max-ou

Silvesterkrawalle in Berlin-Neuköll:Die Kinder vom Sonnencenter (Özlem Gezer, Der Spiegel 2.12.2023)

Mar 30th, 2024 (edited)
25
0
Never
Not a member of Pastebin yet? Sign Up, it unlocks many cool features!
text 46.81 KB | None | 0 0
  1. Silvesterkrawalle in Berlin-Neukölln; Die Kinder vom Sonnencenter
  2. Eine Reportage von Özlem Gezer
  3. 02.12.2023, aus DER SPIEGEL 49/2023
  4.  
  5. Sie lieben Gucci und hassen die Polizei. In ihrem Viertel explodieren Polenböller und brennen Autos, und sie wollen Olaf Scholz fragen, warum er auf der Seite Israels steht. ­Unterwegs mit Jungs der High-Deck-Siedlung, um zu erfahren, wer sie sind. Von Özlem Gezer
  6.  
  7. Man solle ihn Cobra nennen in dieser Geschichte, er ist 16 Jahre alt, und wenn er hier jemals wegziehen müsste, sagt er, würde er nur heulen. Hier, das ist die High-Deck-Siedlung mit mehr als 6000 Menschen am Ende der Neuköllner Sonnenallee, früher fast DDR. Benannt nach den Betonbrücken, die sich über die Straßen ziehen. Bekannt aus der Serie »4Blocks«. Ein Ort, der in den Schlagzeilen die schlimmste Gegend von Berlin genannt wurde und den der CDU-Mann Falko Liecke, als er noch ihr Sozialstadtrat war, »Schule des Verbrechens« taufte. Cobra und seine Jungs nennen das hier nur Gegend, einfach zu Hause. Hier rufen sie sich Couseng, obwohl sie keine sind, und leben wie in einer Großfamilie. Ihr Wohnzimmer: das Sonnencenter.
  8.  
  9. Auf dem Schild, das zum Center weist, verdunkeln Rußspuren der Silvesternacht auch fast ein Jahr danach noch die Schrift: Einkaufen im Sonnencenter. Es wirkt wie ein Mahnmal, das an die Krawalle erinnert, an den Reisebus, den irgendwer anzündete, an die Flammen, die in das Wohnhaus darüber schlugen, drinnen verzweifelte Rentner. Auf den Betonbrücken marschierte die Berliner Polizei. Die Videos gingen viral. Ihre Botschaft: Berlin außer Kontrolle. Machtloser Staat. Die Täter? Schnell war klar in der ewig wiederkehrenden Integrationsdebatte: junge Männer, arabischer Herkunft, geboren und verloren in Neukölln.
  10.  
  11. »Ich sag’s ehrlich, nach Silvester hat jeder über uns geredet, das hat mich glücklich gemacht«
  12.  
  13. Cobra trägt eine silberne Zahnspange, mit seinem dichten, braunen Haar erinnert er an eine arabische Version von John Travolta in den Achtzigerjahren. Er läuft rein ins Sonnencenter, vorbei an einer videoüberwachten Apotheke auf einen tristen Platz unter freiem Himmel mit Bänken aus Holz. Geht vorbei an einem Tedi-Shop und einem nah&gut, der sortiert ist wie ein türkischer Supermarkt. An einem Thai, der pleite ist, einem arabischen Laden, abgebrannt. Er stellt sich vor das Jobcenter, gegenüber ist ein Wettbüro, nebenan das Café Die Zimtschnecke, ein Späti, ein Friseur.
  14.  
  15. Cobra geht rüber zu seinen Jungs, sie stehen hier fast immer vor ihrem Friseursalon. Es ist ein Abend im Juli, ich stehe mit ihnen rum, ab jetzt fast jedes Wochenende, weil ich verstehen will, wer diese Jungs sind.
  16.  
  17. Sie würden nie irgendwo anders Haare schneiden lassen, sagen sie. Manchmal warten sie Stunden vor dem Laden, der Friseur verriegelt dann von innen die Tür. Wenn er sie nicht drannehmen will, werfen sie leere ­Plastikflaschen gegen sein Ladenfenster, und wenn er sie endlich einzeln reinwinkt, wollen sie alle den gleichen Schnitt, immer Fasson, die Schläfen sauber, hinten bisschen ab, fünf Minuten pro Kopf, 15 Euro.
  18.  
  19. Wenn man sie fragt, wie sie jemandem, der noch nie hier war, ihre Gegend beschreiben würden, schreien sie alle durcheinander, an diesem Abend sind es sieben Jungs zwischen 14 und 18 Jahren:
  20.  
  21. Einfach dorfisch. – Beraubend. – Atemberaubend, meinst du wohl. – Hier ist kein Tag langweilig, außer Sonntag. – Faszinierend. – Kriminell.
  22.  
  23. Da stehen sie, Cobra und seine Jungs. Da ist der mit dem Herzfehler, der eine Ausbildung bei Edeka macht, über den sie sagen, er könne gar nicht klauen, leider. Da ist der 14-Jährige, der sein Pfefferspray am Hosenbund trägt. Da ist der, der für seinen deutschen Pass eine Ausbildung beim Einrichtungsmarkt Poco macht und von einem ­eigenen Haus träumt, weil er noch nie in einem drin gewesen sei. Da ist der Frauenheld unter ihnen, wie die Jungs sagen, der irgendwann einen schwarzen Rolls-Royce fahren will und den ich nie mit einer Frau sehe. Da ist der mit den Locken, der am besten ihre Vape-Sorten aufzählen kann. Und da ist »der Alex«, wie er sich selbst nennt, der immer nur ­»Moinnnnn« ruft, egal wo man ihn trifft.
  24.  
  25. Ihre echten Namen? Die werden Sie in dieser Geschichte nicht erfahren, ich habe Monate gebraucht, bis sie irgendwann beim Italiener ihre Ausweise auf den Tisch legten, aber erst, nachdem wir ewig über Autos gesprochen hatten. Sie vertrauen uns nicht, weder Ihnen, der Leserin und dem Leser, noch mir, der Reporterin. Obwohl ich so oft wie nie zuvor bei einer Recherche den Satz sagte: Ich bin in der Nähe der Hamburger Reeperbahn aufgewachsen, in einem Hochhaus, fast so arm wie ihr. Na und?, sagten sie. Bei uns ist krasser, im Sonnencenter.
  26.  
  27. Da stehen sie, fast immer, wenn sie Gegend sind, was sie oft sind, weil das Geld fehlt, um woanders zu sein, manchmal auch der Mut. Hier, hinter dem Gestrüpp, hinter den Holzbänken, voller leer gesogener Capri-Sonnen-Tüten, Eisstangen, Red-Bull-Dosen, ausgerauchten Vapes, geht immer alles los. Kettenfangen. In der Dunkelheit Fahrradfahrer erschrecken. Chat mit Mädchen. Streit untereinander. Ausflüge zum Polenmarkt. Die Randale mit Daula. Es ist das arabische Wort für Staat, ihr Geheimwort für Polizisten, wenn sie die nicht gerade wieder diese Hurensöhne nennen.
  28.  
  29. An diesem Sommerabend ist Daula wieder da: wegen Dodo. Ein Hund, der aussieht wie ein Schäferhund in Dackelgröße. Die Besitzerin, eine Kubanerin, lebt seit Langem hier und kennt die Jungs alle. Gerade haben sie und einer von ihnen sich so lange angeschrien wegen dem kläffenden Dodo, bis irgendein Nachbar die Polizei rief, zu Cobra und seinen Jungs sagt die Frau jetzt: Wir machen immer so Spaß, aber heute hat einer von euch »Ich f*ck deine Mutter« zu mir gesagt. Meine Mutter ist im Himmel, das geht nicht! Jungs, das ist kein Respekt.
