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Dec 10th, 2019
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  1. https://magazin.spiegel.de/SP/2019/50/167380422/
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  3. Alternativer Zugriff
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  5. Telekommunikationsunternehmen speichern die Telefon- und Internetdaten ihrer Kunden viel länger, als sie müssen. Das freut vor allem Deutschlands Fahnder.
  6.  
  7. Im Dezember 2015 fing ein Mann in Schwerin einen Elfjährigen auf dem Schulweg ab. Er sagte, er sei Polizist, der Junge müsse ihn begleiten. Der Mann führte das Kind auf einen Spielplatz und missbrauchte es mehrfach.
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  9. Zunächst kamen die Ermittler nicht weiter: Zwar konnten sie die DNA des Täters sichern, und sie fragten auch so schnell wie möglich ab, welche Handys zur Tatzeit in den entsprechenden Mobilfunkzellen registriert waren. Doch deren Auswertung allein reichte nicht.
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  11. Elf Monate später sah der Junge seinen Peiniger zufällig auf der Straße wieder. Erneut fragte die Polizei die Funkzellendaten ab. Die Beamten verglichen sie mit den bereits beim ersten Mal ermittelten Nummern. Die Männer, deren Mobiltelefone an beiden Tagen erfasst worden waren, baten sie zum DNA-Test. Ein 41 Jahre alter Altenpfleger entpuppte sich als der Täter. Das Landgericht Schwerin verurteilte ihn wegen Vergewaltigung, Kindesmissbrauch und Amtsanmaßung zu vier Jahren und zehn Monaten Haft.
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  13. Auch wenn hier der Zufall geholfen hat, wäre der Mann ohne die Datenspuren wohl nicht gefasst worden. Dabei hätte es die digitalen Informationen gar nicht geben müssen, sie hätten längst gelöscht sein können. Denn damals wie heute griff in Deutschland keine Pflicht zur sogenannten Vorratsdatenspeicherung. Die Firmen sind nicht gezwungen, Informationen wie Funkzellendaten aufzubewahren.
  14.  
  15. Man könnte denken: Wenn keine Daten mehr gespeichert werden müssen, werden auch keine Daten mehr gespeichert. Doch das wäre ein Irrtum. Telekommunikationsbetreiber bewahren viele Informationen inzwischen aus geschäftlichen Gründen auf – um Rechnungen zu stellen, Störungen zu beheben oder Betrug zu verhindern. Teilweise sichern sie die Daten sogar länger, als das nach den Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung nötig wäre.
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  17. Diese Informationen stehen den Ermittlern zur Verfügung – und offenbar in größerem Umfang als bislang bekannt. Das geht aus einer Aufstellung der Provider für die Bundesnetzagentur hervor, die dem SPIEGEL vorliegt. Sie erlaubt erstmals einen detaillierten Einblick, wer welche Daten wie lange aufbewahrt.
  18.  
  19. Patrick Breyer, Europaabgeordneter der Piratenpartei, hat die Herausgabe dieser Auskünfte durchgesetzt. Für ihn ist damit »die eigentlich ausgesetzte Vorratsdatenspeicherung Praxis« geworden. Viele Anbieter speicherten Verkehrsdaten sämtlicher Kunden, »auch wenn sie nicht zur Abrechnung nötig sind«, so Breyer.
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  21. Nach Ansicht des Karlsruher Datenrechtsexperten und Rechtsanwalts Jürgen-Peter Graf ist man zwar »von der gesetzlichen Vorratsdatenspeicherung immer noch ein Stück weit weg«, vor allem seien die Verkehrsdaten eben »nicht in ihrer Geballtheit« und »nicht nahezu lückenlos« erfasst. Graf, früher selbst Ermittler der Bundesanwaltschaft und bis vor Kurzem Strafrichter des Bundesgerichtshofs, ist aber »überrascht«, in welch »hohem Maß« die Betreiber Daten sicherten. Dabei könnten Behörden auch auf Daten zugreifen, selbst wenn diese möglicherweise ohne Rechtsgrundlage gespeichert worden seien, so Graf: »Die Daten, die ein Anbieter hat, kriegen die Ermittler.«
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  23. Um die Vorratsdatenspeicherung tobte in der Bundesrepublik über Jahre ein heftiger Streit. Für die Deutschen, wohl auch aus der Erfahrung zweier Unrechtsregime skeptisch gegenüber staatlichen Stellen, ist das Thema besonders heikel. Zu Demos unter dem Motto »Freiheit statt Angst« versammelten sich in der Vergangenheit Zehntausende Menschen und forderten eine »überwachungsfreie Kommunikation«.
