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- Du bist einsam, aber nicht allein
- Bilderbücher für Erwachsene: Ist das ein Witz? Nicht, wenn sie von Jimmy Liao stammen. Der Taiwaner, jetzt zu Besuch in Deutschland, zeigt die Magie unserer modernen Welt – und die Verlorenheit ihrer Bewohner. Von Jörg Thomann
- Die Rückeroberung der Kindheit durch die Erwachsenen scheint in vollem Gange. Sie fahren zur Arbeit mit Tretrollern, die sie nun sogar mit Motoren ausstatten, sie begeistern sich für Superheldenfilme und für Fantasy-Bücher, und wenn sie mal runterkommen möchten, stricheln sie beflissen in Erwachsenenmalbüchern. Sie schreiben einander keine Briefe mehr, sondern versenden knappe Nachrichten, an die sie Bildchen mit lachenden oder weinenden Gesichtern hängen. Allein Bilderbücher finden sich weiterhin fast ausschließlich in Kinderzimmern, es sei denn, es handelt sich um sogenannte Coffee-Table-Books mit Bildern englischer Gärten oder französischer Impressionisten.
- In Taiwan hingegen, ja in großen Teilen Asiens, ist den Kindern auch das Bilderbuch längst streitig gemacht worden. Dafür verantwortlich ist vor allem ein freundlicher, zurückhaltender und recht unscheinbarer Herr, der an diesem Freitagnachmittag in einer plüschigen Sitzecke in einem kleinen Kölner Hotel Platz genommen hat. Jimmy Liao heißt er und wird in seiner Heimat meist nur beim Vornamen genannt, was auch in unseren Gefilden – siehe Otto, Boris, Lena – ein Ausweis hoher Popularität ist.
- Vor gut zwanzig Jahren hat dieser Jimmy, das nimmt er bei aller Bescheidenheit für sich in Anspruch, ein neues Genre geschaffen, indem er sein erstes Bilderbuch für Erwachsene vorlegte. Mehr als vierzig weitere sind gefolgt, immerhin vier unlängst ins Deutsche übersetzt worden. Laut dem auf chinesischsprachige Comic-Kunst spezialisierten „Manhua Magazin“ ist Jimmy Liao in der asiatischen Welt ein „Gigant“ und „Superstar“, allerdings darf man dem Heft höchste Befangenheit attestieren: Herausgegeben wird es vom Schweizer Verlag Chinabooks, der Jimmy Liaos Bücher vertreibt. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass hier nur zart übertrieben worden ist. So findet sich in der Stadt Yilan im Nordosten Taiwans ein Skulpturenpark mit Figuren aus Liaos Büchern, die U-Bahn-Station Nangang in Taipeh ist verziert mit Wandbildern aus seinem Werk „Der Klang der Farben“, und vielfach haben seine Bücher das Medium gewechselt: Sie dienten als Vorlage für kurze Trickfilme, lange Spielfilme und sogar eine Fernsehserie, für Theaterstücke und auch für drei Musicals. Wie macht man aus einem, obzwar seitenstarken, Bilderbuch ein Musical? „Die Stückeschreiber erfinden weitere Plots und Figuren hinzu“, sagt Jimmy Liao und lächelt.
- Die Transformation verwundert dennoch, verbindet man mit Musicals doch unbeschwerte Heiterkeit, während Liaos Bücher von Melancholie durchzogen sind. So traumschön und berückend seine detailverliebten Bilder sind und so prachtvoll deren Farben leuchten, so klein und verloren wirken die Menschen, die durch die Geschichten irren. Oft sind es Kinder, doch mit der verklärenden Darstellung, wie man sie aus anderen Bilderbüchern kennt, hat deren Kindheit wenig zu tun: Sie ist geprägt von Einsamkeit und Ängsten und dem tief verunsichernden Gefühl, nicht verstanden zu werden. Wer solche Gefühle nicht ab und an verspürt hat, der ist niemals Kind gewesen, und wer auch als Erwachsener nicht gelegentlich von ihnen übermannt wird, der ist ein Meister der Verdrängung.
- Liao erzählt von fragilem Glück und verpassten Chancen, von unerfüllten Liebesgeschichten und der Zivilisationsmüdigkeit in Gesellschaften, die immer mehr auf Effektivität getrimmt sind, was für den Westen gilt und mutmaßlich noch mehr für den Osten Asiens. „Mein Eindruck ist, dass bei uns der Leistungsdruck so stark ist, dass der Mensch sich manchmal wie erdrückt fühlt“, sagt Liao. „Wenn man sich zurückzieht, wird man aber schnell sehr einsam. Das sieht man an den vielen Leuten, die nur noch am Handy hängen.“ Tröstlich an Liaos oft schwermütigen Geschichten ist die Erkenntnis, dass man in seiner Einsamkeit nicht allein ist. „Ich begegne oft Schülern oder Studenten, die mir erzählen, dass sie in ihren dunkelsten Stunden meine Bücher gelesen haben und dass das, was meine Figuren durchmachen, eine Widerspiegelung ihrer eigenen Nöte ist“, sagt Liao. „Das hat ihnen geholfen, diese Zeiten durchzustehen.“
- Jimmy Liaos eigene dunkelste Stunden haben ihn erst zum Künstler gemacht. 1995, da war er 37, erkrankte er an Leukämie. „Die Patienten, mit denen ich im Krankensaal lag, sind nacheinander alle gestorben“, erinnert er sich, „und ich dachte immer, ich würde der Nächste sein.“ Drei Jahre kämpfte er gegen die Krankheit, und als ihm, der als Illustrator für Zeitschriften und Zeitungen gearbeitet hatte, ein Verlag das Angebot machte, ein Buch zu veröffentlichen, willigte er ein, um seiner neugeborenen Tochter „etwas zu hinterlassen, falls ich bald sterben sollte“. Bild um Bild malte er die wundersame Reise eines Mädchens und eines Riesenkaninchens durch eine surrealistische Waldlandschaft mit schwebenden Brücken und Himmelstreppen, auf Wunsch des Verlags erdachte er noch einen Text dazu. „Die Geheimnisse der Wälder“, erschienen 1998, wurde kein Abschiedsgeschenk, sondern der Beginn einer neuen Existenz als Künstler.
