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- Jean Ziegler
- ÄNDERE DIE WELT!
- Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen
- VORWORT
- Eine Nacht in Olinda
- Ja, ich glaube an die sanfte Gewalt der Vernunft über die Menschen. Sie können ihr auf die Dauer nicht widerstehen.
- Kein Mensch kann lange zusehen, wie ich […] einen Stein fallen lasse und dazu sage: er fällt nicht. Dazu ist kein Mensch
- imstande. Die Verführung, die von einem Beweis ausgeht, ist zu groß. Ihr erliegen die meisten, auf die Dauer alle.
- Bertolt Brecht, Leben des Galilei1
- Ich erinnere mich an eine kühle Nacht in Olinda, der Halbinsel mit ihren Barockkirchen,
- Tavernen, Klöstern und den Slums am Ufer der Lagune nördlich von Recife, im Nordosten
- Brasiliens.
- Wir saßen gegenüber der Tür an einem Tisch, der sich unter Flaschen mit
- portugiesischem Weißwein, Schüsseln mit camarões und Hühnchen assado bog. Männer
- und Frauen – Bürger und Militärangehörige aus Recife, Priester aus Olinda, Händler aus
- Paraíba, Zuckerrohrbarone von der Küste, Viehzüchter aus dem Norden – kamen und
- gingen, schlugen die Türen ihrer Itamaraty-Limousinen zu und begrüßten sich lautstark
- von Tisch zu Tisch.
- Auf einmal tauchte direkt neben mir ein Junge von neun oder zehn Jahren auf, so alt wie
- damals mein Sohn. Er hatte eine ausgerenkte Hüfte und hinkte – und berührte mich am
- Arm. In einer Hand hielt er die übliche rostige Konservendose mit weißen Nüssen, die die
- Bettler in Recife an die Gäste in den Tavernen verkaufen. Der Schweizer Honorarkonsul,
- Besitzer großer Zuckerrohrplantagen im Caribé-Tal, der an unserem Tisch den Vorsitz
- führte, warf dem Jungen ein paar Centavos zu. Als er meine Verwirrung bemerkte,
- servierte er mir die abgedroschene Floskel, mit der die Herren des Nordens traditionell
- durchreisende Europäer abspeisen: »Der kleine Caboclo ist mein Freund. Er ist glücklich,
- wissen Sie: Er verdient ein paar Groschen, kauft dafür Bohnen und ein bisschen Reis bei
- einem Straßenhändler und legt sich unter einem Torbogen schlafen. Er muss weder in die
- Schule noch regelmäßig zur Arbeit gehen. Ach, wenn man doch so frei wäre wie er …!«
- Nie werde ich die Augen des kleinen Jungen vergessen. Ich stand unter einem Vorwand
- auf und fand ihn draußen, auf den Felsen am Meer sitzend. Sein Name war Joaquim. Er
- zeigte weder Wut noch Traurigkeit, die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Seine Geschichte
- war alltäglich: Sein Vater, ein wandernder Zuckerrohrschneider, litt an Tuberkulose und
- hatte seit zwei Jahren keine Arbeit mehr, seine vier jüngeren Geschwister und seine
- kranke Mutter warteten seit dem Morgen in einer Hütte des Slums auf der anderen Seite
- der Lagune auf ihn. Das Geld, das er mit dem Verkauf von ein paar Nüssen am Abend
- verdiente, war das ganze Einkommen der Familie.
- Joaquim hatte fiebrige Augen und wurde von Hunger gepeinigt. Der Koch streckte den
- Kopf aus einem Fenster der Taverne, und ich bat ihn, dem Jungen auf den Felsen eine
- Mahlzeit zu servieren. Als das Essen kam, breitete Joaquim eine alte Zeitung auf den
- Steinen aus. Mit zitternden Fingern leerte er einen Teller nach dem anderen – Reis, Huhn,
- fejão, caruru, Salat, Kuchen – über der Zeitung aus, verschnürte das Paket und
- verschwand in der Dunkelheit. Obwohl er selbst vom Hunger geplagt war, trug er das
- Essen zu seiner Mutter, seinem Vater und seinen Geschwistern.
- Ich kehrte in die Taverne zurück, setzte mich wieder an den Tisch und nickte zu dem
- albernen Geschwätz des Konsuls – kurzum, ich schlüpfte wieder in meine Rolle als
- Professor und als Abgeordneter (der ich damals war), der auf der Durchreise in Olinda ist.
- Warum habe ich meine Reise nicht unterbrochen? Und bin in den Slum gefahren? Habe
- nach Joaquim und seiner Familie gesucht? Am Morgen hatte ich mit dem Gouverneur
- gesprochen und am Mittag mit dem Bürgermeister, ich hatte Freunde in Recife. Wenn ich
- nicht weitergefahren wäre, hätte ich eine Arbeitsstelle für den Vater organisieren können,
- ein Krankenhausbett für die Mutter und ein Schulstipendium für Joaquim. Ich hätte eine
- Woche »verloren« oder einen Monat. Ich habe es nicht getan. Warum? Weil ich einen
- Zeitplan einhalten musste, Termine vereinbart hatte, eine soziale Rolle spielen, Berichte
- schreiben und Forschungen durchführen musste.
- »Ein schlechtes Gewissen ist ein lebendiger Feind«, hat Jean-Paul Sartre gesagt. Fjodor
- Dostojewski kämpfte sein ganzes Leben gegen diesen »lebendigen Feind«. In seinem
- Roman Die Brüder Karamasow (1880) findet sich folgender Dialog:
- Iwan Karamasow: »Ich will leben, und ich lebe, und sei es gegen die Logik. Auch wenn ich an die Ordnung der Dinge
- nicht glaube, aber die klebrigen, im Frühling sich entfaltenden Blättchen sind mir teuer, teuer ist mir der blaue Himmel,
- teuer ist mir mancher Mensch, den ich liebe, ohne zu wissen, warum, ob du’s mir glaubst oder nicht; teuer ist mir
- manche menschliche Tat, an die man vielleicht längst nicht mehr glaubt, die man aber trotzdem in alter Erinnerung von
- Herzen achtet.«
- Aljoscha: »Ja, unbedingt, [das Leben] lieben vor aller Logik, unbedingt vor aller Logik, dann erst wird auch der Sinn
- begreiflich. Die Hälfte deiner Sache ist getan, Iwan, und gewonnen. Du lebst gerne. Jetzt musst du dich auch um die
- zweite Hälfte bemühen, und du bist gerettet.«2
- Wie Iwan Karamasow lehne ich intellektuell diese Weltordnung ab. Aber wie er habe ich
- mich darin eingerichtet. Implizit nehme ich sie als normal hin. Durch mein alltägliches
- Handeln reproduziere ich sie.
- Wir haben uns selbst verstümmelt. Wie Millionen andere lebe auch ich ständig gegen
- mich. Zu tun, was man will, und zu wollen, was man tut, ist das Schwierigste, was es
- gibt. Niemand hat die richtige Theorie für seine Praxis, wir alle sind – in
- unterschiedlichem Ausmaß – unaufrichtig, das heißt, wir lügen, geben uns Illusionen und
- Täuschungen hin. Wir schmieden unsere Ketten selbst, unermüdlich, mit Energie und
- Eifer. Wir füllen unsere sozialen Rollen aus, produzieren sie, reproduzieren sie, wie
- Beschwörungsrituale, als berge die Freiheit, die unerwartete Begegnung mit dem
- anderen, für uns schreckliche Gefahren. Aber diese Rollen ersticken uns, schnüren uns
- langsam die Luft ab. Tief in unseren Köpfen haben wir Ketten, die uns hindern, frei zu
- denken, zu schauen, zu gehen, zu träumen, zu fühlen.
- Aljoscha hat recht: Der Mensch lebt, bildet sich, wächst, entfaltet sich nur mit der Hilfe
- anderer Menschen. Das Geheimnis der Beziehung ist viel größer als das Geheimnis des
- Seins. Um den Sinn des Lebens zu entdecken, genügt es nicht, das Leben zu lieben. Wir
- stoßen nicht auf den Sinn, wie wir beim Gehen an einen Stein stoßen. Der Sinn entsteht,
- setzt sich zusammen, offenbart sich. Er erwächst daraus, dass ich in der freien Beziehung
- zu einem anderen Menschen das bekomme, was ich nicht habe. Deshalb ist eine soziale
- Ordnung, die nicht auf wechselseitigen Beziehungen gründet, darauf, dass die Menschen
- sich ergänzen, sondern auf Konkurrenz, Beherrschung und Ausbeutung, zum Scheitern
- verurteilt.
- Warum diese Entfremdung? Warum verdrängen wir freiwillig diesen fantastischen
- Reichtum an Schöpferkraft, an Wünschen, den jede und jeder von uns besitzt? Warum
- sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts wir Menschen im Westen, die wir so großartige
- Privilegien errungen haben – Freiheiten, Rechte gegen die Willkür –, die wir den Mangel
- besiegt, das Geheimnis des Universums, der Sterne, des Atoms, des Lebens gelüftet und
- den Tod um Jahrzehnte hinausgeschoben haben, dennoch unfähig, das Joch unserer
- Rollen abzuschütteln, in Freiheit und Liebe die unerwartete Begegnung anzunehmen und
- endlich unserem Leben einen kollektiven Sinn zu verleihen?
- Mein Buch versucht, auf einige dieser Fragen Antworten zu geben. Es enthält Einsichten,
- die nach meiner Einschätzung hilfreich sind, um unsere Situation zu verstehen und
- aufzuzeigen, was wir tun müssen, um sie zu verändern.
- In den letzten dreißig Jahren hat sich die Welt zutiefst gewandelt.
- Mit dem Zusammenbruch des Sowjetreichs im August 1991 verschwand die weltweite
- Bipolarität der Staatsgesellschaften. Aus den Ruinen der alten Welt tauchte eine neue
- Tyrannei auf: die Tyrannei der Oligarchien des globalen Finanzkapitals.
- Hunger und Not sind zurück in Europa. Nach Angaben von UNICEF waren 2013 in Spanien
- 11 Prozent der Kinder unter zehn Jahren unterernährt. Die sogenannte
- »Sockelarbeitslosigkeit« liegt in den 28 Staaten der Europäischen Union bei 30,2 Millionen
- Männern, Frauen und Jugendlichen. Besonders schlimm ist sie bei den jungen Leuten
- unter fünfundzwanzig.
- Die hochfliegenden Hoffnungen, die die antikolonialistischen Befreiungsbewegungen im
- letzten Jahrhundert geweckt haben, sind zerplatzt. In Schwarzafrika, in Mittelamerika und
- in mehreren asiatischen Ländern sind aus diesen Kämpfen Rumpfstaaten ohne echte
- Souveränität hervorgegangen, in denen Korruption und Elend herrschen.
- Die Präambel der im Juni 1945 verabschiedeten Charta der Vereinten Nationen beginnt
- mit folgenden Worten: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, fest entschlossen,
- künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren
- Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat …« Aber die Kriege sind
- wieder da, so furchtbar wie eh und je. Nach den blutigen Auseinandersetzungen im
- ehemaligen Jugoslawien, auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak wüten heute Kriege
- in Syrien, im Jemen, im Ostkongo, im Süden und Westen des Sudan, in der
- Zentralafrikanischen Republik, in Myanmar, auf den Philippinen und in weiteren Regionen
- der Welt.
- Die multiethnische, laizistische, multikulturelle Nation ist eine Errungenschaft der
- Zivilisation. Heute ist sie existenziell bedroht durch Schreckgespenster, die sich erhoben
- und Gestalt angenommen haben: den Dschihadismus, den christlichen, jüdischen,
- hinduistischen und buddhistischen Fundamentalismus, den gewaltbereiten Rassismus und
- aufklärungsfeindliches Denken jeder Couleur, allesamt Feinde der Vernunft. In
- zahlreichen westlichen Ländern gewinnen antidemokratische Parteien der extremen
- Rechten bei jeder Wahl dazu und vergiften das kollektive Bewusstsein.
- Die Beziehungen zwischen Mensch und Natur haben sich verändert. Es ist ein neues
- Bewusstsein für die Gefährdung des Lebens auf der Erde und die Endlichkeit der
- natürlichen Ressourcen entstanden. Aber die Zerstörung der Natur schreitet fort.
- Überall werden die Menschenrechte, diese grundlegende Errungenschaft, die man nach
- der Schlächterei im Zweiten Weltkrieg für unumstößlich hielt, mit Füßen getreten. Die
- Rechte auf Essen, Wohnen, einen Arbeitsplatz, auf Gesundheit, körperliche Unversehrtheit
- und Freizügigkeit werden heute auf allen fünf Kontinenten jeden Tag massiv verletzt.
- Es ist wieder legitim, Menschen zu foltern. Folter wird als »notwendig« und sogar
- »unvermeidlich« erklärt, und das nicht nur von Schurkenstaaten, sondern auch in einem
- Dekret des vorletzten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.3
- Der schottische Philosoph Edmund Burke schrieb im 18. Jahrhundert: »All that evil needs
- to triumph is the silence of good men« (»Alles, was das Böse braucht, um zu
- triumphieren, ist das Schweigen der guten Menschen«).
- Wenn alle Welt schweigt, den Blick abwendet, nicht zuhört, passiv bleibt, von Schicksal
- spricht, vom normalen und unvermeidlichen Lauf der Dinge, muss der »gute Mensch«
- Fragen stellen, nachforschen, die Ursachen untersuchen, die Interessen, die im Spiel sind,
- die Verantwortlichkeiten, die Dinge beim Namen nennen, auf die Schuldigen hinweisen,
- wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Kalküle ans Licht bringen, die
- Menschenleben zerstören. Er muss den Frauen und Männern, die die Welt verändern
- wollen, Waffen in die Hand geben.
- Régis Debray hat das so zusammengefasst: »Die Aufgabe des Intellektuellen ist es
- nicht, Liebenswürdigkeiten zu verteilen, sondern zu sagen, was ist. Er will nicht verführen,
- sondern bewaffnen.«
- Das Buch hat folgenden Aufbau:
- Zuerst versuche ich die Frage zu beantworten: Was nützt ein Intellektueller? Wissen ist
- nie neutral. Wie jede andere Wissenschaft ist die Soziologie ein Instrument, das befreit
- oder unterdrückt. Anschließend werden wir sehen, wie Ungleichheiten zwischen den
- Menschen entstehen. Im dritten und vierten Kapitel versuche ich, Ursprung und Funktion
- von Ideologien auf der einen Seite und der Wissenschaft auf der anderen Seite
- aufzuzeigen. Die Menschen sind nie so, wie sie zu sein glauben. Die Entfremdung des
- Bewusstseins hat in den letzten dreißig Jahren enorm zugenommen. Davon erzählt das
- fünfte Kapitel. Im sechsten Kapitel geht es um den Staat und im siebten um die Nation.
- Das achte Kapitel behandelt die Frage: Wie entsteht und entwickelt sich die Gesellschaft?
- Das neunte Kapitel ist den Völkern gewidmet, die keine Stimme haben.
- Denken wurzelt immer in einem kulturellen und intellektuellen Nährboden, der bereits
- vorhanden ist. Ich werde darlegen, wessen Erbe ich bin, wer mein Denken angeregt hat
- und weiterhin anregt. Ich werde auch darlegen, wo ich mit denen, die mir auf dem Weg
- vorangegangen sind, und denen, die mich begleitet haben und noch begleiten,
- übereinstimme und wo nicht.
- Und schließlich werde ich erläutern, welche Hoffnung das Buch durchzieht. Ein neues
- Subjekt der Geschichte ist im Entstehen begriffen: die neue, weltumspannende
- Zivilgesellschaft. Sie tritt an, die kannibalische Weltordnung zu vernichten. Mein Buch ist
- kein Buch der Utopie, sondern ein Handbuch für den Kampf, für den Aufstand dieser
- tausendfältigen Widerstandsfront, dieser mysteriösen Bruderschaft der Nacht.
- Das Buch ist auch eine intellektuelle Autobiografie. Über drei Jahrzehnte war ich
- Professor für Soziologie an afrikanischen, brasilianischen und französischen Universitäten,
- vor allem und ganz besonders intensiv aber an der Universität Genf. Im Gegensatz zu
- meinen vorausgegangenen Büchern Die neuen Herrscher der Welt; Das Imperium der
- Schande; Der Hass auf den Westen; Wir lassen sie verhungern enthält Ändere die Welt!
- relativ viele philosophisch-theoretische Elemente. Sie inspirieren und beeinflussen meine
- Arbeit seit vielen Jahren.
- Bei Ernst Bloch steht der paradoxe Appell: »Vorwärts zu unseren Wurzeln!« Für
- zahlreiche Leserinnen und Leser gehören mehrere der hier vielfach zitierten Autoren ins
- Neolithikum der Sozialwissenschaften. Karl Marx, Georg Lukács, Max Horkheimer, Jean-
- Paul Sartre – um nur einige zu nennen – sind die Begründer des radikal kritischen
- Bewusstseins im Kapitalismus. Alle ihre Werke sind von bestechender Aktualität. Die
- Mechanismen der Entfremdung, die Schaffung eines homogenisierten Bewusstseins, die
- akuten Flurschäden des grassierenden Neoliberalismus bleiben ohne sie unverständlich.
- Wir stehen in ihrer Schuld im Sinne des inzwischen geflügelten Wortes: Wir sind Zwerge
- auf den Schultern von Riesen … und sehen deshalb weiter als sie.
- Ich stelle mir die Frage, wie nützlich mein berufliches Wirken war. Dieses Buch versucht,
- seinen Sinn aufzuspüren.
- Zum ersten Mal in der Geschichte des Planeten ist heute der objektive Mangel an
- materiellen Gütern, die zum elementaren Überleben der Menschen nötig sind,
- überwunden.
- Karl Marx starb am 14. März 1883 friedlich in dem einzigen Sessel seiner bescheidenen
- Wohnung in London. Bis zum letzten Atemzug war er überzeugt, dass der objektive
- Mangel – das verfluchte Paar aus Herr und Knecht, die miteinander um die Kontrolle über
- die knappen Güter ringen, die alle Menschen zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse
- brauchen – die Menschheit noch über Jahrhunderte begleiten würde. Seine gesamte
- Theorie über den Klassenkampf, die weltweite Arbeitsteilung, den Staat als Überbau
- gründet auf der Hypothese, dass der Mangel an Gütern fortbesteht. Aber Marx hat sich
- getäuscht. Seit seinem Tod hat die Menschheit eine großartige Abfolge
- wissenschaftlicher, technischer, elektronischer und industrieller Revolutionen erlebt, die
- das Potenzial der Produktivkräfte auf unserem Planeten auf außerordentliche und
- vollkommen unvorhersehbare Weise um ein Vielfaches gesteigert haben. Der objektive
- Mangel wurde tatsächlich überwunden.4
- Ich nenne nur ein einziges Beispiel: das tägliche Massaker des Hungers, dem jedes Jahr
- viele Millionen Menschen zum Opfer fallen. Zum ersten Mal in der Geschichte besteht
- heute das Problem nicht darin, dass zu wenig Nahrungsmittel erzeugt werden, sondern
- dass auf skandalöse Weise unzählige Menschen aus Mangel an finanziellen Mitteln keinen
- Zugang zu Nahrungsmitteln haben, die andernorts im Überfluss vorhanden sind.
- Erinnern wir uns an die älteste, strahlendste Erklärung der Menschenrechte, die direkt von
- Jean-Jacques Rousseau und seinem Gesellschaftsvertrag inspiriert wurde: die Erklärung,
- die die amerikanischen Revolutionäre am Morgen des 4. Juli 1776 in Philadelphia
- verabschiedeten. Sie ist als Präambel der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten
- Staaten vorangestellt. Verfasst wurde sie von Thomas Jefferson und Benjamin Franklin.
- Darin heißt es:
- »Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich
- geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten
- ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass
- zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die
- ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn
- irgendeine Regierungsform sich für diese Zwecke als schädlich erweist, es das Recht des
- Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und sie
- auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie
- es zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und ihres Glücks geboten zu sein scheint.«5
- Im Jahr 1776 kam das Menschenrecht auf das Streben nach Glück noch einer Utopie
- gleich. Die auf dem Planeten verfügbaren Güter reichten ganz einfach nicht aus, um die
- Grundbedürfnisse aller zu befriedigen. Heute hingegen könnte dieses Recht für alle
- Menschen Realität werden, egal, wo und in welcher Gesellschaft sie leben. Um genau zu
- sein: Ich spreche hier von materiellen Bedürfnissen und materiellen Gütern zu ihrer
- Befriedigung. Das immaterielle Unglück – Einsamkeit, Liebeskummer, Trauer,
- Verzweiflung – ist ein anderes Kapitel. Aber, darauf beharre ich: Das materielle Leid, das
- immer noch Hunderte Millionen unserer Zeitgenossen quält, könnte morgen beseitigt
- sein.
- Wir leben in einer absurden Weltordnung. Jeder von uns, an welchem Ort er sich
- befindet und zu welcher Gesellschaft er gehört, kann viel zu ihrer Bekämpfung und
- Überwindung beitragen.
- Mein Buch erhebt natürlich nicht den Anspruch, eine Bestandsaufnahme aller aktuellen
- Kämpfe gegen die Entfremdung zu liefern oder eine vollständige Liste der vorhandenen
- analytischen Konzepte. Es werden nur die vorgestellt, die direkt mit meiner
- wissenschaftlichen und politischen Erfahrung verbunden sind und darum mit den
- praktischen und theoretischen Kämpfen für die Emanzipation der Menschen, an denen ich
- mich beteiligen wollte und weiterhin beteiligen will. Insofern gibt das Buch eine Erfahrung
- wieder, ist es eine Rechenschaft mit einem unvermeidlich schicksalhaften und subjektiven
- Anteil.
- Die Suche nach dem Sinn der Gesellschaft, der Geschichte, des Lebens kann immer nur
- ein kollektives Unterfangen sein. Sie findet in den und durch die praktischen und
- theoretischen Auseinandersetzungen statt, in denen wir Akteure und Thema zugleich
- sind. Jeder von uns, der Autor wie der Leser, ist das konkrete Produkt einer komplexen
- Dialektik zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Das Verlangen nach Totalität
- und das Streben nach Sinn sind den Menschen angeboren. In dem Maß, wie mein Buch
- dazu beiträgt, kann es auf einen Wunsch des Lesers antworten, wird es eine gemeinsame
- Arbeit und erhält es seine Legitimität.
- 1 75. Auflage, Frankfurt am Main 2013, Drittes Bild. S. 34 f.
- 2 Fjodor Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, aus dem Russischen von Swetlana Geier, Frankfurt am Main 2006, S. 371
- f.
- 3 Mit einer executive order zog George W. Bush im Juni 2004 die amerikanische Unterschrift unter die Konvention der
- Vereinten Nationen zurück, die Folter und andere Formen unmenschlicher Behandlung verbietet. Seine Begründung
- lautete: »Der amerikanische Präsident hat die verfassungsmäßige Gewalt, eine Militäraktion zum Schutz des
- amerikanischen Volkes durchzuführen …« Damit wurde das Verbot der Folter bei Verhören auf Anordnung des
- Oberbefehlshabers aufgehoben (»The prohibition against torture must be construed as inapplicable to interrogation
- undertaken pursuant to his commmander-in-chief-authority«).
- 4 Vgl. François Perroux, Vorwort zu OEuvres de Karl Marx, Bd. I, L’Économie, Paris 1965.
- 5 Text der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: http://usa.usembassy.de/etexts/gov/unabhaengigkeit.pdf. In der
- vom Konvent von Virginia im Zuge der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung verabschiedeten Grundrechtserklärung
- war erstmals vom »pursuit of happiness« (vom Recht auf das »Streben nach Glück«) die Rede.
- ERSTES KAPITEL
- Was nützt ein Intellektueller?
- Lerne das Einfachste! Für die
- Deren Zeit gekommen ist
- Ist es nie zu spät!
- Lerne das Abc, es genügt nicht, aber
- Lerne es! Laß es dich nicht verdrießen!
- Fang an! Du mußt alles wissen!
- Du mußt die Führung übernehmen.
- Lerne, Mann im Asyl!
- Lerne, Mann im Gefängnis!
- Lerne, Frau in der Küche!
- Lerne, Sechzigjährige!
- Du mußt die Führung übernehmen.
- Suche die Schule auf, Obdachloser!
- Verschaffe dir Wissen, Frierender!
- Hungriger, greif nach dem Buch: es ist eine Waffe.
- Du mußt die Führung übernehmen.
- Scheue dich nicht zu fragen, Genosse!
- Laß dir nichts einreden
- Sieh selber nach!
- Was du nicht selber weißt
- Weißt du nicht.
- Prüfe die Rechnung
- Du mußt sie bezahlen.
- Lege den Finger auf jeden Posten
- Frage: wie kommt er hierher?
- Du mußt die Führung übernehmen.
- Bertolt Brecht, Lob des Lernens6
- In den Jahren 1935/1936 hielt Georges Politzer an der Arbeiteruniversität von Paris eine
- Vorlesung mit dem Titel Elementare Prinzipien der Philosophie. Die Arbeiteruniversität
- wurde 1939 aufgelöst. Politzer, der Widerstandskämpfer gegen den Faschismus und
- aktive Kommunist, starb durch die Kugeln eines Exekutionskommandos der Nazis. Nach
- der Befreiung Frankreichs veröffentlichte einer seiner ehemaligen Studenten, Maurice Le
- Goas, die Aufzeichnungen, die er sich in Politzers Vorlesung gemacht hatte.
- Politzer konnte sich eine institutionelle Aufteilung des Wissens nicht vorstellen: Seine
- Vorlesung richtete sich an Männer und Frauen aus allen Berufen und allen Altersgruppen,
- die durch ihr Denken und Handeln Zeugnis von ihrer Entschlossenheit ablegten, eine
- ungerechte Gesellschaft zu verändern. Seine Ausführungen mussten deshalb für
- jedermann verständlich sein – weil sie sonst für niemanden verständlich gewesen wären.
- Wie Maurice Le Goas schrieb, sollte die Vorlesung den Arbeitern, jungen wie alten, Handund
- Kopfarbeitern, »eine Methode des Nachdenkens an die Hand geben, die ihnen
- erlaubt, unsere Zeit zu verstehen und ihr Handeln auszurichten, sowohl in ihrer Technik
- wie auf dem politischen und sozialen Feld«.7 Politzers Vorlesung ist für mich ein Modell
- pädagogischen Handelns.
- Indem ich hier die elementaren Prinzipien einer radikal kritischen oppositionellen
- Soziologie darlege, möchte ich einen möglichst wirksamen Beitrag dazu leisten, dass die
- Gerechtigkeit und das Bewusstsein der Menschen für ihre eigene Macht Fortschritte
- machen.
- Jede Gesellschaft spricht mit sich über sich selbst. Jeder Mensch hat vielfältige
- Meinungen über sich und andere. Die kollektiven und individuellen Vorstellungen, die
- Bilder, die die Menschen sich von ihrem Leben machen, bilden den Überbau der
- Gesellschaft. Die materiellen Umstände ihres Lebens, die Produktivkräfte und das
- dazugehörige Werkzeug bilden den Unterbau. Bilder und Realität, Überbau und Basis
- ergänzen sich und stehen zugleich im Widerspruch. Diese Beziehungen bilden die
- Gesellschaft.
- Es gibt nur eine Wissenschaft, nämlich jene, die jede metasoziale Begründung ablehnt:
- Alain Touraine hat als Erster 1973 in seinem grundlegenden Werk Production de la
- société8 die überzeugendste, theoretisch untermauerte Kritik an metasozialen
- Konzeptionen formuliert. Die metasoziale Begründung, so wie Alain Touraine sie definiert,
- geht von einer Instanz jenseits der Realität der Gesellschaft aus. Mittels solcher Instanzen
- erheben die Mächtigen den Anspruch, Bedeutungen zu legitimieren, bestimmte Praktiken
- aufzuzwingen, Verhaltensweisen zu reglementieren.
- In der Geschichte der Gesellschaften hat es den Rückgriff auf metasoziale Begründungen
- und die entsprechenden Instanzen immer gegeben. Er diente und dient dazu,
- unveränderliche, ahistorische »Wahrheiten« zu rechtfertigen und letzten Endes den
- Fortbestand der herrschenden Machtverhältnisse zu sichern.
- Drei Beispiele sollen das erläutern, zwei sind der französischen Geschichte entnommen,
- das dritte der Aktualität der Weltgesellschaft.
- Erstes Beispiel: Ludwig der Heilige, dessen Herrschaft im 13. Jahrhundert den
- Höhepunkt des Königtums der Kapetinger markierte, legitimierte seine Macht mit der
- Formel »Ludwig, durch die Gnade Gottes König von Frankreich«. Die metasoziale
- Begründung seiner Macht verweist auf die religiöse Ideologie. Der König empfing seine
- Macht von Gott, vermittelt durch die kirchliche Bürokratie. Der erste französische König,
- der gesalbt wurde, war Pippin der Kurze. Er wurde ein erstes Mal 751 von einer
- Versammlung von Bischöfen des Königreichs gesalbt, die in Soissons
- zusammengekommen waren, und ein zweites Mal 754 in Saint-Denis durch Papst Stephan
- II. Als letzter französischer König wurde Karl X. 1825 in der Kathedrale von Reims gesalbt.
- Metasoziale Begründungen können auch dazu dienen, komplexere politische
- Teilstrategien zu rechtfertigen. Dazu ein Beispiel:
- Suger, der Abt von Saint-Denis (der Abtei vor den Toren von Paris, die Grablege der
- französischen Könige ist), Ratgeber der Könige Ludwig VI. und Ludwig VII. sowie Kanzler
- des Reichs, illustriert, was damit gemeint ist. Suger wollte der im Entstehen begriffenen
- Monarchie eine solide Legitimität verschaffen und zugleich seine eigene Macht festigen.
- Das konnte er nur erreichen, indem er den Heiligen, dessen Reliquien die Abtei besaß,
- zum Beschützer des Reiches und wichtigsten Heiligen Frankreichs erhob.9 Darum musste
- er ein möglichst prunkvolles, luxuriöses und eindrucksvolles Heiligtum errichten. Doch
- weil damals Not und Hunger herrschten, gab es anhaltende und heftige Kritik an solch
- verschwenderischen Ausgaben. Suger fand einen Ausweg: In den Schriften, die er über
- die Verwaltung von Saint-Denis hinterlassen hat10 – in denen es um die Rekonstruktion
- der Kirche geht, um möglichst große Balken, kostbare Edelsteine, wundervolle
- Goldschmiedearbeiten, prächtige Fenster –, präsentiert er sich selbst als Instrument
- Gottes, des heiligen Dionysius und der anderen Heiligen. Er beteuert, seine
- Entscheidungen über Ausgaben, über teures Material und so weiter seien ihm in Visionen
- und durch Wunder »diktiert« worden. Somit geht sein Handeln aus der Heilsgeschichte
- hervor, die Ereignisse rechtfertigt, ihnen eine metasoziale Begründung verleiht und damit
- die Realität verschleiert.
- Heute ist die mächtigste und zugleich die gefährlichste metasoziale Begründungsweise
- die »Naturalisierung« ökonomischer Fakten. Die Oligarchien des globalisierten
- Finanzkapitals berufen sich auf sogenannte »Naturgesetze der Wirtschaft«, um den
- Menschen aus seiner eigenen Geschichte zu vertreiben, um präventiv jeden Ansatz von
- Widerstand, der ihm in den Sinn kommen könnte, zu brechen und ihre Profite
- abzusichern. Der »Weltmarkt«, die oberste Regelungsinstanz nicht nur für die Produktion
- und den Austausch von Waren, sondern auch für menschliche Beziehungen und Konflikte,
- wird auf diese Weise in den Rang einer »unfehlbaren unsichtbaren Hand« erhoben. Das
- Ziel aller Politik soll demnach die vollständige Liberalisierung sämtlicher Bewegungen von
- Kapital, Waren und Dienstleistungen sein, die Unterwerfung aller menschlichen
- Tätigkeiten unter den Grundsatz der Maximierung von Profit und Rentabilität und darum
- die Privatisierung aller öffentlichen Bereiche. Diese Strategie enthält ein Versprechen: das
- Versprechen, dass die Marktkräfte, wenn sie erst einmal endgültig der öffentlichen
- Kontrolle und allen territorialen Beschränkungen entzogen sind, unvermeidlich weltweites
- Wohlergehen erzeugen werden. Weil dann das Kapital automatisch in jedem Moment
- dorthin geht, wo es den maximalen Profit erzielen kann.
- James Wolfensohn, der einstige Wall-Street-Banker, Multimilliardär, begnadeter Pianist,
- ein warmherziger, kultivierter Mann, war bis 2005 Präsident der Weltbank. Sein Credo,
- das er unzählige Male leidenschaftlich auf internationalen Podien wiederholte, lässt sich
- auf folgendes Motto reduzieren: »stateless global governance«. Mit anderen Worten: Die
- Selbstregulierung des Weltmarkts, endlich befreit von aller Einmischung von Staaten,
- Gewerkschaften, Bürgern und so weiter, wartet am Horizont und ist das endgültige Ziel
- der Geschichte.
