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Feb 27th, 2020
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  1. Was sind das für Menschen, die an die Spitze der Linken wollen?
  2. Die Linke wählt bald eine neue Parteispitze, doch die Genossen sind zerstritten und tief verunsichert. Das Chaos ist die große Chance für Außenseiter wie Ali Al-Dailami.
  3. Von Kevin Hagen
  4. 27.02.2020, 19:04 Uhr
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  6. Ali Al-Dailami: Nutzt er die Gunst der Stunde?
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  8. Ali Al-Dailami: Nutzt er die Gunst der Stunde?
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  10. Steffen Prößdorf/ imago/foto2press
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  12. Als Ali Al-Dailami etwa fünf Jahre alt ist, spaziert er oft mit einer Ziege durch seine jemenitische Heimatstadt Sanaa. Seine Mutter hatte sie ihm geschenkt, als er in der Vorschule nicht mehr klarkam. Den straffen Koranunterricht, die Prügel erträgt er nicht mehr. Aber auch die anderen Kinder meiden den kleinen Ali, der ein eigenwilliger Junge ist - und er meidet sie. Lieber streift er fortan mit dem Tier durch die Straßen.
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  14. Es ist eine Geschichte, die Al-Dailami derzeit gerne erzählt, immer wieder; die Geschichte eines Einzelgängers - eines Menschen, dessen Weg wahrlich nicht vorgezeichnet war. Dieser Mensch aber soll jetzt, gut 30 Jahre später, Bundesvorsitzender der Linken werden. Zumindest sehen das manche in der Partei so.
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  16. An einem Januartag dieses Jahres versammeln sich etwa 20 Männer und Frauen im Büro eines Berliner Linken-Bezirksverbandes. Es sind führende Vertreter des radikaleren Flügels der Partei. Bundestagsabgeordnete wie Sevim Dagdelen, Andrej Hunko, Diether Dehm - aber auch Ralf Krämer von der einflussreichen Parteigruppierung Sozialistische Linke. Dazu Genossen aus den Ländern, so berichten es mehrere Teilnehmer der Runde.
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  18. Sie sind gekommen, weil sie beim Parteitag im Juni die Machtfrage stellen wollen. Die Frage lautet: Wer kann es machen? Wer ist in der Lage, die acht Jahre währende Herrschaft von Katja Kipping und Bernd Riexinger, den amtierenden Vorsitzenden, zu durchbrechen?
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  20. Die Antwort ist wahrlich nicht einfach. Der linke Flügel prägte einst den Kurs der Partei, Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht waren seine Aushängeschilder. Heute, aufgerieben von Grabenkämpfen, mehrfach gespalten, hat er merklich an Schlagkraft eingebüßt.
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  22. Doch das muss noch lange nichts heißen in einer Partei, deren Machtblöcke sich fast schon kontinuierlich verändern, verschieben, auflösen.
  23. Coup im Herbst
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  25. In diesen Tagen und Wochen laufen bei den Genossen hinter den Kulissen mit Nachdruck Gespräche. Kandidaten werden in Stellung gebracht, potenzielle Anwärter wägen ihre Chancen ab, suchen nach Partnern.
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  27. Und es sagt viel über den Zustand einer nervösen Partei, dass auch Szenarien durchdacht werden, die noch vor Monaten kaum jemand für möglich gehalten hätte. Wenn Chaos und Streit herrschen, wenn es kein stabiles Machtgefüge gibt, dann schlägt die Stunde der Außenseiter.
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  29. Zuletzt gelang den Parteilinken im Herbst ein Überraschungs-Coup. Mit Amira Mohamed Ali bugsierten sie als Wagenknecht-Nachfolgerin erneut eine der ihren an die Spitze der Bundestagsfraktion. Die brüchig gewordene Allianz mit den pragmatischen Reformern hatte noch einmal gehalten, weil diese sich nicht mit der Gruppe um Kipping, dem dritten Machtzentrum bei den Linken, auf eine gemeinsame Kandidatin verständigen konnten.