  30.  
  31. Daula zieht ab. Die Jungs wollen spielen. Dodo jagt jetzt Cobra, er kläfft, die Jungs grölen, drängeln sich hinter einer Vespa, schlagen gegen die verriegelte Friseurtür, lachen ihre Angst vor dem Schäferdackel in die Nacht und fliehen in alle Himmelsrichtungen durch die Ausgänge des Centers.
  32.  
  33. Warum eskaliert immer alles bei euch?
  34.  
  35. »Zieh einfach in unsere Gegend, dann stellst du die Frage nicht mehr«
  36.  
  37. In Gegend sagt man, wenn du niemanden findest, komm gelbe Bank.
  38.  
  39. Es ist der erste Sonntag der Sommerferien, es sind fast 30 Grad in Berlin, fast keiner der Jungs ist mit seiner Familie im Urlaub, das Columbiabad in Neukölln ist wegen Randalen geschlossen. Carsten Linnemann von der CDU fordert Schnellverfahren für Freibad-Gewalttäter. Auf der gelben Bank sagen die Jungs:
  40.  
  41. Einfach langweilig hier. – Keine Mädchen. – Ich werde bald schwul.
  42.  
  43. Hinter ihnen kriechen Ratten über den Asphalt. Die Jungs zucken nicht mal, fluchen über die Hausverwaltung und ihr Schrottgift. Die gehen einfach nicht tot, sagen sie. Einer versucht gerade ein E-Bike zu knacken, ein anderer überwacht von hier den Eingang zum Sonnencenter, hinter ihm an der Hauswand hat jemand über Nacht seine Nachricht an die Welt versprüht: »Tot den Bullen. Sorry Mama«
  44.  
  45. Einer zeigt auf die Security-Männer auf der anderen Straßenseite und sagt: Gefährliche Gegend, wa? Alle lachen laut. Sie scheinen sich in ihrer neuen Rolle zu gefallen: die Gejagten von Berlin. Sie reden über aufgebrochene Wohnungstüren und beschlagnahmte Handys, über Razzien. Sie klagen über hohe Anwaltskosten, wollen Staranwälte, obwohl noch keiner von ihnen als Täter angeklagt ist, für diese Sache mit dem Bus. Ein Streifenwagen fährt vorbei. Da sind sie wieder, die Hurensöhnen, sagt einer. Die kriegen uns eh nie, ein anderer.
  46.  
  47. Wenn man sie fragt, ob ihre Mütter sauer seien wegen der Razzien, sagen die Jungs, nein, die wüssten ja, dass sie nicht lügen, sondern immer nur die Bullen.
  48.  
  49. Als ich bei unseren ersten Begegnungen nach ihren Handynummern frage, sagen sie, brauchst du nicht, Prepaid, schmeißen wir eh weg. Sie sagen, Kripo, oder? Nein, SPIEGEL, sage ich. Ah, SPIEGEL TV! – Nein, ohne Kamera. Sie sagen, ach, ihr lügt doch alle das Gleiche! »Alles Lügner.« Dieser Abgeordnete, der sie in den Bundestag einladen wollte. Die Bürgermeisterin, die gleich nach Silvester in ihren Jugendklub The Corner kam. Die Frau von der AfD, die gegenüber von ihrer Bank posierte. CDU-Liecke, dieser Hund, wie sie ihn nennen, der sagt, ohne Polizeischutz gehe er nicht mehr in ihre Gegend, nachdem sie ihn als Schwanz beschimpften und von ihrer Party im Jugendklub jagten. Sie nerven einfach nur, sagen sie, diese Leute, die in ihre Gegend kommen, wie in einen Integrationszoo und immer nur hinschauen, wenn es brennt an Silvester, Krawall ist im Freibad, oder Krieg ist in Gaza und sie erklären sollen, was »der Araber« so denkt in diesem Land.
  50.  
  51. »Stell dir vor, dein Vater wäre Arzt«
  52.  
  53. Cobra sitzt in der Zimtschnecke im Center und trinkt schwarzen Tee. An der Wand steht in schwarzen Metallbuchstaben: »Wo Zimtschnecken sind, da ist auch Hoffnung«. Er guckt auf sein Handy, macht lauter, man hört jetzt Sturmgewehre rattern und sieht Terroristen mit Gleitschirmen in der Wüste lan­den. Es ist Samstagfrüh, der 7. Oktober, die Hamas ist in Israel eingefallen und mordet. Die Jungs wollen nach Polen. Fake-Jacken kaufen, bisschen Sachen gucken, Zigaretten für Baba.
  54.  
  55. Sie laufen zur Bushaltestelle, steigen in den M41. Es ist ihr Bus, mit dem sie immer rausfahren aus ihrer Gegend, immer schwarz. Sie fahren nur ein paar Stationen, immer hinten, immer rauchend.
  56.  
  57. Am Bahnhof stehen sie am Fahrkartenautomaten, tippen »Frankfurt (Oder)«, 11,30 Euro, zu teuer, sagen sie, steigen ohne Ticket ein.
  58.  
  59. Mit dem Regionalexpress fahren sie jetzt durch Ostdeutschland und planen, in welche Richtung sie fliehen wollen, wenn die Kontrolle kommt. Als der junge Schaffner vor ihnen steht, bleiben sie einfach sitzen. Der kontrolliert alle Sitznachbarn, auch mich kontrolliert er. An Cobra und seinen Jungs läuft er mehrfach vorbei und guckt dabei immer auf den Boden, als ob er ahnen würde, dass sie keine Fahrkarte haben, und keinen Ärger mit ihnen will.
  60.  
  61. Angekommen an der polnischen Grenze sitzen Cobra und seine Jungs in einem kleinen Sushiladen, Hier ist todesbillig, wir können teilen, sagt einer von ihnen, der schon mal in Polen einkaufen war.
  62.  
  63. Cobra isst eine Sushirolle und fragt seine Jungs: Stell dir vor, dein Vater wäre Arzt, wo wärst du jetzt? Schweigen. Cobra beantwortet seine Frage selbst. Wallah, ich wär niemals hier. Ich wär Gucci, Dior. Irgendwo Ku’damm. Einer seiner Jungs korrigiert ihn: Du wärst Ku’damm, okay, Nike-Store, ja, ist realistisch, aber übertreib nicht! Gucci wärest du nur an deinem Geburtstag vielleicht, und dann kannst du dir eine Sache aussuchen! Die Roli kommt erst nach einem Jahr. Cobra träumt weiter. Und er zahlt dir dein Führerschein, er zahlt dir dein Auto! Einfach alles. Er zeigt auf einen grauen Wohnblock gegenüber, der nicht schlechter aussieht als ihrer, und sagt: Ich schwöre auf Allah, ich könnte hier nie­mals wohnen. Jeden Tag ich würde heulen! Wallah. Das Wort ist Arabisch und bedeutet: Bei Gott.
  64.  
  65. Wenn sie hier leben würden, glauben sie, wären sie richtig deutschish, sogar von den Nazis würden sie dann irgendwann gegrüßt, sie würden einen Mittelscheitel tragen und ganz nett Hallo, wie geht’s? sagen. Cobra sagt, er brauche Action, Straße, er könne hier nicht mit Bastian chillen. So nennt er deutsche ­Kinder. »Bastian« ist die Antwort auf den deutschen Klischeenamen »Ali«, einst für Migrantenkinder.
  66.  
  67. Cobra hatte noch nie einen deutschen Freund, sagt er. Die haben einen anderen Kopf, nicht wie meine Jungs.
  68.  
  69. Sein Freund sieht es genauso, er zieht an seiner Vape und sagt: Ich habe lieber keine Banatzifutzen und bin dafür mit euch.