- Die »Marktgesetze« sind eine metasoziale Begründung, die zumal dadurch besonders
- gefährlich ist, als sie sich auf einen strengen Rationalismus beruft. Tatsächlich handelt es
- sich um nichts anderes als Hokuspokus, der uns glauben machen möchte,
- wissenschaftliche Strenge und die Strenge der »Marktgesetze« seien das Gleiche.
- Und noch etwas anderes gilt es zu verstehen: Indem sich die Diktatur des globalisierten
- Finanzkapitals hinter blinden »Marktgesetzen« verschanzt, zwingt sie uns eine
- geschlossene, starre Sicht der Welt auf, in der es keine menschliche Initiative gibt, kein
- geschichtliches Handeln, das aus der subversiven Tradition des noch nicht Existierenden,
- des Unvollendeten, der Freiheit erwächst.
- Um zu illustrieren, was ich meine, zitiere ich eine Erinnerung. Einige meiner Bücher, vor
- allem Eine Schweiz – über jeden Verdacht erhaben (1976), Die Schweiz wäscht weißer
- (1990) und Die Schweiz, das Gold und die Toten (1997) zogen den Hass der
- schweizerischen Bankiers auf sich. Um mich finanziell zu ruinieren und so zum Schweigen
- zu bringen, wurden neun Prozesse gegen mich angestrengt. Meine parlamentarische
- Immunität wurde aufgehoben. Die Schadenersatzforderungen summierten sich auf
- mehrere Millionen Schweizer Franken, und weil ich alle Prozesse verloren habe, war ich
- am Ende tatsächlich ruiniert. Doch trotz des Hasses, trotz aller
- Meinungsverschiedenheiten blieben einige persönliche Beziehungen bestehen. Eines
- Abends steige ich in den letzten Zug von Bern nach Genf, der ziemlich leer ist. Ein
- Privatbankier, Calvinist, in seiner strengen familiären und gesellschaftlichen Tradition
- eingesperrt wie in einer Zwangsjacke, bemerkt mich. Er vergewissert sich, dass außer uns
- niemand sonst in dem Abteil sitzt, und macht mir ein Zeichen. Ich setze mich ihm
- gegenüber. Wir diskutieren über die Lage in der Demokratischen Republik Kongo nach
- dem Tod von Laurent Kabila. Einige Tage zuvor habe ich im Hotel President Wilson in
- Genf dessen Sohn und Nachfolger Joseph Kabila getroffen. Die Tribune de Genève hat
- über die Begegnung berichtet.
- Der Bankier: »Du hast den jungen Kabila getroffen?«
- »Ja.«
- »Wie ist die Lage im Kongo?«
- »Furchtbar. In Kinshasa gibt es wieder Epidemien, es herrscht Hunger. Seit dem Jahr
- 2000 sind über zwei Millionen Menschen gestorben. Überall Elend, Krieg. Der Staat ist
- bankrott.«
- »Ich weiß. Einer meiner Cousins ist Missionar da unten … Er hat mir die Situation
- geschildert, sie ist schrecklich.«
- Ich gehe zum direkten Angriff über: »Mobutu hat über 4 Milliarden Dollar auf
- schweizerische Konten verschoben. Ich habe gehört, ein Teil der Beute liege bei deiner
- Bank.«
- »Du weißt, dass ich dir darauf keine Antwort geben kann. Bankgeheimnis … Aber unter
- uns gesagt: Mobutu war ein Dreckskerl. Mein Bruder hat erzählt, an dem heutigen Elend
- seien vor allem die Plünderungen unter Mobutu schuld.«
- Mittlerweile hat der Zug Romont weit hinter sich gelassen. Über dem Genfer See
- schimmern schwach die Lichter des Lavaux. Es regnet. Ich hake nach: »Also, warum gibst
- du das gestohlene Geld nicht einfach der neuen Regierung zurück? Du weißt genau, dass
- sie es sich nicht leisten kann, vor schweizerischen Gerichten jahrelang um die Rückgabe
- zu prozessieren.«
- Mein Gegenüber wirkt nachdenklich. Vor den nassen Zugfenstern ziehen Lichter vorbei.
- Schließlich sagt er mit fester Stimme: »Unmöglich! In die Kapitalflüsse kann man nicht
- eingreifen.«
- Wir werden im dritten Kapitel auf die neoliberale Wahnidee zurückkommen.
- Ein Bestand an »Werten« – die nicht aus der Erfahrung der Menschen hervorgehen, die
- nicht in ihrer Geschichte ihren Niederschlag finden, sondern die als unerschütterliche,
- ewige Leitsätze daherkommen – dient als Rechtfertigung für das Handeln der Mächtigen.
- Der Bruch mit den metasozialen Begründungen macht das materialistische, empirischrationalistische
- Wesen unserer Wissenschaft aus. Er gibt ihr ihre Realität zurück. Oder wie
- Edgar Morin schrieb: »Das Kriterium für Realität ist die Feststellung der empirischen
- Existenz des Phänomens, verbunden mit der strikten Beachtung der Regeln rationaler
- Logik … Das Kriterium der Realität, das nicht das Gefühl der Realität ist, erlaubt dem
- Gefühl der Realität, sich festzusetzen, Gestalt anzunehmen.«11
- Wie für jede Wissenschaft gilt auch für die Soziologie: Entweder ist sie materialistisch,
- oder sie ist gar nicht. Sie kann nur eine empirische und rationale Erklärung des
- Universums (des physischen, sozialen und so weiter) akzeptieren. Mit anderen Worten:
- Jede Gesellschaft erschafft sich selbst, sie hat keine anderen Bezüge, keine anderen
- Anhaltspunkte für ihre Legitimität, keine anderen Werte als die, die ihrer eigenen Praxis
- entspringen. Genau diese Selbsterschaffung der Gesellschaft will ich erläutern und
- verständlich machen.
- Wenn man die materialistischen Grundlagen der Wissenschaft erst einmal anerkannt
- hat, ist der nächste Schritt, die Verschleierungsstrategien zu entlarven, die auf
- metasoziale Begründungen zurückgehen. Wie schon gesagt: Jede Gesellschaft spricht zu
- sich selbst über sich. Aber jedes System der Selbstinterpretation – jedes kulturelle
- System, jede Ideologie, jede Religion – verhüllt, verbirgt, lügt und enthüllt zugleich. Was
- am meisten verborgen wird, ist besonders wahr. Was gezeigt wird, muss erklärt werden
- durch das, was nicht zu sehen ist. Ich habe gesagt, die Soziologie versuche zu verstehen,
- wie die Gesellschaft sich selbst hervorbringt. Um es noch präziser zu formulieren: Der
- Soziologe muss das aufspüren, entlarven, ans Licht bringen, was nicht in der
- Selbsthervorbringung der Gesellschaft auftaucht. Die Aufgabe ist schwierig, denn was da
- verborgen ist, wurde absichtlich versteckt.
- Jedes System der Selbstinterpretation ist vom Klasseninteresse durchdrungen und
- besetzt. Jede Ideologie, insofern sie behauptet, die »Wahrheit der Fakten«
- auszusprechen, ist eine Lüge. Die Aufgabe des Soziologen ist es, die historischen
- materiellen Bedingungen aufzudecken, unter denen diese »Wahrheit« produziert wurde,
- sowie die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Interessen ans Licht zu
- bringen, die sie kaschiert und denen sie dient. Er analysiert auch die Symbolsysteme, die
- als Instrumente verwendet werden, um die »Wahrheit« umzusetzen. Bei dieser Aufgabe
- muss er in jedem Augenblick berücksichtigen, was Bertolt Brecht über das Verhalten des
- Revolutionärs formuliert hat:
- Er fragt die Ansichten
- Wem nützt ihr?
- […]
- Und wo Unterdrückung herrscht und von Schicksal die Rede ist
- Wird er die Namen nennen.12
- Die Arbeit des Intellektuellen (und damit des Soziologen) ist definitionsgemäß subversiv.
- Seine Arbeit zielt darauf ab, ein Objekt real zu erfassen. Egal, was die subjektive Absicht
- des betreffenden Subjekts sein mag, das reale Erfassen eines Objekts ist immer ein
- subversiver Akt, das heißt ein Akt, der in Konflikt mit den herrschenden sozialen
- Strategien gerät. Indem der Soziologe aufzeigt, wie gesellschaftliche Strukturen
- entstehen, ihre Systeme der Selbstinterpretation, ihre apodiktischen Behauptungen,
- bringt er zugleich auch die Strategien ans Licht, mit denen sie erzeugt werden, und die
- Gewalt, die bei ihrer Entstehung am Werk ist, kurzum: ihre unabweisbare Kontingenz.
- Kein Machthaber kann das dulden.
- Ich übernehme folgendes Beispiel von Max Horkheimer: Napoleon war nach Preußen
- vorgedrungen und hatte dort die republikanischen Ideale verbreitet, die Menschenrechte,
- die Idee der Volkssouveränität, das Konzept der Staatsbürgerschaft. In der Völkerschlacht
- von Leipzig wurde die französische Armee 1813 geschlagen. Der preußische König stellte
- die autokratische Monarchie wieder her, in Potsdam triumphierte die Restauration. Aber
- der König hatte ein Problem: Er musste die Universität Berlin säubern und sich vor allem
- um den wichtigsten Lehrstuhl kümmern, den Lehrstuhl für Philosophie. Also ließ er in
- allen deutschen Staaten die Mitteilung anschlagen, dass er einen Philosophen suche, der
- in der Lage sein müsse, die »französische Drachensaat« auszumerzen, das heißt das
- republikanische Denken und all jene Ideen, die den Geist der Studenten vergifteten. In
- Heidelberg stießen die Werber des Königs auf den scharfsinnigen, brillanten Georg
- Wilhelm Friedrich Hegel, ein Reaktionär durch und durch, der von der monarchischen
- Restauration, autoritärem Denken und Gottesgnadentum überzeugt war und fest daran
- glaubte, dass der absolutistische Staat Vorrang gegenüber dem Individuum haben müsse.
- »Hegel […] war von einer verdrossenen Ablehnung spezifischer Verhältnisse so weit
- entfernt, daß der König von Preußen ihn nach Berlin berief, damit er den Studenten die
- gebührende Loyalität einschärfe und sie gegen politische Opposition immunisiere. Hegel
- tat sein Bestes in dieser Richtung und erklärte den preußischen Staat für die ›Wirklichkeit
- der sittlichen Idee‹ auf Erden. Aber das Denken ist eine eigentümliche Sache. Um den
- preußischen Staat zu rechtfertigen, mußte Hegel seine Studenten zur Überwindung der
- Einseitigkeit und der Beschränkungen des gewöhnlichen Menschenverstandes erziehen
- und zur Einsicht in den wechselseitigen Zusammenhang zwischen allen begrifflichen und
- realen Verhältnissen bringen. Überdies mußte er sie lehren, die menschliche Geschichte in
- ihrer komplexen und widersprüchlichen Struktur zu erfassen, den Ideen von Freiheit und
- Gerechtigkeit im Leben der Völker nachzugehen und zu erkennen, daß diese untergehen,
- wenn ihr Prinzip sich als unangemessen erweist und die Zeit für neue soziale Formen reif
- ist. Die Tatsache, daß Hegel seine Studenten im theoretischen Denken unterweisen
- mußte, hatte für den preußischen Staat durchaus zweideutige Folgen. Auf die Dauer
- wurde dieser reaktionären Institution dadurch mehr Schaden zugefügt, als sie Nutzen aus
- ihrer formalen Glorifizierung bezog. Die Vernunft ist ein schwacher Bundesgenosse der
- Reaktion. Noch nicht zehn Jahre nach Hegels Tod (sein Lehrstuhl war während dieser Zeit
- unbesetzt) berief der König einen Nachfolger, der gegen die ›Drachensaat des
- Hegelschen Pantheismus‹ und gegen ›die Anmaßung und den Fanatismus seiner Schule‹
- kämpfen sollte.«13
- Die Frage, was genau ein Intellektueller nützt, zieht unvermeidlich andere Fragen nach
- sich. Wir schauen uns einige davon an.
- Wie jeder Intellektuelle bringt auch der Soziologe neue Erkenntnisse in die Welt. Aber
- ebenso wie etwa der Nuklearphysiker hat er keine Kontrolle über ihre Anwendung,
- darüber, welchen Gebrauch Dritte von seinen Forschungsmethoden machen, seinen
- Analysekonzepten, von dem problematischen Wissen, das er geschaffen hat. So haben
- die Soziologen äußerst präzise Forschungsmethoden entwickelt, ausgehend von
- Interviews mit kleinen Gruppen von Personen, die sorgfältig aus einer größeren
- Gesamtheit ausgewählt wurden. Diese Methoden erlauben es, unbewusste kollektive
- Motive einer ganzen Gesellschaft ans Licht zu bringen (und zu nutzen). Dank dieser
- Erkenntnisse kann der Soziologe über die subjektiven Antworten der Befragten hinaus auf
- ein ganzes Bündel wiederkehrender Verhaltensweisen und verinnerlichter Normen
- schließen, die der Person in dem Moment, in dem sie befragt wird, gar nicht vollständig
- bewusst sind. Diese Methoden sind im Allgemeinen nützlich und stellen sicher, dass
- unsere Kenntnisse über das tatsächliche, reale Funktionieren der Gesellschaft immer
- besser werden. Aber dieselben Untersuchungsmethoden über die Motive können auch
- verheerende Wirkungen haben, wenn sie dazu eingesetzt werden, herauszufinden, wie
- man beispielsweise am besten Zigaretten an junge Leute verkauft. Dazu engagieren
- Konzerne Soziologen, die durch wissenschaftliche Forschung zu ermitteln versuchen, mit
- welchem »Image« die Zigaretten am besten bei den Befragten, bei einer bestimmten
- Altersgruppe, Einkommensschicht und so weiter ankommen.
- Wenn das »Image« einmal festgelegt ist, bringen die Marketingleute des Konzerns die
- unbewussten motivierenden Bilder der ausgewählten Gruppe »in Form« (so reden sie).
- Ergebnis: Die Mauern unserer Städte werden vollgeklebt mit bunten Plakaten, auf denen
- halbnackte junge Mädchen, athletische Cowboys oder Discobesucher vor einem
- Hintergrund sonnenbeschienener Landschaften oder wilder Partys Zigaretten anbieten,
- die – wie erwiesen ist – daran schuld sind, dass Jahre später Hunderttausende an
- Lungenkrebs sterben.
- Ich gebe noch ein weiteres Beispiel, wie die Forschungsmethoden über die unbewussten
- kollektiven Motive auf verhängnisvolle Weise genutzt werden. 1946 finanzierte die
- Republikanische Partei von Südkalifornien eine derartige Untersuchung, um
- herauszufinden, welches »Image« der ideale Kandidat für die Kongresswahl im 12. Bezirk
- haben musste. Ausgehend von den Ergebnissen dieser Untersuchung, entwarf die Partei
- ein Phantombild des idealen Kandidaten und machte sich dann auf die Suche nach einem
- Mann, der diesem Bild entsprach. In der Presse und bei den Fernsehsendern in
- Südkalifornien wurden Anzeigen geschaltet. Schließlich blieb nur ein Kandidat übrig, ein
- Quäker von 33 Jahren, der fromme Sohn einer bescheidenen Witwe aus Whittier, von
- Beruf Anwalt, bekannt als Kommunistenfeind. Sein Name war Richard Nixon. 1946 wurde
- er zum Abgeordneten gewählt, 1950 zum Senator, 1952 wurde er Vizepräsident der
- Vereinigten Staaten und 1968 Präsident. Zu den zahlreichen Verbrechen, die während
- seiner Präsidentschaft begangen wurden, zählen die schweren Bombardierungen von
- Wohnvierteln in Hanoi und Haiphong an Weihnachten 1972, bei denen viele zehntausend
- Männer, Frauen und Kinder schwere Verbrennungen erlitten oder starben.
- Was kann der Intellektuelle, der Wissenschaftler gegen die Usurpierung und
- Zweckentfremdung seiner Methoden durch andere tun, die sie in den Dienst ihrer
- mörderischen Sache stellen wollen? Auf den ersten Blick nichts. Das soziologische Wissen
- ist wie alle wissenschaftlichen Erkenntnisse ein öffentliches Gut14. Der Soziologe kann
- allenfalls seine Forschungen abbrechen, seine Aufzeichnungen verbrennen und sich
- weigern, eine Untersuchung fortzusetzen, deren wahrscheinliche Ergebnisse in den
- Händen zynischer Machthaber verhängnisvolle Folgen für die Menschheit haben
- könnten.15
- Zwischen Wissenschaft und Ideologie besteht eine dialektische Beziehung. Um dieses
- Problem geht es im vierten Kapitel des vorliegenden Buchs. An dieser Stelle lasse ich es
- mit der Feststellung bewenden, dass es manchmal schon ausreicht, wenn eine
- drangsalierte Gesellschaft oder Kultur in den Rang eines »Forschungsobjekts« erhoben
- wird, weil dadurch ihre Überlebenschancen steigen. Ich erinnere mich an eine heiße
- Nacht in den Tropen, in einem südlichen Viertel von Rio de Janeiro. Edison Carneiro, ein
- schwarzer Anthropologe, Pionier der Bewegung für die afrikanische Renaissance in
- Brasilien, erzählte mir in seiner kleinen Wohnung im Stadtteil Leblon, wenige Schritte
- vom Atlantik entfernt, von seinem langen Kampf. 16 Ein ironisches Lächeln huschte über
- sein von Schmerz und Erschöpfung gezeichnetes Gesicht: »Zwei Franzosen haben uns
- gerettet, zwei Soziologen, uns Crioulos do Brasil!« Carneiro sprach von Claude Lévi-
- Strauss und Roger Bastide. Vor allem von Bastide, dem Nachfolger von Lévi-Strauss als
- Direktor der Mission universitaire française und Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an
- der Universität von São Paulo. Er wirkte dort von 1938 bis 1957. Wie vor ihm schon Lévi-
- Strauss unternahm auch Bastide ausgedehnte Reisen durch Brasilien. Und wie Lévi-
- Strauss stieß er auf bedeutende Gesellschaften, reiche Kulturen nicht-europäischen
- Ursprungs, die Lehre und Forschung der Weißen nahezu vollständig ignoriert hatten. Die
- Regierung setzte sie anhaltender und gewaltsamer Unterdrückung aus. Lévi-Strauss legte
- in Brasilien die Grundlagen für eine systematische Erforschung der Indianergesellschaften.
- Bastide entdeckte den gewaltigen menschlichen, kulturellen und symbolischen Reichtum
- der aus Verschleppung und Versklavung hervorgegangenen afrikanischen
- Gemeinschaften. Er begründete eine neue Wissenschaft an der Universität von São Paulo:
- die Soziologie der afrikanischen Diaspora in Nord- und Südamerika. Bedeutende Forscher
- – Ottavio Ianni, Florestan Fernandes, Maria Isaura Pereira de Queiróz, Juana Elbein dos
- Santos, Pierre Verger, Vivaldo Castro-Lima, Fernando Henrique Cardoso und seine Frau
- Ruth Cardoso, Guilherme und Yara Castro, Zaíde Machado und andere – waren Schüler
- von Roger Bastide. Vor ihm hatten sich hauptsächlich Gerichtsmediziner wie Arturo
- Ramos, Fernandez und andere mit der afrikanischen Diaspora befasst. Sie behandelten
- die politischen Systeme und sozialen Verhaltensweisen der Afrikaner aus einer fast
- ausschließlich eurozentrischen Sicht: Die Trance, ein zentraler Bestandteil des
- candomblé, einer afro-brasilianischen Religion, wurde mit Hysterie gleichgesetzt. Die
- medizinische und therapeutische Verwendung von Säften bei den Nagô galt als
- Giftmischerei, ausgeführt von schwarzen Hausangestellten und darum gefährlich für die
- weißen Herren! Auf Drängen der Kirche und der weißen Machthaber verfolgte die Polizei
- systematisch die yawalorixa und die babalao (die Priester und Priesterinnen) von Bahia,
- Rio und São Luis. Die wenigen terreiros (Kultorte), wo die Eingeweihten und Priester nicht
- arretiert und die Hütten nicht geplündert wurden, mussten eine halb versteckte Existenz
- am Rand der Städte oder im Busch fristen, wie etwa auf Itaparica, einer Insel in der
- Allerheiligenbucht.17 Ich fragte Edison Carneiro: »Wie kommt es, dass Roger Bastide, ein
- kleiner, schüchterner, zurückhaltender und distinguierter Mann, der so gar nichts von
- einem charismatischen Anführer hatte – weder in seinem Aussehen noch in seiner sehr
- traditionalistischen und bürgerlichen Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle des
- Professors –, in der Lage war, den weißen Mächtigen die Stirn zu bieten und ihre
- Vorurteile aufzubrechen? Wie konnte er eine ganze soziale und historische Strömung, die
- mit Mitteln der Kultur und der Polizeigewalt praktizierte rassistische Verachtung, die
- Ausbeutung und Diskriminierung der Afrikaner in Brasilien, überwinden?«
- Carneiro lachte: »Ich sehe, du hast keine Ahnung von den Verhältnissen in Brasilien in
- den 1940er- und 1950er-Jahren! Wir waren eine Kolonialgesellschaft. Wir sind es immer
- noch. Es herrschten die Oligarchie der Großgrundbesitzer aus dem Norden und die
- Oligarchie der Banker aus dem Süden. Diese Leute und damit auch ihre Kinder hatten
- nichts anderes im Sinn, als abzustreiten, dass es eine brasilianische Identität gibt. Sie
- wollten Europäer sein, am liebsten Franzosen. In geradezu absurder Weise äfften sie den
- Lebensstil, die Ideen, Verhaltensweisen und die Kleidung der Pariser nach. Die Damen
- der feinen Gesellschaft in Rio trugen Pelzmäntel, in den Tropen!
- Und da hielt ein professor francês in geschliffenem Französisch Vorlesungen, zu denen
- die gesamte feine Gesellschaft von São Paulo strömte. Bastide erzählte ihnen, dass wir,
- die Neger, Träger einiger der sagenhaftesten Kulturen auf der Erde waren und dass der
- künftige Reichtum der brasilianischen Kultur gerade im Synkretismus liegen werde oder
- wenigstens in der Achtung und der wechselseitigen Kenntnis vom Wissen aller
- Gemeinschaften, der weißen, schwarzen, der indianischen und der caboclos, die auf dem
- Boden unseres Vaterlands leben!«
- Die Fakten sind eindeutig: Bastides Wirken über 19 Jahre als Wissenschaftler, Aktivist
- und Lehrer in Brasilien, seine grundlegenden Werke, die beachtlichen Werke seiner
- Schüler – all das hat die Lebensbedingungen der 80 Millionen schwarzen Brasilianer nicht
- radikal verändert. In bestimmten Regionen hat sich die wirtschaftliche Ausbeutung der
- Mehrheit der Schwarzen durch die herrschenden Klassen der compradores oder weißen
- Brasilianer noch verschlimmert. Auch die politische Diskriminierung und Repression ist
- schlimmer geworden. Aber die Rückeroberung der kulturellen Identität dieser
- Gemeinschaften, deren Existenz heute anerkannt wird, war ein erster Schritt. Ihr Wissen
- wird verbreitet, weiße Kinder, indianische, schwarze und Mischlinge erfahren in der Schule
- von der schrecklichen Geschichte der Sklaverei, aber auch von der Bedeutung der Rituale,
- Symbole, Feste und kollektiven Trancen des candomblé. Wenn nachts in Casa Branca
- (Salvador da Bahia), in Casa Grande das Minas (São Luis, Maragnan) oder in Gomeia (Rio
- de Janeiro) die Trommeln ertönen, strömen die Menschen in Scharen herbei. Viele
- Brasilianer, aus ganz verschiedenen sozialen Schichten und mit unterschiedlichem
- ethnischem Hintergrund, lassen sich heute, wenn sie eine Entscheidung treffen müssen,
- von den yawalorixas und babalaos der Yoruba, Jêjê und Kongo weissagen.18
- 1979 musste die seit 1964 herrschende brasilianische Militärdiktatur nach wilden Streiks
- und Hungerrevolten eine gewisse »Liberalisierung« ihrer Politik akzeptieren. Der letzte
- Militärdiktator João Figueiredo sah sich gezwungen, die Zensur zu lockern und den
- Menschen einige Grundrechte zu gewähren, vor allem das Versammlungsrecht und die
- Koalitionsfreiheit. Damals entstand eine mächtige schwarze Bewegung, das Movimento
- negro unificado. Sie kämpft offen gegen die Rassendiskriminierung und die Ausbeutung
- des schwarzen Subproletariats. Eine ihrer wichtigsten Theoretikerinnen und
- Anführerinnen, Lélia Gonzalez, orientierte sich in ihren Schriften und in der Art, wie sie
- ihren Kampf führte, an den Thesen von Roger Bastide.
- Mit der ersten Frage hängt noch eine weitere zusammen: Kann der Soziologe, wie
- Antonio Gramsci und viele andere dachten, die Position des »organischen Intellektuellen«
- der sozialen Bewegung einnehmen?19
- In seltenen Augenblicken und unter besonderen historischen Umständen kann der
- Soziologe, ohne es zu wissen, zum Mit-Urheber einer gesellschaftlichen Umwälzung
- werden. Ich erinnere mich an einen lange vergangenen Herbstabend im Jahr 1978. In der
- kleinen dalmatinischen Küstenstadt Cavtat hatte die Praxis-Gruppe20 Wissenschaftler,
- Aktivisten, Schriftsteller aus der ganzen Welt versammelt. Thema des Kongresses war
- »der Sozialismus und die Dritte Welt«. Wir saßen auf einer Terrasse, umgeben von Pinien
- mit Blick auf eine überwältigend malerische Bucht. Anwesend waren Lelio Basso, Lopez
- Cardoso, Melo Antunes, Serge Latouche und andere Freunde. Das Rauschen des Meeres
- drang zu uns herauf, dumpf und regelmäßig. Die Wolkenberge, die majestätisch über den
- Himmel zogen, ließen uns das internationale Stimmengewirr des Kongresses vergessen.
- Jenseits des offiziellen Austauschs sprachen wir ganz selbstverständlich die wirklichen
- Fragen, die echten Probleme an: die Ängste und die Freuden der Menschen, ihre Sorgen
- und Hoffnungen.
- Cardoso und Antunes erzählten von Portugal. Sie schienen darunter zu leiden, dass ihre
- Revolution allmählich versickerte – wie an physischen Schmerzen, die sie direkt betrafen.
- Was hatten sie falsch gemacht oder nicht gut genug, dass es nun das Scheitern der
- großartigen Hoffnung erklärte, die am 25. April 1974 aufgekeimt war?
- Weder Basso noch Latouche, noch ich selbst konnten die Frage beantworten. Die Nacht
- brach herein, der Mond schob sich über den Horizont, der Duft der Pinien wurde noch
- intensiver. Melo Antunes sprach immer noch mit seiner sanften Stimme. Er erzählte uns,
- wie sein Vater, ein Militär, ihn gegen seinen Willen gezwungen hatte, in die Armee
- einzutreten, und wie er dann 15 Jahre lang das Drama des Kolonialkriegs miterlebt hatte;
- wie er, weil er in den Offiziersschulen des Salazar-Regimes sozialisiert worden war,
- zunächst keine anderen Analyseinstrumente zur Verfügung gehabt hatte als die des
- aggressiven Katholizismus einer Kirche, die fest hinter dem imperialistischen Projekt und
- der faschistischen, diskriminierenden und rassistischen Ideologie stand, die seine
- militärischen Vorgesetzten vertraten. Aber im Lauf der Jahre, während er in der
- militärischen Hierarchie aufstieg, gelang es ihm, sich der Überwachung durch die PIDE (die
- politische Polizei der Diktatur) zu entziehen, die Offiziere wie ihn, die als »nicht
- zuverlässig« galten, fest im Blick hatte. Während er als Hauptmann in Angola stationiert
- war, durfte er ab und zu seinen Urlaub in Portugal verbringen. Dank der Mithilfe der TAP
- (der portugiesischen Fluggesellschaft) konnte er von Zeit zu Zeit mit einem Umweg über
- Paris nach Europa zurückkehren. Bei solchen Zwischenaufenthalten in Frankreich kaufte er
- die Bücher von Georges Balandier, Jacques Berque, Jean Duvignaud, von René Dumont,
- Basil Davidson, Laurent Davezies und vielen anderen, auch meine Bücher über die
- Befreiungsbewegungen in Afrika, und er las die Artikel von Jean Daniel und Jean
- Lacouture zu dem Thema. So gelangten die folgenden Bücher erst nach Lissabon und von
- dort nach Angola, nach Guinea und Mosambik: von Georges Balandier Sociologie actuelle
- de l’Afrique noire21, von Roger Bastide Les Religions africaines22, von mir Sociologie de la
- nouvelle afrique23, von Jean Duvignaud Chebika24. Dort zirkulierten sie bei den späteren
- Rebellen der Kolonialarmee. Melo Antunes bilanzierte: »Französische Soziologen waren
- die Ersten, die mir die Einzigartigkeit, den unendlichen menschlichen Reichtum, die
- Geschichte und die universellen Bedeutungen dieser afrikanischen Gesellschaften
- nahegebracht haben, die das Salazar-Regime immer nur als Banden von geschichtslosen
- Barbaren hinstellte. Von da an veränderten sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen
- meinen Kameraden und mir grundlegend. Schnell durchschauten wir die Lüge der
- Kolonialideologie, des Rassenkriegs und des faschistischen Blicks auf die Welt.«
- Das Zeugnis von Melo Antunes ist sehr wertvoll: Die geduldige, präzise, innovative
- wissenschaftliche Arbeit einiger Soziologen, die sich mit afrikanischen Gesellschaften
- befassten, hat zur Erhebung der Offiziere am 25. April beigetragen, zum Zusammenbruch
- des Kolonialreichs und zur Vernichtung der faschistischen Diktatur in Portugal.
- Der Soziologe entlarvt die ideologischen und sozialen Strategien der gesellschaftlichen
- Akteure. Er benennt die Klasseninteressen, denen diese Strategien implizit oder explizit
- dienen. Durch seine Analysen trägt er dazu bei, dass Strukturen des Überbaus einstürzen
- – Staaten, kulturelle Systeme, Geflechte von Produktionsbeziehungen –, die die freie
- Kreativität behindern, die Fähigkeit der Menschen, zu produzieren, zu träumen und Neues
- zu erfinden. Er hilft, die Legitimität der Herrschenden zu untergraben, gibt den
- Beherrschten eine Waffe für die unverzichtbare Mobilisierung und Erkenntnis in die Hand.
- Seine Kritik höhlt kulturelle Systeme, Religionen und Ideologien erst aus und zerstört sie
- dann. Systeme, die, indem sie die Kreativität des Menschen – seine Wünsche, seine
- Intuition – lähmen und somit seine Entfremdung verfestigen und ihn hindern, wie Marx
- sagte, dass er »sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne« bewegt. Auf
- diese Weise fällt das Bemühen des Intellektuellen, die Welt zu verstehen, so wie sie ist,
- und sie zu verändern, notwendig mit dem Wunsch der Völker nach Unabhängigkeit,
- Freiheit und Glück zusammen. Es fällt mit der kollektiven Suche nach Sinn zusammen, die
- unerlässlich für die Konkretisierung dieses Wunsches ist. Aber die moralische
- Verantwortung des Intellektuellen bleibt erdrückend. Der große Historiker der Pariser
- Kommune, Prosper-Olivier Lissagaray, ruft uns ins Gedächtnis: »Wer dem Volke falsche
- Revolutionslegenden erzählt und es durch Vorspiegelung falscher Tatsachen täuscht, ist
- ebenso strafbar wie der Geograph, der falsche Karten für den Seefahrer entwirft.«25
- ZWEITES KAPITEL
- Die Ungleichheit zwischen den Menschen
- I. Wie entsteht Ungleichheit?
- Im 18. Jahrhundert boten die Wettbewerbe der verschiedenen Akademien in Frankreich
- Autoren die Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen und vor allem ein wenig Geld zu
- verdienen. Jean-Jacques Rousseau war 1750 berühmt geworden mit seinem Diskurs über
- die Wissenschaften und die Künste. Darin hatte er die Frage der Akademie von Dijon
- beantwortet: »Hat die Wiederherstellung der Künste zur Läuterung der Sitten
- beigetragen?« Er gewann den Preis und bekam dafür 300 Livres. 1754 antwortete er auf
- eine weitere Frage der Akademie von Dijon: »Was ist der Ursprung der Ungleichheit
- zwischen den Menschen, und lässt sie sich vom Naturrecht ableiten?« Diesmal gewann er
- den Preis nicht, aber sein Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit
- zwischen den Menschen26 ist bis heute noch berühmter als sein Diskurs über
- Wissenschaften und Künste.