  30. Fraktionschefin Amira Mohamed Ali: Ins Vakuum vorgestoßen
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  32. Fraktionschefin Amira Mohamed Ali: Ins Vakuum vorgestoßen Carsen Koall/DPA
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  34. Möglich war das aber nur mit einer von all dem Krach unbelasteten Kandidatin. Mohamed Ali saß erst seit zwei Jahren im Bundestag. Bis zu ihrer Wahl war sie selbst innerhalb der Fraktion vielen gänzlich unbekannt. Sie stieß in ein Vakuum vor, dass die großen ineinander verkeilten Lager hinterlassen hatten.
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  36. Geht es nach den Wagenknecht-Linken soll es bei der Wahl der Parteivorsitzenden im Sommer nun genau so laufen.
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  38. Ein Genosse nach dem anderen meldet sich bei dem Treffen im Januar zu Wort, heißt es später. Fast alle sprechen sich demnach für einen Mann aus, der sich zuletzt in die vordere Reihe der Partei geschlichen hat – von der breiten Öffentlichkeit kaum bemerkt: Ali Al-Dailami, der Mann mit der Ziegen-Geschichte.
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  40. Der 38-Jährige ist seit 2018 Parteivize und bringt einige Eigenschaften mit, die ihn aus Sicht seiner Unterstützer zu einem aussichtsreichen Kandidaten in einem Linken-Wahlkampf machen: Al-Dailami gilt als guter Redner, ist Migrant und blickt auf eine Biographie voller spektakulärer Brüche, die jede Menge Material bereithält für eine gute Bewerbungserzählung.
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  42. Als Kind floh er mit seinen Eltern aus dem Jemen nach Deutschland. Mehrfach riss er von zuhause aus, wuchs zeitweise im Heim auf. Nach der Schule rutschte Al-Dailami weiter ab, lebte von Hartz IV, arbeitete in Callcentern, als Leiharbeiter. Als er sich wieder gefangen hatte, knüpfte er über die Kommunalpolitik Kontakte nach Berlin. Heute ist Al-Dailami bestens vernetzt. Er arbeitet gleich mehreren Bundestagsabgeordneten der Linken zu: allen voran Mohamed Ali, der Fraktionschefin.
  43. Linken-Chefs Bernd Riexinger und Katja Kipping: Treten sie wieder an?
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  45. Linken-Chefs Bernd Riexinger und Katja Kipping: Treten sie wieder an? DPA
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  47. Hinter den Kulissen hat Al-Dailami im zermürbenden Linken-Machtkampf der vergangenen Jahre durchaus mitgemischt. Doch öffentlich stand er nie in vorderster Front. Er hält Kontakt zu Wagenknecht, zählt jedoch nicht zu ihrem allerengsten Zirkel. Egal, wo man in der Partei fragt, bei Linksaußen-Politikern, Reformern, Kipping-Leuten – der Ali, sagen die meisten, der sei ein Netter. So etwas hört man nicht oft bei den krawallfreudigen Linken.
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  49. Das heißt natürlich noch lange nicht, dass alle Al-Dailami das Spitzenamt zutrauen. Auch bei den Parteilinken ist noch längst nichts entschieden. Während zwar manche die Geschehnisse im Januar fast schon wie eine Art Krönungsmesse unter Vorbehalt beschreiben, charakterisieren sie andere als reines Stimmungsbild.
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  51. Mehr kann es zum jetzigen Zeitpunkt auch kaum sein. Bis zum Parteitag kann noch viel passieren, neue Kandidaten können sich hervortun, neue Dynamiken die Partei durchrütteln. Die Basis gilt obendrein als absolut unberechenbar. Und: Sahra Wagenknecht, immer noch Linken-Superstar, hat sich offenbar noch nicht entschieden, wen sie persönlich unterstützen soll.
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  53. Wagenknecht ist bei dem Linken-Treffen im Januar auch nicht dabei. Al-Dailami dafür schon. Er macht vor den Parteifreunden keinen Hehl daraus, dass er sich den Spitzenposten zutraut. Fest zusagen will er aber nichts. Dem SPIEGEL sagt er, viele Genossen hätten ihn gebeten, anzutreten. "Selbstverständlich werde ich auch in Zukunft Verantwortung für die Partei übernehmen. Für welche Funktion ich zur Verfügung stehe, werde ich in den nächsten Wochen entscheiden."