  70.  
  71. Banatzi-was?, frage ich. Es ist wieder ­irgendein Wort in ihrer Geheimsprache, ich verstehe sie auch nach Monaten nicht ganz.
  72.  
  73. Einer von Cobras Jungs, der gern redet, sagt: Warte, Özlem, ich übersetze für dich, er meint: Lieber er lebt mit uns in Sonnencenter, anstatt hier mit Mädchen, die f*cken.
  74.  
  75. Bei ihnen in der Gegend haben sie nie mit den Mädchen zu tun, man wisse nie, von wem sie die Cousine ist, oder die Schwester.
  76.  
  77. Cobra schweigt, er redet nicht so gern über Mädchen, da war mal diese eine, er mochte sie, aber egal jetzt. Er redet weiter über einen reichen Vater, den er nicht hat. Er wäre der beste Junge von Welt, sagt er, ­Wallah, er hätte alles, einfach alles, Playsi und wäre einfach artig!
  78.  
  79. Was machen eure Babas eigentlich?
  80.  
  81. Meiner ist schon zu alt, sagt Cobra. Er selbst ist der Jüngste von zwölf Geschwistern, fünf Jungs, sieben Mädchen. Die anderen zählen auf: Uber-Fahrer. Restaurant Lichtenrade, Pizzabäcker. Autohandel im Libanon, also der Vater habe ein Auto gekauft und vermietet es an deutsche Touristen.
  82.  
  83. Özlem, kriege ich eine Zigarette?, fragt der Jüngste. Nein! Du bist 14.
  84.  
  85. Cobra will los, er hat einen schnellen Gang und das breiteste Kreuz von allen, die rechte Hand immer in der Hosentasche. Er läuft gern vor, die anderen hinterher.
  86.  
  87. Angekommen in Polen, auf dem Basar Słubice, halten sie Böller in der Hand: Dum-Bum. Bazooka. Raketen. Kugelbomber. Wow. Paradies. FAJERWERKI. Sie drehen Videos, TikTok, Snapchat. Komm, erst mal weiter.
  88.  
  89. Sie halten Ketten mit goldenen Tigern in die Luft, Steinschleuder, Fake-Uhren, Fake-Parfum. Sie legen sich gegenseitig Handschellen an. Sie laufen vorbei an einem Händler, der T-Shirts verkauft mit den Aufdrucken: »Deutsch durch Geburt« und »Unterschätze niemals einen alten Mann, der in der DDR aufgewachsen ist«.
  90.  
  91. Sie suchen Rauchbomben, die größte Kugelbombe. Sie fragen eine Verkäuferin, die gekleidet ist, als ob sie bei Gucci am Tresen stände.
  92.  
  93. Ist das eine echte Handgranate?
  94.  
  95. Echte Granate bei Russland, hier Poland!
  96.  
  97. Sie laufen weiter, durch den Markt. Sie quatschen die pol­nischen Verkäufer auf Deutsch an. Vor ihnen liegen wieder Böller mit Namen wie: Vogelschreck, Crazy Ro­bots, irgendwas, 320 Schuss.
  98.  
  99. Weißt du, wo wir herkommen? Aus Berlin, da, wo der Bus gebrannt hat, sagt einer zu dem Händler und zeigt ihm jetzt Handyvideos von der Silvesternacht. Ein brennender Bus. Polizei auf den High-Decks.
  100.  
  101. Kann man die auf Polizei werfen?, fragt ein anderer und zeigt auf Böller. Ja, sehr gut, sagt der Verkäufer und lacht. Kommt, wir legen zusammen für Rauchbomben, schreit einer. Jeder zieht ein paar Münzen aus der Tasche.
  102.  
  103. Grün. Rot. Schwarz. Für Palästina.
  104.  
  105. Das Geld reicht für eine, rot, acht Euro.
  106.  
  107. Sie fragen den Verkäufer: Israel gut oder nicht? Gut, sagt der. Sie halten Tablettenpackungen hoch und fragen. Was ist das? – Via­gra, brauchst du noch nicht, sagt der Verkäufer.
  108.  
  109. Sie holen noch ein paar Böller. Einer sucht sich eine gefakte Winterjacke, Canada Goose, kauft Zigaretten für Baba. Der 14-Jährige holt sich einen Elektroschocker, ein anderer einen Laserpointer.
  110.  
  111. Kein Händler fragt die Jungs nach ihrem Ausweis. Sie stecken die Böller in ihre Innentaschen. Reicht jetzt mit Polen, sie wollen zurück, nach Sonne. In Gegend. Nach Hause.
  112.  
  113. Im Regionalexpress sitzen sie sich gegenüber und verstecken die Böller zwischen den Sitzen und holen ihre Handys raus. Einer füllt in einem Handyspiel Bier in Krüge, der andere wischt sich durch Snapchat. Cobra und seine Sitznachbarn gucken wieder Videos vom Angriff der Hamas auf Israel.
  114.  
  115. Guck mal, wie die reingehen. – Guck jetzt wie die landen. – Ja, mit Fallschirmen, wie bei Fortnite.
  116.  
  117. Der Angriff ist wenige Stunden alt, aber die sozialen Netzwerke füllen sich ständig mit neuen Bildern und Videos, die Jungs sehen immer wieder die gleiche Sequenz. Männer, die einen israelischen Soldaten aus einem Wagen zerren und ihm auf die Brust treten, es treten immer mehr.
  118.  
  119. Guck mal, sie machen Runde auf sein Kopf, sagt einer. Krass, sagt Cobra, mehr kann auch er jetzt nicht mehr sagen.
  120.  
  121. Dann wischen sie weiter. Durch den Zug hallt das Geschrei aus ihren Handys. Blut. TikTok. Der Krieg ist im Regionalexpress. Wenn sie ein Video anklicken, wissen sie nicht, was sich da gleich öffnet. Keiner guckt weg.
  122.  
  123. Hey, die haben mein TikTok gesperrt. – Warum? – Weil ich geschrieben habe, vernichtet Juden. – Ihhhhh. Wer hat gefurzt?
  124.  
  125. Cobra liest den Jungs jetzt Posts aus seiner Instagram-Timeline vor: Wenn Unrecht zu Recht wird, dann wird Widerstand zu Pflicht. Er überlegt kurz. Was heißt das? Keiner antwortet ihm.
  126.  
  127. Jungs, was hat das mit eurem Leben zu tun, was da unten passiert?
  128.  
  129. Viel, sagen sie. Der eine redet von seiner Mutter, die dort geboren sei. Der andere von einem gefolterten Onkel. Der Letzte spielt weiter auf seinem Handy und sagt: Ich weiß genau gar nichts, ich war einfach noch in mein Daddys Eiern, als die geflohen sind.
  130.  
  131. Schnell geht es wieder um sie. Was, wenn der Krieg größer wird? Wenn er bis nach Berlin kommt, bis nach Sonne? Wer kann sie dann retten? Cobra fragt Siri, ob Ausländer in Deutschland Nato-Mitglieder seien. Dann reden alle wieder durcheinander.
  132.  
  133. Was ist Nato? – Ist Russland Nato? – Nein, man! – Russland ist gegen Nato. – Wenn Russland Nato wäre, hätten sie doch gewonnen.
  134.  
  135. Sie rechnen die Flugzeiten von Kampfjets aus. Erklär mal, von Sonne bis wo zum Beispiel? Die Welt kreist immer um das Sonnencenter. Hör auf, wie ein J*nkie zu ziehen! Gib meine Vape her! Sie rauchen. Wie immer. Sie rauchen in der Ringbahn, im Bus, im Zug. Sie ziehen an den bunten Geräten, die sie an Bändern um ihren Hals tragen. Wenn sie einer anspricht, wie der Mann mit dem Fahrrad jetzt, fixiert Cobra den Mann so lange mit seinem Blick, bis er aussteigt.