- Rousseau – ein schmächtiger, bleicher Mann von unglaublicher Vitalität – war damals 41
- Jahre alt und sehr arm. 1745 hatte er die Wäscherin Thérèse Levasseur kennengelernt,
- die lebenslang seine Gefährtin blieb. Ihre fünf gemeinsamen Kinder brachte Rousseau ins
- Findelhaus. Rousseaus Theorie der Ungleichheit nährt sich von seinen
- Kindheitserinnerungen. Sein Großvater war einer der Anführer der Arbeiteraufstände im
- Genfer Armenviertel Saint-Gervais. Sein Vater, ein Uhrmacher, starb im Exil.
- Hören wir Rousseau: »Ich unterscheide in der menschlichen Art zwei Arten von
- Ungleichheit: die eine, die ich natürlich oder physisch nenne, weil sie durch die Natur
- begründet wird, und die im Unterschied der Lebensalter, der Gesundheit, der Kräfte des
- Körpers und der Eigenschaften des Geistes oder Seele besteht; und die andere, die man
- moralische oder politische Ungleichheit nennen kann, weil sie von einer Art Konvention
- abhängt und durch die Zustimmung der Menschen begründet oder zumindest autorisiert
- wird.«27
- Und weiter: »Man kann nicht fragen, welches die Quelle der natürlichen Ungleichheit ist,
- weil die Antwort sich in der einfachen Definition des Wortes ausgesprochen fände. Noch
- weniger kann man danach suchen, ob es nicht eine essenzielle Verbindung zwischen den
- beiden Ungleichheiten gäbe; denn das hieße mit anderen Worten, zu fragen, ob jene, die
- befehlen, notwendigerweise mehr wert sind als jene, die gehorchen, und ob die Kraft des
- Körpers und des Geistes, die Weisheit oder die Tugend sich immer in selben Individuen
- im entsprechenden Verhältnis zur Macht oder zum Reichtum befinden: Eine Frage, die
- vielleicht dazu gut ist, unter Sklaven erörtert zu werden, wenn ihnen ihre Herren zuhören
- die sich aber nicht für vernünftige und freie Menschen schickt, welche die Wahrheit
- suchen.«28
- Die kollektive Existenz der Menschen ist überall von Ungleichheit geprägt. Es gibt eine
- physische, psychische, biochemische oder, um es in Rousseaus Worten auszudrücken,
- »natürliche« Ungleichheit zwischen den Menschen. Die körperlichen und geistigen Gaben
- sind ungleich verteilt. Dieser primären Ungleichheit stellt er eine zweite an die Seite, die
- gesellschaftliche Ungleichheit. Wo immer sie auftaucht, richtet sie schreckliche
- Verwüstungen an: »Nun ist in den Beziehungen zwischen Mensch und Mensch das
- Schlimmste, was dem einen widerfahren kann, sich dem Belieben des anderen
- ausgeliefert zu sehen.«29
- Der Urfehler, der Gründungsakt der gesellschaftlichen Ungleichheit, ist die Einführung
- des Privateigentums. Rousseau schildert sie folgendermaßen:
- »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies
- ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre
- Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not
- und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der
- die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen
- zugerufen hätte: ›Hütet euch, auf diese Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr
- vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.‹«30
- Die Idee, dass die Ursache aller gesellschaftlichen Missstände, der Urfehler, die
- Einführung des Privateigentums ist, hat sich über die Jahrhunderte gehalten. Pierre-
- Joseph Proudhon schrieb in seiner 1846 erschienenen Philosophie des Elends: »Eigentum
- ist Diebstahl.« Und ein Jahrhundert später formulierte Max Horkheimer: »Reichtum ist
- unterlassene Hilfeleistung.«
- Rousseau kam in verschiedenen Phasen seines Lebens immer wieder auf die
- verheerenden Folgen der gesellschaftlichen Ungleichheit zurück und prangerte sie mit der
- gleichen Heftigkeit an: »Da die Mächtigsten oder die Elendsten sich aus ihrer Stärke oder
- aus ihren Bedürfnissen eine Art Recht auf das Gut anderer machten, das – ihnen zufolge –
- dem Eigentumsrecht gleichwertig war, zog die Zerstörung der Gleichheit so die
- fürchterlichste Unordnung nach sich: Die Usurpationen der Reichen, die Räubereien der
- Armen, die zügellosen Leidenschaften aller erstickten das natürliche Mitleid und die noch
- schwache Stimme der Gerechtigkeit und machten so die Menschen geizig, ehrsüchtig und
- böse. Zwischen dem Recht des Stärkeren und dem Recht des ersten Besitznehmers erhob
- sich ein fortwährender Konflikt, der nur mit Kämpfen und Mord und Totschlag endete. Die
- entstehende Gesellschaft machte dem entsetzlichsten Kriegszustande Platz: Das
- Menschengeschlecht, herabgewürdigt und niedergeschlagen, nicht mehr in der Lage, auf
- seinem Weg umzukehren oder auf die unglückseligen Errungenschaften, die es gemacht
- hatte, zu verzichten, und durch den Mißbrauch der Fähigkeiten, die es ehren, nur an
- seiner Schande arbeitend, brachte sich selbst an den Rand seines Ruins.«31
- Es geht hier nicht um die individuelle Entscheidung zwischen Mitgefühl und Bösartigkeit.
- Der Fluch der strukturellen gesellschaftlichen Ungleichheit wirkt auf alle, auf den
- anständigen Menschen genauso wie auf den Bösewicht: »Die rechtschaffensten Leute
- lernten, es unter ihre Pflichten zu rechnen, ihre Mitmenschen umzubringen; schließlich
- sah man, wie sich die Menschen zu Tausenden niedermetzelten, ohne zu wissen weshalb;
- und es wurden mehr Mordtaten an einem einzigen Gefechtstag begangen und mehr
- Greuel bei der Einnahme einer einzigen Stadt, als im Naturzustand während ganzer
- Jahrhunderte auf der gesamten Erdoberfläche begangen worden waren. Dies sind die
- ersten Wirkungen, die man aus der Teilung des Menschengeschlechts in verschiedene
- Gesellschaften bei flüchtigem Hinsehen entstehen sieht.«32
- Und an anderer Stelle heißt es: »Ich sah jene weiten, unglücklichen Gegenden [Afrikas],
- die zu nichts anderm bestimmt scheinen, als die Welt mit Horden von Sklaven zu
- bedecken. Bei ihrem schimpflichen Anblick wandte ich die Augen vor Verachtung,
- Entsetzen und Mitleid ab, und da ich den vierten Teil meiner Mitmenschen in Vieh
- verwandelt sah, um den andern zu dienen, seufzte ich darüber, daß ich ein Mensch bin.«33
- In Briefen zu seinem Diskurs über die Ungleichheit findet man auch folgende Sätze: »Die
- wichtigste Quelle des Übels ist die Ungleichheit […] Wir brauchen Mehl, um unsere
- Perücken zu pudern, deshalb haben so viele Menschen kein Brot.«
- 1762 brachte Rousseau den Gesellschaftsvertrag und Émile heraus, zwei Werke,
- derentwegen ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde und er aus Genf, wo beide Bücher
- verbrannt wurden, fliehen musste. Der Gesellschaftsvertrag beginnt mit den Worten:
- »Der Mensch ist frei geboren, und überall ist er in Ketten. Mancher hält sich für den Herrn
- seiner Mitmenschen und ist trotzdem mehr Sklave als sie.«
- Maximilien Robespierre greift diesen zentralen Gedanken revolutionären Denkens auf:
- »Wer nicht Herr seiner selbst ist, muss Sklave von anderen sein. Das gilt für die Völker
- genauso wie für die einzelnen Menschen.«34
- Die moderne Sozialpsychologie ergänzt die schwierige Frage nach der natürlichen und
- der gesellschaftlichen Ungleichheit und ihren jeweiligen Ursprüngen und Konsequenzen
- noch um eine weitere, komplexere Differenzierung.
- So unterscheidet der Soziologe Pierre Naville zwischen interindividueller und
- intraindividueller Ungleichheit. Die interindividuelle Ungleichheit ist die klassische
- doppelte Ungleichheit, die »natürliche« und institutionelle (oder gesellschaftliche),
- zwischen Individuen derselben Gesellschaft und/oder unterschiedlichen Gesellschaften.
- Die intraindividuelle Ungleichheit wurzelt in einer empirisch überprüfbaren
- Voraussetzung: Kein Mann, keine Frau ist psychologisch, nervlich-psychisch einheitlich.
- Auf ungleiche, diskriminierende soziale Situationen reagieren wir unterschiedlich; die eine
- Ungleichheit ertragen wir, die andere hingegen ist für uns unerträglich. Die
- Toleranzschwelle, die »Objekte« der Toleranz, variieren von einem Individuum zum
- anderen. Sie variieren auch mit dem Alter und je nach den Erfahrungen, die jemand
- gemacht hat, und den Spuren, die sie hinterlassen haben. Jeder von uns kennt innere
- Ungleichheiten, die sich je nach seiner inneren Verfassung ändern. Mit anderen Worten:
- Eine Art Schichtung unserer Subjektivität koexistiert dialektisch und konflikthaft mit der
- gesellschaftlichen und/oder natürlichen Schichtung, deren Objekt wir sind.35
- Eine weitere Komplikation: Der Proletarier, fremdbestimmt in seiner Arbeit, kulturell in
- seinem geistigen Leben abhängig von der herrschenden Ideologie, die ihm ihre Bilder
- aufzwingt, kann – in einer patriarchalischen Gesellschaft – gegenüber seiner Frau und
- seinen Kindern eine beherrschende Stellung einnehmen. Umgekehrt kann es sein, dass in
- einem Land der Peripherie ein Großgrundbesitzer oder Bergwerkbesitzer, der praktisch
- unangefochten über seine Arbeiter herrscht und sie ausbeutet, bei seinem Einkommen
- von Marktpreisen abhängig ist (den Einkaufspreisen für Rohstoffe, für Technologie, von
- Wechselkursen und so weiter), die von den herrschenden Klassen des Zentrums diktiert
- werden.
- Trotz Rousseaus Warnung konstruieren rechtsgerichtete Autoren wie beispielsweise
- Alain de Benoist, ausgehend von der Feststellung, dass es eine natürliche Ungleichheit
- und eine institutionelle Ungleichheit gibt, eine Theorie, die jeder empirischen Grundlage
- entbehrt: Die institutionelle Schichtung sei nur die logische Konsequenz oder, schlimmer
- noch, die simple Umsetzung der natürlichen Schichtungen. Diese Hypothese widerspricht
- den Fakten. Jede gesellschaftliche Abstufung ist ein Akt der Gewalt. Sie ist Ausdruck der
- strukturellen Gewalt der Gesellschaft.
- Welche Formen die gesellschaftlichen Schichtungen auch immer annehmen, sie lösen
- mehr oder weniger heftigen Widerstand aus. Niemand, auf keinem Kontinent, zu keiner
- Zeit, erträgt auf Dauer Ungleichheit.
- II. Die kannibalische Weltordnung
- Ich erinnere mich an eine Nacht in einem Hüttendorf auf der steinigen Hochebene über
- der Pazifikküste in Guatemala. Nie werde ich die ausgemergelten, zahnlosen Maya-Mütter
- vergessen, deren schöne schwarze Augen im Widerschein der Kohlebecken schimmerten.
- Die meisten waren nicht einmal dreißig Jahre alt, wirkten aber wie Achtzigjährige. Ihre
- vielen Kinder mit den neugierigen Augen warteten ungeduldig, dass die wenigen
- Maiskolben auf den Kohlebecken endlich gar waren und von den ältesten Männern an die
- versammelte Menge verteilt wurden. Fast alle Kinder waren zu Skeletten abgemagert. In
- der Sierra de Chocotan hat die chronische, schwere Unterernährung der Maya
- schreckliche Verwüstungen angerichtet. Laut UNICEF starben 2013 in Guatemala 98000
- Kinder unter zehn Jahren an Hunger oder an Krankheiten infolge von Unterernährung.
- Heute ist der deutlichste Ausdruck der Ungleichheit zwischen den Menschen ganz
- offensichtlich die kannibalische Wirtschaftsordnung auf unserem Planeten.
- Nach den Weltentwicklungsindikatoren 2013 der Weltbank verfügen 16 Prozent der
- Weltbevölkerung über 83 Prozent der Vermögenswerte auf dem Planeten. Im Jahr 2001
- gab es in den westlichen Ländern 497 Dollar-Milliardäre, die zusammen 1500 Milliarden
- Dollar besaßen. Zehn Jahre später, 2010, war ihre Zahl auf 1210 gestiegen, und ihr
- Vermögen summierte sich auf 4500 Milliarden Dollar. Das Vermögen dieser 1210
- Milliardäre zusammen übersteigt das Bruttoinlandsprodukt eines wirtschaftlich so starken
- Landes wie Deutschland.
- Der Zusammenbruch der Finanzmärkte 2007/2008, der durch die Börsenspekulationen
- der Beutejäger ausgelöst wurde, hat die Existenz von Millionen Familien in Europa,
- Nordamerika, Japan und anderen Regionen zerstört. Nach Angaben der Weltbank wuchs
- die Zahl der hungernden Menschen infolge der Finanzkrise um 69 Millionen. In den
- Ländern des Südens wurden überall neue Massengräber ausgehoben. Doch wenig später,
- 2013, lag das Vermögen der sehr Reichen um das Eineinhalbfache über dem Stand vor
- der Krise.
- Der Anteil der 42 ärmsten Länder am Welthandel betrug 1970 1,7 Prozent. 2014 waren
- es nur noch 0,4 Prozent.
- Die neuen kapitalistischen Feudalherrschaften wachsen und gedeihen. Die
- Eigenkapitalrendite der 500 größten multinationalen Konzerne der Welt lag seit 2001 im
- Durchschnitt bei 15 Prozent pro Jahr in den Vereinigten Staaten und bei 12 Prozent in
- Frankreich.
- Die finanziellen Mittel dieser Gesellschaften übersteigen bei weitem ihre
- Investitionsbedürfnisse. Und was machen die neuen »Feudalherren« in dieser Situation?
- Sie kaufen in großem Stil eigene Aktien an der Börse, schütten enorme Dividenden an
- ihre Aktionäre aus und zahlen ihren Managern astronomische Boni.
- Die 374 größten multinationalen Konzerne, die im S&P-Index zusammengefasst sind,
- haben heute Finanzreserven von zusammen 655 Milliarden Dollar. Die Summe hat sich
- seit 1999 verdoppelt. Das größte Unternehmen der Welt, Microsoft, hat 60 Milliarden
- Dollar auf der hohen Kante.
- Die UNCTAD (Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen), die 1964
- als Gegengewicht zur Organisation der reichen Länder, dem GATT
- (Welthandelsabkommen) und später der WTO (Welthandelsorganisation) gegründet
- wurde, versammelt in erster Linie die sogenannten »Entwicklungsländer«. Bei ihrer
- Gründung trugen die Mitgliedsländer zusammen eine Schuldenlast von 54 Milliarden
- Dollar. Bis heute ist sie auf 2000 Milliarden Dollar angewachsen.
- Die Weltbank schätzt die Zahl der Menschen, die in »extremer Armut« leben, das heißt,
- weniger als 1,25 Dollar pro Tag zur Verfügung haben, auf 1 Milliarde. Jedes Jahr erstellt
- die amerikanische Geschäftsbank Merrill Lynch in Zusammenarbeit mit der
- Unternehmensberatung Cap Gemini eine Liste der »Reichen«, das heißt der Menschen,
- die ein Vermögen von mehr als 10 Millionen Dollar besitzen. Aus der Liste geht hervor,
- dass die Reichen vor allem in Nordamerika und Europa leben und dass ihre Zahl in China,
- Südkorea, Japan, Indonesien, Indien, Russland und Brasilien, nicht zu vergessen die
- Ölstaaten am Golf, rasch wächst.
- Und Afrika? In den meisten Ländern des afrikanischen Kontinents ist die innere
- Kapitalakkumulation bekanntlich schwach, es fließen praktisch keine Steuern, und die
- öffentlichen Investitionen sind unzureichend. Doch die Zahl der Dollarmillionäre, die aus
- einem der 54 afrikanischen Länder stammen, steigt ebenfalls rasant. Heute sind es
- bereits mehr als 100000. Im Jahr 2013 besaßen die reichsten Afrikaner gemeinsam fast
- 950 Milliarden Dollar.
- Auch innerhalb der Länder hat die Einkommensungleichheit in den letzten dreißig Jahren
- oft dramatisch zugenommen, das gilt für Europa ebenso wie für Nord- und Südamerika,
- für Asien und Afrika. Ich illustriere das an zwei Beispielen aus der jüngsten Geschichte
- Lateinamerikas.
- Nicaragua ermittelt jährlich den Preis der canesta básica, des Warenkorbs mit den
- wichtigsten Haushaltsprodukten. Er enthält die Menge der 24 Lebensmittel, die eine
- sechsköpfige Familie in einem Monat zum Leben braucht. Im März 2013 lag der Preis der
- canesta básica bei 6650 Córdobas pro Monat, das sind knapp 250 Dollar. Aber der
- gesetzliche monatliche Mindestlohn eines Landarbeiters betrug zur selben Zeit nur 2000
- Córdobas, umgerechnet 80 Dollar.
- Gleichzeitig verstärkten sich in vielen Ländern die Konzentration und Monopolisierung
- von Ackerland in den Händen nationaler oder internationaler Finanzkonzerne. Nur ein
- Beispiel: In Guatemala besaßen 2013 1,86 Prozent der Bevölkerung 57 Prozent des
- Ackerlandes. In Guatemala gibt es 47 landwirtschaftliche Großbetriebe mit jeweils 3700
- Hektar oder mehr, während 90 Prozent der Bauern mit 1 Hektar oder weniger
- zurechtkommen müssen.
- Das durch Unterernährung und Hunger verursachte Massaker an Millionen Menschen ist
- heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends, ein skandalöser Ausdruck des Kampfs der
- Reichen gegen die Armen, eine Ungeheuerlichkeit, eine Absurdität, die durch nichts zu
- rechtfertigen und durch keine Politik zu legitimieren ist. Es ist ein unzählige Male
- wiederholtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit.36
- Heute stirbt alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger oder einer durch
- Unterernährung verursachten Krankheit. Im Jahr 2014 starben mehr Menschen durch
- Hunger als in sämtlichen Kriegen, die in diesem Jahr geführt wurden.
- Wie steht es mit dem Kampf gegen den Hunger? Er lässt nach. Im Jahr 2001 starb alle
- sieben Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger. 37 Im selben Jahr wurden 826
- Millionen Menschen durch die Folgen von schwerer, chronischer Unterernährung zu
- Invaliden. Heute sind es 841 Millionen.38
- Hunger bedeutet schweres Leid, Schwächung der motorischen und mentalen
- Fähigkeiten, Ausschluss aus dem aktiven Leben, gesellschaftliche Marginalisierung,
- Verlust der wirtschaftlichen Autonomie, Angst vor dem nächsten Tag. Er endet in einem
- schrecklichen Todeskampf.
- Weltweit sterben jedes Jahr rund 74 Millionen Menschen, 1 Prozent der
- Weltbevölkerung, an den verschiedensten Todesursachen. 2013 starben 14 Millionen an
- Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen.
- Damit ist Hunger die Haupttodesursache auf unserem Planeten. Und der Hunger ist von
- Menschen gemacht.
- Aus dem alljährlich vorgelegten Bericht zur Ernährungsunsicherheit der
- Welternährungsorganisation geht hervor, dass die Landwirtschaft weltweit mit dem
- erreichten Niveau ihrer Produktivkräfte normalerweise – durch die Zufuhr von 2200
- Kilokalorien täglich für einen Erwachsenen – 12 Milliarden Menschen ernähren könnte,
- fast das Doppelte der gegenwärtigen Weltbevölkerung. Das durch den Hunger
- verursachte Massaker an Millionen Menschen hängt deshalb heute nicht damit zusammen,
- dass zu wenig Nahrungsmittel produziert werden, sondern mit dem Zugang zu den
- Nahrungsmitteln. Wer genug Geld hat, kann essen und leben; wer nicht genug Geld hat,
- leidet an Unterernährung, den Krankheiten, die eine Folge davon sind, und an Hunger.
- Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.
- Mächtige Industriestaaten haben damit begonnen, hunderte Millionen Tonnen Mais und
- Weizen zu verbrennen, um Biotreibstoffe herzustellen (Bioethanol und Biodiesel). Nach
- dem Börsenkrach 2007/2008 haben die großen Spekulanten – die Hedgefonds, die
- internationalen Investmentbanken und andere – sich den Warenbörsen zugewandt, auf
- denen landwirtschaftliche Rohstoffe gehandelt werden. Dort haben sie gigantische
- Gewinne gemacht, indem sie weltweit die Preise von Grundnahrungsmitteln explodieren
- ließen. Daher ist Ackerland, vor allem in Afrika, Südasien und Mittelamerika, selbst zum
- heiß begehrten Spekulationsobjekt geworden. 2013 erwarben multinationale
- Finanzoligarchien 221 Millionen Hektar Ackerland in den Ländern der südlichen
- Hemisphäre. Und die Folge?
- Auf den Flächen, die so in ihren Besitz gelangt sind – durch unbefristete Pachtverträge,
- durch »Kauf« zu lächerlichen Preisen, durch Korruption –, produzieren die ausländischen
- Investoren Rosen, Gemüse, Kartoffeln und vieles mehr, was für die Märkte in den
- nördlichen Ländern mit ihrer hohen Kaufkraft bestimmt ist. Sie importieren unterbezahlte
- Wanderarbeiter aus Sri Lanka, Pakistan und Nepal und vertreiben die einheimischen
- Bauernfamilien. Wohin? In die Slums der Megastädte, wo Massenarbeitslosigkeit,
- Kinderprostitution und die Ratten herrschen.
- III. Wie entsteht ein Klassenbewusstsein?
- Wenn die Unterdrückung zunimmt
- Werden viele entmutigt
- Aber sein Mut wächst.
- Er organisiert seinen Kampf
- Um den Lohngroschen, um das Teewasser
- Und um die Macht im Staat.
- Er fragt das Eigentum:
- Woher kommst du?
- Er fragt die Ansichten:
- Wem nützt ihr?
- Wo immer geschwiegen wird
- Dort wird er sprechen
- Und wo Unterdrückung herrscht und von
- Schicksal die Rede ist
- Wird er die Namen nennen […]
- Bertolt Brecht, Lob des Revolutionärs39
- Jede gesellschaftliche Klasse hat zugleich eine objektive und eine subjektive Dimension.
- Die Produktionsverhältnisse in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung bestimmen
- die objektive Realität einer Klasse. Ab einem bestimmten Punkt in der Entwicklung einer
- Produktionsweise teilen die Menschen konkrete Bedingungen der Produktion, des
- Wohnens, der Ernährung und der Abhängigkeit. Diese Erfahrung der objektiven
- Gemeinsamkeit der materiellen Lebensbedingungen – zwischen Menschen, die sich
- kennen oder nicht, die miteinander sprechen oder nicht – führt zur Entstehung einer
- kollektiven Erkenntnis ihrer Situation, mit anderen Worten: zu einem Klassenbewusstsein.
- Mit dieser Frage befasst sich vor allem ein Werk: Geschichte und Klassenbewußtsein von
- Georg Lukács, erstmals veröffentlicht 1923.
- Der Autor von Die Seele und die Formen (1911) sowie der Theorie des Romans (1916)
- schloss sich 1919 der kommunistischen Bewegung in Budapest unter der Führung von
- Béla Kun an. Mit 34 Jahren wurde er Volkskommissar für Kultur der ungarischen
- Räterepublik. Als diese von den Truppen des Admirals Miklós Horthy blutig
- niedergeschlagen wurde, gelang Lukács die Flucht nach Deutschland.
- Lukács hat eine Typologie erstellt, die hilfreich ist, um die Probleme des Begriffs
- Klassenbewusstsein zu erfassen.40
- Lukács schlägt in seiner Theorie des Klassenbewusstseins drei Kategorien vor: das
- mögliche Klassenbewusstsein, das Klassenbewusstsein an sich, das Bewusstsein der
- Klasse für sich. Hier eine kurze Definition aller drei:
- – Das mögliche Klassenbewusstsein bildet sich nur punktuell. Es taucht bei besonderen,
- isolierten Konflikten auf. Die Menschen, die einen solchen Konflikt auf der Grundlage
- der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Klasse erleben, werden sich ihrer
- gemeinsamen Situation bewusst. Noch präziser formuliert: Sie werden sich bewusst,
- dass das, was ihnen allen widerfährt, die Folge bestimmter, gemeinsam erlebter
- materieller Bedingungen ist, die ihre gesellschaftliche Existenz prägen und ihren
- Handlungsspielraum begrenzen. Das mögliche Klassenbewusstsein ist ein
- Zwitterwesen: Es hat eine dauerhafte objektive Realität, die Klassenzugehörigkeit, und
- es hat eine nicht dauerhafte subjektive Realität, das punktuelle Zusammenfallen
- autochthoner Intersubjektivitäten. Das mögliche Bewusstsein ist vergänglich, und es ist
- rekurrent. Anders ausgedrückt: Es ist latent vorhanden, und nur manchmal wird es
- manifest. Dass es nicht kontinuierlich existiert, kommt daher, dass es nur in
- bestimmten krisenhaften Situationen, bei der Konfrontation mit bestimmten Gegnern,
- auftaucht, bei einem Streik in einem bestimmten Sektor, in Bergwerken oder Fabriken
- zum Beispiel. Es ist rekurrent insofern, als es sich immer wieder neu bildet, wie eine
- Figur der kollektiven Erinnerung, wenn eine Krise oder eine Aggression des gleichen
- Typs auftritt. Die symbolischen Instrumente des möglichen Klassenbewusstseins sind
- heterogen. Es erinnert an einen zerbrochenen Spiegel, dessen tausend Teile dem
- Bewusstsein der Einzelnen bruchstückhafte, individuelle, unterschiedliche Reflexe
- zuwerfen. Das mögliche Klassenbewusstsein setzt der symbolischen Gewalt des
- Herrschenden weder eine allgemeine Ablehnung noch eine alternative Totalität
- entgegen.
- – Das Klassenbewusstsein an sich hingegen ist eine kollektive Subjektivität von
- dauerhaftem Charakter. Die Menschen, die an diesem kollektiven Über-Ich teilhaben,
- die davon durchdrungen sind, sich davon motivieren lassen, haben somit ein klares
- Bewusstsein, zu einer gemeinsamen Klasse zu gehören – durch ihre Eingliederung in
- eine Produktionsmaschinerie materieller und symbolischer Güter. Sie haben das
- Bewusstsein, die objektiven materiellen Bedingungen dieser beiden Produktionsformen
- zu teilen. In den Ländern der Dritten Welt besteht eine besondere Situation: Der innere
- Klassenkampf ist dort in gewisser Weise prädeterminiert durch die ausländische
- imperialistische Beherrschung, die allen Klassen des unterworfenen Volks
- aufgezwungen wird. Das Volk an der Peripherie verwandelt sich angesichts der
- imperialistischen Oligarchie des Zentrums in eine einzige abhängige Klasse. Das
- Bewusstsein an sich ist das alternative Bewusstsein, die antinomische Identität, die das
- beherrschte Volk dem kollektiven Über-Ich, dem System der symbolischen Gewalt des
- Herrschenden entgegenstellt. In den Gesellschaften der Dritten Welt waren und sind
- die nationalen Befreiungsbewegungen die wichtigsten Träger dieses
- Klassenbewusstseins an sich.
- – Das Klassenbewusstsein für sich stellt eine neue Phase in der Entwicklung der
- Menschheit dar, die noch nicht erreicht ist, allenfalls gelegentlich aufscheint. Karl Marx
- schreibt in diesem Zusammenhang: »Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die
- Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese
- Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese
- Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst.«41
- Erst in einer späteren Phase fallen die letzten Schranken zwischen den Menschen, der
- freie Zusammenschluss der Produzenten entscheidet in jedem Augenblick über die
- Investition der gesellschaftlichen Kräfte und der Arbeit eines jeden Einzelnen. Wenn
- sich das Klassenbewusstsein für sich durchgesetzt hat, werden die hierarchischen
- Beziehungen zwischen den Menschen verschwinden. An ihre Stelle werden
- ausschließlich wechselseitige, jederzeit reversible Beziehungen treten. Der Mensch wird
- sich frei mit der Hilfe der anderen Menschen konstituieren. Die unvollständige
- Subjektivität eines jeden Einzelnen wird endlich in einem gemeinsamen menschlichen
- Projekt aufgehen, vor allem durch die Befriedigung der Bedürfnisse eines jeden. Die
- einzigen Maßstäbe sind die Entfaltung aller und das Glück eines jeden. Das
- Klassenbewusstsein für sich ist Teil einer konkreten Utopie, eines »Tagtraums« der
- Menschheit, um den Begriff von Ernst Bloch aufzugreifen, mit dem er diese Utopie
- bezeichnete.
- Der argentinische Arzt und Kommandant der Befreiungsarmee Boliviens, Ernesto Che
- Guevara, verkörpert dieses Bewusstsein für sich. Im September 1967 befanden sich die
- Überlebenden seiner Guerillatruppe militärisch in einer desolaten Lage, waren
- gesundheitlich angeschlagen und hatten nicht genug zu essen. Die Eliteregimenter der
- bolivianischen Diktatur, unterstützt von zahlreichen Agenten der nordamerikanischen CIA,
- hatten das trockene, dünn besiedelte Gebiet im Südosten Boliviens, wo die
- Guerillakämpfer seit mehr als zwei Jahren operierten, nahezu vollständig eingeschlossen.
- Che Guevara litt seit seiner Kindheit an schwerem Asthma. An der caratera central, die La
- Paz und den Altiplano mit Santa Cruz und dem Oriente verbindet, befand sich in dem
- kleinen Ort Samaipata eine Apotheke. Er ritt an der Spitze seines Trupps dorthin und
- kaufte die Medikamente, die er dringend benötigte.
- Hinter der breiten, asphaltierten Straße beginnt der Dschungel. Etwas weiter entfernt
- erstrecken sich die Yungas, dichte Bergwälder, und dahinter liegen die Siedlungen der
- Bergarbeiter, die sich damals erhoben hatten. Mehrere Guerillakämpfer drängten Che, die
- große Straße zu überqueren, in dem Wald unterzutauchen und sich zu den Bergarbeitern
- durchzuschlagen. Che lehnte ab. Gequält von Hustenanfällen und Schmerzen, stieg er
- wieder auf sein Pferd und kehrte in die Falle im Tal des Rio Grande zurück.
- Einige Wochen später zerschmetterte ihm in der Quebrada del Yuro, einem engen Tal
- zwischen zwei Bergketten, die Kugel eines bolivianischen Soldaten den rechten Arm. Er
- wurde gefangen genommen und mit zwei Kameraden in die Schule des kleinen Dorfs La
- Higuera gebracht. Dort wurde er an den einzigen Tisch im Klassenzimmer gefesselt und
- in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 1967 von Unteroffizier Mario Teran mit einer
- Maschinengewehrsalve erschossen.
- Che Guevara war in Samaipata umgekehrt und in das umzingelte Tal zurückgekehrt,
- weil er die hungernden Bauern und ihre Familien, aus deren Mitte er seinen Kampf
- geführt hatte, nicht im Stich lassen wollte. Er hatte ihnen sein Wort gegeben, dass er bis
- zum Tod für ihre Befreiung und die Rückgabe ihres Landes kämpfen würde. Er wollte ihre
- Hoffnung nicht zerstören.42
- Evo Morales, der 2005 zum Staatspräsidenten Boliviens gewählt wurde und damit zum
- ersten Indio-Präsidenten auf dem südamerikanischen Subkontinent, ist der direkte Erbe
- Che Guevaras. Eine außerordentliche Welle der Solidarität der indigenen Bevölkerung des
- Altiplano und des Oriente trug ihn ins Amt. Im Mai 2006 verstaatlichte er 221
- multinationale ausländische Öl-, Gas- und Bergbaukonzerne und beendete damit beinahe
- fünfhundert Jahre kolonialer Ausplünderung. Heute sind die Völker Boliviens dank der
- reichen Bodenschätze in ihrem Land dabei, die uralten Geißeln zu überwinden: die
- chronische Unterernährung, den Analphabetismus, die Bodenerosion, die
- wiederkehrenden Epidemien, die Zerrüttung ihrer staatlichen Institutionen. Bei praktisch
- allen öffentlichen Veranstaltungen ist die Erinnerung an das Opfer Che Guevaras in
- Bolivien gegenwärtig.
- Das kollektive Bewusstsein für sich durchdringt bis heute die bolivianische Revolution.