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  55. Kein Wunder, dass er zögert. Das Beispiel Thüringen zeigt nur zu gut, wie schnell sich alles verändern kann.
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  57. Würde Bodo Ramelows Wiederwahl zum Ministerpräsidenten endgültig scheitern, wäre dieser fast schon zwangsläufig der Topfavorit auf das Amt an der Spitze der Partei. Gehandelt wird in diesen Wochen immer wieder auch die thüringische Landesvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow. Es sieht so aus, als blieben beide in Erfurt weiter gut ausgelastet. Im Moment.
  58. Konkurrenz aus Hessen
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  60. Einer wie Al-Dailami muss darauf hoffen, dass ihm das Momentum, die Gefühlslage der Partei, in die Hände spielt. Dass prominentere Genossen aufgrund ihrer gegenseitigen Animositäten oder wegen des Parteiproporzes aus dem Rennen fliegen.
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  62. Und allein die Liste der potenziellen männlichen Kandidaten, ist lang: Da ist etwa Jan van Aken aus dem Kipping-Lager, der Reformer Jan Korte, oder Fabio de Masi, ein Wagenknecht-Vertrauter. Der Finanzexperte bestreitet bislang eigene Ambitionen, mit seiner mitunter ruppigen Art kommen viele nicht klar. Trotzdem hätte es Al-Dailami gegen ihn schwer.
  63. Linken-Politikerin Janine Wissler: Toptalent der Partei
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  65. Linken-Politikerin Janine Wissler: Toptalent der Partei Boris Roessler/ DPA
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  67. Eine, die dessen Kandidatur ebenfalls zunichte machen könnte, wäre Janine Wissler. Seit Jahren schon gilt die 38-Jährige als als Supertalent der Partei. Wissler ist Frontfrau der aktivistischen Trotzkisten-Gruppe, die zwar politisch zum linken Lager gehört, sich jedoch von Wagenknecht distanziert und machtpolitisch Kipping angeschlossen hat.
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  69. Wissler und Al-Dailami können sich nicht ausstehen. Vielmehr noch aber sind sie beide Westdeutsche, beide Hessen. Das macht es in der Parteilogik unmöglich, dass sie gemeinsam an die Parteispitze treten.
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  71. im Januar äußerte sich Wissler selbst zu ihrer Zukunft. Sie überlege sich, ob sie antrete, sagte sie, wenn klar ist, was die amtierenden Vorsitzenden machen. Unter ihren Gegnern verstehen das manche als Warnung. Wenn Wissler antritt, das ist im Prinzip jedem klar, wird sie auch gewählt. Al-Dailami müsste es dann gar nicht versuchen.
  72. Kippings Chance
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  74. Und so dürfte Al-Dailami darauf hoffen, dass entweder eine pragmatische Frau aus dem Osten antritt, mit der er gut kann – immer wieder wird bei den Linken etwa die Brandenburger Ex-Ministerin Susanna Karawanskij genannt. Oder dass mit Kipping ausgerechnet jene Frau im Amt bleibt, die er in den vergangenen Jahren im Vorstand bei praktisch jeder Gelegenheit piesackte. Denn auch Kipping stammt aus dem Osten, zählt zu den Gemäßigten. Für Al-Dailami wäre sie kein Hindernis. Im Zweifel müsste er nur Bernd Riexinger besiegen, den Co-Parteichef.
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  76. Über allem steht natürlich die Frage, was die beiden Vorsitzenden selbst wollen. Kipping will ihre Entscheidung erst im März nach der geplanten Strategiekonferenz verkünden. Zuletzt hat sie sich sehr darum bemüht, Distanz zu den Flügelkämpfen zu wahren. Nach Wagenknechts Abgang trat sie nicht mehr nach. Das registrierten auch einige ihrer Gegner, mache loben Kipping regelrecht. Sie sei mittlerweile "integrativer", sagt etwa ein Parteilinker.
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  78. Als kürzlich in der Fraktion erneut eine Kampfkandidatur für einen der Vizeposten anstand, warb Kipping demonstrativ präsidial für eine flügelübergreifende Verständigung. Man kann das als Arbeit an ihrem politischen Erbe deuten – oder als Versuch, sich erneut in Stellung zu bringen.
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