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Jun 16th, 2019
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  1. Du bist einsam, aber nicht allein
  2. Bil­der­bü­cher für Er­wach­se­ne: Ist das ein Witz? Nicht, wenn sie von Jim­my Liao stam­men. Der Tai­wa­ner, jetzt zu Be­such in Deutsch­land, zeigt die Ma­gie un­se­rer mo­der­nen Welt – und die Ver­lo­ren­heit ih­rer Be­woh­ner. Von Jörg Tho­mann
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  4. Die Rück­erobe­rung der Kind­heit durch die Er­wach­se­nen scheint in vol­lem Gan­ge. Sie fah­ren zur Ar­beit mit Tret­rol­lern, die sie nun so­gar mit Mo­to­ren aus­stat­ten, sie be­geis­tern sich für Su­per­hel­den­fil­me und für Fan­ta­sy-Bü­cher, und wenn sie mal run­ter­kom­men möch­ten, stri­cheln sie be­flis­sen in Er­wach­se­nen­mal­bü­chern. Sie schrei­ben ein­an­der kei­ne Brie­fe mehr, son­dern ver­sen­den knap­pe Nach­rich­ten, an die sie Bild­chen mit la­chen­den oder wei­nen­den Ge­sich­tern hän­gen. Al­lein Bil­der­bü­cher fin­den sich wei­ter­hin fast aus­schließ­lich in Kin­der­zim­mern, es sei denn, es han­delt sich um so­ge­nann­te Cof­fee-Ta­ble-Books mit Bil­dern eng­li­scher Gär­ten oder fran­zö­si­scher Im­pres­sio­nis­ten.
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  6. In Tai­wan hin­ge­gen, ja in gro­ßen Tei­len Asi­ens, ist den Kin­dern auch das Bil­der­buch längst strei­tig ge­macht wor­den. Da­für ver­ant­wort­lich ist vor al­lem ein freund­li­cher, zu­rück­hal­ten­der und recht un­schein­ba­rer Herr, der an die­sem Frei­tag­nach­mit­tag in ei­ner plü­schi­gen Sitz­ecke in ei­nem klei­nen Köl­ner Ho­tel Platz ge­nom­men hat. Jim­my Liao heißt er und wird in sei­ner Hei­mat meist nur beim Vor­na­men ge­nannt, was auch in un­se­ren Ge­fil­den – sie­he Ot­to, Bo­ris, Le­na – ein Aus­weis ho­her Po­pu­la­ri­tät ist.
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  8. Vor gut zwan­zig Jah­ren hat die­ser Jim­my, das nimmt er bei al­ler Be­schei­den­heit für sich in An­spruch, ein neu­es Gen­re ge­schaf­fen, in­dem er sein ers­tes Bil­der­buch für Er­wach­se­ne vor­leg­te. Mehr als vier­zig wei­te­re sind ge­folgt, im­mer­hin vier un­längst ins Deut­sche über­setzt wor­den. Laut dem auf chi­ne­sisch­spra­chi­ge Co­mic-Kunst spe­zia­li­sier­ten „Man­hua Ma­ga­zin“ ist Jim­my Liao in der asia­ti­schen Welt ein „Gi­gant“ und „Su­per­star“, al­ler­dings darf man dem Heft höchs­te Be­fan­gen­heit at­tes­tie­ren: Her­aus­ge­ge­ben wird es vom Schwei­zer Ver­lag Chi­na­books, der Jim­my Lia­os Bü­cher ver­treibt. Den­noch deu­tet vie­les dar­auf hin, dass hier nur zart über­trie­ben wor­den ist. So fin­det sich in der Stadt Yilan im Nord­os­ten Tai­wans ein Skulp­tu­ren­park mit Fi­gu­ren aus Lia­os Bü­chern, die U-Bahn-Sta­ti­on Nan­gang in Tai­peh ist ver­ziert mit Wand­bil­dern aus sei­nem Werk „Der Klang der Far­ben“, und viel­fach ha­ben sei­ne Bü­cher das Me­di­um ge­wech­selt: Sie dien­ten als Vor­la­ge für kur­ze Trick­fil­me, lan­ge Spiel­fil­me und so­gar ei­ne Fern­seh­se­rie, für Thea­ter­stü­cke und auch für drei Mu­si­cals. Wie macht man aus ei­nem, ob­zwar sei­ten­star­ken, Bil­der­buch ein Mu­si­cal? „Die Stü­cke­schrei­ber er­fin­den wei­te­re Plots und Fi­gu­ren hin­zu“, sagt Jim­my Liao und lä­chelt.