- Nachtrag
- Eine Form des Bewusstseins entzieht sich der wissenschaftlichen Analyse: das individuelle
- Gewissen, das unhintergehbar und einzigartig ist. Georg Lukács’ Typologie erfasst es
- nicht, das Vokabular der empirisch-rationalistischen Sozialwissenschaften kennt es nicht.
- Aber weil es der wahre innerste Kern des Menschseins ist, hat es die Philosophen der
- Aufklärung sehr beschäftigt. Für Jean-Jacques Rousseau war es die höchste souveräne
- Instanz, das endgültige soziale Gericht. Zu ermöglichen, dass die »unsterbliche und
- himmlische Stimme«43 des Gewissens sich frei ausdrücken kann, galt ihm als die edelste
- Aufgabe der Philosophen. Eine Generation später beschwor der englische Dichter George
- Byron, ein glühender Anhänger Rousseaus, diese innerste souveräne Macht. Er empfand
- sie, als er auf einer Pilgerfahrt auf den Spuren Rousseaus in Clarens Schloss Chillon
- besuchte und dort den Kerker, in dem man Bonivard eingesperrt hatte, einen Helden des
- Genfer Unabhängigkeitskampfs gegen Savoyen: »Eternal Spirit of the Chainless Mind!
- Brightest in Dungeons, Liberty!«44 (»Ewiges Genie des Geistes ohne Ketten! In den
- Verliesen leuchtest du am hellsten, Freiheit!«)
- Jedes Individuum ist immer das Produkt einer kollektiven und spezifischen,
- kontingenten, historischen, abhängigen Sozialisierung, aber der innerste Kern, das
- absolut Singuläre, entzieht sich der Klassifizierung. Somit ist das eigene Gewissen, das
- die marxistischen Analytiker gern vernachlässigen, eine mächtige historische Kraft.
- DRITTES KAPITEL
- Die Irrwege der Ideologien
- Die Menschen benötigen einen Sinn der Geschichte wie die Zugvögel einen Sinn der Orientierung. Was auch immer die
- konjunkturellen Umstände sind, der Mensch kann sich nicht mit einer Existenz ohne Obsessionen und ohne Utopie
- begnügen.
- Régis Debray, Vorwort zu Victor Serge Carnets45
- I. Was ist eine »richtige« Ideologie, und was ist eine
- »falsche«?
- Der sozialistische Staatsmann und Philosoph Jean Jaurès erzählt folgende Geschichte:
- »An einem Winterabend ergriff mich in dieser riesigen Stadt so etwas wie ein soziales
- Schaudern. Mir schien es, als hätten die Tausende und Abertausende Menschen, die
- aneinander vorbeigingen, ohne sich zu kennen, eine zahllose Menge einsamer Phantome,
- keinerlei Bindungen. Und ich fragte mich mit einer Art unpersönlichem Schrecken, wie all
- diese Wesen die ungleiche Verteilung des Guten und des Schlechten hinnahmen und wie
- es kam, dass die gewaltige gesellschaftliche Struktur nicht zerfiel. Ich sah keine Ketten an
- ihren Händen und Füßen und dachte: Durch welches Wunder ertragen diese Tausende
- leidender, geschundener Menschen all das? […] Die Kette befand sich im Herzen, das
- Denken war gefesselt, das Leben hatte dem Geist ihre Formen eingeprägt, die
- Gewohnheit hatte sie fixiert. Die gesellschaftliche Ordnung hatte die Menschen geformt,
- sie war in ihnen, in gewisser Weise war sie zu ihrer Substanz geworden, und sie lehnten
- sich nicht gegen die Realität auf, weil sie sich mit ihr verwechselten. Der Mann, der da
- schlotternd vorbeiging, hätte es wohl für weniger unvernünftig und weniger schwierig
- gehalten, alle Steine der großen Stadt Paris in die Hand zu nehmen, um sich ein Haus zu
- erbauen, als das gewaltige, niederdrückende und schützende gesellschaftliche System in
- Frage zu stellen, in dem er sich in einer Ecke nach seiner Gewohnheit und in seinem
- Elend eingerichtet hatte.«46
- In der Geschichte spielen Ideologien eine oft entscheidende Rolle. Was ist eine Ideologie?
- Der Historiker Georges Duby bezeichnet Ideologien als »diskursive polemische
- Formationen«; die Ideologie ist »keine Widerspiegelung des Erlebten, sie ist vielmehr ein
- Entwurf, Einfluß auf das Erleben zu nehmen. Soll das Handeln überhaupt eine Chance
- haben, wirksam zu sein, darf der Unterschied zwischen dem imaginären Bild und den
- ›Realitäten‹ des Lebens nicht allzu groß sein. Doch insofern dem Diskurs Gehör geschenkt
- wird, kristallisieren sich alsbald neue Haltungen heraus, welche die menschliche
- Wahrnehmung der Gesellschaft verändern.«47
- Eine Ideologie ist ein Symbolsystem, das auf der Basis einer eigenen Logik errichtet ist
- und dem eine kohärente diskursive Vernunft innewohnt. Der Begriff »Symbolsystem«
- bezeichnet eine Gesamtheit von Bedeutungen, Werten, Ideen, Konzepten,
- Glaubensüberzeugungen und Vorstellungen.
- Jede Ideologie übernimmt damit eine Aufgabe: die Aufgabe, die Welt zu »deuten«.
- Auf die Frage, was eine »richtige« und was eine »falsche« Ideologie sei, geben Duby und
- Vladimir Jankélévitch48 überzeugende Antworten. »Falsch« ist eine Ideologie, wenn sie
- einer Strategie der Entfremdung, der Unterdrückung, der Regression des Menschen dient.
- Befördert sie jedoch die Emanzipation, die Selbstbestimmung, die Menschwerdung eines
- Menschen – dann ist sie »richtig«. In seinem berühmten Dokumentarfilm »Le chagrin et la
- pitié« (1969) gibt Marcel Ophüls dem Anstaltsgeistlichen des Zuchthauses von Nancy,
- einem katholischen Priester, das Wort. Dieser hatte während der deutschen Besatzung
- viele zum Tode verurteilte Menschen zur Hinrichtung in den Gefängnishof, zur Guillotine,
- geführt. Der französische geheime Widerstand war stark und lebendig in Lothringen. Der
- Priester führte viele Widerstandskämpfer – Männer und Frauen allen Alters, aller sozialen
- Klassen – zur Guillotine. Die allermeisten unter ihnen starben mutig, Ihre letzten Worte
- waren häufig: »Vive la France!« Dann legten sie den Hals auf den Block.
- 1944 kerkerten die Behörden des befreiten Paris im selben Zuchthaus die abgeurteilten
- Folterknechte der Gestapo und die Massenmörder der SS ein. Derselbe Priester führte
- auch sie zum Schafott. Viele Nazi-Verbrecher wandten sich nach Osten, nach Berlin,
- hoben den Arm zum Führergruß und riefen: »Heil Hitler!« Die allermeisten starben mutig.
- Die einen – die Widerstandskämpfer – waren beseelt von einer »richtigen« Ideologie,
- jener des Patriotismus, des Widerstands gegen das Verbrechen, der Hoffnung auf
- Befreiung, der Emanzipation des Menschen. Die anderen – die Gestapo-Folterer und SSMörder
- – starben im Dienste einer Ideologie der Menschenverachtung, der rassistischen
- Hybris, der Verehrung von Gewalt und Tod.
- Eine Ideologie ist niemals harmlos. Entweder befreit sie, oder sie unterdrückt. Wenn sie
- in einer Machtbeziehung eingesetzt wird, verschiebt sie mit ihrem Gewicht die
- Machtverhältnisse. Darum muss man wissen, im Dienst welcher Strategien, welcher
- Mächte und welcher Interessen sie eingesetzt wird. Dazu zwei Beispiele:
- Das erste Beispiel hat mit den Begräbnisritualen der katholischen Kirche zu tun. In
- vielen Ländern Lateinamerikas, Südeuropas und Asiens übt die katholische Kirche eine
- große – und meistens rückwärtsgewandte – Macht über Geist und Körper der Menschen
- aus. Die Manipulation des Todes, die Begräbnisrituale bilden die Grundlage der Macht.
- Nur ein mit dem Segen des Priesters bestatteter Toter hat die Aussicht, ins Paradies zu
- gelangen. Den anderen droht das Fegefeuer oder die Hölle! Jeder Mensch hat Angst vor
- dem Tod. Die Manipulation des Todes durch die Kirche unterwirft die Menschen der
- kirchlichen Bürokratie, ihrem Moralkodex, den gesellschaftlichen, sexuellen, politischen,
- ökonomischen und ideologischen Wertvorstellungen, die sie umsetzt. Die Manipulation
- der Angst des Menschen vor dem Tod ist ein Herrschaftsinstrument der Kirche. Trotzdem
- können die Manipulation des Todes und die Begräbnisrituale der Kirche unter bestimmten
- historischen Umständen auch hilfreich sein.
- Nach dem Staatsstreich von General Pinochet im September 1973 »verschwanden« in
- Chile jeden Monat Hunderte Menschen, die ermordet worden oder unter der Folter
- gestorben waren. Im Allgemeinen wurden die »Verschwundenen« in Massengräbern
- verscharrt, den »heimlichen Friedhöfen«. In der Folge kam es immer wieder vor, dass ein
- Bauer, der sein Feld bestellte, oder ein Spaziergänger einen solchen Friedhof entdeckte.
- 1979 legte Kardinal Raúl Silva Henríquez, der Erzbischof von Santiago und höchster
- Würdenträger der katholischen Kirche in Chile, im Kampf gegen die Diktatur
- bemerkenswerten Mut an den Tag und schrieb einen offenen Brief an General Pinochet, in
- dem er die Respektierung des Konkordats einforderte, insbesondere der Bestimmungen,
- die mit den Begräbnisprivilegien der Kirche zusammenhingen. Silva Henríquez verlangte,
- dass jeder getaufte Chilene – und die meisten Chilenen sind getauft – künftig das Recht
- auf ein christliches Begräbnis haben sollte; dass jeder Leichnam, woher er auch kam – ob
- aus einem Krankenhaus, einer Kaserne oder einem Polizeikommissariat – seinen
- Angehörigen übergeben werden müsse, damit sie ihn mit einem Priester und den
- Begräbnisritualen der Kirche zu Grabe tragen könnten. Ohne Zweifel war der Vorstoß von
- Silva Henríquez – bei dem er repressive Begräbnisrituale in den Dienst der Befreiung und
- des Lebens der Menschen stellte – ein mutiger Versuch, gegen das »Verschwinden«
- politischer Gefangener in Chile zu kämpfen. Kardinal Silva Henríquez hörte nicht auf, den
- Mächtigen zuzusetzen; er war für Pinochet ein Stachel im Fleisch, so sehr, dass Pinochets
- Ehefrau im Juni 1983 sagte, als der Kardinal nach Erreichen der Altersgrenze in den
- Ruhestand treten musste: »Es scheint, dass Gott uns erhört hat.«
- Das zweite Beispiel betrifft den Einsatz von Initiationsriten für unterschiedliche
- Altersgruppen bei den Bantu-Völkern. Insbesondere zwei afrikanische Regimes haben
- diese Riten genutzt oder nutzen sie noch, und zwar auf diametral entgegengesetzte Art
- und Weise: Guinea-Bissau und Zaire.
- Amílcar Cabral und sein PAIGC (Partido Africano da Independência da Guiné e Cabo
- verde, Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde) bezogen
- sich auf Initiationsriten, um in der ersten Phase des ländlichen Guerillakampfs gegen die
- portugiesischen Kolonialherren junge Kämpfer zu rekrutieren. Die Befreiungsarmee, die in
- einem sehr kleinen Gebiet operierte, bedrängt von einem Feind, der nicht nur die Städte
- kontrollierte, sondern auch weite Teile des Landesinneren, hatte große Probleme mit der
- Rekrutierung. Die pädagogische Vorbereitung der Rekrutierung – wie sie etwa in Algerien
- während des Unabhängigkeitskriegs von 1954 bis 1962 entwickelt worden war und die
- Cabral genau studiert hatte – war in Guinea praktisch undurchführbar. Bis ins erste Drittel
- der 1960er-Jahre hinein verfügte die Befreiungsarmee nicht über wirklich befreite Zonen.
- Die Führung sah sich mehreren offensichtlich widersprüchlichen Anforderungen
- gegenüber: Die Verluste waren hoch, deshalb mussten beständig und in großer Zahl neue
- Kämpfer rekrutiert werden; die Überwachung des Gebiets und die technischen Mittel zur
- Kontrolle, über die der Feind verfügte, zwangen die Anwerber, strikt im Geheimen zu
- agieren und dauernd ihren Standort zu wechseln. In bestimmten Gebieten konnten sie
- nur eine oder zwei Nächte im selben Dorf bleiben. Selbst die Einberufung einer
- Dorfversammlung war oft unmöglich. Auch die Rekrutierung selbst musste heimlich
- stattfinden und schnell vor sich gehen. Und eine letzte Herausforderung: Auf die
- angeworbenen Kämpfer warteten schwere Opfer. In Guinea wandten die portugiesischen
- Kolonialherren schreckliche Repressionsmethoden an: Folter in Verhören war üblich; ein
- gefangener Guerillakämpfer galt nicht als Kriegsgefangener; er wurde meist sofort
- erschossen; oft gab es Repressalien gegen die Familie. Die Integration eines neuen
- Rekruten in seine Einheit musste nicht nur schnell und heimlich erfolgen, sie musste
- überdies von der ersten Stunde an so überzeugend und so intensiv wie möglich sein. Die
- Initiationsriten aus der Kosmogonie der Balante erfüllten die meisten dieser Forderungen.
- Bei ihren nächtlichen Besuchen überzeugten die jungen Anwerber des PAIGC die Balante-
- Priester von der Notwendigkeit des Befreiungskrieges. Einige Tage oder Monate später
- wurden die Heranwachsenden des Dorfs mittels einer kurzen, geheimen, intensiven
- Zeremonie, die von den Balante-Priestern geleitet wurde, in junge PAIGC-Kämpfer
- verwandelt. Die Promotion zum Krieger fand in Gruppen statt. Die Gruppen junger
- Balante (oder Peuhl, Bissagos, Mandingues und anderer), welche die Initiationsrituale
- (Aussetzung in einem schlangenverseuchten Wald, wochenlanges Fasten, Sprung durch
- loderndes Feuer und so weiter) gemeinsam durchlitten, bildeten fortan eine total
- solidarische Einheit, die kein Feind und keine Angst zu brechen vermochte.
- In Zaire inszenierte Präsident Mobutu das gleiche Ritual. Der korrupte Diktator hoffte,
- auf diese Weise die jungen Kongolesen – die noch nicht akkulturiert waren, im
- traditionellen Milieu lebten, vom Land kamen, die Mehrheit der Bevölkerung stellten – für
- sich und seine politische Strategie zu gewinnen.
- So wie Cabral den Initiationsritus der Balante für die Rekrutierung und Integration neuer
- Kämpfer in die Guerillaeinheiten des PAIGC einsetzte, hatte der Ritus eine »fortschrittliche«
- Bedeutung, das heißt, er diente der Emanzipation, der Befreiung der Menschen. Als das
- Mobutu-Regime mit seiner »Authentizitäts«-Ideologie sich der traditionellen
- Initiationsriten der jeweiligen kongolesischen Völker bemächtigte und sie als Waffe für
- seine Unterwerfungsstrategie gebrauchte, änderte sich ihr Sinn grundlegend: Der Ritus
- wurde zu etwas Entfremdendem, Regressivem. Als »regressiv« bezeichne ich jedes
- Symbol, das den Sinn reduziert, das Glück und die Hoffnung auf Befreiung auslöscht,
- Bedingungen schafft, die die Versklavung von Menschen begünstigen.
- Die Hervorbringung und der Einsatz von Ideologien werfen noch andere Probleme auf.
- Derjenige, der die Ideologie einsetzt, kann in gutem Glauben handeln oder auch nicht. Er
- kann von der Bedeutung, die er dem kollektiven Gedächtnis entnommen hat, überzeugt
- sein oder auch nicht. Zur Erläuterung: Hitler, Goebbels, Rosenberg und Himmler glaubten
- ohne Zweifel an die pangermanischen Rassemythen, die sie ausgegraben hatten,
- aktualisierten, neu interpretierten und einsetzten, um ihre Politik der Ausrottung nichtarischer
- Völker zu »erklären«. Insofern waren sie guten Glaubens. Umgekehrt kenne ich
- einen katholischen Vikar aus dem Norden Brasiliens, einen überzeugten Marxisten, der
- die rückwärtsgewandte Politik der Mehrheit der brasilianischen Bischöfe, die mit der
- Diktatur gemeinsame Sache gemacht hatten, vollkommen ablehnte. Er verwendete, in
- »schlechtem Glauben«, die Sprache der Institutionen der Kirche, um in seiner Diözese
- einen kühnen Kampf für die Agrarreform, die Organisation von Gewerkschaften und die
- »Bewusstseinsbildung« der Bauern zu führen. Während der Militärdiktatur (1964–1982)
- waren die Hirtenbriefe, Proklamationen und Botschaften der brasilianischen
- Bischofskonferenz pompös und verlogen. Der Vikar von Ceará verlas sie von der Kanzel
- und interpretierte die bischöflichen Floskeln in seinem Sinn. Er glaubte nicht an die
- Floskeln. Aber sie waren ihm nützlich. Die Schergen der Geheimdienste von Luftwaffe,
- Armee und Marine wagten es nicht, ihn zu ermorden oder auch nur zu verhaften. Der
- Vikar rechtfertigte ja jede seiner konkreten Initiativen – Gewerkschaftsgründungen,
- Bauernkooperationen und so weiter – mit Zitaten aus den Hirtenbriefen.
- Das Kriterium, ob das jeweilige Subjekt in gutem oder schlechtem Glauben spricht, sagt
- darum nichts über den Wert einer Ideologie aus. Hitler, Goebbels, Rosenberg und
- Himmler verkörperten die abstoßendste Perversion des menschlichen Geistes. Ihre Reden
- »in gutem Glauben« produzierten absurde Behauptungen, die die fürchterlichsten
- Verbrechen zur Folge hatten. Auf der anderen Seite wirkte der episkopale Vikar von Ceará
- »in schlechtem Glauben« für den Schutz der Verfolgten, den Kampf gegen das Elend, die
- Emanzipation der Bauern, die er als Priester unter seiner Obhut hatte.
- Vladimir Jankélévitch, Philosophieprofessor an der Sorbonne, fasst das Problem in einer
- Geschichte zusammen: Die SS dringt in ein Haus ein, in dem sich Widerstandskämpfer
- treffen. Einer hat sich in einem Schrank versteckt. Der SS-Offizier fragt: »Ist jemand in
- dem Schrank?« Die Bewohner des Hauses antworten: »Nein.« Jankélévitch erklärt, dass
- die Bewohner die »Wahrheit« gesagt haben:49 Die französischen Widerstandskämpfer und
- ihre Verbündeten arbeiten für das Ziel einer befreiten Gesellschaft. Ihre Antwort an den
- SS-Offizier zeugt von »schlechtem Glauben«; die Ideologie aber, der sie dient, ist richtig
- und wahr. Sie befördert die Emanzipation des Menschen.
- II. Wie entstehen, entwickeln und wandeln sich
- Ideologien?
- Wissen ist ein Schmerz. Und wir wußten es:
- Jede aus dem Dunkel hervorgesickerte Kunde
- Bescherte uns das nötige Leid:
- jenes Gerücht wurde tausendfach Wahrheit,
- es füllte die dunkle Tür sich mit Licht,
- und es läuterten sich die Schmerzen.
- Wahrheit war bei diesem Tod das Leben.
- Schwer lastete der Sack des Schweigens.
- Und immer noch kostete es Blut, ihn aufzuheben,
- zu viele Steine der Vergangenheit waren es.
- Hernach aber wurde mutig der Tag:
- mit goldnem Messer durchbrach er das Dunkel
- und eindrang die Erörterung wie ein Rad,
- das wiedereingesetzt durch das Licht, hinrollte
- bis zum Polarpunkt des Landes.
- Nun krönten Ähren
- die Herrlichkeit der Sonne und ihre Energie:
- von neuem gab Antwort der Kamerad
- auf die Frage des Kameraden.
- Und jener grausame Weg in die Irre
- wurde unter der Wahrheit wieder Weg.
- Pablo Neruda, Memorial von Isla Negra50
- Die Klassenkämpfe, die der Entstehung, Entwicklung und Wandlung der Ideologien
- Substanz verleihen, vollziehen sich notwendigerweise an der doppelten Front des
- materiellen und des ideologischen Kampfs oder, wie Louis Althusser sagt, des praktischen
- und des theoretischen Klassenkampfs. Nehmen wir als Beispiel, um diese Kämpfe an
- doppelter Front zu verstehen, um zu zeigen, wie eine neue Klasse, die im Begriff ist, die
- wirtschaftliche Macht in der Gesellschaft zu erobern, einen ideologischen Krieg anzettelt,
- um ihren Sieg zu beschleunigen und ihren Kampf zu erklären und zu rechtfertigen, die
- Reformation und insbesondere die calvinistische Prädestinationslehre. Ich zitiere sie nach
- Friedrich Engels: Calvins »Dogma war den kühnsten der damaligen Bürger angepaßt.
- Seine Gnadenwahl war der religiöse Ausdruck der Tatsache, daß in der Handelswelt der
- Konkurrenz Erfolg oder Bankrott nicht abhängt von der Tätigkeit oder dem Geschick des
- einzelnen, sondern von Umständen, die von ihm unabhängig sind. ›So liegt es nicht an
- jemandes Wollen oder Laufen, sondern am Erbarmen‹ überlegner, aber unbekannter
- ökonomischer Mächte. Und dies war ganz besonders wahr zu einer Zeit ökonomischer
- Umwälzung, wo alle alten Handelswege und Handelszentren durch neue verdrängt, wo
- Amerika und Indien der Welt eröffnet wurden und so selbst die altehrwürdigsten
- ökonomischen Glaubensartikel – die Werte des Goldes und des Silbers – ins Wanken und
- Krachen gerieten.«51
- Die erste bürgerliche Republik des Kontinents wurde 1536 von dem puritanischen
- französischen Prediger und Reformator Jean Calvin ausgerufen. Er war ein hagerer,
- introvertierter Mann mit bleichem Gesicht. Er starb mit 56 Jahren an einem Magenleiden.
- Ein bekanntes Theaterstück von Dominique Ziegler trägt den Titel Le maître du temps
- (Der Herr über die Zeit). Ein wichtiges Dekret des Predigers aus der Picardie – der durch
- Zufall auf der Reise von Rom Richtung Straßburg durch Genf gekommen war und dort von
- den mit dem Fürstbischof im Konflikt liegenden Bürgern zurückgehalten wurde – war die
- »Erfindung der Zeit«. Überall in der Stadt und in den umliegenden Dörfern am Ufer des
- Sees wurden Uhren aufgestellt. Fortan galt es, jede Minute zu nutzen. Zeit war gelebtes
- Leben, streng normiert, im Dienste der frühkapitalistischen Produktion. Vom Kirchenvater
- Thomas von Aquin stammt das Wort: »Der Mensch wird geboren, um die Schöpfung zu
- vollenden.«
- Jean Calvin eignete sich diese Moral an. Er kleidete sie in Normen, schuf ein rigides
- Arbeitsethos und eine genaue Arbeitsteilung. Er errichtete eine gewalttätige Theokratie.
- Dissidenten wurden verbrannt, so der immigrierte spanische Theologe Michel Servet.
- Jean Calvin machte das »protestantische Rom« in kurzer Zeit zum Laboratorium der sich
- anbahnenden kapitalistischen Produktionsweise.
- Die Theorie der Prädestination, die Calvin in seinem mehrbändigen Monumentalwerk
- »Institutio Christianae Religionis« verteidigte und die seine Prediger in ganz Europa, in
- Nordamerika und Südafrika verbreiteten, hat die koloniale Eroberung, die Aggressivität
- der Invasoren und die Verachtung der autochthonen Bevölkerung potenzialisiert. Die
- calvinistischen Afrikaaner in Südafrika, die Gründerväter der dreizehn britischen
- Kolonialstaaten in Nordamerika (die 1776 zur Unabhängigkeit gelangten und sich zu den
- Vereinigten Staaten zusammenschlossen), sie alle betrachteten sich als »Auserwählte«
- und damit von anderer, höherer Essenz als die indianischen Völker oder die Bantu-
- Stämme, die sie ihres Landes beraubten und in vielen Fällen massakrierten.
- Die Erschütterungen in der Wirtschaft, die Vervielfachung der Entscheidungszentren, der
- Zerfall der alten Feudalwelt mit ihrer festen, hierarchischen gesellschaftlichen Schichtung,
- dazu die Auflösung der geografischen Grenzen der Welt, die man bis dahin für
- unumstößlich gehalten hatte, all das erzeugte große Ratlosigkeit, Verwirrung und ein
- Gefühl tiefer Verunsicherung bei den Menschen des 16. Jahrhunderts. Die calvinistische
- Ideologie reagierte auf ein konkretes, drängendes Bedürfnis: das Bedürfnis, heftige, die
- Menschen beunruhigende Widersprüche aufzulösen zwischen der kommerziellen,
- wirtschaftlichen, finanziellen, wilden, aggressiven und scheinbar unbegrenzten Freiheit
- der bürgerlichen Bankiers und Händler in den Städten einerseits und der permanenten,
- tiefinneren, unabweisbaren Begierde des Menschen andererseits, die Zukunft
- »vorauszusehen«, die Welt zu verstehen, die gesellschaftlichen Erfahrungen
- zusammenzubringen, in der Geschichte einen Sinn zu finden. Die Lehre von der
- Prädestination der Seelen – unvorhersehbar für den Menschen, aber vorhergesehen von
- Gott –, die Jean Calvin, Theodor von Bèze und ihre Schüler verbreiteten, diente dem
- Bedürfnis der neuen bürgerlichen Klasse ganz hervorragend. Und so wurde der
- Calvinismus im 16. Jahrhundert zur Rechtfertigungslehre für die politischen Eroberungen
- des Handel treibenden Bürgertums in Genf, den Niederlanden, in Schottland und bei
- Teilen des aufstrebenden Bürgertums in Deutschland und Italien. Die Lehre von der
- Vorherbestimmung der Seele diente auch dazu, Völkermorde zu rechtfertigen wie die
- englischer calvinistischer Einwanderer im 17. Jahrhundert an den Mohikanern, den Pequot
- und anderen Völkern an der nordamerikanischen Ostküste oder die Massaker, die im 17.,
- 18. und 19. Jahrhundert aus Holland stammende Calvinisten an den Völkern der
- Buschmänner, der Twa und der Zulu im südlichen Afrika verübten.52
- Eine Ideologie entwickelt sich nach einer relativ autonomen Logik. Die Logik hängt davon
- ab, wie die Werkzeuge der ideologischen Produktion – Institutionen, Berufsstände wie
- Priester, Intellektuelle, Künstler 53 – beschaffen sind sowie von dem Bestand an Ideen,
- Kenntnissen, Symbolen, Bildern, den Kulturen und Wissenschaften, aus denen die
- Ideologien ihre Argumente schöpfen je nach den Strategien, die sie unterstützen.
- Roger Bastide formulierte in seinem Buch Les Religions africaines au Brésil54 eine
- kohärente Theorie des »autonomen Bewusstseins«, die er der marxistischen Theorie von
- der Entwicklung der Ideologien gegenüberstellt. Er analysiert die Entwicklung der
- Ideologien, die von den afrikanischen Gesellschaften in der brasilianischen Diaspora
- hervorgebracht wurden. Ich verweile bei diesem Beispiel, weil es sehr klar zeigt, wie eine
- Ideologie sich verselbstständigt und die materielle Gesellschaft überlebt, in der sie
- entstanden ist. Das gilt natürlich immer unter der Bedingung, dass die betreffende
- Ideologie den realen Bedürfnissen der Menschen dient, die sich auf sie berufen.
- Die traditionellen Gesellschaften der Kongo, Yoruba, Fon und Ewe auf dem afrikanischen
- Kontinent wurden größtenteils zerstört. Aber ihre Ideologien, ihre Symbolsysteme haben
- nicht nur das Überleben der in ein fremdes Land deportierten schwarzen Sklaven
- gesichert, die oft unter unbeschreiblich grausamen Bedingungen lebten, sondern sogar
- ihre kulturelle und politische Renaissance ermöglicht. Obwohl die Abstammungslinien
- zerstört und die Clans niedergemetzelt wurden, trotz der großen geografischen
- Entfernung und obwohl Familien zerrissen und die Schwarzen zu Objekten
- herabgewürdigt wurden, hat das geschundene schwarze Volk überlebt. Und es hat im Exil
- eine sehr mächtige Kultur hervorgebracht, die heute in Brasilien und in anderen Ländern
- Amerikas für die Schwarzen wie auch die Weißen eine Alternative zur Ideologie des
- multinationalen Monopolkapitalismus und seiner Legitimationstheorie, dem aggressiven,
- obskurantistischen Neoliberalismus, darstellt. Eine Zuflucht, eine Waffe des Widerstands,
- eine alternative Identität und paradoxerweise auch einen alternativen Kampf.
- Die zentrale Institution dieser Kultur ist der terreiro oder candomblé55. Er ist in erster
- Linie ein spezieller Ort, wo afrikanische Götter von Männern oder Frauen Besitz ergreifen,
- oder, noch häufiger, ein Ort der kulturellen Gemeinschaft. Der terreiro oder candomblé ist
- zugleich ein System geistiger Vorstellungen, eine Hierarchie der Macht, ein Bestand an
- Ritualen und die Gemeinschaft, die all dies transportiert.
- Diese in sich abgeschlossenen, voneinander unabhängigen Geheimgesellschaften, zu
- denen Nicht-Afrikaner lange Zeit keinen Zutritt hatten, sind typisch für die brasilianische
- Küste von Curitiba bis Belém do Pará. In den kolumbianischen Städten Barranquilla und
- Cartagena gibt es stark strukturierte afrikanische Kultgesellschaften. Auf Kuba schlagen
- die Nachfahren der Sklaven weiter die Trommel, und die Orixas steigen auf sie herab wie
- auf ihre fernen Brüder in Abeokuta (oder Kétou56). Im Tal des Orinoco in Venezuela und
- auf den Hochebenen der Yungas (der alten Andenprovinz der Jesuitenpatres) in Bolivien
- werden die Orixas als Realität erfahren, als allmächtige Gottheiten, die jede Kleinigkeit
- des Alltagslebens und die Vorgänge der umgebenden Welt regeln. Ihre Priester wirken in
- Haiti, auf Jamaika und in Kuba. Vor einigen Jahrzehnten sind die Santeros in den
- schwarzen Gettos der nordamerikanischen Metropolen aufgetaucht. Heute gibt es allein
- im Getto von Harlem über zweihundert Lucumi-terreiros, sie sind eine Inspiration für
- Hunderttausende junger Schwarzer, die gegen die rassistische Unterdrückung durch die
- Weißen aufstehen.
- Der Rückgriff auf diese religiöse Ideologie in Harlem und anderen schwarzen Gettos
- nordamerikanischer Großstädte, in denen die wissenschaftlichen und technischen
- Kenntnisse den höchsten Stand erreicht haben, den es auf der Welt jemals gegeben hat,
- zeigt, dass dort Erklärungen für den Sinn des Lebens, der Welt, des Menschen und seiner
- Beziehung zu den Mitmenschen weitgehend fehlen. Erfolgreich ist die Ideologie dort
- deshalb, weil die Initiation afrikanischer Priesterinnen und Priester sich fortsetzt und die
- Riten und Werte in den massiv diskriminierten Gruppen kontinuierlich reproduziert
- werden.
- III. »Naturgesetze«
- Welche Ideologie dominiert heute auf dem Planeten?
- Es ist die Ideologie des Neoliberalismus.57 Sie dient heute dazu, die weltweite Herrschaft
- der Oligarchien zu rechtfertigen, die das Finanzkapital besitzen.
- Guy Debord schreibt: »Zum ersten Mal sind dieselben Leute Herr über alles, was wir tun,
- und über alles, was wir darüber sagen.«58
- Und was sind die Grundlagen der neoliberalen Ideologie?