  136.  
  137. Dann geht Cobra wieder auf Instagram, liest, wie Bundeskanzler Scholz dem Staat Israel seine Solidarität ausspricht. Er überlegt kurz, nimmt eine Sprachnachricht an den Bundeskanzler auf:
  138.  
  139. Hey, Olaf Schulz, ich meine Scholz, ich schwöre, Sie haben ein schönes Leben. Ich ­wollte sagen, warum hast du das nie für Palästina ...
  140.  
  141. Cobra bricht die Sprachnachricht ab.
  142.  
  143. Wallah, ich hab nicht geschickt, später er hört das, er kann mein Leben vernichten.
  144.  
  145. Du hast morgen Razzia, Cobra.
  146.  
  147. Okay, ich lese euch aber vor, was er ge­-postet hat, okay?: »Erschreckende Nachrichten erreichen uns heute aus Israel. Der Raketenbeschuss aus Gaza und die eska­lierende Gewalt erschüttern uns zutiefst. Deutschland verurteilt diesen Angriff der Hamas und …«
  148.  
  149. Ach sooooo, die sind gegen Palästina?, unterbricht ihn der 15-Jährige, dann machen wir heute Sachen gegen Polizei, und ich werde das auf Insta posten, yaaaaaaa.
  150.  
  151. Manchmal hat man den Eindruck, es ist für die Jungs wichtiger, Sachen zu posten als sie zu verstehen.
  152.  
  153. »Na, wieder Kindergarten hier?«
  154.  
  155. Um 21 Uhr leuchtet auf dem Branden­burger Tor die israelische Flagge in Blau-Weiß. Im Center stehen die Jungs vor dem Schaufenster des Friseurs, mit erhobenen Händen.
  156.  
  157. Vor ihnen stehen Kripobeamte und ein Dutzend Polizisten. Eine Kripobeamtin spielt »Wer als Erster wegguckt« mit Alex. Ein anderer erklärt jetzt den Polizisten, warum er sie dazugerufen habe: Wir sind hier reingekommen, es hat im Durchgang geknallt, die stehen hier und haben natürlich nichts gemacht. Ich würde gern wissen, wer wer ist und was er so in der Tasche hat.
  158.  
  159. Wenn sie die Sirenen hören, gehen die Kiffer oft aus dem Center. Einer, der gerade aus dem Knast raus ist, bleibt beim Friseur sitzen. Auf dem Platz stehen wieder nur die Kinder vom Sonnencenter und machen Maskhara mit der Polizei, es ist das arabische Wort für Unsinn. Sie stellen den Beamten jetzt Fragen:
  160.  
  161. Wenn einer von uns jetzt wegrennt, was tun Sie dann? – Im Zweifel hinterherrennen oder was hinterherwerfen. Pfefferspray einsetzen. Handschellen. – Ich habe gar nichts gemacht, ich war heute in Polen. – Bei Allah, Bruder, erzähl ihm doch auch noch, wann du heute aufgestanden bist, ya!!!
  162.  
  163. Auf der Sonnenallee wird an diesem ersten Kriegssamstag Baklava für die Hamas verteilt, Proteste werden aufgelöst. In den High-Decks jagen sich die Jungs gegenseitig mit dem Elektroschocker in die Hauseingänge und strahlen den Laserpointer in den vorbeifahrenden Bus M41.
  164.  
  165. An diesem ersten Abend des Krieges sind auch junge Männer am Eingang vom Center, die man hier sonst nicht sieht. Die High-Deck-Siedlung ist seit vergangenem Silvester auch ein Pilgerort für Randalier. Die Jungs sagen, es sei normal, sie hätten halt den Rekord gebrochen in Berlin, für schlimmste Gegend. In dieser Nacht brennt eine rote Rauchbombe unter dem vom Ruß verdunkelten Schild zum Sonnencenter. Ein Polizeiauto wird mit Steinen beworfen.
  166.  
  167. Als die Polizei die Jungs an die Wand vom Friseur stellt, haben sie nichts in den Taschen, keine Böller, keine Feuerzeuge. Ihre Namen geben sie mündlich durch, manche zeigen nicht mal ihren Ausweis, man kennt sich hier inzwischen mit den Polizisten.
  168.  
  169. Einer der Älteren läuft über den Platz und sagt: Na, wieder Kindergarten hier? Die Frau von der Zimtschnecke sagt, soll die doch bitte einer endlich abholen. Der Mann von nebenan sagt, wir waren nicht so in dem Alter. Die Männer vom Wettbüro schreien rüber: Jungs, hört doch endlich auf, yaaaaa!
  170.  
  171. Einer der Polizisten sagt beim Weggehen: Ihr seid so eine Schande. Der Kripomann mit arabischer Herkunft geht jetzt zu den Jungs und sagt: Ihr redet immer von Respekt, aber was macht ihr? Das Erste, was ich höre, wenn ich auf den Platz komme, ist, »ich will aber von einer Frau untersucht werden«.
  172.  
  173. Sie müssen jetzt gehen, oder?, sagt einer der Jungs.
  174.  
  175. Hat kein Sinn mit euch!
  176.  
  177. »Wer keine Frau hat, lässt sein Auto heulen«
  178.  
  179. Da Toni, ein Italiener auf der Sonnenallee, der Albanern gehört. Auf der Karte gibt es keinen Alkohol, kein Schweinefleisch, alles halal. Die Chefs sind drei Brüder, die Jungs nennen alle Toni, obwohl nur einer Toni heißt.
  180.  
  181. Cobra und seine Jungs bestellen Nudeln mit Hähnchen und Mais, Männerportion! Pizza mit Scampi, Fanta, Cola und Mojito, alkoholfrei. Es ist ein Mittwochabend Anfang September, einer kaut eine Serviette, der ­andere macht ein Video davon, ein anderer kippt Zucker in einen Salzstreuer. Chalas!, schreit einer der Älteren, hört endlich auf!
  182.  
  183. Während sie auf ihr Essen warten, vergleichen sie die Tiger auf ihren Gucci-Caps, erklären mir, woran ich Fake-Balenciaga erkenne, immer an der Sohle. Schlagen sich gegenseitig so lange mit Fäusten auf Fäuste, bis einer vor Schmerz seine Faust öffnet.
  184.  
  185. Sie sind endlich mal raus aus ihrer Gegend, aber es dauert nicht lange und sie reden wieder über das Center. Die Geschichten erinnern an Szenen arabischer Soaps. Der Supermarkt sei nur abgebrannt, weil der Besitzer Affären mit Frauen der Gegend gehabt habe, Videos von ihnen drehte und sie erpresste.
  186.  
  187. Sie wollten ihm den Schwanz abschneiden. – Der Hund soll Herrmannstraße wohnen. – Sie sollen ihn töten. – Dieser Dreckige, das hätten auch unsere Mütter sein können.
  188.  
  189. Kurz nach 21 Uhr klingeln ihre Telefone. Auf dem Display steht »Mama«, oft mit einem Herz-Emoji. Sie reichen weiter an mich und sagen: Schwester, bitte sag ihr, dass ich nicht lüge, bitte, ya! Am anderen Ende der Leitung sind Mütter aus den High-Decks. Ich bin ihnen noch nie begegnet und soll ihnen sagen, ob ihre Jungs wirklich essen sind. Draußen immer Ärger, sagt eine der Mütter. Gestern war ihre Gegend wieder in den Schlagzeilen, irgendein Streit unter »Großfamilien«.
  190.  