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  25. Die Vorschriften zur anlasslosen Speicherung von Telekommunikationsdaten hatten rund zwei Jahre lang Bestand, bis das Bundesverfassungsgericht sie im März 2010 als zu weitgehend kippte. Auch der Europäische Gerichtshof erklärte anschließend die zugrunde liegende EU-Richtlinie für ungültig. Daraufhin besserte die Große Koalition nach und führte eine Regelung ein, die ab Mitte 2017 gelten sollte.
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  27. Sie sah vor, dass Telekommunikationsanbieter Daten wie Rufnummern und Anrufzeiten für zehn Wochen und Standortdaten für vier Wochen speichern mussten. Schon bald klagte ein Anbieter dagegen. Das Oberverwaltungsgericht Münster entschied im Juni 2017 vorläufig: Es müssen keine Daten mehr gespeichert werden, bis grundsätzlich geklärt ist, ob die Regelung zulässig ist. Daraufhin setzte die Bundesnetzagentur die Speicherpflicht für alle Anbieter faktisch aus. Und in diesem rechtlichen Wartestand verharren nun Bürger wie Ermittler wie Unternehmen.
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  29. Doch wo die förmliche Verkehrsdatenspeicherung fehlt, greifen die Fahnder eben auf Daten zu, die zu geschäftlichen Zwecken gespeichert werden. Nach eigenen Angaben gab die Telekom im Jahr 2017 allein in Deutschland 615 842 solcher sogenannter Verkehrsdatensätze an die Sicherheitsbehörden heraus, 2018 waren es sogar 784 080.
  30.  
  31. Dabei geht es um umfassende Informationen einer jeden Verbindung – sowohl des Senders als auch des Empfängers eines Anrufs oder einer Nachricht. Gespeichert werden neben Rufnummern, Datum, Uhrzeit und Dauer des Kontakts auch die Identifikationsnummern der SIM-Karte und des benutzten Mobiltelefons. Auch wenn jemand im Internet surft oder darüber telefoniert, werden Daten gespeichert. Und all diese Informationen liegen bei den meisten Anbietern mindestens sieben Tage lang vor.
  32.  
  33. Die drei Mobilfunknetzbetreiber bewahren Informationen ihrer Kunden teilweise sogar noch wesentlich länger auf. So speichert etwa Telefónica Rufnummern mit Datum und Dauer sowie Kartenkennungen je nach »Abrechnungsrelevanz« in der Regel mindestens drei, maximal sechs Monate lang. Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung von 2015 sähe dagegen nur eine Speicherung von zehn Wochen vor.
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  35. Ähnlich bei der Deutschen Telekom: Sie sichert Daten, die für die Rechnung wichtig sind, für mindestens 82 Tage – dazu gehören auch Nummern für SMS, Multimedia- und ähnliche Nachrichten. Daten, die an andere Anbieter geliefert werden, bewahrt die Firma 148 Tage lang auf.
  36.  
  37. Vodafone wiederum teilte mit, man halte innerhalb von sieben Tagen »noch nahezu alle Verkehrsdaten« vor, danach werde »sehr schnell ausgedünnt«. Das heißt: Sobald abgerechnet wurde, werden die Daten gelöscht. Allerdings liegen auch bei Vodafone nach elf Wochen immer noch etwa zehn Prozent der ursprünglich gespeicherten Verkehrsdaten vor.