- Als solcher lebt Liao mit seiner Frau nach wie vor in einem Hochhaus am Stadtrand Taipehs. Die Nachbarn wissen, wer er ist, doch sie lassen ihn in Ruhe – und er sie erst recht. „Wenn ich meine Wohnung verlassen möchte und höre, dass jemand im Treppenhaus am Aufzug wartet, dann warte ich, bis der andere weg ist“, erzählt er freimütig. „Ich habe nichts gegen andere Menschen, aber ich halte gern ein bisschen Abstand zu ihnen.“ Und müsste es ihn, der so häufig von entfremdeten Großstadtbewohnern erzählt, nicht eigentlich in die Natur ziehen? „Das Gefühl von Einsamkeit ist nicht wirklich an einen geographischen Ort gebunden. Es kommt aus dem eigenen Herzen und der eigenen Seele“, sagt Liao. „Außerdem liebe ich das Stadtleben.“
- Für den dauerhaften Verbleib in der Stadt spricht auch ein Erlebnis aus Jimmy Liaos Kindheit, das zudem manches Motiv in seinem Werk erklären mag. Seine Großmutter väterlicherseits lebte auf einem alten Bauerngehöft, und damit sie dort nicht so allein wäre, beschlossen Liaos in Taipeh lebende Eltern, eines ihrer vier Kinder eine Zeitlang aufs Land zu schicken. Warum die Wahl auf Jimmy fiel? „Weil ich am niedlichsten war“, scherzt er. Tatsächlich sprach für ihn, dass er noch nicht zur Schule ging und der traditionsbewussten Oma Jungen mehr galten als Mädchen. „Ich hatte auf dem Hof keine gleichaltrigen Spielgefährten und das Gefühl, von meiner Familie aussortiert worden zu sein“, sagt er. Zu schaffen machten ihm auch die dunklen Nächte auf dem Hof, wo die Lampen, um Strom zu sparen, stets nur schwach leuchteten. „Bis heute rutsche ich abends zur Dämmerung in ein Stimmungstief“, sagt Liao. Lässt er vielleicht deshalb seine Bilder in so phantastischen Farben erstrahlen? „Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, antwortet er. „In Taiwan, das zum Teil in den Tropen liegt, gibt es einfach sehr kräftige und schrille Farben, die ich gern verwende.“
- Am vielleicht schönsten leuchten die Farben in „Die Sternennacht“, einem der ins Deutsche übertragenen Bücher. Auch dieses Buch, das ihm selbst das liebste ist, schrieb er für seine Tochter, als diese vor zehn Jahren mehr und mehr ihr eigenes Leben zu führen begann und der Vater fürchtete, es würde ihm dorthin kein Zugang gewährt. Inspiriert wurde er nicht nur vom Gemälde van Goghs, sondern von der Geschichte zweier ausgerissener und von der Polizei wieder eingefangener Teenager, deren Familien sich hinterher gegenseitig Vorwürfe machten und drohten, einander zu verklagen. Bei Liao werden das Mädchen und der Junge zu zwei Abenteurern, die Schuldruck und Alltagsfrust entfliehen und am Ende zwar nicht ihre Leben, aber immerhin die Erfahrung einer unvergesslichen Sternennacht teilen.
- „Die Sternennacht“ ist ein typisches Jimmy-Liao-Werk: bildgewaltig, metaphernreich, traurig und doch voller Hoffnung, naiv, doch nicht infantil. Ein Buch für alle, die große Bilderbuchkunst schätzen – und das sind, wenn man ehrlich ist, nun mal vor allem die Erwachsenen; Kinder werden, was Bücher betrifft, irritierenderweise ja oft von liebloser Massenware angezogen und langweilen sich auch im Kunstmuseum. Dass Liao selbst in seiner Heimat immer wieder für Kinder- und Jugendbuchpreise und damit aus seiner Sicht in der falschen Kategorie nominiert wird, damit hat er sich längst abgefunden: „Das lässt sich einfach nicht ändern. Aber wenn ich einen Preis gewinne, dann freue ich mich natürlich.“
- Auf seiner kleinen Europa-Tour ist Jimmy Liao noch in Stuttgart zu Gast (16. Juni) sowie in Zürich (18. Juni). Vom 20. bis zum 23. Juni kann man Liao als Ehrengast des Comicfestivals in München erleben.
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