  191. Alles, was mehr als vier Leute sind, ist ja Großfamilie für die. Sie lachen alle, diese Deutschen, ja Salame, oh Mann.
  192.  
  193. Sie zählen die Jungs mit deutschen Pässen durch, es sind nicht viele an diesem Abend. Fast alle sind in Berlin geboren, einer in Dresden. Sie sind die Kinder von Geflohenen, ihre Eltern und Großeltern kommen aus dem Libanon, sind libanesische Kurden aus dem türkischen Mardin. Libanesen aus dem Libanon. Palästinenser aus dem Libanon. Es ist kompliziert. Reden wir über Autos.
  194.  
  195. Sie zeigen Bilder und Videos, Maybach. Porsche. Der Urus von Lamborghini. Inneneinrichtungen in Mintgrün, Orange. Sie können alle die Preise auswendig, bis zu 1,2 Millionen Euro, sagen sie, teilen Autos auf in machbar und nicht machbar.
  196.  
  197. Opel Corsa ist machbar, sagt einer. Alle lachen. Der 14-Jährige sagt: Wer keine Frau hat, lässt sein Auto heulen.
  198.  
  199. Wenn dir einer ein geiles Auto und eine geile Frau hinstellt, was würdest du nehmen?, fragt der Frauenheld. Die Jungs schreien alle wieder durcheinander: Safe das Auto. – Auto ist loyal. – Auto betrügt nicht. – Wenn du geiles Auto hast, kommt geile Frau. – Ich schwöre, wenn ich richtig Geld habe, dann mache ich euch allen eure Hochzeit! – Ich will in Dubai heiraten, sagt der 15-Jährige. Du willst nur extra teuer machen, du Hund!
  200.  
  201. Er liebt die Nachbarstochter, sagt er, seine Traumfrau, eine Schiitin aus dem Libanon, er sei Sunnit aus dem Libanon, würden die Eltern nie erlauben.
  202.  
  203. Wechsel doch deine Religion, wenn du sie so liebst. – Ich muss nur Geld machen, und ihr viele Brautgeschenke kaufen. Ihr Vater sei reich, ihm gehöre eine Pizzakette in Neukölln. Heiraten kostet 60.000 Euro, sagen sie: Saal, Essen, Gold. Sie wollen alle spätestens mit 20, 21 verheiratet sein, sagen sie, vier bis sechs Kinder.
  204.  
  205. Jungs, macht mal Google-Bewertung, ist wichtig, ruft einer der Tonis. Sie behandeln sie hier wie echte Gäste, wie Familie. Wenn man Toni fragt, ob er für diesen Nudelberg der Männerportion das Doppelte kassiere, sagt er: Nein! Das sind doch nur Nudeln, Schwester! Die Jungs haben Hunger, sie sollen satt werden, hier ist Neukölln.
  206.  
  207. Bei Toni tragen die Jungs ihre Teller in die Küche und sagen der Reporterin: Tut mir leid, dass wir dir am Anfang falsche Namen gesagt haben, aber wir waren sicher, du bist Kripo. Sie holen ihre Ausweise raus und legen sie auf den Tisch. Sagen ihre echten Namen. Jetzt erst habe ich das Gefühl, ich lerne sie ein wenig kennen, drei Monate nachdem ich ihnen das erste Mal begegnet bin, vor ihrem Jungendklub, The Corner.
  208.  
  209. »Wenn ich Bundeskanzler wäre, Wallah, ich würde Corner zweistöckig machen!«
  210.  
  211. Wenn ihnen im Center kalt ist, gehen sie ­Corner.
  212. Wenn sie grillen wollen, gehen sie Corner.
  213. Wenn sie Dokus gucken, gehen sie Corner.
  214. Wenn sie Karten spielen, gehen sie Corner.
  215. Wenn sie Playstation zocken, gehen sie Corner.
  216.  
  217. Bei ihren Familien leben viele auf der Couch, zu viele Kinder, zu wenige Zimmer. Also Corner. Ein kleiner blauer Container, hingestellt vor zwei Jahrzehnten, zwischen die High-Decks. Hier treffen Jungs auf Jungs, zocken, fluchen und springen sich gegenseitig an, pressen ihre Körper auf den Billardtisch. Wenn sie gut drauf sind, drehen sie die Musik laut, dimmen das Licht und tanzen, »Testosterondisco«. Die Geschichte vom Corner ist eine Geschichte von gebrochenen Versprechen. Ein zweiter Stock sollte kommen. Ein Vordach. Es kam ein neuer Eigentümer für die Siedlung, dann die Stadt, seitdem gehe nichts mehr. An einem Nachmittag im Sommer sitzen sie da und reden wieder über die Lügner:
  218.  
  219. Diese Frau, die nach Silvester gekommen ist, wie hieß die? Die eigentlich nur wissen wollte, wer das war mit dem Bus? – Wisst ihr noch? – Ah, die von Berlin!
  220.  
  221. Ein paar Tage nach Silvester besuchte sie die damalige Bürgermeisterin Franziska Giffey. Sie habe nette Vorschläge gemacht, sagen die Jungs, Reisen mit dem Jugendklub, irgendwas mit »die Gegend saubermachen«. Die Giffey: Auch ein Liz, sagen sie jetzt in ihrer Geheimsprache, die ich inzwischen manchmal glaube zu verstehen, könnte es das Wort für »Schlange« sein.
  222.  
  223. Seitdem geraten die Mitarbeiter im Corner von einer Debatte in die nächste, brennender Bus an Silvester, Randale im Freibad, jetzt auch noch Krieg. Immer Sonderöffnungs­zeiten, immer Überstunden, immer Grillen. Würstchen gegen den Krieg, Sucuk an Halloween. Irgendwie die Kinder anlocken, damit sie aufhören, im Sonnencenter rumzustehen. In den High-Decks sind über 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen von Armut betroffen. Im Corner essen sie gern Hotdogs um die Wette und lassen ihre Songs aus der Box schreien:
  224.  
  225. »Jeder ist Bruder, bis dann das Geld fehlt. / Sitzen in U-Haft, ja, es kann schnell geh’n. / Keine Kraft mehr, doch muss weitergeh’n, / muss mich von hier befrei’n. / Komm dem Knast näher, vom Paradies fern, / sind geprägt von dem Schein.«
  226.  
  227. Seit elf Monaten sei im Corner nichts angekommen, sagen sie, außer dieser Pavillon, den schickte aber nicht die Bürgermeisterin, sondern der alte Eigentümer. Dafür sind aber Dokumentarfilmer gekommen und Wissenschaftler, Podcaster und Influencer, die Öffentlich-rechtlichen, »Zeit«, »taz«, der SPIEGEL, als wäre es das Tor in die Welt der bösen Jungs. In dieser Welt sind die Mitarbeiter vom Corner Familienrichter, Geschichtslehrer, Streitschlichter. Sie sind da, für ihre verzweifelte Eltern, für verlorene Nachbarn, in der Woche, 15 bis 20 Uhr.
  228.  
  229. Da ist Manu, über den die Jungs sagen, für Manu sind wir doch ein Witz. Da, wo er herkommt, laufen 12-Jährige mit Maschinengewehren rum. Der über sie sagt: Wenn ihr bei uns in Brasilien so oft auf den Boden spucken würdet, würde man euch zum Arzt schicken, weil man sicher wäre, ihr habt Würmer.
  230.  
  231. Da ist Heike, die schon immer da war, weil sie die Chefin ist. Die ihre Mütter kennt und schon die großen Brüder. Der sie im Vier­tel die Reifen aufschlitzten und ihrer Tochter das Handy klauten, mit den Abi-Bildern drauf. Heike sagt: Wenn nicht wir, wer dann sollte die Jungs auffangen?