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  39. Dienstleister, die kein eigenes Netz haben, speichern die Daten teilweise ähnlich lang. Unitymedia beispielsweise sichert abrechnungsrelevante Verbindungsdaten bis zu 180 Tage.
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  41. Den Ermittlern kommt das zugute. Ansonsten wären sie ziemlich oft ziemlich ratlos. Zwar müssen Gerichte darüber entscheiden, welche Daten die Beamten bei Bedarf bekommen. Doch die Hürden für den Zugriff auf die geschäftlich gespeicherten Daten sind teilweise niedriger als nach den Vorschriften der Vorratsdatenspeicherung. So muss zur Abfrage von Vorratsdaten eine »besonders schwere Straftat« begangen worden sein – etwa eine Vergewaltigung oder ein Mord. Für die Abfrage der geschäftlich gespeicherten Daten reicht dagegen eine Straftat von »erheblicher Bedeutung«, also etwa ein einfacher Diebstahl, Körperverletzung oder dass eine Tat »mittels Telekommunikation begangen« wurde. Und diese Daten können auch länger abgegriffen werden. »An die Daten zu kommen, für die nach der Vorratsdatenspeicherung eine Zehn-Wochen-Speicherung vorgesehen wäre, ist meist kein großes Problem«, sagt ein erfahrener Staatsanwalt.
  42.  
  43. Anders ist es bei den Daten der Funkzellen. Diese werden benötigt, wenn man wissen will, welche Mobiltelefone zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Funkzelle angemeldet waren oder wo sich ein bestimmtes Mobiltelefon befand. Bei diesen Geodaten wiegt das Fehlen der Vorratsdatenspeicherung besonders schwer. Sie sieht eine Speicherdauer von vier Wochen vor. Die wird ohne Vorratsdatenspeicherung offenbar nicht mehr erreicht. Für eine Woche, sagen Beamte, seien die Daten zumeist rückwirkend verfügbar, gelegentlich auch für zwei Wochen. Länger aber selten.
  44.  
  45. Dass die Betreiber nicht nach einheitlichen Standards speichern, führt laut Ermittlern zu einem »Lotteriespiel«. Mal erhalten die Fahnder die erhofften Daten, mal nicht. Das sei »vom Zufall abhängig«, sagt ein Beamter. »Und selbst wenn wir Daten bekommen, heißt es noch lange nicht, dass wir etwas damit anfangen können«, so der Polizist. Manchmal enthalte die Rufnummer statt der letzten drei Ziffern drei »x«.
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  47. Selbst »von Funkzelle zu Funkzelle«, sagen Beamte, könne die Speicherpraxis verschieden sein – zum Beispiel weil der eine Techniker meint, zur Störungserkennung sollten Daten länger gespeichert sein, der andere dagegen eine kürzere Speicherung für ausreichend hält. So wird Verbrechensaufklärung zu einem rechtsstaatlich bedenklichen Glücksspiel: Mal gewinnt der Verbrecher, mal die Polizei.
  48.  
  49. Doch dient dieser Zustand wenigstens dem Datenschutz? Wohl kaum. Ein erfahrener Datenschützer sagt, die Firmen würden so viele Daten sichern, dass der Unterschied zur förmlichen Vorratsdatenspeicherung nicht mehr allzu groß sei. Das taugt den einen als Argument zu sagen, der Verlust an Datenschutz falle kaum noch ins Gewicht, wenn man die Vorratsdatenspeicherung wieder in Kraft setzte. Die anderen erklären hingegen, es würden schon jetzt viel zu viele Daten gesichert. Dem müsse Einhalt geboten werden. Manchmal trägt auch das Verhalten der Nutzer dazu bei, dass Daten noch weit in die Vergangenheit zugeordnet werden können. So werden IP-Adressen immer wieder vergeben, doch das geschieht nur, wenn die Internetverbindung erneut aufgebaut wird. Wer also über Wochen seinen Router daheim nicht neu startet, ist noch zu identifizieren, während sonst seine Daten längst gelöscht worden wären.
  50.  
  51. Dietmar Hipp
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