- Im August 1991 implodierte die Sowjetunion. Bis dahin lebte jeder dritte Mensch auf
- dem Planeten in einem kommunistischen Regime. Auch wenn die UdSSR den Namen
- »kommunistisch« nicht verdiente, denn sie war ein korrupter Polizeistaat, so war die
- Bipolarität der Weltgesellschaft doch offensichtlich. Die kapitalistischen Klassen im
- Westen lebten in der ständigen Angst, dass die europäischen, amerikanischen und
- anderen Bürger und Bürgerinnen sich womöglich dafür entscheiden könnten, der
- »kommunistischen« Ideologie zu folgen. Darum akzeptierten sie eine zwar begrenzte,
- aber doch freiwillige Umverteilung ihres Reichtums, was Eingriffe des Staates in die
- wirtschaftlichen Mechanismen implizierte. Insbesondere das keynesianische
- Wirtschaftsmodell, benannt nach dem englischen Ökonomen John Maynard Keynes,
- Verfasser des 1936 erschienenen Werks Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des
- Zinses und des Geldes, propagierte eine andere Politik als die des klassischen
- Liberalismus: Die schrittweise Erhöhung der Kaufkraft der Arbeiter soll für
- Wirtschaftswachstum sorgen, und der Wohlfahrtsstaat garantiert den abhängigen Klassen
- ein Minimum an sozialer Sicherheit. An diesem Modell orientierten sich die westlichen
- Demokratien seit dem amerikanischen New Deal von Franklin D. Roosevelt als Reaktion
- auf den Laissez-faire-Kapitalismus und die Weltwirtschaftskrise von 1933 bis zum Zerfall
- des Ostblocks.
- Aber mit dem Ende des Sowjetreichs verschwand die Bipolarität und mit ihr die
- demokratische Gefahr als beständige Bedrohung des Monopols der herrschenden
- westlichen Klassen auf die politische und finanzielle Macht.
- Die herrschenden Klassen führten eine neue wirtschaftliche und politische Praxis und
- eine originelle Bezeichnung dafür ein: den »Washingtoner Konsens«.
- Dabei handelt es sich um informelle Vereinbarungen, um gentleman agreements, die im
- Lauf der 1980er- und 1990er-Jahre zwischen den führenden transkontinentalen Mächten,
- Wall-Street-Banken, der amerikanischen Federal Reserve Bank und internationalen
- Finanzinstitutionen (Weltbank, IWF und so weiter) geschlossen wurden.
- Im Jahr 1989 formalisierte der Chefökonom und Vizepräsident der Weltbank, John
- Williamson, den Konsens. Seine Grundprinzipien zielen darauf ab, so schnell wie möglich
- alle Regulierungsinstanzen zu beseitigen, staatliche wie andere auch, eine möglichst
- weitgehende Liberalisierung der Märkte (für Waren, Kapital, Dienstleistungen und so
- weiter) zu erreichen und letztlich zu stateless global governance zu gelangen, einem
- einheitlichen Weltmarkt, der sich vollständig selbst reguliert.59
- Ziel des Washingtoner Konsenses ist die Privatisierung der Welt 60 durch die Umsetzung
- der folgenden Prinzipien:
- – In jedem Land muss es eine Steuerreform nach den folgenden beiden Gesichtspunkten
- geben: Senkung der Steuerlast für die höchsten Einkommen, damit die Reichen
- produktive Investitionen tätigen; Ausweitung der Zahl der Steuerpflichtigen, das heißt
- Abschaffung von steuerlichen Vergünstigungen für die Ärmsten, um das Volumen der
- Steuereinnahmen zu vergrößern.
- – Aufhebung aller Einschränkungen für die Finanzmärkte.
- – Garantierte Gleichbehandlung von inländischen und ausländischen Investoren, um die
- Sicherheit der ausländischen Investitionen und damit ihr Volumen zu erhöhen.
- – Möglichst weitgehende Zerschlagung des öffentlichen Sektors; alle Unternehmen im
- Besitz des Staates oder quasi-staatlicher Körperschaften sollen privatisiert werden wie
- etwa Schulen, Krankenhäuser, Verkehrsbetriebe, Wasser- und Energieversorgung und
- so weiter. Damit werden sie den Gesetzen des Profits unterworfen.
- – Maximale Deregulierung der Volkswirtschaft, um das freie Spiel der Konkurrenz
- zwischen den verschiedenen ökonomischen Kräften zu gewährleisten.
- – Verstärkter Schutz des Privateigentums.
- – Rasche Liberalisierung des Handels mit dem Ziel, die Zölle immer weiter zu senken und
- schließlich ganz abzuschaffen.
- – Da der Freihandel durch Exporte vorangetrieben wird, muss man in erster Linie die
- Entwicklung jener Wirtschaftsbereiche fördern, deren Produktion in den Export geht.
- – Abbau der staatlichen Haushaltsdefizite bis auf null.
- – Staatliche Subventionen für private Akteure müssen überall gestrichen werden. Ein
- Beispiel: Die Staaten der Dritten Welt, die die Preise von Grundnahrungsmitteln
- subventionieren, um sie niedrig zu halten, müssen diese Politik aufgeben. Bei den
- Staatsausgaben müssen solche Priorität haben, die in den Ausbau der Infrastruktur
- fließen und für die multinationalen Konzerne nützlich sind.
- Die britische Zeitschrift The Economist ist nicht gerade ein revolutionäres Kampfblatt.
- Doch der Kommentar zum Washingtoner Konsens triefte geradezu von Ironie: »Antiglobalists
- see the Washington Consensus as a conspiracy to enrich bankers. They are not
- entirely wrong.«61 (»In den Augen der Globalisierungsgegner ist der Washingtoner
- Konsens eine Verschwörung mit dem Ziel, die Banker reich zu machen. Sie haben nicht
- ganz unrecht.«)
- Der Neoliberalismus behauptet, die »Naturgesetze« der Wirtschaft auszudrücken. Pierre
- Bourdieu urteilte unerbittlich über den Neoliberalismus im Allgemeinen und die
- Umsetzung des Washingtoner Konsenses im Besonderen: »Der Neoliberalismus ist eine
- Eroberungswaffe, er verkündet einen ökonomischen Fatalismus, gegen den jeder
- Widerstand zwecklos erscheint. Er ist wie Aids: Er greift zuerst das Abwehrsystem seiner
- Opfer an.«62
- Und an anderer Stelle schreibt er: »All das, was man unter dem Begriff der
- ›Globalisierung‹ fasst, ist keineswegs das Ergebnis zwangsläufiger ökonomischer
- Entwicklungen […] Diese Politik […] ist eine Politik der Entpolitisierung und zielt
- paradoxerweise darauf ab, die Kräfte der Ökonomie von all ihren Fesseln zu befreien,
- ihnen dadurch einen fatalen Einfluss einzuräumen und die Regierungen ebenso wie die
- Bürger den derart von ihren Fesseln ›befreiten‹ Gesetzen der Ökonomie zu unterwerfen
- […] Der Eindruck von Schicksalhaftigkeit ist das Resultat permanenter Propaganda.«63
- In der Geschichte der Ideen stellt diese Ideologie einen spektakulären Rückschritt dar.
- Ist tatsächlich alles schicksalhaft? Die Lüge ist krass, aber nützlich: Sie erlaubt den
- Herrschenden zu verschleiern, dass sie die Verantwortung für das tragen, was den von
- ihnen unterdrückten Völkern widerfährt.
- Die Kapitalströme? Die weltweite Güterverteilung? Die Abfolge der technologischen
- Revolutionen und der Produktionsweisen? Man kann ihre Gesetzmäßigkeiten beobachten,
- aber man kann nicht den Anspruch erheben, ihren Lauf zu verändern. Denn all das hängt
- mit der »Natur« der Wirtschaft zusammen. Wie der Astronom, der die Bewegung der
- Gestirne, die wechselnde Ausdehnung der Magnetfelder oder die Geburt und den
- Untergang von Galaxien beobachtet, misst, analysiert, betrachtet, kommentiert, wägt der
- neoliberale Banker die komplizierten Bewegungen von Kapital und Gütern ab. Auf
- wirtschaftlichem, gesellschaftlichem oder politischem Gebiet eingreifen? Daran ist gar
- nicht zu denken, meine Herrschaften! Jeder Eingriff würde bestenfalls die freie Entfaltung
- der wirtschaftlichen Kräfte verzerren – schlimmstenfalls würde er sie blockieren.
- Die Naturalisierung der Wirtschaft, ihre Verwandlung in eine Naturkraft, ist die
- ultimative List der neoliberalen Wahnidee.
- IV. Obskurantismus
- Soziale Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Freiheit, wechselseitige Ergänzung? Das universelle
- Band zwischen den Menschen, das Allgemeinwohl, die aus freien Stücken akzeptierte
- Ordnung, das Gesetz, das befreit, unreine Willen, die durch die allgemeine Regel
- verwandelt werden (Kant), der Gesellschaftsvertrag? Alles Schnee von gestern! Veraltetes
- Gestotter, über das die jungen, effizienten Raubtierkapitalisten in den multinationalen
- Banken und anderen globalen Unternehmen nur müde lächeln können.
- Der Gladiator wird wieder zum Helden des Tages. Alle vergangenen Kulturen bemühten
- sich, die kriegerischen, gewalttätigen, destruktiven Triebe zu zügeln, die Beziehungen
- zwischen den Menschen zu befrieden, Bande der Solidarität, der Komplementarität, der
- Reziprozität, des Teilens zu knüpfen. Indem die Piraten der Wall Street und ihre Söldner
- bei der Welthandelsorganisation (WTO) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF)
- wieder den Gladiator als gesellschaftliches Modell propagieren und die gnadenlose
- Konkurrenz zwischen den Menschen glorifizieren, wischen sie Jahrtausende geduldiger
- Bemühungen um Zivilisiertheit einfach beiseite.
- »Das Glück des Schwachen ist der Ruhm des Starken«, schrieb Lamartine 1820 in seinen
- Poetischen Betrachtungen. Für die neoliberale Ideologie ist der Satz des romantischen
- Dichters eine Absurdität. Die Starken (aber auch die Schwachen, die davon träumen, zu
- den Starken zu gehören) finden das Glück künftig im einsamen Genuss eines Reichtums,
- der auf Kosten von anderen errungen wurde, durch die Manipulation von Börsenkursen,
- durch immer größere Unternehmenszusammenschlüsse und die immer schnellere
- Akkumulation von Mehrwert durch denkbar brutale Methoden und aus allen möglichen
- Quellen.
- Die herrschende Ideologie wirkt durch symbolische Gewalt. Was ist damit gemeint?
- Pierre Bourdieu schreibt dazu: »Die Macht der symbolischen Gewalt, das heißt, die
- Macht, die daher rührt, Bedeutungen aufzuzwingen und sie als legitim aufzuzwingen,
- indem man verschleiert, welche Kräfteverhältnisse ihnen zugrunde liegen, fügt diesen
- Kräfteverhältnissen ihre eigene, im eigentlichen Sinn symbolische, Kraft hinzu.«64 Die
- symbolische Gewalt ist ein Konzept, das die Werkzeuge bezeichnet, die auf symbolischer
- Ebene analog zu denen wirken, die auf der materiellen Ebene den gleichen Absichten der
- Beherrschung dienen. Diese symbolischen Waffen haben wie die materiellen Waffen eine
- Geschichte, sie haben Institutionen, sie können auf ihre Hüter vertrauen. Und zu den
- aufmerksamsten Hütern gehören die Schule, die Presse und die Massenmedien.
- Ihren Anfang nimmt die neoliberale Ideologie bei zwei englischen Philosophen aus dem
- frühen 19. Jahrhundert: Adam Smith und David Ricardo.
- Der Schotte Adam Smith hatte kurze Zeit den Lehrstuhl für Logik an der Universität
- Glasgow inne. Dank Protektion durch den Herzog von Buccleuch, einen ehemaligen
- Schüler, erhielt er die fabelhafte Pfründe (von der schon sein Vater profitiert hatte) des
- Zollkommissars von Schottland. 1776 erschien sein Hauptwerk An Inquiry into the Nature
- and Causes of the Wealth of Nations (Untersuchung über Wesen und Ursachen des Wohlstands der
- Nationen).
- David Ricardo war der Sohn eines sephardischen Bankiers aus Portugal, der sich in
- London niedergelassen hatte. Im Alter von 21 Jahren brach er mit seiner Familie und
- wurde Quäker. Als Börsenhändler verdiente er so viel, dass er mit 25 Jahren reich war wie
- Krösus. 1817 veröffentlichte er sein Hauptwerk The Principles of Political Economy and
- Taxation (Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung).
- Smith und Ricardo sind somit die beiden geistigen Väter des ultraliberalen Dogmas, das
- die Basis für das kollektive Über-Ich der derzeit auf dem Planeten herrschenden
- Finanzoligarchen bildet. Und was besagt das Dogma? Wenn das Kapital sich selbst
- überlassen wird, befreit von allen Fesseln, allen Einschränkungen und Kontrollen, fließt es
- spontan und jederzeit an den Ort und in die Objekte, wo es maximalen Profit erbringt. Auf
- diese Weise entscheiden die Produktionskosten darüber, an welchem Ort sich eine
- bestimmte Produktion ansiedelt.
- Bleibt noch das Problem der Verteilung zu regeln.
- Smith und Ricardo waren beide zutiefst gläubig. In Glasgow und London lebten zu ihrer
- Zeit viele Menschen in Not, und ihr Schicksal beschäftigte die beiden reichen Gelehrten
- durchaus ernsthaft. Was schlugen sie vor? Den trickle down effect, das Durchsickern von
- Reichtum von oben nach unten.
- Smith und Ricardo zufolge gibt es eine objektive Grenze für die Akkumulation von
- Reichtum. Diese Grenze hängt mit der Befriedigung von Bedürfnissen zusammen. Der
- Lehrsatz gilt für Einzelne genauso wie für Unternehmen.
- Nehmen wir die Einzelnen. Auf sie bezogen besagt der Lehrsatz: Wenn eine bestimmte
- Menge Brot vorhanden ist, findet die Verteilung an die Armen praktisch automatisch statt.
- Weil die Reichen von dem Reichtum, der weit über die Befriedigung ihrer Bedürfnisse (so
- kostspielig und extravagant sie auch sein mögen) hinausgeht, nichts haben, werden sie
- die Umverteilung selbst in die Wege leiten.
- Mit anderen Worten: Ab einem bestimmten Niveau des Reichtums akkumulieren die
- Reichen nichts mehr. Sie verteilen den Reichtum um. Ein Milliardär erhöht das Gehalt
- seines Chauffeurs, weil er – im wahrsten Sinn des Wortes – nicht mehr weiß, was er mit
- seinem Geld machen soll.
- Diese Theorie ist offensichtlich falsch. Warum? Weil Smith und Ricardo die Akkumulation
- an Bedürfnisse und an den Gebrauch knüpfen. Aber für einen Milliardär hat Geld nichts –
- oder nur sehr wenig – mit der Befriedigung von Bedürfnissen zu tun, und seien es noch so
- luxuriöse. Dass ein Pharao nicht auf zehn Booten gleichzeitig fahren, zehn Villen am
- selben Tag bewohnen oder 50 Kilo Kaviar bei einer Mahlzeit essen kann, ist letztlich
- bedeutungslos. Der Gebrauch spielt keine Rolle mehr. Geld produziert Geld. Geld ist ein
- Mittel zu Macht und Herrschaft. Und der Wunsch zu herrschen ist unausrottbar, für ihn
- gibt es keine objektiven Grenzen.
- Richard Sennett, der aus einer russischen Einwandererfamilie stammt und in Amerika
- aufgewachsen ist, zählt heute zu den renommiertesten Professoren an der London School
- of Economics.
- Ich erinnere mich an einen Herbstabend in einem Heurigenlokal in Wien. Sennett und
- ich hatten zuvor an einer Diskussionsrunde im ORF teilgenommen. Uns gegenüber hatte
- der Generaldirektor des transkontinentalen Erdölgiganten Shell gesessen. Das Thema war
- gewesen: die Hinrichtung in Port Harcourt von Ken Saro-Wiwa, dem großen
- nigerianischen Poeten, und zehn seiner Mitkämpfer. Sie hatten gegen die massive
- Umweltverschmutzung durch den Shell-Konzern protestiert und waren auf Befehl des
- Militärdiktators Sani Abacha im Hof des Gefängnisses von Port Harcourt gehängt worden.
- D i e Shell Nigeria Exploration and Production Company ist dank ihrer Ausbeutung der
- riesigen Offshore- und Inlandquellen die eigentliche Macht im Staat. Sie führt die
- Diktatoren in Abuja am Gängelband. Der Beutejäger von Shell behauptete, dass dank der
- massiven Investitionen des Konzerns im Niger-Delta ein »goldener Regen«, ein trickle
- down effect, entstehe, der eines Tages allen Bewohnern des Deltas – also auch den
- Ogoni – zugutekommen werde.
- Der Abend war mild, der Heurige ausgezeichnet. Sennett war noch immer empört. Er
- sagte zu mir: »Dieses Hirngespinst vom trickle down effect konnte nur in den Köpfen von
- Ökonomen mit jüdisch-christlichem Hintergrund entstehen. Es ist das genaue Abbild der
- absurden Schimäre des Paradieses, wie sie die Kirche verbreitet. Krepiert, ihr lieben
- Leute in der Dritten Welt und anderswo! Im Paradies erwartet euch ein besseres Leben.
- Das Dumme ist, dass niemand euch sagt, wann dieses großartige Paradies kommen wird.
- Was nun den trickle down effect betrifft, so ist die Antwort klar: niemals.«
- Kurz vor seinem Tod sagte Pierre Bourdieu in einem Interview mit Radio suisse romande
- etwas ganz Ähnliches wie Richard Sennett. Er sprach über den theoretischen
- Klassenkampf, der heute auf unserem Planeten wütet: »Der Obskurantimus ist wieder
- zurück. Aber diesmal haben wir es mit Mächten zu tun, die sich auf die Vernunft
- berufen.«65
- Unter diesen neuen Bedingungen geht der weltweite Krieg gegen die Armen, von dem
- im vorangegangenen Kapitel die Rede war, immer und schlimmer noch weiter.
- VIERTES KAPITEL
- Wissenschaft und Ideologie
- I. Max Webers Irrtum
- Der Gegensatz zwischen Ideologie und Wissenschaft ist das Ergebnis eines historischen
- Prozesses. Im Lauf der Jahrhunderte hat sich die wissenschaftliche Praxis, das
- Experimentieren, nur sehr mühsam aus der Bevormundung durch die Kirche gelöst. Erst
- als sich die Wissenschaft Regeln gab, eine eigene Epistemologie, setzte sie sich als
- autonome und – scheinbar – von allem ideologischen Ballast freie Praxis durch.
- Wie können wir Wissenschaft definieren? Durch die Suche nach Wahrheit. Die
- Wissenschaft sucht nach der Wahrheit. Sie ist autonom geworden, als es ihr gelungen ist,
- gegen die Religionen, die Kosmogonien, die Ideologien ihre eigene Definition von
- Wahrheit durchzusetzen. Lange Zeit waren die Wissenschaftler überzeugt, dass ihre
- Definition von Wahrheit nichts mit ideologischen Prämissen zu tun hatte, anders gesagt:
- dass die Regeln, die sie sich für ihre Forschungen und Schlussfolgerungen gaben,
- garantierten, dass sie die Fakten unverfälscht, unmittelbar, durch keine Instanz vermittelt
- erfassten. Heute schwindet diese Überzeugung: Die schwerwiegenden Probleme, die
- jeden Tag in der nuklearen, biologischen, genetischen, medizinischen, pharmazeutischen,
- chemischen, psychologischen Forschung und anderen Forschungsbereichen auftauchen,
- zwingen zu einer neuen Sichtweise. Das Verständnis, was Wahrheit ist, ändert sich
- schrittweise. Immer mehr Wissenschaftler erkennen den paradigmatischen Charakter des
- Konzepts von Wahrheit an, mit dem sie umgehen. Sie entdecken, dass Politik und
- Wirtschaft die Indikatoren für die Legitimität des Konzepts der Wahrheit manipulieren.
- Ideologie und Wissenschaft haben nicht die gleiche Geschichte und nicht den gleichen
- gesellschaftlichen Status. Eine Ideologie ist vor allem ein Bezugsrahmen für das
- politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche – kollektive wie individuelle – Handeln der
- Menschen. Aber wenn Ideen, auch falsche, von den Menschen Besitz ergreifen, wird die
- Ideologie zu einer materiellen Kraft, die die Realität verändert. Die Wissenschaft
- wiederum ist eine Praxis der Erkenntnis und Verwandlung der Realität durch
- Experimentieren.
- Die Debatte über Ideologie und Wissenschaft innerhalb der Soziologie wird heute –
- zumindest in Frankreich, Italien und Deutschland – durch die Axiome und Theoreme von
- Max Weber bestimmt. In zwei Vorträgen, die er 1919 vor Studenten in München hielt –
- Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf66 – unterscheidet Weber zwei Tätigkeiten und
- zwei ethische Vorstellungen, die sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen. Weber
- zufolge gehorcht der Wissenschaftler oder Gelehrte einer Ethik der Objektivität. Sein Ziel
- ist es, Konzepte zu entwickeln, die der Realität der Tatsachen möglichst nahe kommen.
- Das höchste Ziel der wissenschaftlichen Tätigkeit ist es somit, die maximale
- Übereinstimmung des Konzepts mit dem Objekt zu erreichen. Der Wissenschaftler kennt
- nur eine Autorität: seinen Wunsch, zur Wahrheit vorzustoßen, die unauslöschbare Stimme
- seines persönlichen Gewissens. Ganz anders der Politiker, der Ideologe: Er folgt einem
- völlig anderen Gebot, dem der Effizienz. Sein oberstes Ziel ist es nicht, die Welt zu
- erkennen, sondern er will sie beherrschen, um sie zu verändern. Dazu erarbeitet er
- Konzepte und Symbole, die Menschen mobilisieren und Gruppen von Mitstreitern
- organisieren können. Die Ideologie verlangt Gefolgschaft aus Überzeugung, die
- Wissenschaft Gefolgschaft durch Evidenz. Gruppen, die durch die Ethik der Ideologie
- gelenkt werden, funktionieren mittels Disziplin. Wenn ein Mitglied der Gruppe zu einer
- anderen Analyse der Realität gelangt als die Mehrheit, unterdrückt es seine Skrupel und
- fügt sich. Es wird davon ausgehen, dass die kämpferische Einheit der Gruppe, ihre
- Handlungsfähigkeit und Schlagkraft wichtiger sind als seine persönliche Wahrnehmung
- der Realität.
- Max Weber war der Prototyp des liberalen Intellektuellen, marxistische Thesen lehnte er
- vehement ab. Als einflussreicher Autor und von seinem Metier begeisterter Professor
- machte er sich Sorgen über die politische, philosophische und existenzielle
- Verunsicherung vieler seiner Studenten und Kollegen. Die sozialdemokratische Regierung
- hatte soeben die deutsche Revolution niedergeschlagen, es war die Zeit der Weimarer
- Republik. Über die jungen Leute brach eine Fülle widersprüchlicher Ideologien herein. Und
- was war die Antwort von Max Weber? Eine Lehre, die zwischen Wissenschaft und
- Ideologie unterschied und eine unüberwindliche Hierarchie errichtete. Ihm zufolge führt
- die Wissenschaft zur Wahrheit, die Ideologie hingegen zur Mobilisierung von Gruppen und
- zur Abdankung des Individuums angesichts der Parolen des Anführers. Julien Freund und
- Raymond Aron, die glühendsten Verfechter der Lehren Max Webers in Frankreich, und
- Reinhard Bendix, sein wichtigster Gefolgsmann in den Vereinigten Staaten, sehen in
- Weber vor allem den Hüter der traditionellen liberalen Werte: Meinungsfreiheit, der
- Wunsch, die Welt zu begreifen, kritische Prüfung ideologischer Aussagen.67
- Ich stimme nicht mit Aron, Freund und Bendix überein und beurteile die konkreten
- Auswirkungen, die Webers Lehren in den Köpfen der jungen Deutschen der damaligen
- Zeit hatten, anders. Webers Theorie der zwei Arten von Ethik mit unterschiedlichem Wert
- erstickte praktisch jedes konkrete politische Engagement der jungen deutschen
- Intellektuellen, und damit trug er ganz wesentlich Verantwortung für die Tragödie der
- deutschen Universität. Bis 1933 hatte die Universität eine Fülle beeindruckender
- Wissenschaftler hervorgebracht. Doch die Mehrzahl – ausgenommen die Soziologen der
- Frankfurter Schule, kommunistische Wissenschaftler wie Walter Markov, Ernst Bloch und
- einige wenige liberale wie Franz Böhm – beobachtete tatenlos die Geburt und den
- Aufstieg des nationalsozialistischen Monsters. Viele wie Martin Heidegger dienten dem
- Hitler-Regime sogar aus Überzeugung.
- Bleiben wir einen Augenblick bei Heidegger. Dank seines 1927 erschienenen
- Hauptwerks Sein und Zeit war er zu dem Zeitpunkt, als Hitler an die Macht kam, einer der
- berühmtesten europäischen Philosophen. Seine Frau gehörte der Nazi-Partei seit der
- ersten Stunde an. Heidegger selbst schwenkte bald zur nationalsozialistischen Ideologie
- um, wie seine Korrespondenz mit Karl Jaspers, Hannah Arendt und anderen belegt 68;
- 1933 trat er in die Partei ein. 1933 wurde er Rektor der Universität Freiburg, und dort
- präsidierte er beim Dies Academicus mit dem Hakenkreuz am Revers. Seine Berühmtheit
- rettete ihn 1945 vor einer schweren Bestrafung: Er wurde nur mit einem zeitweiligen
- Lehrverbot belegt.
- Martin Heideggers Verhalten war nicht ungewöhnlich: Wie er machten viele deutsche
- Wissenschaftler gemeinsame Sache mit den völkermörderischen Nazis oder legten
- zumindest abgrundtiefe Feigheit angesichts ihrer Verbrechen an den Tag. Aber diese
- Haltung hatte verheerende Konsequenzen: Die Vertreibung jüdischer Studenten und
- Professoren von den deutschen Universitäten und später ihre massenhafte Ermordung
- stießen nur auf wenig Widerstand bei ihren Kommilitonen und Kollegen.
- Dennoch waren nicht alle deutschen Universitätsangehörigen aktive oder passive
- Komplizen der Nazi-Tyrannei. Es gab einige wenige Ausnahmen wie beispielsweise die
- Widerstandsorganisation Die Weiße Rose, der Studenten und Professoren der Universität
- München angehörten. In sechs Flugschriften, die sie zwischen Juni 1942 und Februar 1943
- in vielen Tausend Exemplaren an Universitäten und Gymnasien in Süddeutschland
- verteilten, riefen sie zum Widerstand gegen das Hitler-Regime auf, bis ein Pedell der
- Universität München sie verriet. Die Gestapo verhaftete und folterte sie, die führenden
- Köpfe der Gruppe – die Studenten Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Wilhelm
- Graf und Christoph Probst sowie der Philosophieprofessor Kurt Huber – wurden im Lauf
- des Jahres 1943 im Münchner Gefängnis Stadelheim mit der Guillotine hingerichtet. Nach
- der Zerschlagung der Weißen Rose warf die englische Luftwaffe über ganz Deutschland
- Millionen Exemplare ihrer sechsten Flugschrift ab.
- Die Theorie vom Gegensatz zwischen Wissenschaft und Ideologie, wie Max Weber sie
- formuliert hat, funktioniert im Übrigen nicht. Sie ignoriert geflissentlich das Problem der
- Sozialisierung des Wissenschaftlers. Das individuelle Gewissen – Sitz der Ethik der
- Objektivität, höchste Autorität und letzter Bezugspunkt des kognitiven Prozesses – ist
- ebenfalls zum großen Teil das Produkt einer kontingenten, historischen, abhängigen
- Sozialisation. Das Gewissen des Wissenschaftlers fällt nicht vom Himmel, es ist
- historisches Bewusstsein in Verbindung mit dem »individuellen Gewissen«, von dem zuvor
- die Rede war. Anders als Weber, Aron, Bendix, Freund und ihre Schüler glauben, gibt es
- kein »Wissen an sich«. Jede Form des Denkens, auch das wissenschaftliche Denken, wird
- durch die verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Organisation gebrochen, die das
- denkende Subjekt erst hervorbringen. Dieses Subjekt ist ein praktisches Wesen, es lässt
- sich nicht darauf reduzieren, dass es in der Lage ist, Dinge zu verstehen. Indem es in die
- Welt tritt, verändert es die Welt. Die subjektiven Intentionen sind in diesem ersten
- Stadium von zweitrangiger Bedeutung. Das reale Erfassen des Objekts, das heißt die
- maximale Annäherung des Konzepts an das Objekt – der Vorgang, der nach meinem
- Verständnis die wissenschaftliche Tätigkeit ausmacht –, bewirkt in der gesellschaftlichen
- Realität Veränderungen, die sich der Kontrolle desjenigen entziehen, der sie verursacht
- hat. Zudem können diese Effekte Veränderungen hervorrufen, die von den Verursachern
- weder vorhergesehen noch gewünscht wurden. Ich verweise auf das im ersten Kapitel
- zitierte Beispiel von Hegel und die Sorgen des preußischen Königs.
- Darum muss man den Primat des individuellen Verstehens, wie ihn Max Weber
- postuliert, bestreiten. Das Verstehen gesellschaftlicher Tatsachen – das heißt der
- Vorgang, diskursiv »Ordnung zu schaffen«, sie in adäquate Symbole zu übersetzen –
- hängt nicht nur von der Anwendung der analytischen, rationalen Fähigkeiten des
- Wissenschaftlers ab, sondern ebenso davon, wie der Wissenschaftler in die Gesellschaft
- eingebunden ist. Die Soziologie – und das gilt für jede andere Wissenschaft genauso – ist
- kein unveränderliches Referenzsystem, durch das alle gesellschaftlichen Ereignisse,
- synchron wie diachron, ihren Sinn bekommen. Sie spricht nicht uneingeschränkt die
- Wahrheit über die Welt aus. Aber sie erzählt von den materiellen Bedingungen, den
- symbolischen Modalitäten, welche die Produktion der Wahrheit bestimmen.
- II. Galileis Sieg
- Auf stund der Doktor Galilei
- Und sprach zur Sonn: Bleib stehn!
- Es soll jetzt die creatio dei
- Mal andersrum sich drehn.
- Jetzt soll sich mal die Herrin, he!
- Um ihre Dienstmagd drehn.
- […]
- Ihr, die auf Erden lebt in Ach und Weh
- Auf, sammelt eure schwachen Lebensgeister
- Und lernt vom guten Doktor Galuleh
- Des Erdenglückes großes ABC.
- Gehorsam war des Menschen Kreuz von je!
- Wer wär nicht auch mal gern sein eigner Herr und Meister?
- Bertolt Brecht, Leben des Galilei69
- In der Beziehung zwischen Ideologie und Wissenschaft gibt es vielfältige, komplizierte
- Probleme. Wir betrachten einige davon näher.
- Das erste Beispiel zeigt ein konflikthaftes Verhältnis. Galileo Galilei stammte aus Pisa,
- war Astronom, Mathematiker, Geometer und Physiker, ein Pionier der modernen
- Naturwissenschaften. Im 17. Jahrhundert entdeckte er das Gesetz der Pendelbewegung:
- Die kleinen Schwingungen des Pendels benötigen immer die gleiche Zeit, egal, wie groß
- die Schwingungsweite ist. Galilei beschrieb das Prinzip der Trägheit und unterschiedliche
- Arten von Bewegungen. Er baute das erste Fernrohr zur Himmelsbeobachtung und erfand
- ein Thermometer. Er vertrat die kopernikanische Weltsicht, dass die Erde sich um die
- Sonne dreht (Heliozentrismus), und nicht die antike Lehre seit Aristoteles und Ptolemäus,
- die auch die Kirche lehrte. Die katholische Kirche lehnte Kopernikus’ Lehre ab und verbot
- ihre Verbreitung. Brechts Gedicht am Anfang dieses Abschnitts illustriert großartig die
- Gründe dieser Ablehnung. Aber Galileo gab nicht nach. 1632 veröffentlichte er alle
- »Beweise«, die ihm zur Verfügung standen, um die Richtigkeit der kopernikanischen
- Theorie zu belegen. Daraufhin wurde er 1633 vor das Tribunal der Inquisition zitiert. Nach
- schwerer Folter, bedroht mit dem Tod, schwor er auf Knien all seinen wissenschaftlichen
- Theorien ab. Er tat gut daran und blieb am Leben.
- Eine Version dieser Ereignisse, die lange Zeit dominierte und offenbar Ergebnis einer
- Manipulation der Quellen durch dem Vatikan nahestehende Historiker war, besagt, Galilei
- sei nicht der Folter der Inquisition unterworfen worden. Seriöse Forschungen,
- insbesondere die von Italo Mereu70, belegen jedoch das Gegenteil. Die dominierende
- Ideologie der Zeit war so stark, dass sie Galilei daran hindern konnte zu sprechen, zu
- lehren, seine Entdeckungen bekannt zu machen. Trotzdem war seine wissenschaftliche
- Theorie richtig, und sie setzte sich durch, weil sie sich auf einem Feld der Realität
- bestätigte, das nicht der ideologischen Manipulation durch die Kirche ausgeliefert war:
- der Seefahrt.
- Der toskanische Gelehrte war ein angesehener Lehrer und hatte viele Schüler in Italien.