  232.  
  233. Da ist Chanti, die aussieht, wie eine erfolgreiche Influencerin und sie mitnimmt zu Hip-Hop-Konzerten. Sie sagt: Ich war auch in einer Schule, Jungs, und da wurde nie einer suspendiert, der nichts gemacht hatte.
  234.  
  235. Da ist Kassem, der mit ihnen in die Wasserwelt von Tropical Islands in Brandenburg fährt, und oft wie ein Schiedsrichter zwischen ihnen steht, wenn einer dem anderen wieder eine Bombe, eine Faust, geben will. Der Jura studiert und sagt: Wenn ich Staatsanwalt wäre, ich schwöre, ich würde euch alle drankriegen für den Bus! Versuchter Totschlag!
  236.  
  237. Da ist Hamo, Sohn eines palästinensischen Diplomaten. Er zockt mit ihnen Fifa, erklärt ihnen den Nahostkonflikt und bis in die Nacht, wie sie am besten abnehmen.
  238.  
  239. Das ist Hayle, der ihr arabisches Kartenspiel mit ihnen zockt, Gutscheine von Nike klärt für die Fußballturniere und sagt: Hört endlich auf, drinnen an euren Vapes zu ziehen!
  240.  
  241. Manu sagt, hey, wir haben euch doch gesagt, wir wollen aus euch keine Engel machen, wir wollen einfach, dass ihr uns respektiert, die Grenzen erkennt.
  242.  
  243. Manu, eine Frage. Andere rauchen doch auch. Warum nur ich?, fragt ein 15-Jähriger, der den Corner jetzt verlassen soll.
  244.  
  245. Wer hat geraucht? Wer hat gelogen? Warum ich? Wer hat recht? Wo ist diese verdammte Grenze? Manu scheint im Corner oft der große Bruder, der Vater, der Mann zu sein, an dem man sich als Heranwachsender reibt, wenn man zu Hause nie widersprechen darf. Der 14-Jährige, der sich in Polen den Elektroschocker gekauft hat, zeigt ihn an diesem Nachmittag heimlich den anderen. Manu sieht alles.
  246.  
  247. Das steht ganz klar da, keine Waffen hier! Und du kommst mit deinem Elektroschocker rein!
  248.  
  249. Ich habe Angst draußen rumzulaufen, ich werde gesucht von den Remmos!, versucht der Junge sich zu rechtfertigen. Ja, klar, als ob dir das dann helfen würde!, antwortet ihm Manu.
  250.  
  251. Es reden wieder alle mit im Corner.
  252.  
  253. Er labert, der Schwanz. – Lutsch meine Eier. – Lutsch du meine.
  254.  
  255. Cobra sagt: Man egalllll, ihr müsst euch einfach besser benehmen, Ende, fertig. Punkt, aus! Bald ist kalt, dann bereust du, wenn du hier nicht mehr reinkannst!
  256.  
  257. Sie erzählen von Klassenkameraden, die suspendiert worden seien, weil sie Flaggen oder Palästinensertücher trugen. Sie reden über den Gymnasiasten aus den High-Decks, der sich mit einem Lehrer geschlagen habe. Sie kennen ihn nicht, keiner von ihnen ist auf einem Gymnasium. Sie versuchen MSA, mittlerer Schulabschluss, 10. Klasse, wenn es gut läuft. Cobra erzählt Manu, dass sein Lehrer glaube, er würde es eh nie schaffen. Manu erzählt ihm vom Nachhilfelehrer. Aber welche Ausbildung geht auch ohne Abschluss, will er wissen. Cobra will Fliesenleger. Kfz. Vielleicht Elektriker. Für Arzt, Astronaut, Pilot sei er ja nicht schlau genug, sei mal realistisch, sagt er dann. Er könne ja auch nur ein paar Wörter English, yes, no, sorry, I am late.
  258.  
  259. Cobra war zwölf Jahre alt, als Corona kam. Er und seine Jungs sind die erste Generation von Pandemie-Teenagern, aber nicht in einem Altbau im Prenzlauer Berg, sondern in einem Betondorf am Ende der Sonnenallee. Sie kamen in die Pubertät, als fast alles verboten war in ihrer Gegend. Rumstehen im Center. Zusammensitzen auf der gelben Bank.
  260.  
  261. Polizisten vertrieben sie von ihren Plätzen, Cobra und seine Jungs klauten sich Stühle von den Balkonen und trugen sie in Keller der High-Decks. Dann kam dieser Krieg in Europa und mit ihm die ganzen Flüchtlinge aus der Ukraine, die besser behandelt wurden als ihre seit Jahrzehnten geduldeten Familienangehörigen. Dann kam Silvester. Im Sommer wurden sie der ­Freibadschreck, jetzt noch dieser andere Krieg und mit ihm wieder die Debatte um arabische Männer, die allein verantwortlich zu sein scheinen für den Antisemitismus in diesem Land, in den Schlagzeilen: »die Judenhasser.«
  262.  
  263. Manu, wir machen Dienstag Ausflug Sachsenhausen, KZ. Was ist KZ?, fragt Cobra. Ein Konzentrationslager. Da wurden hauptsächlich jüdische Mitmenschen eingesperrt, die Arbeit verrichten sollten. Sie wurden dort ­getötet und vergast. Es gab KZ für Sinti und Roma und für Homosexuelle. Furchtbare Geschichten.
  264.  
  265. Einer der Älteren zieht sich einen Stuhl dazu. Er macht eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker, wurde gerade wieder beim Fahren ohne Führerschein erwischt und sagt jetzt: Ich bin ehrlich, Hitler war zwar ein sehr, sehr harter Diktator, 100 Prozent, man kann das nicht abstreiten, aber am Ende des Tages …
  266.  
  267. Kassem unterbricht ihn, auch er ist Sohn von Palästinensern, auch er ist in den High-Decks aufgewachsen und ist jetzt wütend: Was laberst du, sei leise! Du kannst deine Ausbildung vergessen, wenn du den Satz zu Ende sagst. Wenn du irgendwo so redest!
  268.  
  269. Cobra und seine Jungs sitzen inzwischen hinten in der Ecke auf der Steinbank im ­Corner. Auf die Rückenlehnen sind die Köpfe von Martin Luther King, Albert Einstein und Sophie Scholl gesprüht. An diesem ersten Dienstag nach Kriegsbeginn kommen die Jungs hier wieder zusammen, sogar die mit lebenslangem Hausverbot dürfen heute rein.
  270.  
  271. Heute wird was passieren in Palästina.  – Ich gehe da hin, wenn Bodenkampf ist, sagt der mit dem Hausverbot. Was laberst du, keiner kommt raus, keiner kommt rein, sagt Kas- sem. Willst du mit den Böllern aus Polen schießen?, fragt ein anderer. Dann rufen die Jungs wieder alle durcheinander, keiner will der Letzte sein, der was zu diesem großen Thema sagt:
  272.  
  273. Ich denke, wenn die mit Palästina fertig sind, gehen die Libanon. – Es gibt ja Völkerrecht. Die dürfen keine Schulen oder Krankenhäuser angreifen. – Mein Vater ist nur auf Al Jazeera. – Heute Nacht wird es ein Silvester für Israel. – Stell dir mal vor, ist Russland mit Pa­lästina? – Wenn ein Amerikaner ein Fuß reinsetzt, dann kommen sie. – Jetzt Putin, würde mich freuen.
  274.  
  275. Manu steht am Eingang, raucht und lässt sie reden. Man hört aus ihrer Ecke nur noch Satzfetzen: Wenn Atombombe in Palästina landet – Die Luft kommt doch zu uns – Dann verstecke ich mich in der Antarktis – Jordanien bekommt am meisten ab – Mekka ist verloren.