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  10. Die Trans­for­ma­ti­on ver­wun­dert den­noch, ver­bin­det man mit Mu­si­cals doch un­be­schwer­te Hei­ter­keit, wäh­rend Lia­os Bü­cher von Me­lan­cho­lie durch­zo­gen sind. So traum­schön und be­rü­ckend sei­ne de­tail­ver­lieb­ten Bil­der sind und so pracht­voll de­ren Far­ben leuch­ten, so klein und ver­lo­ren wir­ken die Men­schen, die durch die Ge­schich­ten ir­ren. Oft sind es Kin­der, doch mit der ver­klä­ren­den Dar­stel­lung, wie man sie aus an­de­ren Bil­der­bü­chern kennt, hat de­ren Kind­heit we­nig zu tun: Sie ist ge­prägt von Ein­sam­keit und Ängs­ten und dem tief ver­un­si­chern­den Ge­fühl, nicht ver­stan­den zu wer­den. Wer sol­che Ge­füh­le nicht ab und an ver­spürt hat, der ist nie­mals Kind ge­we­sen, und wer auch als Er­wach­se­ner nicht ge­le­gent­lich von ih­nen über­mannt wird, der ist ein Meis­ter der Ver­drän­gung.
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  12. Liao er­zählt von fra­gi­lem Glück und ver­pass­ten Chan­cen, von un­er­füll­ten Lie­bes­ge­schich­ten und der Zi­vi­li­sa­ti­ons­mü­dig­keit in Ge­sell­schaf­ten, die im­mer mehr auf Ef­fek­ti­vi­tät ge­trimmt sind, was für den Wes­ten gilt und mut­maß­lich noch mehr für den Os­ten Asi­ens. „Mein Ein­druck ist, dass bei uns der Leis­tungs­druck so stark ist, dass der Mensch sich manch­mal wie er­drückt fühlt“, sagt Liao. „Wenn man sich zu­rück­zieht, wird man aber schnell sehr ein­sam. Das sieht man an den vie­len Leu­ten, die nur noch am Han­dy hän­gen.“ Tröst­lich an Lia­os oft schwer­mü­ti­gen Ge­schich­ten ist die Er­kennt­nis, dass man in sei­ner Ein­sam­keit nicht al­lein ist. „Ich be­geg­ne oft Schü­lern oder Stu­den­ten, die mir er­zäh­len, dass sie in ih­ren dun­kels­ten Stun­den mei­ne Bü­cher ge­le­sen ha­ben und dass das, was mei­ne Fi­gu­ren durch­ma­chen, ei­ne Wi­der­spie­ge­lung ih­rer ei­ge­nen Nö­te ist“, sagt Liao. „Das hat ih­nen ge­hol­fen, die­se Zei­ten durch­zu­ste­hen.“
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  14. Jim­my Lia­os ei­ge­ne dun­kels­te Stun­den ha­ben ihn erst zum Künst­ler ge­macht. 1995, da war er 37, er­krank­te er an Leuk­ämie. „Die Pa­ti­en­ten, mit de­nen ich im Kran­ken­saal lag, sind nach­ein­an­der al­le ge­stor­ben“, er­in­nert er sich, „und ich dach­te im­mer, ich wür­de der Nächs­te sein.“ Drei Jah­re kämpf­te er ge­gen die Krank­heit, und als ihm, der als Il­lus­tra­tor für Zeit­schrif­ten und Zei­tun­gen ge­ar­bei­tet hat­te, ein Ver­lag das An­ge­bot mach­te, ein Buch zu ver­öf­fent­li­chen, wil­lig­te er ein, um sei­ner neu­ge­bo­re­nen Toch­ter „et­was zu hin­ter­las­sen, falls ich bald ster­ben soll­te“. Bild um Bild mal­te er die wun­der­sa­me Rei­se ei­nes Mäd­chens und ei­nes Rie­sen­ka­nin­chens durch ei­ne sur­rea­lis­ti­sche Wald­land­schaft mit schwe­ben­den Brü­cken und Him­mel­strep­pen, auf Wunsch des Ver­lags er­dach­te er noch ei­nen Text da­zu. „Die Ge­heim­nis­se der Wäl­der“, er­schie­nen 1998, wur­de kein Ab­schieds­ge­schenk, son­dern der Be­ginn ei­ner neu­en Exis­tenz als Künst­ler.