- Nach seiner Verurteilung in Rom traf sie die Repression. Die Inquisition verfolgte sie. Aber
- vielen gelang die Flucht. Die meisten flohen in die protestantischen Provinzen der
- Niederlande, wo sie einen neuen Broterwerb fanden: die Anfertigung von Seekarten auf
- der Grundlage des Weltbilds von Galilei. Diese Karten waren sehr viel präziser als die
- nach den geozentrischen Vorgaben des Vatikans erstellten.
- Dieser Wissenstransfer hatte spektakuläre wirtschaftliche Folgen: Die Händler, Reeder
- und Bankiers von Amsterdam, Rotterdam, Antwerpen und anderen Städten kauften
- massenhaft die Karten der exilierten Schüler Galileis. Weil sie so viel besser waren,
- verloren die holländischen Reeder weniger Schiffe und Ladung als ihre Konkurrenten aus
- Venedig, Pisa, Genua und Livorno in den Stürmen auf dem Atlantik und dem Pazifik, durch
- falsche Kursbestimmungen oder weil Schiffe im Indischen Ozean oder im Chinesischen
- Meer auf Grund liefen. Die Holländer eroberten neue Märkte und richteten überall auf der
- Welt Handelskontore ein, kurzum, sie strichen die Gewinne ein, die ihren italienischen,
- spanischen und portugiesischen Konkurrenten entgingen.
- Von da an gärte es in den Palästen in Venedig, Genua, Pisa, Florenz und Livorno. Die
- Dogen von Venedig schickten Delegationen zum Papst, die forderten, der päpstliche Bann
- über die nach den kopernikanischen Erkenntnissen erstellten Karten müsse aufgehoben,
- und in Italien müssten »holländische« Karten für die Navigation zugelassen werden. Die
- päpstliche Bürokratie sah sich gezwungen nachzugeben. Das kapitalistische Interesse
- erwies sich als mächtiger als die kirchliche Lehre.
- III. Die Perversion der Wissenschaft
- Szcytno-Szymany ist ein stillgelegter Militärflugplatz in einer Waldlichtung nahe bei
- Warschau. In einer kalten Winternacht 2005 fährt ein Kleinbus mit verdunkelten Fenstern
- vor. Ein 26-jähriger Tunesier wird in den Keller des Gebäudes gestoßen. Amerikanische
- Agenten foltern ihn. Der junge Tunesier wurde verdächtigt, eine Verbindung zu al-Qaida
- zu haben. Er war Angestellter in einem Restaurant in Islamabad gewesen. Der
- pakistanische Geheimdienst hatte ihn verhaftet und den Amerikanern überstellt. Die USA
- zahlen 5000 Dollar für die Überstellung eines Verdächtigen.
- Die amerikanischen Folterknechte schlugen den jungen Mann bis aufs Blut. Dann
- ketteten sie ihn nackt auf den eiskalten Betonboden … und vergaßen ihn. Drei Tage
- später fand ihn ein Wärter. Tot. In vielen anderen Geheimgefängnissen (etwa in
- Bulgarien, Kairo, Rumänien, Litauen, Afghanistan) folterten amerikanische Beamte
- Verdächtige während rund zehn Jahren. Mit den verschiedensten, fürchterlichsten
- Methoden: Schlafentzug über 180 Stunden, fiktive Erschießung, ausgerissene Fingernägel,
- Waterboarding …
- All diese Schrecken sind dokumentiert in einem viele tausend Seiten umfassenden,
- akribisch recherchierten Untersuchungsbericht der US-Senatskommission für die
- Überwachung der Geheimdienste. Am 10. Dezember 2014 stellte die Vorsitzende der
- Kommission, die demokratische US-Senatorin aus Kalifornien, Dianne Feinstein, eine 3400
- Seiten lange Zusammenfassung des Berichts in Washington vor. Frau Feinstein ist eine
- zierliche, energische, elegante Dame von 81 Jahren. Ich kenne sie. Sie kommt hin und
- wieder nach Genf. Sie hat Nerven wie Stahl. Am 1. Januar 2015 verlor sie ihren Vorsitz.
- Die Republikaner, welche die Wahlen im November 2014 gewonnen hatten, übernahmen
- ihren Posten. Feinstein setzte in letzter Minute die Veröffentlichung des Berichts durch.
- Im Juni 2004 erließ Präsident George W. Bush ein Dekret (Executive Order). Dieses
- besagt, dass im Krieg gegen den Terrorismus das Folterverbot aufgehoben sei. Artikel 5
- der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO lautet: »Niemand darf der Folter
- oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen
- werden.«
- Kein amerikanischer oder sonstiger Präsident kann dieses Verbot aufheben, es sei denn,
- sein Land träte aus der UNO aus.
- Am 11. Dezember 2014 sagte Präsident Obama: »Solche Praktiken sind mit den
- amerikanischen Werten unvereinbar.« Eine Bestrafung der Folterknechte schloss Obama
- jedoch aus. Der Folterkerker Guantanamo zum Beispiel (wo ursprünglich über 700
- Gefangene festgehalten wurden, heute sitzen nach zwölf Jahren immer noch über 100
- Verdächtige ein) funktioniert weiter.
- Der Tessiner Abgeordnete Dick Marty, Berichterstatter des Europarates, verlangte 2007
- von der Regierung in Bern, dass sie den schweizerischen Luftraum für CIA-Flugzeuge mit
- rechtlosen Gefangenen darin schließe. Die Regierung lehnte Martys Ansinnen ab.
- D a s US-Folterprogramm lief unter dem Namen: Enhanced Interrogations (verschärfte
- Verhörmethoden). Die Zeitschrift Der Spiegel (Nr. 51, 2014) weist darauf hin, dass die CIA
- den Titel fast wörtlich von der Gestapo übernommen hat. Ab 1937 hieß das
- Folterprogramm der Nazi-Verbrecher offiziell: »Verschärfte Vernehmung«.
- Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Feinstein-Kommission sicherten über 6,2
- Millionen Dokumente der Jahre 2001 bis 2008: E-Mails, Telefonabhörprotokolle,
- Verhörberichte, administrative Anweisungen, medizinische Expertisen und vieles mehr.
- Zwei Wissenschaftler, beide Psychologen, die Professoren James Mitchell und Bruce
- Jessen, entwickelten das Folterprogramm. James Mitchell selbst entwarf zwölf besonders
- schreckliche Foltermethoden, darunter wochenlanges Einschließen in enge Stehzellen,
- Gegen-die Wand-Klatschen, Waterboarding (Eintauchen des Opfers in Wasser bis kurz vor
- dem Erstickungstod). Elf dieser Methoden wurden von der CIA-Direktion akzeptiert.
- Jessen und Mitchell wohnten auch persönlich den »verschärften Verhören« in diversen
- Geheimgefängnissen bei. Sie überprüften vor Ort die Effizienz ihrer Methoden und setzten
- für jedes Opfer die Schmerzgrenzen fest.
- Von Mitchell stammt auch die Anweisung, Leichname verstorbener Opfer sofort zu
- verbrennen, damit bei einer möglichen Autopsie Folterspuren nicht nachgewiesen werden
- können.
- Den beiden Wissenschaftlern James Mitchell und Bruce Jessen zahlte der amerikanische
- Steuerzahler für ihre »Arbeit« insgesamt über 80 Millionen Dollar.
- Welche Verwüstungen im Kollektivbewusstsein eine »falsche« Ideologie bewirken kann,
- haben wir im Kapitel III gesehen. Es gibt auch eine »falsche« Wissenschaft.
- Bei Rabelais heißt es: »Science sans conscience est la ruine de l’âme« (»Wissenschaft
- ohne Gewissen ist der Ruin der Seele«). In den Konzentrations- und Vernichtungslagern
- führten die NS-Wissenschaftler Experimente durch, die wissenschaftliche Erkenntnisse
- erbrachten. Aber jenseits der gewonnenen technischen Resultate war ihre Wissenschaft
- rein kriminelles Handeln, das nichts als Abscheu weckt und Strafe verdient. Später
- experimentierten in den Gefängnissen von Chile, Argentinien und Uruguay, in den
- sowjetischen Nervenkliniken Psychiater mit sogenannten »Wahrheitsdrogen« (das heißt
- Behandlungen, die darauf abzielten, den mentalen Widerstand des Gefangenen zu
- brechen). Diese chemischen Experimente haben unsere rein technischen Kenntnisse über
- die nervlich-psychischen Vorgänge beim Menschen und die chemischen Veränderungen in
- den Zellen des Gehirns vergrößert. Aber trotzdem waren es ungeheuerliche Verbrechen,
- die jeder zivilisierte Mensch unermüdlich anprangern muss.
- Ein weiteres Beispiel: Der spanische Jesuit José de Acosta veröffentlichte 1590 in Sevilla
- eine Historia natural y moral des las Indias, eine minutiöse Beschreibung der kurz zuvor
- von Spaniern und Portugiesen eroberten Neuen Welt. Acostas Werk ist vor allem eine
- bewundernswerte Bestandsaufnahme der Fauna und Flora, der geologischen
- Formationen, der klimatischen Bedingungen, der Geländebeschaffenheit, der Völker, ihrer
- Gepflogenheiten, ihrer Weltbilder, ihrer Bestattungsrituale, ihrer sexuellen
- Verhaltensweisen und Ernährungsgewohnheiten. Es wurde auf Anhieb ein großer Erfolg
- mit Übersetzungen in die meisten europäischen Sprachen und zahlreichen Auflagen. Vom
- 17. bis zum 19. Jahrhundert hatten die meisten Reisenden, die diese Gebiete
- ansteuerten, Acostas Buch im Gepäck, so auch Alexander von Humboldt, und stützten
- sich bei der Formulierung ihrer eigenen Hypothesen auf Acostas Beschreibungen.
- Und das sagte dieser bewunderungswürdige Gelehrte über die Männer, Frauen und
- Kinder, die er in Amerika traf und deren Verhaltensweisen er mit so viel Talent beschrieb:
- »Die Indianer sind Götzenanbeter. Sie kennen keine Schrift, sind dem Geld gegenüber
- gleichgültig und sind nicht beschnitten […] Es scheint uns, dass die Angelegenheiten der
- Indianer nicht mehr Beachtung verdienen als die, die man einem im Wald gefangenen
- Wildbret schenkt, das man zu unserem Dienst und Zeitvertreib nach Hause gebracht
- hat.«71
- Ich wiederhole es noch einmal: Die Folterpsychiater in Uruguay, Chile, Argentinien, in
- den sowjetischen Nervenkliniken, der NS-Mediziner Mengele und der spanische Jesuit
- Acosta trugen zur Vermehrung wissenschaftlicher Kenntnisse bei, aber um den Preis der
- Herabwürdigung oder Vernichtung von Menschen. Ihr Handeln ist uneingeschränkt zu
- verurteilen. Sie sind Feinde der Menschheit.
- IV. Wozu dient die Universität?
- Der Obstbaum, der kein Obst bringt
- Wird unfruchtbar gescholten. Wer
- Untersucht den Boden?
- Der Ast, der zusammenbricht
- Wird faul gescholten, aber
- Hat nicht Schnee auf ihm gelegen?
- Bertolt Brecht,
- Über die Unfruchtbarkeit72
- Bis zu meiner Ernennung zum UN-Sonderberichterstatter im Jahr 2000 habe ich den
- größten Teil meines beruflichen Lebens als Professor an der Universität Genf gewirkt. Ich
- habe diesen Beruf mit Leidenschaft, Dankbarkeit und großer Zufriedenheit ausgeübt. Auf
- welcher Legitimität beruhte diese Fähigkeit zu lehren, eine pädagogische Autorität
- auszuüben, von den Studenten zu fordern, dass sie die Examensnoten akzeptierten, die
- ich ihnen zugedacht hatte?
- Auf den ersten Blick lautet die Antwort: auf keiner Legitimität. Meine pädagogische
- Autorität war situationsbedingt: Sie leitete sich aus einem Erlass des Staatsrats (der
- Regierung) der Republik und des Kantons Genf ab, durch den ich zum Professor für
- Soziologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften berufen wurde. Mit
- anderen Worten: Meine Autorität als Professor hing vom zufälligen Stand des
- Klassenkampfs in der Schweiz ab, vom Kräfteverhältnis zwischen feindlichen Klassen, das
- in Genf zum Zeitpunkt meiner Berufung gerade das Fundament der (wirtschaftlichen,
- politischen, universitären) Institutionen bildete. Das ging im Übrigen nicht ohne sehr
- konkrete Kämpfe ab, und es hätte nicht viel gefehlt, dann hätten die Gegner meiner
- Berufung den Sieg davongetragen.73
- In unseren kapitalistischen Warengesellschaften im Westen werden wissenschaftliche
- Erkenntnisse vor allem von den Universitäten und den angegliederten Instituten und
- Forschungszentren produziert und verwaltet. Die Universität besitzt eine ideologische
- Macht, deren Ursprung und Funktionsweise eine Reihe von Fragen aufwerfen.
- Verschiedene Aspekte der heutigen Ausübung dieser vielschichtigen und beträchtlichen
- Macht – beispielsweise Selektion und die Reproduktion kognitiver und sozialer Hierarchien
- – müssen bekämpft werden. Aber in einem wesentlichen Punkt erscheint mir die
- gesellschaftliche und politische Rolle der Universität nützlich: Die ideologische Macht der
- Universität trägt dazu bei, die Autonomie, die Freiheit, die Entfaltung des Individuums zu
- fördern. Die Pariser Sorbonne ist im 13. Jahrhundert entstanden, als sich die Lehrer und
- Studenten allmählich aus der Bevormundung durch den Bischof und die Klöster befreiten.
- Die Universität Genf ging aus der Akademie hervor, die die calvinistischen Rebellen 1559
- gegründet hatten. Die Universität von Bologna, die als die älteste der westlichen Welt
- gilt, wurde 1088 gegründet.
- Was ist das Wesen der Universität?
- Als Produkt einer tausendjährigen Geschichte ist die Institution Universität weder ein
- reines ideologisches Instrument der herrschenden Klassen noch ein Elfenbeinturm
- realitätsfremden Wissens, akademischer Freiheiten und der metaphysischen Spekulation,
- wo sich die Erkenntnis der Welt und des Menschen abgeschottet von den sozialen Kräften
- vollzieht. Heute muss man sie gegen die Strategie der Oligarchien des multinationalen
- Finanzkapitals verteidigen, die in Frankreich, in der Schweiz, in Italien und Deutschland
- den Anschein zu erwecken versuchen, dass die Universität wegen ihrer archaischen
- Strukturen und ihrer Verpflichtung, möglichst viele Studenten auszubilden, nicht mehr in
- der Lage sei, Grundlagenforschung zu betreiben. Diese Aufgabe müsse stattdessen, so
- sagen sie, privaten Labors, Instituten und Forschungszentren übertragen werden.
- In ihrer langen, an Konflikten reichen Geschichte, hat die Universität nach und nach eine
- relative Autonomie errungen. Sie ist mit der und gegen die Aneignung der nacheinander
- herrschenden Klassen entstanden, in jeweils unterschiedlichen, von Widersprüchen
- geprägten Beziehungen. Daraus hat sich bis heute eine komplexe ideologische und
- gesellschaftliche Konstellation ergeben: Auf der einen Seite ist die Universität der
- symbolischen Gewalt des Kapitals ausgeliefert. Das Klassensystem und die Prinzipien von
- Rentabilität und Profit bestimmen die Auswahl der Studenten, die Berufung von
- Professoren und die Bestellung von Assistenten, die Lehrprogramme, die Organisation der
- Wissenskontrollen, die universitäre Machthierarchie. Die Universität ist eine Fabrik, die
- die weltweite gesellschaftliche Schichtung, die bestehenden Produktionsverhältnisse und
- den normativen Diskurs reproduziert. Sie manipuliert die Indizien für die Legitimität von
- Kenntnissen und ihren Produzenten. Die herrschenden Klassen rekrutieren dort ihre
- organischen Intellektuellen und ihre Kader.
- Andererseits sichert die Universität einen Freiraum für Forschung, schöpferisches Wirken
- und Innovation. Dieser Freiraum ist für die durch unsere überverwalteten,
- überausgestatteten, bürokratisierten Gesellschaften entfremdeten Menschen von
- lebenswichtiger Bedeutung. Die Universität ist heute einer der letzten Zufluchtsorte für
- kreatives Denken. Diesen Freiraum gilt es um jeden Preis zu bewahren. Das vorliegende
- Buch will dazu beitragen.
- Vor über vierzig Jahren formulierte der Astrophysiker Evry Schatzman Beobachtungen
- über die Natur der Universität, die bis heute gültig sind: »Die materiellen Veränderungen
- in einer bestimmten Gesellschaft spiegeln sich schließlich in der Repräsentation der
- gesellschaftlichen Beziehungen wider. Aber die materiellen Veränderungen reichen nicht
- aus. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden erst dann allgemein infrage gestellt,
- wenn die Distanzierung ein Massenphänomen wird. Dabei spielt die wissenschaftliche und
- universitäre Entwicklung eine wesentliche Rolle. Indem wir das Räderwerk aufdecken,
- legen wir eindeutig dar, dass die Rolle der Wissenschaft von ihrer Existenz herrührt und
- nicht von einer bestimmten Tätigkeit, die angeblich das Privileg der Wissenschaftler ist.
- Ebenso hängt die Rolle der Universität in erster Linie mit der Natur der Bildung
- zusammen, damit, dass die höhere Bildung zu einem Massenphänomen wird. So wie die
- französische Kolonialmacht in ihrem Gepäck Lehrer mitbrachte, die die Ideen der
- Französischen Revolution verbreiteten – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, so erstickt
- die Universität einerseits die Studenten in einem komplexen System von Initiationsriten,
- spiegelt auf der anderen Seite aber die rebellische, kreative und kritische Natur der
- Wissenschaft wider.«
- Und weiter heißt es bei Schatzman: »Genauso sind für die Wissenschaft trotz der
- hierarchischen Strukturen und der Entfremdungen die neuen Züge charakteristisch, weil
- sie Initiation, Macht und Repression infrage stellen, die nötige Distanz vermitteln, damit
- man die wahre Natur der Transmission der Institutionen und des Wissens erfassen
- kann.«74
- Die tägliche Aufgabe des Soziologen besteht darin, die Gesetze aufzudecken, die bei der
- Geburt, der Entwicklung und dem Verfall von Gesellschaften am Werk sind. Er muss sich
- unermüdlich bemühen zu enthüllen, wie die Gesellschaft hervorgebracht wurde, und – um
- Pierre Bourdieu zu zitieren – welche »Kräfteverhältnisse das Fundament ihrer Kraft
- bilden«. Dazu muss er hinter die täuschenden Vorstellungen, die Verschleierungen, die
- Illusionen und die Lügen blicken, die die Ideologien den Menschen aufzwingen. Die
- Universität bietet den idealen Freiraum für solches Tun.
- Nachtrag: Was die Wissenschaft über die Kunst sagen
- kann
- Die Wissenschaft ist absolut unfähig zu sagen, was Kunst ist. Trotz ihrer mächtigen
- gesellschaftlichen Wirkung gehört die künstlerische Praxis zu den menschlichen
- Betätigungen, die sich weitgehend dem wissenschaftlichen Zugriff entziehen.
- Die Wissenschaft, ganz besonders die Soziologie, hat trotzdem versucht, die Kunst zu
- ergründen. Aber dabei stieß sie sogleich auf eine Reihe von Schwierigkeiten.
- Erste Schwierigkeit: Das Feld der Kunst oder vielmehr die Felder der unterschiedlichen
- künstlerischen Produktionen sind derart mit Kommentaren, Beschreibungen, kritischen
- Urteilen, Interpretationen, geschichtlichen Darstellungen überfrachtet, dass der
- Wissenschaftler sie erst einmal entwirren muss, bevor er zu ihrem Objekt vordringen
- kann.
- Zweite Schwierigkeit: Die verschiedenen Formen der künstlerischen Produktion stellen
- jeweils eigene, in mehr oder weniger getrennte Bereiche zerschnittene Universen dar, die
- sich gegenüber der Wirtschaft und der Gesellschaft verselbstständigt haben, zuerst in der
- Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert im Westen, bis zum Anbruch des 21. Jahrhunderts
- dann in der ganzen Welt. Pierre Bourdieu, der vor allem untersucht hat, wie die Kunst am
- Ende des 19. Jahrhunderts autonom wurde, spricht von einem fremden Universum, in der
- eine »umgekehrte Ökonomie« herrscht, wo der Künstler durch finanziellen Profit jedes
- Prestige einbüßt und wo die Künste nur dann als solche »anerkannt« werden, wenn sie
- gerade nicht den ökonomischen Gesetzen gehorchen, die auf den anderen Feldern
- herrschen. Jeder künstlerische Teilbereich ist durch seine eigene Geschichte, eigene
- Zeitlichkeit, eigene gesellschaftliche Produktionsbedingungen und Handlungsweisen
- charakterisiert, hinzu kommt noch die unendliche Verzweigung der materiell und
- symbolisch betroffenen Objekte (Gemälde, Bauwerke, Sinfonien, Romane, Gedichte,
- Fotografien und so weiter). Dies alles in einem großen theoretischen Entwurf zu erfassen,
- stellt eine ungeheure Herausforderung dar, während gleichzeitig in diesen Bereichen ein
- lähmender Positivismus herrscht.
- Der Ungar Arnold Hauser hat sich dieser Herausforderung gestellt. Er gehörte 1915 in
- Budapest zum »Sonntagskreis«, einer Gruppe von Intellektuellen, die bei dem Filmkritiker
- und -theoretiker Béla Balázs zusammenkamen; zu der Gruppe gehörten auch Georg
- Lukács, Karl Mannheim und Friedrich Antal. Diese Gruppe institutionalisierte sich als
- »Freie Schule der Geisteswissenschaften«. Man debattierte über alle damals brennenden
- Fragen des kulturellen Lebens. Auf Anregung von Lukács engagierte sich Hauser ab 1917
- auch in der Kulturpolitik der Revolutionsregierung von Béla Kun, und wie Lukács musste
- er nach deren Sturz 1919 das Land verlassen. Nach einer Irrfahrt durch ganz Europa ließ
- sich Hauser schließlich in London nieder. Er hat eine kunstgeschichtliche Darstellung
- verfasst, die von der herrschenden Kunstkritik bis heute ignoriert wird: The Social History
- of Art and Literature, erschienen 1951. Auf die deutsche Übersetzung musste man
- zwanzig Jahre warten, auf die französische Übersetzung ein Vierteljahrhundert.75
- Einer rein formalistischen und idealistischen Geschichte der Kunst stellt Arnold Hauser
- eine echte Geschichte gegenüber. Er setzt die künstlerischen Formen und technischen
- Fähigkeiten mit den geistigen Strukturen und den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und
- politischen (den Arbeits- und Herrschaftsverhältnissen) Bedingungen einer jeden Epoche
- in Beziehung. Die Rezeption des Werks von Arnold Hauser, welche Kritiken, Widerstände,
- Entdeckungen es begünstigt hat, hat der italienische Kunsthistoriker Enrico Castelnuovo
- materialreich dokumentiert.76
- Kunst ist eine Hervorbringung des Menschen. Der Soziologe kann darum ihre Geschichte
- nachzeichnen, er kann die Produktionsbedingungen untersuchen. Wer sind die
- Produzenten und die Adressaten? Welches sind die Rezeptionsbedingungen? Wer
- definiert, was Kunst ist und was nicht? Wer legt die Norm und den Wert fest? Welche
- theoretischen Debatten werden geführt? Welche materiellen und technischen
- Innovationen haben die Kunst vorangebracht? Welchen Interessen dient sie? Wie werden
- die Künstler sozialisiert? Welchen Einflüssen unterliegen sie? Woher nehmen sie ihre
- Modelle? Woher und von wem erhalten sie ihre Inspiration? Im Rahmen welcher
- Institutionen arbeiten sie? Wer sind ihre Auftraggeber, ihre Kunden, ihre Händler, ihr
- Publikum? Was ist ihr Marktwert, und sogar, um eine Frage von Pierre Bourdieu im
- Hinblick auf die zeitgenössischen visuellen Künste aufzugreifen, »wer hat die Schöpfer
- geschaffen«?77
- Die Kunst produziert materielle und symbolische Güter, sie ist Gegenstand von
- Strategien, vermittelt Kenntnisse, Glaubensüberzeugungen, Ideologien und dient ihnen
- als Unterstützung; Kunst wird gesammelt, lässt Berufe und Vermittlungsinstanzen
- entstehen, unterhält finanzielle Kreisläufe, bringt Moden und Schulen hervor, wird zum
- kollektiven Erbe. Die Künstler schreiben sich in ihre Epoche ein, erhalten eine Ausbildung,
- unterliegen Einflüssen, profitieren von Entdeckungen, spüren neue Geschmacksrichtungen
- auf. All diese Umstände können erforscht werden.78
- Die Werke selbst – der Teil von Poesie und Verzauberung in der Literatur, das
- Geheimnis der Musik, das Un-Sinnige an der Musik, der Anteil der Genialität an der
- visuellen und plastischen Schöpfung, die emotionale Wirkung bestimmter Werke von
- Theater und Kino, die Talente, die in den betreffenden Werken erkennbar werden und so
- weiter –, all das wird leider von den soziologischen, anthropologischen und
- psychologischen Ansätzen kaum berührt und bleibt die Domäne der »Spezialisten« für die
- verschiedenen Künste: der Kunsthistoriker, Musikhistoriker, Theaterhistoriker, Ethnologen
- und anderen.79
- Die Beziehung zwischen den Werken und der Gesellschaft bricht jedoch nicht ab, wenn
- der schöpferische Akt vollendet ist. Sofern die Werke nicht zerstört werden, werden sie
- weitergegeben, verändert, neu interpretiert, wiedergelesen, sind sie Objekte wiederholter
- kultureller und gesellschaftlicher Filterungsprozesse, Träger vielfältiger Kenntnisse und
- Missverständnisse, nationale Kulturgüter. Die Rezeption der Werke und ihr Schicksal im
- Lauf der Zeit sind Teil des Forschungsgegenstands der Wissenschaft. Wie man sieht, ist
- die zu leistende Aufgabe gewaltig.
- Gibt es noch etwas hinter oder jenseits der Wissenschaft und der Ideologie? Existieren
- Formen der Wahrnehmung, die nicht dem rationalen Verständnis unterworfen sind? Wird
- es eines Tages möglich sein, eine wissenschaftliche Theorie der fühlenden Erkenntnis,
- eine wissenschaftliche Theorie der künstlerischen Schöpfung aufzustellen? Diese Fragen
- bleiben offen. Die Sozialgeschichte der Kunst und die Kunstphilosophie haben in den
- letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Aber es sieht sehr danach aus, als ob die
- Schönheit, das künstlerische Talent, die Qualität oder der existenzielle Wert von
- Kunstwerken in den Augen der Sozialwissenschaftler nach wie vor suspekt wären, weil sie
- mit der Subjektivität assoziiert werden, dem unauflöslichen Kern des menschlichen
- Wesens.
- Derzeit haben wir nur einige Gewissheiten: Die Gefühle, die Kunst im tiefsten Inneren
- des Menschen auslöst, die Kommunikation, die sie zwischen Menschen anregt, die neuen
- und immer unerwarteten Formen, die sie jeden Tag zu den bereits bestehenden Formen
- hinzufügt, sind wesentliche und unersetzliche Bereicherungen der menschlichen Existenz.
- FÜNFTES KAPITEL
- Die Ketten in unseren Köpfen
- Unsere Arme sind Zweige, mit Früchten überladen,
- Der Feind schüttelt sie.
- Er schüttelt uns, Tag und Nacht;
- Und um uns leichter und unbekümmerter
- plündern zu können,
- Legt er nicht mehr unsere Füße in Ketten,
- Sondern unsere Köpfe,
- Meine Geliebte.
- Nâzim Hikmet, »Die Feinde«80
- I. Die Entfremdung
- Antonio Gramsci war ein kluger Philosoph, ein unabhängiger Geist und ein unbeugsamer
- Revolutionär. Mit seinen wachen, dunklen Augen hinter den randlosen Brillengläsern,
- seinem mächtigen Haarschopf, seinem zurückhaltenden, zur geduldigen Analyse
- neigenden Temperament war der junge Sarde auch rein äußerlich der Prototyp des linken
- italienischen Intellektuellen. In Turin studierte er Philosophie und
- Literaturwissenschaften. Mit seinem fast gleichaltrigen Freund Palmiro Togliatti gründete
- er als knapp Dreißigjähriger 1919 die Zeitung L’Ordine Nuovo , die bald großen Einfluss in
- der politischen und literarischen italienischsprachigen Welt erlangte. 1921 entstand aus
- diesem Freundeskreis die Kommunistische Partei Italiens, deren Generalsekretär der
- junge Philosoph 1924 wurde. Sein Traum von der demokratischen Emanzipation der
- unterdrückten sozialen Klassen Italiens jedoch zerbrach. 1922 hatte König Vittorio
- Emanuele III. – eingeschüchtert durch den bedrohlichen faschistischen Marsch auf Rom –
- den ehemaligen Lehrer Benito Mussolini zum Ministerpräsidenten berufen. Dessen Partei
- gewann 1924 die Wahlen, ein Jahr später kassierte Mussolini die Freiheitsrechte und
- zementierte seine persönliche Diktatur.
- Antonio Gramsci wurde eingekerkert, seine Partei zerschlagen und verfolgt. Der
- Philosoph blieb praktisch Zeit seines verbleibenden Lebens hinter Gittern. 1937
- amnestiert, starb er kurze Zeit nach seiner Entlassung aus dem Kerker.
- In den Jahren von 1929 bis 1935 schrieb er sein Hauptwerk, bescheiden betitelt:
- Quaderni del carcere (Gefängnishefte). Für Gramsci wie für seine marxistischen Freunde
- konnte nur der Aufstand der unterdrückten Klassen zur Menschwerdung des Menschen,
- zur Emanzipation, zur revolutionären Gesellschaft führen. Aber anders als seine Genossen
- stellt Gramsci eine Bedingung: Der revolutionäre Aufstand kann nur dann eine befreite,
- gerechte Gesellschaft hervorbringen, wenn die Proletarier zuvor die »kulturelle und
- moralische Hegemonie« über sich selbst und über die alte Gesellschaft erringen. In den
- Quaderni, der umfänglichen Sammlung der von Gramsci im Gefängnis
- niedergeschriebenen Gedanken und Reflexionen, kommt das Konzept der »kulturellen
- Hegemonie« wie ein beschwörendes Mantra immer wieder vor.
- Hören wir Antonio Gramsci: »Man kann die politische Macht nicht übernehmen, ohne
- zuvor die kulturelle Macht übernommen zu haben.« Beinahe visionär hat Gramsci in
- seiner Zelle das zentrale Problem der menschlichen Emanzipation, des demokratischen
- Revolutionsprozesses erkannt. Heute liegt seine Vision in Trümmern.
- In den kapitalistischen Warengesellschaften in Europa, Nordamerika und Asien haben
- die Arbeiterklassen vorläufig den ideologischen Krieg verloren. Diese Niederlage erklärt,
- dass sie politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich durch die transkontinentale
- Finanzoligarchie und die mit ihr verbundenen bürgerlichen Klassen anhaltend beherrscht
- werden. Mit anderen Worten: Die Entfremdung der arbeitenden Klassen schreitet in dem
- Maß voran, wie die Monopolisierung des Kapitals und die Rationalisierung des
- imperialistischen Systems zunehmen. Wie Horkheimer gesagt hat: »Die Sklaven
- schmieden unablässig ihre eigenen Ketten.« Im Westen ist die Entfremdung der Arbeiter
- heute beinahe vollständig. Der Begriff »Entfremdung« stammt aus der materialistischen
- deutschen Philosophie und bezeichnet »den Menschen, der sich selbst fremd geworden
- ist«. Das Synonym ist Verdinglichung, »zum Ding werden«.
- Theodor W. Adorno verwendet noch einen anderen Begriff: Entäußerung. Er bedeutet,
- »sich freiwillig von seiner eigenen Substanz trennen«. Das Individuum verliert seine
- Einzigartigkeit und wird allein auf seine Funktion in der Warengesellschaft reduziert.
- Der Mensch existiert, entwickelt und reproduziert sich nur mit der Hilfe anderer
- Menschen, im wechselseitigen Austausch und in gegenseitiger Ergänzung. Ohne
- Gesellschaft und ohne Geschichte gibt es keine Menschen. Und es gibt keine Gesellschaft
- ohne ein kollektives System der Selbstdeutung, das die menschlichen Erfahrungen in
- einen großen Zusammenhang bringt und in richtiger oder falscher Weise auf die
- grundlegenden Fragen antwortet, die sich die Menschen stellen. Der von den anderen
- Menschen getrennte Mensch ist nur ein Schrei. Deshalb ist es die implizite Strategie im
- wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen System des heutigen
- Kapitalismus, den Menschen auf sein Funktionieren in der Warengesellschaft zu
- beschränken. Auf diese Weise »enthumanisiert« man den Menschen, um eine
- Formulierung von Georg Lukács aufzugreifen.