  276.  
  277. Im Corner geht alles durcheinander an diesem Nachmittag, geografisch, politisch, moralisch. Um es ein wenig zu ordnen, sagt einer von Cobras Jungs: Amerika und Russland, das ist wie Ronaldo und Messi.
  278.  
  279. Es reicht mit Krieg, jetzt wieder Alltag.
  280.  
  281. Sie reden wieder über ihre Väter. Sie reden hier oft über ihre Väter. Väter, die bei Elterngesprächen zuschlugen vor Lehrern, bis angeblich das Blut spritzte. Über Gürtelschlacht. Und diesen einen Vater, Legende. Sie kennen alle die Geschichte, wie er seinen Sohn mit einer Gitarre geschlagen, sich dann vor ihn auf einen Stuhl gesetzt und ihm ein Lied vorgespielt hat. Sie lachen mit Tränen.
  282.  
  283. Das Leben in den High-Decks ist ein ewiger Wettbewerb. Wer ist krass? Wer ist krasser? Wer ist anders krass? Wer kann schneller reden? Wer hat mehr Macht? Wer kann doller fluchen? Wer kann besser zuschlagen – und wer hat zu Hause brutaler kassiert?
  284.  
  285. »Wenn Corner nicht wäre, wir hätten nur Scheiße im Kopf«
  286.  
  287. Am Abend, wenn Manu die Tür zum blauen Container verriegelt, checken die Jungs immer erst mal die Lage in Gegend. Wer ist Center, wer ist auf den High-Decks? Wer ist hier, der hier nicht hingehört?
  288.  
  289. An diesem Abend sitzt an ihrer Bushaltestelle ein J*nkie. Sie haben mir oft erzählt, warum diese Menschen nicht hier sein dürften. Sie hätten Geschwister, die an den Spritzen lutschen könnten. Mütter und Schwestern, die so einem Typen nicht allein in der Nacht begegnen wollten. Eine Zeit lang hätten sie so lange J*nkies hier verprügelt, ihnen Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, bis die Dealer sich bei ihnen beschwerten. Sie schickten ihnen ihre großen Brüder und ließen ausrichten: Unsere Jungs werden nicht aufhören, schickt eure Kunden woanders hin! Während Berlin in diesem Sommer über Drogenabhängige im öffentlichen Raum diskutierte, sehe ich in der Gegend nie einen von ihnen.
  290.  
  291. Sie gehen zu dem J*nkie und sagen: Geh hier weg. Komm, steh auf, wir wollen dich nicht schlagen, wirklich.
  292.  
  293. Der Bus kommt, einer hält den Fuß in die Tür, sagt, steig jetzt ein!
  294.  
  295. Der Mann steigt nicht ein. Der Bus fährt weg. Der 14-Jährige spuckt dem Mann ins Gesicht, ein anderer gibt ihm einen Tritt. Der Mann setzt seine FFP2-Maske auf und schlägt zurück. Als sie ihn anfangen zu treten, hält ein silberner Kleinwagen, zwei arabische Frauen schreien auf Arabisch was aus dem Fenster. Die Jungs fliehen. Der Mann läuft die Sonnenallee runter. Am Steuer sitzen Mütter aus der Gegend.
  296.  
  297. »Warum sind hier Kinder immer auf der Straße?«
  298.  
  299. Die Mütter der Gegend sitzen an einem Dienstag im Sommer im Eltern-Kind-Zen­trum in der Grundschule. Vorn der Schulleiter, neben ihm Kazim Erdoğan, Vorsitzender des Berliner Familienbeirats und Gründer von »Aufbruch Neukölln«, einem Verein, mit dem er Väter in ein gewaltfreies Leben führt. An diesem Tag sind vor allem die Mütter der High-Decks gekommen. Sie erzählen ihm von Kindern in ihrer Gegend, die kein Vorbild hätten, die auf den Köpfen der Lehrer tanzen. Die andere Kinder verprügelten. Eine Mutter zeigt jetzt auf ihren Sohn, den sie mitgebracht hat und sagt, er sei ein Störfaktor in der Klasse, die Schule schicke ihn so früh nach Hause, sie sei aber überfordert. Eine andere sagt, sie habe sechs Kinder und brauche endlich eine Wohnung mit vier Zimmern. Ein anderer sagt, hier sind die 13-Jährigen bis Mitternacht auf den Straßen.
  300.  
  301. Und dann diese Kinder, die mit Messern spielten. Der Schulleiter sagt, er habe hier Kinder, die schon Akten bei der Polizei hätten, das sei kein Einzelfall.
  302.  
  303. Hier können Kinder alles kaputt machen, warum?, fragt einer der wenigen Väter in der Runde. Warum gucken Kinder hier bis Mitternacht Fernsehen?, fragt ein anderer. Weil mein Kind kein Zimmer hat! Ich will aber Fernsehen gucken, antwortet ihm eine Mutter. Wenn Kinder nicht schlafen, schlafen sie in der Schule ein, sagt der Schulleiter. Kaufen Sie sich bitte Kopfhörer für 9,95 Euro, rät Kazim Erdoğan der Mutter.
  304.  
  305. Warum sind nicht 80 Eltern heute hier?, fragt Erdoğan. Es sind doch aber schon doppelt so viele wie letztes Mal, antwortet der Schulleiter. Es sitzen elf Eltern im Raum.
  306.  
  307. Die Eltern hätten nicht so viel Zeit, eine der Mütter versucht es ihm zu erklären: Ich muss um sechs Uhr aufstehen, ich habe vier Kinder und muss alles machen, ich habe keine Zeit für mich. Ich habe ständig Einladung von Jobcenter. Ich bin Roboter. Ich bin kein Mensch. In Deutschland ist viel Arbeit. Viele Roboter.
  308.  
  309. Eine andere Mutter meldet sich zu Wort: Alles machen hier die Frauen. Die Män­ner machen Druck, die Frau darf nicht raus, kriegt Schläge. Muss immer arbeiten, arbeiten. Wir haben hier nur Paschas. Mehr »Me Time« empfiehlt die Frau vom Elterncafé und lädt sie ein. Die Mutter versteht nicht, was sie genau will und sagt: Ich möchte kommen, aber meine Körper möchte nicht mehr.
  310.  
  311. Nach ein paar Stunden sind sich die Eltern einig: Die Kinder bleiben draußen, sie brauchen einfach mehr Security. Und dann eine weitere Erkenntnis: Sie müssten alle nur öfter aus dem Fenster gucken und rufen: Hört auf!
  312.  
  313. »Hoffentlich brennt ganz Berlin, dann ­rauben wir Gucci aus!«
  314.  
  315. Der Krieg ist schnell nur noch in ihren Posts auf Instagram zu finden. Da muss man zeigen, wo man steht. Während auf der Sonnenallee wieder Ausschreitungen sind, stehen im Center Cobra und seine Jungs im Kreis und schreien: Ching Chang Chong! Es geht los. Kettenfangen. Bei dem Spiel ist einer der Fänger, jeder, den er fängt, muss mit ihm auf die Jagd. Am Ende gibt es mehr Jäger als Gejagte auf den High-Decks.
  316.  
  317. Los!  – Was mache ich, wenn das drei Stunden dauert und meine Mutter mich nach Hause ruft?, fragt der 14-Jährige. Also wenn ich suche, darf keiner vorher weg!, antwortet Cobra. Bei Allah, ich fang euch alle!, sagt der Fänger.
  318.  
  319. »Chalas, Mama, Chalas«
  320.  