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  16. Als sol­cher lebt Liao mit sei­ner Frau nach wie vor in ei­nem Hoch­haus am Stadt­rand Tai­pehs. Die Nach­barn wis­sen, wer er ist, doch sie las­sen ihn in Ru­he – und er sie erst recht. „Wenn ich mei­ne Woh­nung ver­las­sen möch­te und hö­re, dass je­mand im Trep­pen­haus am Auf­zug war­tet, dann war­te ich, bis der an­de­re weg ist“, er­zählt er frei­mü­tig. „Ich ha­be nichts ge­gen an­de­re Men­schen, aber ich hal­te gern ein biss­chen Ab­stand zu ih­nen.“ Und müss­te es ihn, der so häu­fig von ent­frem­de­ten Groß­stadt­be­woh­nern er­zählt, nicht ei­gent­lich in die Na­tur zie­hen? „Das Ge­fühl von Ein­sam­keit ist nicht wirk­lich an ei­nen geo­gra­phi­schen Ort ge­bun­den. Es kommt aus dem ei­ge­nen Her­zen und der ei­ge­nen See­le“, sagt Liao. „Au­ßer­dem lie­be ich das Stadt­le­ben.“
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  18. Für den dau­er­haf­ten Ver­bleib in der Stadt spricht auch ein Er­leb­nis aus Jim­my Lia­os Kind­heit, das zu­dem man­ches Mo­tiv in sei­nem Werk er­klä­ren mag. Sei­ne Groß­mut­ter vä­ter­li­cher­seits leb­te auf ei­nem al­ten Bau­ern­ge­höft, und da­mit sie dort nicht so al­lein wä­re, be­schlos­sen Lia­os in Tai­peh le­ben­de El­tern, ei­nes ih­rer vier Kin­der ei­ne Zeit­lang aufs Land zu schi­cken. War­um die Wahl auf Jim­my fiel? „Weil ich am nied­lichs­ten war“, scherzt er. Tat­säch­lich sprach für ihn, dass er noch nicht zur Schu­le ging und der tra­di­ti­ons­be­wuss­ten Oma Jun­gen mehr gal­ten als Mäd­chen. „Ich hat­te auf dem Hof kei­ne gleich­alt­ri­gen Spiel­ge­fähr­ten und das Ge­fühl, von mei­ner Fa­mi­lie aus­sor­tiert wor­den zu sein“, sagt er. Zu schaf­fen mach­ten ihm auch die dunk­len Näch­te auf dem Hof, wo die Lam­pen, um Strom zu spa­ren, stets nur schwach leuch­te­ten. „Bis heu­te rut­sche ich abends zur Däm­me­rung in ein Stim­mungs­tief“, sagt Liao. Lässt er viel­leicht des­halb sei­ne Bil­der in so phan­tas­ti­schen Far­ben er­strah­len? „Dar­über ha­be ich noch nie nach­ge­dacht“, ant­wor­tet er. „In Tai­wan, das zum Teil in den Tro­pen liegt, gibt es ein­fach sehr kräf­ti­ge und schril­le Far­ben, die ich gern ver­wen­de.“
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  20. Am viel­leicht schöns­ten leuch­ten die Far­ben in „Die Ster­nen­nacht“, ei­nem der ins Deut­sche über­tra­ge­nen Bü­cher. Auch die­ses Buch, das ihm selbst das liebs­te ist, schrieb er für sei­ne Toch­ter, als die­se vor zehn Jah­ren mehr und mehr ihr ei­ge­nes Le­ben zu füh­ren be­gann und der Va­ter fürch­te­te, es wür­de ihm dort­hin kein Zu­gang ge­währt. In­spi­riert wur­de er nicht nur vom Ge­mäl­de van Go­ghs, son­dern von der Ge­schich­te zwei­er aus­ge­ris­se­ner und von der Po­li­zei wie­der ein­ge­fan­ge­ner Teen­ager, de­ren Fa­mi­li­en sich hin­ter­her ge­gen­sei­tig Vor­wür­fe mach­ten und droh­ten, ein­an­der zu ver­kla­gen. Bei Liao wer­den das Mäd­chen und der Jun­ge zu zwei Aben­teu­rern, die Schul­druck und All­tags­frust ent­flie­hen und am En­de zwar nicht ih­re Le­ben, aber im­mer­hin die Er­fah­rung ei­ner un­ver­gess­li­chen Ster­nen­nacht tei­len.
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  22. „Die Ster­nen­nacht“ ist ein ty­pi­sches Jim­my-Liao-Werk: bild­ge­wal­tig, me­ta­phern­reich, trau­rig und doch vol­ler Hoff­nung, na­iv, doch nicht in­fan­til. Ein Buch für al­le, die gro­ße Bil­der­buch­kunst schät­zen – und das sind, wenn man ehr­lich ist, nun mal vor al­lem die Er­wach­se­nen; Kin­der wer­den, was Bü­cher be­trifft, ir­ri­tie­ren­der­wei­se ja oft von lieb­lo­ser Mas­sen­wa­re an­ge­zo­gen und lang­wei­len sich auch im Kunst­mu­se­um. Dass Liao selbst in sei­ner Hei­mat im­mer wie­der für Kin­der- und Ju­gend­buch­prei­se und da­mit aus sei­ner Sicht in der fal­schen Ka­te­go­rie no­mi­niert wird, da­mit hat er sich längst ab­ge­fun­den: „Das lässt sich ein­fach nicht än­dern. Aber wenn ich ei­nen Preis ge­win­ne, dann freue ich mich na­tür­lich.“
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  24. Auf sei­ner klei­nen Eu­ro­pa-Tour ist Jim­my Liao noch in Stutt­gart zu Gast (16. Ju­ni) so­wie in Zü­rich (18. Ju­ni). Vom 20. bis zum 23. Ju­ni kann man Liao als Eh­ren­gast des Co­mic­fes­ti­vals in Mün­chen er­le­ben.
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