- Was auch immer der dominierende Diskurs der neoliberalen kapitalistischen Oligarchien
- behauptet, nicht der Mensch, seine Selbstverwirklichung und die schrittweise Entfaltung
- seiner schöpferischen Kräfte bestimmen den Aufbau der Gesellschaft. Vielmehr hat eine
- Verschiebung stattgefunden: Die Parameter des gesellschaftlichen Prozesses, welche die
- abhängigen Klassen – und die herrschenden Klassen im Übrigen auch – verinnerlicht
- haben, heißen nunmehr technischer Fortschritt, Rentabilität der Produktion, Konkurrenz,
- Wettbewerbsfähigkeit, Tauschwert, Funktionalität, Konformität. Auf diese Weise wird der
- Mensch von den anderen Menschen und von der kollektiven Sinnsuche abgetrennt, er ist
- allein. Er wird ein Fremder für sich selbst.
- Zwei Analysen der Entfremdung in Europa erscheinen besonders hilfreich: einmal die von
- Karl Marx und seinen Nachfolgern, und dann die von Roger Bastide.
- Im Zentrum der marxistischen Theorie steht die »doppelte Reproduktion«. Was ist damit
- gemeint?
- Das Ziel der »Entfremdung« ist die Reduzierung des Menschen auf sein reines
- Funktionieren in der Warengesellschaft. Mit anderen Worten: die Zerstörung seiner
- einzigartigen Identität. In der kapitalistischen Warengesellschaft sind die
- Produktionsverhältnisse fundamental ungleich. Der Arbeiter vor seiner Maschine, die
- Supermarktverkäuferin vor ihrer Kasse, der Büroangestellte vor seinem Computer – sie
- alle erleiden, reproduzieren und akzeptieren nolens volens diese Ungleichheit.
- Gezwungenermaßen setzen sie die ungleichen Arbeitsbedingungen um. Noch bevor sie
- am Morgen an ihrem Arbeitsplatz ankommen, haben der Arbeiter, die Verkäuferin und der
- Angestellte ihre Bedingungen als Unterdrückte und Ausgebeutete in ihren Köpfen
- reproduziert, also verinnerlicht, akzeptiert und legitimiert. In dem Augenblick, in dem
- nach Verlassen der Wohnung der Arbeiter seinen Motorroller anwirft, die Verkäuferin zur
- U-Bahn hinuntersteigt und der Angestellte sein Auto anlässt, vollziehen sie die erste
- Reproduktion. Die zweite kommt, wenn sie konkret mit der Arbeit beginnen.
- Der Mensch konkretisiert seine Freiheit in der Arbeit. Er wird vom anderen in seinen
- Werken erkannt, und er erkennt den anderen in dem, was er aus seinem Leben macht.
- Die Arbeit schafft die Reziprozität, die die Grundlage jeder gesellschaftlichen Existenz
- bildet. Jean-Paul Sartre hat geschrieben: »Der Mensch ist das, was er aus dem macht,
- was man mit ihm gemacht hat.« Gesellschaftliche und persönliche Existenz fließen in der
- Arbeit zusammen.81
- Die kapitalistische Produktionsweise bricht diese Einheit auf: Die kapitalistische
- Verdinglichung entfremdet den Menschen dem Produkt seiner Arbeit und damit dem, was
- ihn zum Menschen macht.82 Dieser Punkt ist mir besonders wichtig: Der Kapitalismus
- setzt die Warenbeziehung als universelle Beziehung durch. Im kapitalistischen System
- muss die Arbeitskraft verkauft werden. Sie hat einen Preis. Dieser Preis wird durch den
- Tauschwert bestimmt, das heißt durch die Summe der Güter, die für ihre Reproduktion
- erforderlich sind. Die Objektivierung der menschlichen Arbeit führt somit zur formalen
- Gleichsetzung aller Arten von menschlicher Arbeit. Das bedeutet den totalen Bruch mit
- dem Universum der organischen Produktion von Gütern, die nach dem Gebrauchswert
- ausgerichtet ist. In Bezug auf was sind die Waren für den unterschiedlichen Gebrauch im
- kapitalistischen System austauschbar? Natürlich in Bezug auf ihren Tauschwert. Und der
- Tauschwert wird nach der gesellschaftlichen Zeit bemessen, die für die Produktion der
- betreffenden Güter aufgewendet werden muss. Aber die gesellschaftliche Zeit des
- kapitalistischen Systems, das den universellen Austausch der Waren sicherstellt, wird in
- eine ganz bestimmte Dynamik investiert.
- Die Besitzer der Produktionsmittel betreiben die beschleunigte Akkumulation und die
- kontinuierliche Profitmaximierung. Dabei unterwerfen sie den Prozess der Arbeit einer
- zunehmenden Rationalisierung. Die Rationalisierung beschleunigt wiederum die
- kontinuierliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durch die Komprimierung der
- gesellschaftlichen Zeit, die für die Produktion aufgewendet wird. Die schrittweise
- Universalisierung der Warenform führt auf diese Weise zu einer Abstraktion der
- menschlichen Arbeit. Zuerst objektiviert sich die Arbeit in der Ware, wird zur Ware. Dann
- verändern sich die gesellschaftlichen Beziehungen selbst (ursprünglich reziproke,
- komplementäre, solidarische Beziehungen) und werden immer mehr zu
- Warenbeziehungen. Auf diese Weise tendiert die Gesamtheit der Beziehungen – sie
- machen ein menschliches Wesen aus – zur schrittweisen Verdinglichung, zur Verwandlung
- in eine Ware. Dies betrifft und verändert die Beziehungen zwischen den Menschen, löst
- sie von der Gesellschaft ab und enthumanisiert sie damit.
- Die gesellschaftliche Zeit ist das Maß, wie viel Arbeit zur Herstellung einer bestimmten
- Ware gesellschaftlich nötig ist. Die Arbeitszeit wird zunächst als mittlere Arbeitszeit
- empirisch erfasst. Aber unter dem Einfluss einer immer stärkeren Automatisierung wird
- die Arbeitszeit »als objektiv berechenbares Arbeitspensum« begriffen, »das dem Arbeiter
- in fertiger und abgeschlossener Objektivität gegenübersteht«, wie Georg Lukács sagt.83
- An dem Punkt kündigt sich der Niedergang des kulturellen Systems an, dessen Träger
- der Produzent ist: Konfrontiert mit einem fertigen und abgeschlossenen System, dem
- System der rationalisierten Arbeit, das unabhängig von seinen Wünschen funktioniert,
- nach Festlegungen, auf die er keinen Einfluss hat, versinkt der arbeitende, der
- produzierende Mensch allmählich in einer Art von Gleichgültigkeit. Der Mensch weiß, dass
- er keine Kontrolle mehr über die Welt hat, und zieht sich geistig von der Welt zurück. Sein
- System der Selbstinterpretation, seine Vision der Welt, kurzum sein symbolisches
- Universum torkelt ins Leere. Oder wie Marx sagt: »Das Pendel der Uhr [ist] der genaue
- Messer für das Verhältnis der Leistungen zweier Arbeiter geworden, wie er es für die
- Schnelligkeit zweier Lokomotiven ist. So muß es nicht mehr heißen, daß eine [Arbeits-]
- Stunde eines Menschen gleichkommt der Stunde eines andern Menschen, sondern daß
- vielmehr ein Mensch während einer [Arbeits-] Stunde soviel wert ist wie ein anderer
- Mensch während einer Stunde. Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist
- höchstens noch die Verkörperung der Zeit.«84
- Und nun die Theorie der Entfremdung, wie sie Roger Bastide formuliert hat.
- Bastide interessierte sich in erster Linie für die psychologischen und psychosomatischen
- Auswirkungen, die der mentale Strukturverlust, die Angst des Individuums verursachen.
- Der Strukturverlust und die Angst sind die Folge der zunehmenden Verdinglichung des
- Bewusstseins der Menschen. In den kapitalistischen Warengesellschaften des Westens
- sind die Menschen zu Waren geworden. Sie müssen in scheußlichen Bauten wohnen,
- werden wie Waren in Betonsilos gelagert, einsortiert, nummeriert. Immer mehr
- »Siedlungen« umzingeln das, was von den europäischen Städten, wie man sie früher
- kannte, noch übrig ist. Die Warenwelt der Banker und Immobilienspekulanten dringt in
- die Städte ein und verwüstet alles bis zum letzten Stein. Auch die Sprache folgt der
- allgemeinen Tendenz zur Anonymisierung. Die alten Symbolsysteme sterben. An ihre
- Stelle tritt eine notdürftige Verständigung, ein phonetisches Stammeln, wie es die in
- ihrem Realismus erschreckenden Figuren in den Filmen von Jean-Luc Godard ausstoßen.
- Die neuen Lautsysteme bringen im eigentlichen Sinn des Wortes nichts mehr zum
- Ausdruck. Sie dienen nur dazu, das für die Produktion, die Verteilung und den Konsum der
- Waren unverzichtbare Minimum von Verständigung zwischen den Menschen
- aufrechtzuerhalten. Selbst das Geld ist heute anonym. Früher war Geld »das Blut der
- Armen«85. In der ursprünglichen kapitalistischen Gesellschaft war seine Akkumulation in
- den Händen einiger Weniger das sichtbare Zeichen der Ausbeutung, des Elends und der
- Unterdrückung der großen Masse. Die Theaterstücke von Ibsen, Strindberg, Wedekind
- und Hauptmann legen Zeugnis von der Leidenschaft für Geld in den bürgerlichen Klassen
- des 19. Jahrhunderts ab, davon, welche blutigen Dramen, welche Verfehlungen und
- welche Schlachten diese Leidenschaft verursachte. Das Geld war Objekt der Begierde
- oder des Abscheus. Ibsens Stücke Ein Puppenheim (1879) und Hedda Gabler (1890),
- August Strindbergs autobiografischer Roman Der Sohn einer Magd (1886) und sein Stück
- Fräulein Julie (1888), die die Zuschauer und Leser erst in Oslo und Stockholm und bald in
- der ganzen Welt begeisterten, drehen sich alle mehr oder weniger um das gleiche
- Problem: die Mesalliance, die romantische Liebe, die nicht standesgemäße Leidenschaft
- zwischen Menschen, die unterschiedlichen Gesellschaftsklassen angehören und
- unterschiedlich viel Geld besitzen. Das Geld trennt sie, zerstört ihre Leidenschaft,
- verwandelt die Liebe, die sie anfänglich verband, in Eifersucht und Hass.
- Roger Bastide schreibt dazu: »Als Objekt der Zuneigung, Quelle von Mesalliancen und
- vielfältigen täglichen Dramen war das Geld damals Träger existenzieller Werte. Heute
- haben das Geld und die Ware, seine perfekte Verkörperung, jede Individualität verloren.
- Die Ware ist zum schlichten Referenzsystem eines verrückten Wettlaufs um Produktion,
- Konsum, Reproduktion und erneutem Konsum von Gütern geworden, die bei diesem
- Wettlauf ihre Qualität als Güter eingebüßt haben.«86
- Die Gehirnwäsche – ob durch staatliche Propaganda, durch die perversen Weltbilder
- bestimmter religiöser Bewegungen oder durch die verlogene Werbung der großen
- Handelsunternehmen – erstaunt niemanden mehr. Die täglichen, unendlich geschickten
- Aggressionen haben den Widerstand der meisten Menschen schon vor langer Zeit
- gebrochen. Man könnte denken, dass zumindest der Körper, die letzte Bastion der
- konkreten Individualität der Menschen, mit seinen geheimnisvollen Kreisläufen, seinen
- verborgenen Organen, seinem pulsierenden Leben dem Kannibalismus der Warenwelt
- entzogen bliebe. Weit gefehlt! Die Nieren, das Herz, die Lungen, die Leber und die Augen
- sind heute Waren. Die wichtigsten Organe des Menschen werden gekauft, verkauft,
- transplantiert, gelagert, vermarktet. In den amerikanischen Krankenhäusern zirkulieren
- bebilderte Kataloge, in denen Organe zum Kauf angeboten werden. Organbanken und -
- börsen setzen immer mehr Organe um. Der menschliche Körper, der lebende wie der
- tote, wird Teil des Kreislaufs der produzierten, konsumierten, reproduzierten und wieder
- konsumierten Dinge. Dieser Kreislauf und seine Beschleunigung erzeugen eine – für den
- Menschen – radikal neue Situation in der Geschichte der Gesellschaften. Roger Bastide
- definiert sie so: »Man kann sagen, dass die (Waren-)Gesellschaft ein Modell unserer
- Persönlichkeit vom Typ der Schizophrenie begünstigt, wie sie der Psychiater definiert, das
- heißt: Unpersönlichkeit der menschlichen Beziehungen, affektive Gleichgültigkeit und
- Isolierung in den großen Metropolen, auf den Geschlechtsakt reduzierte Sexualität,
- Fragmentierung unserer täglichen Verhaltensweisen infolge unserer Zugehörigkeit zu
- vielfältigen Gruppen, die uns oftmals widersprüchliche Rollen aufzwingen, Verlust des
- Gefühls der Verwurzelung in der sozialen Welt wie auch des Gefühls für unsere
- persönliche Identität, Vermännlichung der Frau, generelle Zunahme unserer
- Abhängigkeiten statt Eroberung von Autonomie.«87
- Und etwas weiter: »Am schlimmsten ist, dass die Beschleunigung der Geschichte zu
- einer fundamentalen Diskontinuität im Verlauf unseres Lebens führt, dass sie langsame
- Entwicklungen durch brutale Veränderungen ersetzt und das Individuum damit zwingt,
- permanent seine Energien zu mobilisieren und, wenn es nicht genug davon hat, gegen
- die unvorhergesehenen Veränderungen und die Vielzahl der Brüche anzukämpfen,
- entweder durch eine neurotische Reaktion oder durch die rigiden Strukturen der
- Psychose, um das Trauma der Veränderung ohne Atempause aufzuheben.«88
- II. Das homogenisierte Bewusstsein
- Die Sterne sind fern, sagt Ihr?
- Und unsere Erde ist ganz klein.
- Und wenn schon!
- Darüber lache ich.
- Denn das finde ich viel wichtiger,
- Viel gewaltiger
- Viel geheimnisvoller und viel größer:
- Einen Menschen, den man hindert zu gehen;
- Einen Menschen, den man in Ketten legt.
- Nâzim Hikmet,
- »Leben und Tod von Benerdji«89
- Die kapitalistische Warengesellschaft im Westen steht unter der Herrschaft des
- versteinerten, homogenisierten Bewusstseins: Die Entfremdung ist beinahe vollständig.
- Sie betrifft alle Klassen und jedes Klassenbewusstsein, die Herrschenden erleiden sie
- ebenso wie die Beherrschten. Oft lassen sich diejenigen, die täuschen, als Erste selbst
- täuschen. In Westeuropa restrukturiert die transkontinentale kapitalistische Oligarchie –
- die aus den Handel treibenden bürgerlichen Klassen und der kolonialen Akkumulation im
- 19. und 20. Jahrhundert hervorgegangen ist – ihr System der Beherrschung, indem sie die
- verbreiteten Wünsche nach Freiheit und allgemeiner Brüderlichkeit, die aus den
- Widerstandskämpfen gegen den Faschismus erwachsen sind, zu ihrem Vorteil umlenkt
- und pervertiert.
- Die Art und Weise, wie die herrschende Klasse, konkret die Chefs der transnationalen
- Konzerne, die Banker, Industriellen und ihre Söldner, sich ihre eigene Praxis vorstellt, ist
- offensichtlich keine wissenschaftliche Theorie dieser Praxis. Wäre das der Fall, würde sie
- darauf hinwirken, ihnen jedes Mittel zum Handeln zu nehmen, denn die Theorie würde
- zeigen, wie die Praxis funktioniert, wem sie nützt, wen sie ausbeutet, wen sie tötet, wen
- sie über seine Ziele täuscht. Niemand würde sie mehr akzeptieren. Doch das Gegenteil ist
- der Fall: Die herrschende Klasse produziert Erklärungen, die ihre Praxis falsch darstellen,
- damit sie ihre Herrschaft weiter ausüben kann, und die sie gleichzeitig als logisches,
- harmloses, natürliches, alternativloses Handeln im Dienst der Nation und der
- Allgemeinheit legitimieren.
- Die Ideologie der Herrschenden belügt nicht nur die Beherrschten. Sie führt oftmals auch
- die hinters Licht, die sie propagieren. Tatsächlich kommt es häufig vor, dass die
- Hauptprotagonisten des Imperialismus fest an die Wohltätigkeit ihrer Mission glauben. Im
- Übrigen greifen die Herrscher aus den Banken, den Handelsgesellschaften und den
- transkontinentalen Industriekonzernen oft auf Ideologien der Vergangenheit zurück, die
- Bildung und Sozialisation als universelle Wahrheiten in den Köpfen aller Menschen
- verankern und ihnen ihre Urteilskriterien liefern. Und so wird die reale Praxis der
- herrschenden Klasse, die Praxis, die die unerträgliche Ordnung der Welt verkörpert, für
- gut befunden auf der Grundlage von Parametern, die aus falschen Voraussetzungen
- resultieren.
- Heute sieht der Vorstandsvorsitzende eines transkontinentalen Bankenimperiums
- dieselben Fernsehsendungen wie der Arbeiter, die Putzfrau, der Bauer oder der
- Angestellte. Er hat die gleichen Wahrnehmungskategorien wie sie und ist dem Wirken
- derselben medialen Vermittler unterworfen. Die Homogenisierung des kollektiven
- Bewusstseins, die wir heute feststellen, ist das Ergebnis einer langen Geschichte.
- Ein Beispiel: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen für die Französische Schweiz führte bei
- Fernsehzuschauern (eine Stichprobe von tausend Personen aus allen
- französischsprachigen Regionen des Landes, allen sozialen Schichten, Altersgruppen und
- so weiter) eine Umfrage durch. Sie sollten folgende Frage beantworten: Sind die
- politischen Sendungen, die politischen Informationen des französischsprachigen
- Fernsehens eher links oder eher rechts ausgerichtet? Ergebnis: 12,3 Prozent sagten »eher
- links«, 12,7 Prozent fanden sie »eher rechts«, 75 Prozent meinten »weder das eine noch
- das andere«. Das bedeutet, dass drei Viertel der befragten Fernsehzuschauer glauben, ihr
- öffentliches Fernsehen gebe Tag für Tag die Wahrheit über die Welt wieder, berichte die
- objektive Realität der Dinge.
- Das Ergebnis ist erstaunlich: Wie bei jeder Kommunikationseinrichtung bestehen und
- herrschen auch im französischsprachigen schweizerischen Fernsehen bestimmte
- ideologische Strategien. Aber in der französischsprachigen Schweiz hat die
- Homogenisierung des Bewusstseins, die Verdinglichung, bereits ein solches Ausmaß
- erreicht, dass 75 Prozent der Konsumenten der Information keinen kritischen eigenen
- Gedanken mehr entgegensetzen.
- Was wird aus einem Menschen, der unter der Herrschaft des homogenisierten
- Bewusstseins lebt? Max Horkheimer hat diese Frage beantwortet: »Die Maschine hat den
- Piloten abgeworfen, sie rast blind in den Raum. Im Augenblick ihrer Vollendung ist die
- Vernunft irrational und dumm geworden. Das Thema dieser Zeit ist Selbsterhaltung,
- während es gar kein Selbst zu erhalten gibt […] Wenn wir vom Individuum als einer
- historischen Kategorie sprechen, meinen wir nicht nur die raum-zeitliche und sinnliche
- Existenz eines besonderen Gliedes der menschlichen Gattung, sondern darüber hinaus,
- daß es seiner eigenen Individualität als eines bewußten menschlichen Wesens inne wird,
- wozu die Erkenntnis seiner Identität gehört.« Und weiter: »Individualität setzt das
- freiwillige Opfer unmittelbarer Befriedigung voraus zugunsten von Sicherheit, materieller
- und geistiger Erhaltung der eigenen Existenz. Sind die Wege zu einem solchen Leben
- versperrt, so hat einer wenig Anreiz, sich momentane Freuden zu versagen […]
- Gesellschaftliche Macht ist heute mehr denn je durch Macht über Dinge vermittelt. Je
- intensiver das Interesse eines Individuums an der Macht über Dinge ist, desto mehr
- werden die Dinge es beherrschen, desto mehr werden ihm wirklich individuelle Züge
- fehlen, desto mehr wird sein Geist sich in einen Automaten der formalisierten Vernunft
- verwandeln.«90
- Noch einmal Horkheimer: »Wenn […] jeder Mann ein König sein kann, warum kann nicht
- jedes Mädchen eine Filmkönigin sein, deren Einmaligkeit darin besteht, typisch zu sein?
- Das Individuum hat keine persönliche Geschichte mehr […] ›Wir erschöpfen uns in ewigen
- Kreisen/Stets umherirrend und immer hier!‹«91
- Die Einkommensunterschiede zwischen den Klassen ändern daran nichts. Die Warenlogik
- zerstört die alltägliche Lebensqualität der Beherrschten wie der Herrschenden. Die
- Verschmutzung von Luft und Wasser betrifft alle und zerstört die Landschaften für alle.
- Die extremen Gefahren der Energieproduktion durch Kernkraftwerke – deren technische
- Probleme keineswegs vollständig gelöst sind – bedrohen konkret die Gesundheit aller
- Bevölkerungsschichten. Dem täglichen, intensiven Lärm in den Städten sind Arbeitgeber
- wie Arbeitnehmer ausgesetzt. Giftige Autoabgase und das generelle Fehlen einer Politik,
- die konsequent umweltfreundliche, öffentliche Transportmittel fördert, macht den
- Straßenverkehr nahezu unerträglich, und zwar für die Herrschenden genauso wie für die
- Beherrschten. Die Gewalt der Warengesellschaft ist heute strukturell, die Ohnmacht
- angesichts der Gewalt ist paradoxerweise in allen Klassen ähnlich.
- Die Gewalt der Warengesellschaft – vor allem in der Werbung – praktiziert das, was
- Herbert Marcuse als repressive Bedürfnisbefriedigung bezeichnet. Was ist damit gemeint?
- Die Warenlogik erzeugt selbst die Bedürfnisse, die sie anschließend im Überfluss
- befriedigt. Der Gebrauchswert verschwindet, der Mensch verliert noch die Erinnerung an
- die Suche nach dem Sinn. Er wird eindimensional, uniform. Seine Identität liegt in seiner
- Übereinstimmung mit der Funktionalität der Warengesellschaft. Marcuse sagt, die einzige
- Zuflucht der menschlichen Würde sei heute das »unglückliche Bewusstsein« des
- Menschen. Das »unglückliche Bewusstsein« weiß, dass das, was ist, falsch ist. Es kennt
- die wahren materiellen, intellektuellen, emotionalen und existenziellen Bedürfnisse. Aber
- es nimmt gleichzeitig auch die Ohnmacht wahr, es weiß genau, dass es seine eigenen
- existenziellen Bedürfnisse dem – autonom gewordenen – System der Warenlogik nicht
- aufzwingen kann. In den westlichen Gesellschaften existiert heute ein umfangreicher
- institutioneller Apparat zum Schutz der Menschenrechte, der das Recht auf freie
- Entfaltung eines jeden Menschen propagiert. Dazu hat Marcuse eine interessante
- Bemerkung gemacht: Die Toleranz, die wir im Westen genießen, ist repressiv. Sie endet
- an den Grenzen der Warengesellschaft. Wer immer etwas fordert oder tut, was das
- Funktionieren dieses Systems infrage stellt oder beeinträchtigt, wird sofort aus der
- Diskussion ausgeschlossen. Er wird denunziert, pathologisiert, marginalisiert. Oft erlebt er
- soziale Repression (durch Einweisung in eine psychiatrische Klinik, durch Kriminalisierung
- des Protests und so weiter), kurzum Isolation.
- Die Menschenrechte, der relativ große Spielraum, den die repressive Toleranz den
- Männern und Frauen im Westen einräumt, sind im Übrigen mit dem Blut und dem Leiden
- von vielen Millionen anderer Menschen und Frauen erkauft. In zahlreichen Ländern der
- südlichen Hemisphäre sind Hunderte Millionen von Massenarbeitslosigkeit, dauerndem
- Hunger und Krankheiten gepeinigt. Weil das transnationale Kapital des Zentrums
- (Europa, Nordamerika) eine beschleunigte Akkumulation der Profite aus der Arbeitskraft,
- den Rohstoffen der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas betreibt, kann es seinen
- Subjekten im Zentrum einen relativ größeren Spielraum von »Freiheit« zugestehen. Die
- Existenz freiheitlicher politischer Regimes im Zentrum wird durch die übermäßige
- Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft in der Peripherie erst ermöglicht. Oder wie
- Régis Debray es ausgedrückt hat: »Freie Menschen brauchen Sklaven.«
- Heute ist die Arbeiterbewegung nicht mehr die wichtigste revolutionäre Kraft in der
- Warengesellschaft. Warum? Max Horkheimer gibt folgende Antwort: Die Führer der
- Gewerkschaften »kontrollieren wie die Direktoren der großen Gesellschaften die
- Rohmaterialien, Maschinen oder anderen Produktionsfaktoren. Die Arbeiterführer sind die
- Manager der Arbeiterschaft, manipulieren sie, machen für sie Reklame und versuchen,
- ihren Preis so hoch wie möglich festzusetzen. Gleichzeitig hängen ihre eigene
- gesellschaftliche und ökonomische Macht, ihre Positionen und Einkommen, die alle der
- Macht, Position und dem Einkommen des einzelnen Arbeiters weit überlegen sind, vom
- Industriesystem ab.«92
- Und weiter sagt Horkheimer: »Die Arbeiter, zumindest jene, die nicht durch die Hölle
- des Faschismus gegangen sind, werden sich jeder Verfolgung eines Kapitalisten oder
- Politikers anschließen, der angeprangert wird, weil er die Spielregeln verletzt hat; aber
- sie stellen die Regeln als solche nicht in Frage. Sie haben es gelernt, gesellschaftliche
- Ungerechtigkeit – selbst Ungleichheit innerhalb ihrer eigenen Gruppe – als mächtige
- Tatsache hinzunehmen und mächtige Tatsachen als das einzige anzusehen, was zu
- respektieren ist. Ihr Bewußtsein ist Träumen von einer grundlegend anderen Welt ebenso
- verschlossen wie Begriffen, die, anstatt eine bloße Klassifikation von Tatsachen zu sein,
- an einer realen Erfüllung dieser Träume orientiert sind. Die modernen ökonomischen
- Verhältnisse bewirken sowohl in den Mitgliedern als auch in den Führern der
- Gewerkschaften eine positivistische Haltung, so daß sie einander immer mehr ähneln.«93
- Dieser visionäre Text wurde 1944 in den Vereinigten Staaten geschrieben. Ihm lagen
- Beobachtungen darüber zugrunde, wie die gigantischen bürokratischen Apparate der
- amerikanischen Gewerkschaften funktionierten. Jean Duvignaud stellt in einem Aufsatz,
- der ebenfalls von offenkundiger Aktualität ist, ähnliche Beobachtungen über die
- Arbeiterbewegung in Europa an: »Wenn man die kargen und konfusen Ideen Revue
- passieren lässt, die heute im Westen der Begriff Revolution weckt, muss man zugeben,
- dass das Wort nichts mehr anderes bezeichnet als den Wunsch nach rationaler
- Bewältigung des unvermeidlichen Wachstums. Das ist der Preis für fragile Sicherheit.«
- Und weiter schreibt er: »Es ist möglich, dass sich die massive Frustration, die im letzten
- Jahrhundert die Utopie am Leben erhielt, abgeschwächt hat. Niemand malt sich mehr die
- Revolution aus, weil niemand mehr sich der Welt des Doppelspiels aus Achtung vor einer
- Ordnung und konzertierter Opposition entziehen kann. Die politischen Gegner stellen die
- Bewahrung der Gesellschaft und die Logik, die ihre jeweiligen Kontrahenten in eine
- beruhigende Synthese hineinzieht, nicht infrage […] Die Idee der Revolution erschöpft
- sich in den Auseinandersetzungen von Sekten. Sie resultierte aus der Feststellung eines
- Subjekts, dass die Fülle des menschlichen Daseins in einer materiellen Weise einforderte,
- die für die hierarchische Ordnung subversiv ist. Sie war nicht nur das konkrete Universum
- der Philosophen, sondern das stets ungestillte Streben nach allem, was der Mensch von
- der Welt und von anderen Menschen bekommen kann.«94
- Etwas ist heute unübersehbar: Die sozialistischen Bewegungen des kapitalistischen
- industriellen Zentrums – und die Intellektuellen, die sich in ihren Dienst stellen – haben
- den ideologischen Krieg vorläufig verloren oder, wie Louis Althusser sagt, den
- »theoretischen Klassenkampf«. In Europa liefern nicht mehr die sozialistischen
- Bewegungen und ihre organischen Intellektuellen den arbeitenden Menschen die Bilder
- und Symbole, die sie brauchen, um die Welt wahrzunehmen, zu analysieren, zu
- verstehen, zu denken. Die Integration der europäischen Arbeiter in die Strategie und das
- imperialistische Projekt war der Tod aller Theorie, aller praktischen Solidarität mit den
- unterjochten Klassen der Dritten Welt. Der Schrecken von Hunger, Demütigung, Zerfall
- der Familien und Folter, den die Menschen in zahlreichen Ländern der südlichen
- Hemisphäre erleiden, wurde von der symbolischen Gewalt des Kapitals »naturalisiert«, zu
- etwas »Normalem« und »Unvermeidlichem« deklariert. Erinnern wir uns: Die Urheber des
- sogenannten »Kriegs gegen den Terrorismus«, allen voran der amerikanische Präsident
- George W. Bush, haben die Folter, das letzte Mittel der Gewalt, zu etwas »Normalem«
- gemacht.
- Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre, an einen fernen Tag im September
- 1973, als ich am Bahnhof Cornavin in Genf auf Roger Bastide wartete. Er kam aus Paris,
- sein Zug hatte Verspätung. Ein Radio, das beim schweizerischen Zoll auf dem Rand des
- Schalters stand, verkündete die ersten Nachrichten des Tages: »Staatsstreich in Chile.
- Eine Militärjunta unter General Augusto Pinochet übernimmt die Macht von Präsident
- Salvador Allende.« Zwei Zöllner hörten nachdenklich zu, und dann sagte der eine, den ich
- aus der Gewerkschaft für öffentliche Dienste, der auch ich angehöre, kannte: »Das
- musste ja so kommen! Wenn ein Volk nicht mehr arbeitet, passieren solche Sachen.«
- Dieser Mann, sozialistischen Ideen zugeneigt, kultiviert und ehrlich bemüht, die
- Menschen und seine Zeit zu verstehen, reproduzierte in dem Augenblick in gutem
- Glauben die Sichtweise, die die Oligarchie – durch die Presse, das Radio, die Schule und
- das Fernsehen – ihm aufgezwungen hatte und die er für das wahre Bild der Welt hielt:
- Chile unter der Volksfrontregierung hatte wirtschaftliche Schwierigkeiten, die die Schweiz
- nicht kannte. In der Schweiz arbeiten alle viel. Wenn Chile Schwierigkeiten hatte, dann
- konnte es nur daran liegen, dass unter der linken Regierung des Bündnisses Unidad
- popular die Arbeitsmoral zu wünschen übrig ließ; die Leute da unten machten
- »Revolution«, anstatt zu arbeiten. In den Augen des Schweizer Zöllners war es deshalb
- normal, dass diese Regierung stürzen musste.
- Seit diesem Tag, dem so viele weitere Schrecken folgten, hat die Homogenisierung des
- Bewusstseins noch zugenommen. Sie hat sich noch einmal verstärkt, seit die bipolare
- Welt nicht mehr besteht, die »kommunistischen« Alternativen verschwunden sind und es
- heute nicht mehr viele Intellektuelle und linke politische Aktivisten gibt, die wenigstens
- mit einem Minimum an Klarsicht die Wege erkennen, die zu einem radikalen, kritischen
- Bruch mit dem globalisierten Finanzkapital führen.
- Von allen demokratischen Staaten verfügt nur die Schweiz über die verfassungsmäßigen
- Instrumente des »Referendumsrechts« und des »Initiativrechts«. Dank des
- Referendumsrechts können 50000 Bürgerinnen und Bürger verlangen, dass jedes
- beliebige vom Parlament beschlossene Gesetz dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird.