  321. Es ist der 31. Oktober, kurz vor 16 Uhr, es wird langsam dunkel auf den High-Decks, am Eingang zum Center stehen acht Mannschaftswagen der Polizei. Aus einem Wagen werden Lunchpakete verteilt an die Polizisten, drinnen in der Zimtschnecke sitzen Journalisten. Hin und wieder explodiert in der Ferne ein Böller, Männer mit Helmen marschieren den Geräuschen hinterher. Es ist Halloween, in der Gegend nennen sie es auch Mini-Silvester. Die Jungs müssen zeigen, wofür die High-Decks bekannt geworden sind. Die Polizisten sind da, um zu zeigen, wer das Sagen in Berlin hat. Sie sind sehr viele an diesem Abend. Sie stehen vor dem Wettbüro, sie stehen vor dem Jobcenter, sie stehen vor dem Friseur. Kleine Kinder verkleidet als Geister bieten ihnen Lollis an, die Polizisten lehnen ab. Auf dem Platz des Centers erschreckt sich keiner mehr vor ihnen, die Daula gehört inzwischen in ihr Center, wie Cobra und seine Jungs. Die sitzen auf ihrer Holzbank und wirken glücklich an diesem Abend.
  322.  
  323. Guck mal, Couseng. Die stehen Rücken an Rücken und denken, wir sind hier im Kriegsgebiet.
  324.  
  325. Es laufen immer mehr Polizisten auf den Platz des Centers. Die Jungs applaudieren den Beamten.
  326.  
  327. Provoziere die nicht, wenn sie schießen, dann treffen sie jeden von uns. – Die gehen hier die ganze Zeit rein und raus. Die wollen ja, dass wir was machen.
  328.  
  329. Die Jungs sitzen auf der Holzbank und gucken auf YouTube ein Video von SPIEGEL TV mit einem Hauptkommissar, der in der Presse nur »der Held vom Reichstag« genannt wird, weil er sich 2020 mit fünf seiner Kollegen einer Menge von Coronaleugnern und Rechten entgegenstellte und sie zusammenbrüllte, während sie versuchten, in den Reichstag einzudringen. Wieder und wieder stoppen sie das Video mit dem Helden, vergleichen ihn mit dem Einsatzleiter, der vor ihnen auf und ab läuft.
  330.  
  331. Ich schwöre, das ist er, der Reichstagsheld, schreit einer auf der Bank. Sie haben es geschafft, Berlin hat ihnen seinen berühmtesten Einsatzleiter geschickt, den Endgegner, den Härtesten. Der, dem sogar Frank-Walter Steinmeier dankte für seinen Einsatz für die Demokratie. Sie können nicht aufhören, über ihn zu reden. Guck mal, der trägt als Einziger keinen Helm. Da tritt der Reichstagsheld an ihre Bank heran, stellt sich wenige Zentimeter vor ihre Gesichter und sagt:
  332.  
  333. Naaaa, alles in Ordnung? – Heute alles Bestens!, antwortet einer der zwei Jungs. Ihr macht hier aber keene Scheiße heute, wa? – Natürlich nicht. Ich mag dich. – Das ist schön. – Wir mögen dich alle, aber nur dich! – Wenn das mal so wäre, sagt der Reichstagsheld. Versprochen. Heute keine Böller hier. Heute Chalas. Er geht weiter, sie rufen ihm hinterher, Manfredddddd. Obwohl sie in dem Video gesehen haben, dass er Karsten heißt. Irgendwo explodiert wieder ein Böller. Hey Manfreddddddddddddd …
  334.  
  335. Im Corner grillen sie Sucuk gegen Halloween, im Center stehen jetzt trotzdem sechs Jungs vor dem Wettbüro und dürfen sich nicht mehr fortbewegen. Polizisten eskortieren sie raus auf die Sonnenallee, als ob die ganze Gegend sehen soll, wir tun was! Einer von Cobras Jungs geht mit breiten Schultern vor, lächelt nach links und rechts, als liefe er über einen roten Teppich. Auf der Sonnenallee halten sie jetzt Nummern in die Luft. 1, 2, 3, 4, 5, 6.
  336.  
  337. Eine Mutter kommt von der Bushaltestelle, läuft auf sie zu.
  338.  
  339. Chalas, Mama! Chalas. Einer ihrer Söhne steht da und hält eine Nummer hoch.
  340.  
  341. Der Mutter sind die Polizisten egal, sie schreit jetzt ihre zwei Söhne an, ich rufe dich 1000-mal an, sagt sie, guckt den einen am Rand an. Ich habe dich 1000-mal an­gerufen, sagt sie und guckt den mit der Nummer in der Hand an. Ihr habt gesagt, ihr seid Corner!
  342.  
  343. Man weiß nicht genau, vor wem die Jungs gerade mehr Angst haben, vor der Polizei oder ihrer Mutter. Der Reichstagsheld geht dazwischen, will die Mutter auf Abstand halten. Von hinten schreit der 16-Jährige: Heyyy, fassen Sie meine Mutter nicht an! Geschrei, Gerangel.
  344.  
  345. Wenn ich sage stopp, dann stopp!, schreit der Reichstagsheld. Du bleibst da stehen! Bleib endlich da stehen!!! Er sieht so aggressiv aus wie in dem YouTube-Video, nur das hier kein rechter Mob in den deutschen Reichstag will, sondern eine Mutter zu ihrem Sohn. Einer seiner jungen Kollegen drückt den Sohn jetzt auf den Boden, seine Jacke reißt, sie legen ihm Handschellen an. Die Mutter ruft: Er wollte nur zu mir, lassen Sie ihn doch los!
  346.  
  347. Ein Polizist fängt an, ihr zu erklären, warum das hier alles passiert. Er redet von gewalttätigen Auseinandersetzungen zu Halloween in der Vergangenheit. Heute? Ja, da sei noch nichts passiert, stimmt, sagt er. Ihre Söhne hätten sich gut verhalten, aber halt nicht das Center verlassen. Er sei auch Vater, sagt er, und lobt sie, weil sie hier ihre Söhne suche. Aber er hat doch nichts gemacht, sagt die Mutter, während ihr Sohn jetzt in eine Zelle im Polizei­wagen geführt wird.
  348.  
  349. Es wirkt ein wenig so, als ob die Polizei hier nichts mehr zu sagen hat, wir müssen aufpassen, antwortet der Polizist, dass solche Bilder nicht mehr entstehen. – Sie haben seine Jacke kaputt gemacht, sie bezahlen? – Nein, bezahlen wir nicht. – Warum nicht? Sie haben das doch gemacht! – Chalas, Mama. Chalas Mama. Bitte geh. –  Wie ich dumm bin, warum habe ich diese Ausnahme gemacht wegen diese scheiße Halloween, ihr hättet zu Hause bleiben sollen. Diese Welt ist komisch, warum halten sie einfach Kinder an?
  350.  
  351. Während der Polizist ihr versichert, dass ihr Sohn bestimmt gleich freikomme, redet sie einfach weiter: Das sind meine Kinder! Ich habe sie allein erzogen. Allein! Ich will mein Sohn nicht in so einem Auto sehen. Ich will das nicht. Jeder möchte, dass sein Kind der Beste ist.
  352.  
  353. Während an diesem Abend wieder alles eskaliert, steht Cobra nicht mehr im Center. Als man ihn später fragt, wo er denn gewesen sei, sagt er, die Polizei zu locken sei okay, aber er wolle nicht, dass sie seinen Ausweis kon­trollieren, seinen Namen eingeben. Seine vier Brüder waren im Gefängnis.
  354.  
  355. Cobra sagt, er möchte seiner Mutter das nicht noch einmal antun, einen Sohn im ­Gefängnis zu besuchen. Das habe sie nicht ­verdient.
Add Comment
Please, Sign In to add comment