöhnlichen Verfahren schludrig gearbeitet wurde. So kassierte das Landgericht 34 von 40 Durchsuchungsbeschlüssen gegen Hooligans Ende 2009 – der Tatbeitrag der Beschuldigten hätte dargestellt werden müssen. Erst vor wenigen Wochen erklärte das Landgericht einen Funkzellenbeschluss zum 19. Februar 2011 aus formalen Gründen für rechtswidrig. Schärs Leute hatten die verdächtige Antifa-Schlägertruppe nicht erwähnt und den Eingriff nicht ausreichend begründet. Oppositionsparteien feierten das als Stärkung des Grundrechts von Demonstranten. Dabei hatte das Gericht einen zweiten, gleichartigen Funkzellenbeschluss ausdrücklich bestätigt. Der Konflikt um die Ermittlungen zum 19. Februar 2011 ist vor allem eines: ein Politikum.
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  29. Eine Folge dieser Turbulenzen ist, dass tatsächliche Gewalttäter jenes Tages bis heute nur sporadisch angeklagt werden. Noch weniger wurden verurteilt, weil Richter solche Verfahren oft erst einmal ein Jahr liegenlassen, ehe Prozesse stattfinden.
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  31. Der Linke Schär sieht sich nun mit dem Vorwurf konfrontiert, Antifaschisten gezielt zu verfolgen. Ermittlungen gegen Gegendemonstranten seien politisch motiviert, so die Schelte. Und, wohl noch schlimmer für Schär: Er sei auf dem rechten Auge blind. Der Oberstaatsanwalt erwidert, er verfolge alle Straftaten, nicht die politische Gesinnung der Verdächtigen.
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  33. Man darf ihm das glauben. Schär hat als erster Staatsanwalt im Osten Strukturverfahren gegen rechtsextreme Kameradschaften angestrengt und sie zerschlagen. Wäre die Justiz in Thüringen gegen den „Heimatschutz“ ähnlich konsequent vorgegangen, hätte es die Mördertruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) möglicherweise nie gegeben.
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