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herrurbach

Die Revolution von der Couch

Nov 11th, 2011
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  1. Die Revolution von der Couch
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  3. cc by sa Stephan Urbach
  4. http://stephanurbach.de
  5. mail@stephanurbach.de
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  7. Wir leben an der Schwelle zum digitalen Zeitalter. Wir rasen in eine digitalisierte, nein, digitale Welt hinein. Eine Welt, die uns Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ermöglichen kann und soll und die viele Menschen nicht verstehen, nicht mal ansatzweise begreifen.
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  9. Seit Ende letzten Jahres erleben wir in Nordafrika und dem Nahen Osten eine aufbegehrende Jugend gegen bestehende Herrschaftssysteme und Wertenormen, erleben wir, wie Diktatoren und Regime gestürzt oder zumindest geschwächt werden. Dank dem Internet sind wir live dabei, können von der Couch aus mitverfolgen, wie sich tausende Menschen auf dem Tahir-Platz in Kairo sammeln und nicht eher gehen, bis Mubarak selbst verschwindet. Über Youtube und andere Videoplattformen bekommen wir weitere Bilder des Geschehens, weitere Blickwinkel und eine sich offenbarende Wahrheit. Wir glauben den Bildern von Al Jazeera und den Videos, die wir gefunden haben und sind bereit, sie als wahr an zu nehmen. In Blogs lesen wir von Gräueltaten des Assad-Regimes und des Gaddafi-Clans und sind auch hier bereit, die an uns gerichteten Wahrheiten zu akzeptieren.
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  11. Natürlich stehen die Regimes und Diktatoren dieser Erde diesem freien Informationsaustausch nicht gerade glücklich gegenüber. Am 28. Februar 2011 zog Mubarak eine vermeintliche Notbremse und lies das Internet ausschalten, nachdem er schon zuvor das Mobilfunknetz lahm legen ließ. Ein ganzes Land wurde vom Rest des Netzes abgeschottet. Das Ziel von Mubarak war es, die revoltierenden Menschen ruhig zu stellen, ihnen Ihre Stimmen zu nehmen. Das Gegenteil war aber der Fall. Immer mehr Menschen strömten zum Tahir-Platz und wollten „ihr“ Internet zurück, während im Rest der Welt Menschen sehnsüchtig auf weitere Bilder, Videos und Blogbeiträge „from the ground“ gewartet haben.
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  13. Aktivisten rund um den Globus fingen an, alternative Netze zu bauen um die ägyptische Bevölkerung wieder online zu bringen. Alte Technologie wurde ausgegraben und nach nur wenigen Stunden konnten die ersten Ägypter wieder online gehen. 300 Leitungen wurden alleine von der Gruppe Telecomix organisiert, viele freiwillige Helferinnen und Helfer stellten Hardware und Wissen zur Verfügung.
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  15. Da klingt es geradezu grotesk, wenn sich Frau Merkel auf der Münchner Sicherheitskonferenz hinstellt und sagt „Dass man Facebook und Twitter überall auf der Welt hat, dass es zunehmend schwerer wird, das zu sperren, ob es in China ist, in Ägypten, in Tunesien oder sonstwo auf der Welt, das ist auch ein kleines bisschen unser Verdienst.“
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  17. Nein, ist es nicht. Es ist der Verdienst vieler Aktivistinnen und Aktivisten, die sich hinsetzen und neben ihrem Beruf alles dafür geben, dass das Netz frei bleibt. Das ist der Verdienst vieler junger Menschen, die kreativ sind, und Möglichkeiten suchen und finden, gegen staatliche Einflussnahme vor zu gehen. Sie haben eine technische Grenze durchbrochen. Es ist nicht mehr der Staat oder die Infrastrukturbesitzende Instanz, die entscheidet, wer etwas im Netz wohin senden kann oder welche Inhalte gesehen werden dürfen. Es sind die Menschen, die sich das Recht nehmen, der Herrschaft entgegen zu treten und von ihrer Couch aus mit allen Mitteln die freiheitsbeschneidenden Entscheidungen und Gesetze zu missachten und den default-Zustand „frei“ wieder her zu stellen.
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  19. Ja, Staaten können durch das Abschalten des Netzes und durch Überwachungsmaßnahmen Demokratie schon im Keim ersticken. Dort erreichen wir die erste Grenze – wenn der Mensch die Technologie besiegt, die uns die Freiheit bringen kann, bauen wir eine Mauer des Schweigens und des Unwissens. Wir lassen es zu, dass wir uns selbst vom Netz abschneiden.
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  21. Die zweite Grenze liegt in der Verbreitung: Wir lesen über Revolutionen in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien – doch was ist mit dem Jemen? Wir hören fast nichts über die aufbegehrende Jugend dort. Bei einer Internetpenetration von knapp 3% ist das nicht verwunderlich. Hier scheitern auch die Couchrevolutionären – wie sollen sie ein Netz verbreiten, das einfach nicht funktioniert? Die Entwicklung von kabellosen Technologien ist gut und schön, wird aber nur dort helfen, wo das Netz bereits bekannt ist und genutzt wird.
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  23. Die dritte Grenze besteht in der Unwissenheit der meisten Nutzerinnen und Nutzer. Wer versteht denn das Netz so weit, dass er es nicht nur gebraucht, sondern auch gestaltet? Ohne die Fähigkeit zur Gestaltung werden wir immer auf Administrator und Programmierer angewiesen sein und so eine neue Elite herausbilden, die dann das Netz nach gut dünken baut – und im Zweifel neue Grenzen und Hürden zieht.
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  25. So stehen wir also vor dem Dilemma der Unwissenheit, spüren die Arroganz unserer Politik und müssen den Couchrevolutionären dankbar sein – denn sie haben uns die Augen geöffnet, das das Netz mehr ist als nur bewegte Bilder und Blogs. Wir müssen uns nun die Frage gefallen lassen, was wir sein wollen: Mündige Nutzer, die das Netz selbst gestalten und neu bauen, wenn es sein muss oder doch nur Klickvieh, dass mit dem, was es bereits bekommen hat, glücklich ist.
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  27. Egal für was wir uns entscheiden – es wird immer Menschen geben, die eine für sich definierte Netzfreiheit verteidigen und dies mit allen friedlichen Mitteln tun werden. Es sind diese Menschen, die die die Freiheit einer Gesellschaft an der Freiheit ihres Netzes messen.
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