- Das Initiativrecht macht es möglich, dass 100000 Bürgerinnen und Bürger einen
- Volksentscheid über eine Verfassungsänderung erzwingen können, das heißt über die
- Abschaffung oder Änderung eines Verfassungsartikels oder über die Einführung eines
- neuen. Ein Blick auf die Volksabstimmungen der letzten Zeit – Referenden oder
- Volksabstimmungen im Anschluss an eine Volksinitiative – bestätigt meine These von der
- sehr weit fortgeschrittenen Homogenisierung des kollektiven Bewusstseins in der
- Schweiz. So hat das Schweizer Volk in der jüngsten Vergangenheit aus freien Stücken –
- und oft mit einer großen Mehrheit – gegen die Verlängerung des Urlaubsanspruchs für
- Arbeitnehmer gestimmt, gegen die einheitliche Krankenversicherung (wodurch die
- Versicherungsbeiträge für Familien stark gesunken wären), gegen die Erhöhung der
- Mindestrente, gegen die Begrenzung der astronomischen Einkommen mancher Manager
- (die sogenannte 1:12-Initiative forderte, Firmenchefs sollten in einem Monat maximal so
- viel verdienen wie ein einfacher Mitarbeiter in einem Jahr) und gegen die Einführung
- eines Mindestlohns (das wurde am 18. Mai 2014 mit 77 Prozent der Stimmen abgelehnt).
- In einem Anfall von pathologischer Fremdenfeindlichkeit stimmte das Schweizer Volk am
- 9. Februar 2014 für die Abschaffung der mit der EU ausgehandelten Personenfreizügigkeit;
- der Entscheid wurde gefällt von einem Volk, das auf seinem kleinen Territorium (42000
- Quadratkilometer) seit Jahrhunderten selbst vier lebendige Kulturen beherbergt.
- Weil die Schweizer Opfer ihres homogenisierten Bewusstseins und einer weit
- fortgeschrittenen Entfremdung sind, stimmen sie freiwillig – und regelmäßig – gegen ihre
- eigenen Interessen.
- Die transkontinentalen Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals haben die Welt nach
- ihren Vorstellungen umgestaltet. Dem ganzen Planeten haben sie ihre ungeteilte
- Herrschaft aufgezwungen. In den letzten zwanzig Jahren hat die Entfremdung der
- abhängigen Klassen in den westlichen Warengesellschaften, aber auch in zahlreichen
- Gesellschaften der südlichen Hemisphäre, gigantische Fortschritte gemacht. In vielen
- Ländern, so auch in der Schweiz, ist sie beinahe vollendet.
- SECHSTES KAPITEL
- Der Staat
- Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.
- – Aber wo geht sie hin?
- Ja, wo geht sie wohl hin
- Irgendwo geht sie doch hin!
- Bertolt Brecht, Paragraph 195
- I. Wie entsteht der Staat?
- Die modernen westlichen Staaten entstanden in einem Prozess, der sich über viele
- Jahrhunderte erstreckte. Die Dauer variierte von Region zu Region und von Volk zu Volk.
- In Europa lagen um das 4. Jahrhundert herum die antiken Gesellschaften darnieder, vor
- allem im Römischen Reich, das zugleich unter einer um sich greifenden inneren Krise und
- unter Einfällen von nicht staatlich organisierten Völkern der Peripherie litt.
- Die schrittweise Ausdehnung der Grenzen des Römischen Reichs, die Geburt und die
- Entwicklung einer Verwaltung und einer bald schon wuchernden Bürokratie in den
- Jahrhunderten zuvor, schließlich die Überfälle der »Barbaren«, hatten zu einer
- katastrophalen Entvölkerung der ländlichen Gebiete geführt. Tausende Sklaven waren
- von den Landgütern in die Städte geflohen, wo sie neuen Herren dienten. Befreite
- Sklaven gelangten damals in wichtige gesellschaftliche Positionen, einige wurden sogar
- Kaiser. In Rom entstand ein Subproletariat, eine riesige Masse von Arbeitslosen, die
- Plebs, aus der die Politiker ihre Anhänger rekrutierten. Diese Manövriermasse
- verelendeter Proletarier, korrumpierbar und wankelmütig, war jederzeit bereit, sich in alle
- Arten von Abenteuern zu stürzen. Die verschiedenen Fraktionen des Senats, die diversen
- Anwärter für die höchsten Ämter, die Konkurrenten im Wettlauf um die Macht – sie alle
- bedienten sich der Plebs, um ihre Strategien zur Machtübernahme umzusetzen. Ende des
- 3. Jahrhunderts versuchte Kaiser Diokletian, der selbst aus einer peripheren Provinz
- stammte, aus Dalmatia, die Krise durch eine grundlegende Reform der wirtschaftlichen,
- politischen und gesellschaftlichen Struktur des Reichs unter Kontrolle zu bringen. Er führte
- eine allgemeine, sehr strenge Steuerpflicht ein. Die Bauern und Arbeiter wurden an ihre
- Scholle und ihren Arbeitsplatz gebunden: Tausende Siedler erhielten damit Land als ihren
- Besitz, aber sie durften es nicht mehr verlassen. Wenn sie das Land verkauften,
- verkauften sie zugleich ihre Arbeitskraft, sich selbst und ihre Familie. Der Arbeiter in der
- Ziegelei war künftig an seine Ziegelei gebunden, der Maurer an seinen Arbeitsplatz und
- so weiter. Der Preis für die neue wirtschaftliche Effizienz und das relative Wohlergehen
- der Produzenten bestand somit in einem dauerhaften Verlust von Freiheit. Der Status des
- Siedlers unter Diokletian nimmt die Leibeigenschaft des Mittelalters vorweg.
- Das Zeitalter der Invasionen, der großen Wanderungsbewegungen, erstreckte sich vom
- 4. bis zum 10. Jahrhundert. Die Invasionen wurden von Eroberungen und Plünderungen
- begleitet (Alarichs Einnahme von Rom 410), von der mehr oder weniger durch
- Verhandlungen erreichten Errichtung von Königreichen auf dem Territorium des Reichs,
- von einem anhaltenden Niedergang der Wirtschaft und führten schließlich zum Untergang
- Roms (Sturz des letzten weströmischen Kaisers 476). Zwischen dem 4. und dem 6.
- Jahrhundert überfluteten hauptsächlich die Hunnen, die Goten (Westgoten und
- Ostgoten), die Vandalen, die Franken, die Burgunder, die Lombarden, die Angeln, die
- Sachsen, die Jüten, die Bulgaren und die Slawen die verschiedenen Teile des Römischen
- Reichs. Im 7. Jahrhundert kamen die Araber, im 9. und 10. Jahrhundert die Normannen
- (Wikinger) und die Ungarn. Im 10. Jahrhundert hörten die großen Invasionen auf. Als sehr
- viel später türkische Eroberer gegen Europa anrannten (Einnahme von Konstantinopel
- und Sturz des Byzantinischen Reichs 1453, Belagerung von Wien 1529 und erneut 1683),
- scheiterten sie an den Verteidigungslinien der Habsburgischen Monarchie und an den
- Staaten, die die Ritterorden gebildet hatten, allen voran Malta.
- Der allmähliche Zerfall der inneren Ordnung und der Gesellschaft des Römischen Reichs
- – in Europa, im Nahen Osten und in Nordafrika – einerseits, die Invasionen von Völkern
- mit Stammes- und Clanstrukturen andererseits verursachten in der politischen Landschaft
- des 4. und 5. Jahrhunderts einen radikalen Bruch.
- Eine komplett veränderte, komplizierte Situation entstand: Die neuen politischen
- Gebilde, die aus den Invasionen und dem Zerfall des Römischen Reichs hervorgegangen
- waren, ahmten die alten Machtstrukturen nach. Die letzten Träger römischer Legitimität –
- die römischen Kaiser in Byzanz – erhielten das ganze 1. Jahrtausend hindurch ihre
- symbolische Herrschaft über den größten Teil des ehemaligen Reichs aufrecht. Die
- Merowingerkönige, die Heerführer der Franken waren und ausschließlich innerhalb der
- Stammesstrukturen Macht besaßen, nahmen den römischen Konsultitel an – um sich
- zusätzliche Legitimität gegenüber den Angehörigen ihres Stammes zu verschaffen ebenso
- wie gegenüber den Konkurrenten anderer Stämme, die ebenfalls die Macht
- beanspruchten – und betrachteten sich als Repräsentanten des römischen Kaisers von
- Byzanz. Andere Eroberer taten es ihnen gleich, etwa die Anführer der Bulgaren,
- Lombarden, Goten und Slawen: Sie internalisierten und imitierten die Machtsymbolik des
- römischen Kaiserreichs. Aber die Symbole der alten Macht verloren nach und nach ihre
- Kraft.
- Hinter der Macht der Eroberer – hervorgegangen aus dem Rang im Stammesverband,
- Frucht der im Krieg errungenen Siege, die sich aus Nachahmungsstreben und auch aus
- strategischen Gründen mit den Attributen der kaiserlichen Symbolik schmückte – tauchte
- eine neue Macht auf: die Macht, die sich auf das Eigentum an den Produktionsmitteln
- stützte.
- Das Feudalsystem etablierte sich durch drei unterschiedliche Mechanismen.
- Erster Mechanismus: Beamte, die comites des Kaisers oder Königs, deren Hauptaufgabe
- es war, die Steuern zu erheben, wandten sich in dem Maß ab, wie die kaiserliche
- Symbolik, mit der die Herrscher ihre Legitimität demonstrierten, an Bedeutung und
- legitimierender Kraft verlor. Die comites – aus comes wurde im Französischen comte96,
- der Graf – begannen, dem Kaiser oder König die Stirn zu bieten und auf eigene Rechnung
- Steuern zu erheben. Ein Beispiel: Hugo Capet war im 10. Jahrhundert comes des
- Frankenkönigs für die fruchtbaren Gebiete der Île-de-France und der Stadt Paris. Seine
- Familie emanzipierte sich nach und nach und errichtete eine quasi autonome Herrschaft
- über die Regionen, die sie verwaltete. Die Geschichte der Capetinger wiederholte sich
- praktisch überall im Westen. Ein Landbesitzer in Toulouse, der ausreichend Verwandte
- und Verbündete mobilisieren konnte, um die Grenzen seiner Ländereien zu verteidigen
- und den Soldaten und Steuereinnehmern des Königs – oder seines Vertreters – den
- Zutritt zu verwehren, hatte de facto die autonome Gewalt über sein Land. Kurzum: Wem
- es gelang, das Korn zu säen oder säen zu lassen, die Ernte zu schützen und zu verkaufen
- und das Geld aus dem Verkauf einzustreichen, der hatte künftig die wahre Macht,
- unabhängig von den Titeln, Symbolen und Zeichen der Legitimität, auf die sich seine
- Gegner beriefen.
- Der zweite Mechanismus, der das Aufkommen und die allgemeine Verbreitung des
- Feudalsystems erklärt, ist das Ende der Invasionen im Lauf des 10. Jahrhunderts.
- Der dritte Mechanismus wurde durch Klimaveränderungen in Europa im 10. Jahrhundert
- in Gang gesetzt. Damals erlebte die Landwirtschaft infolge einer dauerhaften Erwärmung
- einen großartigen Aufschwung. Aber die Sklavengesellschaft war mit dem Römischen
- Reich untergegangen. Der Landbesitzer konnte die Produktivität nicht mehr dadurch
- steigern, dass er zusätzliche Arbeitskräfte kaufte. Er musste seine Werkzeuge
- weiterentwickeln und die Netze weiter spannen, über die er seine Produkte verkaufte,
- musste seine Methoden für die Gewinnung von Rohstoffen verbessern. Neue
- Energiequellen wurden genutzt: Windenergie (mit Windmühlen), Wasserenergie (mit
- Wassermühlen), Holz, Kohle und so weiter. Der handwerkliche Umgang mit Rohstoffen
- machte Fortschritte: Die Bearbeitung von Stoff, Leder, Holz und Metallen erlebte einen
- bemerkenswerten Aufschwung. Um ihre Ländereien, Werkstätten, ihre
- Vermarktungsstrukturen und ihre Arbeiter zu schützen, um ihren Einfluss auszudehnen
- und damit ihre politische Macht zu vergrößern, schlossen die Feudalherren Bündnisse mit
- anderen Herren (in Schlössern, Klöstern, Abteien, Städten und so weiter). Ein
- hochkomplexes System von Rechten und Pflichten, das seinen Ursprung im Landbesitz
- hatte, bildete sich heraus.
- Aber im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts erfolgte eine weitere gesellschaftliche,
- symbolische, wirtschaftliche und politische Veränderung: Sie kündigte den Verfall der
- Feudalmacht und die allmähliche Entstehung des modernen Staates an. Nach und nach
- wurde der Besitz von Arbeitsgerät wichtiger als der Besitz von Land. Und durch den Besitz
- von Arbeitsgerät entstand eine neue Klasse. Der Besitz verlieh der neuen Klasse, dem
- jungen städtischen Bürgertum, eine neue Macht oder vielmehr eine Gegenmacht zur
- Macht des Feudalherren. Diejenigen Feudalherren, die wie etwa die Capetinger in
- Frankreich, die Plantagenets in England, die Ottonen in Deutschland, auf die feudalen
- Werte und Hierarchien verzichteten und die sich in einer historischen Situation befanden,
- die ihnen erlaubte, Bündnisse mit dem städtischen Bürgertum gegen die Feudalherrschaft
- zu schließen, standen am Ursprung der ersten monarchischen Staaten im 12. Jahrhundert.
- Für das Bündnis zwischen bestimmten Feudalherren und dem städtischen Bürgertum
- gibt es zahlreiche und widersprüchliche Erklärungen: Manchmal suchte ein
- vorausschauender Feudalherr die Nähe zu Vertretern des Bürgertums, weil er ihre
- Fähigkeiten schätzte; manchmal wurde das Bündnis in der Hoffnung geschlossen, die
- eigene Macht gegenüber anderen Feudalherren zu stärken; und manchmal wurde das
- Bündnis durch die objektive geografische Situation diktiert, etwa wenn das Schloss des
- Feudalherren in einer Stadt lag, wo sich der vorindustrielle Aufschwung vollzog, dessen
- Haupttriebkraft das aufstrebende Bürgertum war. So stand beispielsweise das wichtigste
- Schloss in Frankreich auf der Île de la Cité in Paris, im Herzen der vorindustriellen
- bürgerlichen Gemeinschaft und in unmittelbarer Nähe zu den Mühlen an der Seine.
- Diese Politik der Allianzen zwischen einzelnen Feudalherren und bürgerlichen
- städtischen Händlern verbreitete sich ab dem 12. Jahrhundert in ganz Europa, jedoch mit
- einigen wichtigen Ausnahmen. In Italien traf die Allianz zwischen den Feudalherren und
- dem jungen Bürgertum auf mehrere Hindernisse: Die städtischen bürgerlichen
- Gemeinschaften, die Städte, in denen sich eine bemerkenswerte Entwicklung der
- frühindustriellen Werkzeuge vollzog, ausgedehnte Handelsnetze entstanden und eine
- erste Akkumulation von Finanzkapital stattfand, koexistierten mit dem Kirchenstaat und
- mit Feudalstaaten, die jede Allianz mit den neuen bürgerlichen Klassen ablehnten. Im
- Übrigen lag Italien geografisch viel näher an Byzanz als an der Île-de-France, England und
- den Gebieten entlang des Rheins. Die italienischen Feudalherren unterlagen darum länger
- als jene in anderen Regionen Europas der symbolischen und materiellen Herrschaft von
- Byzanz.
- Der moderne Staat, dessen erste konstitutive Elemente sich am Ende des 12.
- Jahrhunderts ausbildeten, erreichte seinen Höhepunkt im 18. und 19. Jahrhundert, als die
- bürgerliche Macht endgültig über die Feudalmacht triumphierte und die Nation sich
- durchsetzte.
- Als Produkt eines historischen Prozesses, der sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte,
- hat der moderne Staat im zeitgenössischen Nationalstaat seine Vollendung gefunden.
- Dieser Staat ist eine Zwangsanstalt im Dienst der Interessen der neuen herrschenden
- Klassen, allen voran des Handel treibenden Bürgertums. Ausgestattet mit einer
- universalistischen Ideologie, dient er vor allem dazu, die Macht des Bürgertums zu
- legitimieren, zu perpetuieren und zu mehren. Er vereinigt außerdem in einem
- gemeinsamen – zugleich realen und fiktiven – Bewusstsein die widersprüchlichen
- Wünsche aller Klassen, die dazu beigetragen haben, seine Legitimität zu begründen. Der
- moderne Nationalstaat, der im Namen der Interessen einer herrschenden Klasse etabliert
- wurde, ist damit zugleich ein klassenübergreifendes gesellschaftliches Gebilde und in der
- Lage, antagonistische Interessen im Namen der Verteidigung bestimmter »gemeinsamer«
- Werte, eines Staatsgebiets oder eines gemeinsamen historischen Projekts zu
- mobilisieren.
- Der bürgerliche Nationalstaat, der aus einer bestimmten Produktionsweise
- hervorgegangen ist, hat sich trotz der nachfolgenden Veränderungen der
- Produktionsweisen behauptet und nach und nach gewissermaßen eine autonome Existenz
- erlangt. Heute ist in den meisten europäischen Nationen das kapitalistischen Handel
- treibende Bürgertum im Verschwinden begriffen. Die transkontinentalen
- Finanzoligarchien, die ihre Stärke aus der Überausbeutung der Arbeitnehmer, der
- Rohstoffe und der Märkte in den Ländern der südlichen Hemisphäre ziehen und immer
- mehr Produktionseinrichtungen außerhalb der nationalen Grenzen verlagern, usurpieren
- die wirtschaftliche, politische und ideologische Macht. In Europa haben die Oligarchien
- des globalisierten Finanzkapitals schrittweise die Errichtung eines supranationalen
- Zwangs- und Regelungsapparats durchgesetzt, der ihren Interessen dient. Die
- Europäische Union ist das Musterbeispiel. Trotz dieser grundlegenden gesellschaftlichen
- Veränderung, die den Nationalstaat radikal schwächt, funktionieren seine Institutionen,
- sein Zwangsapparat und sein ideologischer Apparat weiterhin.
- II. Der Staat, eine Waffe der Mächtigen
- Kardinal Bellarmin: Bedenken Sie einen Augenblick, was es die Kirchenväter und so viele nach ihnen für Mühe und
- Nachdenken gekostet hat, in eine solche Welt (ist sie etwa nicht abscheulich?) etwas Sinn zu bringen. Bedenken Sie die
- Roheit derer, die ihre Bauern in der Campagna halbnackt über ihre Güter peitschen lassen, und die Dummheit dieser
- Armen, die ihnen dafür die Füße küssen.
- Galilei: Schandbar! Auf meiner Fahrt hierher sah ich …
- Kardinal Bellarmin: Wir haben die Verantwortung für den Sinn solcher Vorgänge (das Leben besteht daraus), die wir nicht
- begreifen können, einem höheren Wesen zugeschoben, davon gesprochen, daß mit derlei gewisse Absichten verfolgt
- werden, daß dies alles einem großen Plan zufolge geschieht […]
- Bertolt Brecht, Leben des Galilei97
- Oliver Cromwell war im 17. Jahrhundert einer der wichtigsten Anführer des
- frühkapitalistischen städtischen Bürgertums in England. Er verkörperte die Interessen des
- aufstrebenden städtischen Bürgertums, der Reeder, der Handwerker, der Geldwechsler,
- der Händler. Deren Interessen standen denen des müßiggängerischen und korrupten
- Adels diametral entgegen, der dem Bürgertum vielfältige Steuern und hohe Abgaben
- aufzwang und die meisten Pfründen für sich behielt. Außerordentlich entschlossen,
- willensstark und brutal lieferte Cromwell dem Adel und dem König einen gnadenlosen
- Kampf. Er war mittelgroß, aber von massiger Statur, hatte kohlschwarze Augen, lebhafte,
- ungeduldige Gesten, war Puritaner durch und durch und von einer erschreckenden
- Grausamkeit. Dank seiner Talente als Redner, Organisator und Soldat gelang es ihm, den
- Großteil der heimlichen und offenen Opposition gegen die pflichtvergessene Monarchie zu
- einen. Er führte die republikanische Armee an, die 1645 die Streitkräfte von Karl I.
- vernichtete, und setzte das Gericht ein, das den König 1649 enthaupten ließ. Daraufhin
- wurde die Republik ausgerufen. Als Nächstes zwang Cromwell Holland die
- »Navigationsakte« auf, die englischen Reedern die Vormacht in der weltweiten Seefahrt
- sicherten. Er eroberte Irland und dann Schottland. In Irland organisierte er Massaker an
- Tausenden katholischen Männern, Frauen und Kindern, weshalb er noch heute in
- britischen Schulbüchern den Beinamen »Iren-Schlächter« trägt.
- Nach und nach überwältigte ihn die Hybris der Macht. In seinen Anfängen war er
- Republikaner und Demokrat, aber er entfernte sich immer mehr von seinen
- Gesinnungsgenossen. 1653 löste er das Parlament auf und errichtete als »Lordprotektor«
- seine persönliche Diktatur. Einem ehemaligen Gefährten, den die Entwicklung – und die
- politischen Gefahren, die sie in sich barg – beunruhigte, antwortete er: »Was interessiert
- es mich, dass mich neun von zehn Bürgern hassen … wenn der zehnte mich liebt und eine
- Waffe trägt.«98
- Karl Marx hat eine kohärente Theorie des Staates ausgearbeitet, in deren Mittelpunkt vier
- Hauptthesen stehen.
- Erste These: In jeder Gesellschaft herrscht ursprünglich objektiver Mangel. Die
- Mangelgesellschaft gibt den Anstoß zur Arbeitsteilung.
- Zweite These: Durch die Arbeitsteilung entstehen die verschiedenen gesellschaftlichen
- Klassen, die gegeneinander zu kämpfen beginnen.
- Dritte These: Der Staat ist eine Zwangsanstalt, die institutionalisierte Gewalt, die Waffe,
- die die siegreichen Klassen einsetzen, um ihre Herrschaft über die abhängigen Klassen
- (im eigenen Land oder in fremden Ländern) zu errichten. Im Manifest der
- Kommunistischen Partei (1848) schreibt Marx: »Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn
- ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen.«
- Vierte These: Jeder Staat, egal, welche Klasse dominiert, ist dazu bestimmt, besiegt,
- überwunden und abgeschafft zu werden. In Die deutsche Ideologie (entstanden 1845–
- 1847) schreiben Marx und Engels, dass Staat und Sklaverei untrennbar verbunden sind.
- Der Staat, seine Macht, sein Absterben und seine Überwindung stehen im Zentrum des
- marxistischen Denkens. Aber paradoxerweise hat Marx selbst nie eine Abhandlung über
- den Staat geschrieben. Seine Theorie des Staates ist auf eine Vielzahl von Werken aus
- verschiedenen Phasen seines Lebens verteilt.
- Hier die einzelnen Stadien der Ausarbeitung der marxistischen Thesen über den Staat.
- Trotz der großartigen wissenschaftlichen und technischen Revolution herrschte in
- Westeuropa im 19. Jahrhundert Mangel. Marx blieb als armer politischer Flüchtling selbst
- nicht davon verschont. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er keine ausreichenden
- regelmäßigen Einnahmen, es war ein beständiges Problem, den Lebensunterhalt der
- Familie zu sichern. Insofern litt er an der Mangelgesellschaft. Von Einsamkeit und
- Demütigung abgesehen, teilte er damit den Großteil seines Erwachsenenlebens die
- qualvollen Lebensumstände des Proletariats im 19. Jahrhundert.
- Das Jahrhundert der industriellen Revolution wurde von außerordentlichen
- gesellschaftlichen Erschütterungen begleitet. Zwischen 1882 und 1895 wuchs die
- deutsche Arbeiterklasse von 7 Millionen auf 10 Millionen Menschen, eine Steigerung um
- fast 40 Prozent.99 Von 1850 bis 1900 wuchs die französische Arbeiterklasse von 1,3
- Millionen auf 5 Millionen. Diese aufsteigende Klasse fand bald ein mächtiges politisches
- Sprachrohr: Die deutsche sozialdemokratische Partei wurde 1869 gegründet, die
- schweizerische Partei 1882, die belgische Partei 1885, die schwedische 1895, die
- französische 1905. 1864 gründeten sozialistische Organisationen (Arbeitervereine,
- Parteien, Studienkreise und so weiter) die Erste Internationale Arbeiterassoziation, 1889
- folgte die Zweite Internationale. Wie Karl Marx sagte: Das Kapital kommt »aus allen
- Poren blut- und schmutztriefend« zur Welt. Und er illustriert diesen Satz mit einem Zitat
- aus dem Quarterly Reviewer: »Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit
- oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird
- Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es
- wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig: für 100 Prozent stampft es alle menschlichen
- Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht
- riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.«100
- 1841 wurde Marx mit einer Arbeit über die Philosophie der griechischen Materialisten
- Demokrit und Epikur an der Universität Jena promoviert. Die ersten Schriften, die danach
- folgten, sind bereits zu einem großen Teil der Analyse des Staates gewidmet: die Kritik
- des Hegelschen Staatsrechts und eine Einleitung dazu, zusammen veröffentlicht unter
- dem Titel Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843). Darin verwendet er die
- Begriffe Arbeiterklasse und Proletariat synonym. 1850 schrieb Marx Die Klassenkämpfe in
- Frankreich. Dort sprach er zum ersten Mal von der »proletarischen Klasse«. Zwischen
- 1850 und 1853 lieferte er nacheinander sechs Definitionen dieses Begriffs, die sich
- ergänzen. Die Begriffe antagonistische Klassen und Klassenkampf stammen nicht von
- ihm, sondern von den Enzyklopädisten, speziell Diderot und dann von Saint-Simon und
- seinen Schülern, die als Erste im Klassenkampf eine der wichtigsten Triebkräfte der
- gesellschaftlichen Entwicklung erkannten. Die Originalität, die radikale Neuheit der
- marxistischen Staatstheorie besteht darin, dass gesellschaftliche Mechanismen ans Licht
- gehoben werden, die, wenn revolutionäre Bewegungen sie richtig anwenden, zum
- Absterben des Staates führen müssen und zu seiner Ablösung durch eine freie Assoziation
- von Produzenten.
- 1852 veröffentlichte Marx Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In diesem Buch
- wie auch in einem Brief an Joseph Weydemeyer101 schildert Marx sehr präzise den
- Übergang der politischen Macht von einer Klasse zu einer anderen. Er zerschmettert die
- Behauptung Louis Bonapartes, Napoleons III., sein Staatsstreich sei die Übertragung der
- politischen Macht aus den Händen einer einzelnen Klasse, der Aristokratie, auf die
- gesamte Nation. Die bisher im Namen und im Dienst einer Klasse ausgeübte Macht stehe,
- so Bonaparte, künftig im Dienst des allgemeinen Interesses, das heißt der gemeinsamen,
- auf wundersame Weise versöhnten Interessen aller antagonistischen Klassen der
- Gesellschaft.
- Marx kämpfte vehement gegen die bonapartistische Staatstheorie. In seinen Augen
- reduzierte sie den Staat fast vollständig auf seine repressive Funktion. Marx schildert
- zuerst ausführlich und mit zahlreichen Details die Armee, die Polizei, die religiösen
- Apparate, die künstliche Ordnung der Gesetze, die von den »Prokuristen der Macht«, wie
- man sie nennen könnte (Abgeordneten, Ministern, Trägern der Regierungsgewalt,
- Richtern und so weiter) der herrschenden Klasse ausgearbeitet, verkündet und
- angewendet werden. Der Staatsapparat, so zeigt er, ist eine Waffe im Klassenkampf. Die
- herrschende Klasse setzt ihn ausschließlich im Dienst ihrer Klasseninteressen ein. Der
- bürgerliche Staat ist in all seinen historischen Erscheinungsformen (als liberale
- parlamentarische Demokratie, als faschistische Militärdiktatur, als Ständeregime und so
- weiter) immer nur der Staat der herrschenden Klasse, das heißt das Instrument für die
- Repression, die eine sehr kleine Schicht der Bevölkerung über die gewaltige Mehrheit der
- Arbeiter, der Ausgebeuteten, der Getäuschten und Gedemütigten ausübt.
- Extremster Ausdruck staatlicher Zwangsgewalt ist die Anwendung der Todesstrafe.
- Zahlreiche Länder – darunter die beiden mächtigsten, die Vereinigten Staaten und China
- – maßen sich bis heute an, über Leben und Tod ihrer Bürger zu entscheiden. 2013 ließ
- China mehr als 2000 Männer, Frauen und Jugendliche hinrichten.
- Samstag, 31. Mai 2014, Mitternacht: In meinem Schlafzimmer in Russin klingelt das
- Telefon. Am anderen Ende meldet sich Behzad Naziri aus Paris. Er ist Delegierter des
- Nationalen Widerstandsrats Irans (NWRI) beim Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen.
- Behzad sagt: »Es soll morgen früh passieren. Er wurde von Abteilung 350 des
- Gefängnisses in Evin, wo er seit 2007 einsitzt, ins Gefängnis von Karadsch gebracht, in die
- Abteilung für Todeskandidaten. Gholam-Reza Khosravi soll durch Erhängen hingerichtet
- werden. Er ist Schweißer, 47 Jahre alt, stammt aus Abadan, hat ein Kind. Er wurde als
- ›Feind Gottes‹ zum Tode verurteilt, tatsächlich ist er ein politischer Gefangener, um den
- sich Amnesty International kümmert. Tun Sie, was Sie können.«
- Zehn Minuten später trifft eine E-Mail ein: »Guten Abend, morgen früh werden sie den
- Gefangenen Gholam-Reza Khosravi Savadschani hinrichten. Schreiben Sie an humanitäre
- Organisationen, an Ban Ki-moon, an Catherine Ashton. Rufen Sie das schweizerische
- Außenministerium an – das amerikanische, französische, kanadische –, und bitten Sie sie,
- zu intervenieren. Im Anhang Dokument von Amnesty, E-Mail-Verteiler. Danke. Behzad.«
- Weder die UNO noch das schweizerische Außenministerium intervenierten. Am Sonntag,
- dem 1. Juni, um sechs Uhr morgens, wurde Gholam-Reza Khosravi Savadschani im Hof
- des Gefängnisses Karadsch gehenkt.
- Nach Angaben des Sonderberichterstatters des UN-Menschenrechtsrats für den Iran, des
- früheren Außenministers der Republik Malediven, Ahmed Shaheed, wurden 2013 im Iran
- 687 politische Häftlinge hingerichtet. In den ersten vier Monaten des Jahres 2014 belief
- sich die Zahl der Exekutionen bereits auf 289. Keiner dieser Männer, keine dieser Frauen
- hatte eine Gewalttat begangen. Alle wurden zum Tod verurteilt, weil sie friedlich
- mündlich oder schriftlich gegen die eine oder andere Entscheidung der Regierung
- protestiert hatten. Alle Hinrichtungen erfolgten nach Verurteilungen wegen moharebeh
- (»Feindschaft zu Gott, Krieg gegen Gott«). Alle politischen Gefangenen wurden und
- werden wegen moharebeh zum Tod verurteilt.
- III. Die Bürokraten
- Marx enthüllte schon sehr früh ein Phänomen, das heute unübersehbar ist: die
- Bürokratisierung der Macht, die Schwemme an Staatsdienern, den Parasitismus der
- Beamtenschaft. So schrieb er über »Frankreich […], wo die Exekutivgewalt über ein
- Beamtenheer von mehr als einer halben Million von Individuen verfügt, also eine
- ungeheure Masse von Interessen und Existenzen beständig in der unbedingtesten
- Abhängigkeit hält, wo der Staat die bürgerliche Gesellschaft […] kontrolliert, maßregelt,
- überwacht und bevormundet, wo dieser Parasitenkörper durch die außerordentlichste
- Zentralisation eine Allgegenwart […] gewinnt«.102
- In den modernen Industriestaaten beansprucht eine krakenhafte, manchmal parasitäre,
- praktisch immer unkontrollierbare Bürokratie den größten Teil der Ressourcen der
- Gemeinschaft. Sie funktioniert, reproduziert sich und wächst unablässig nach ihren
- eigenen Gesetzen. Sie macht den Bürger zum geplagten Untertanen. Die kleine Republik,
- in der ich lebe – die Republik und der Kanton Genf –, hat heute 470512 Einwohner,
- verteilt auf ein Territorium von 282 Quadratkilometern. Im Jahr 2014 belief sich der
- Haushalt dieses Staats auf astronomische 7,9 Milliarden Schweizer Franken (umgerechnet
- etwa 6,47 Milliarden Euro). Denn dieser kleine Staat beschäftigt in der eigenen
- Verwaltung und den öffentlichen Betrieben (Verkehrsbetriebe, Flughafen, Krankenhäuser,
- Wasserversorgung, Energieversorgung und so weiter) mehr als 36000 Beamte, für die
- mehr als die Hälfte aller Einnahmen ausgegeben wird.103 In manchen Bereichen ist das
- Wirken dieser weitgehend parasitären Beamtenschaft trotz offenen Widerstands der
- Bevölkerung überwiegend schädlich: Zum Beispiel zerstört sie systematisch das Aussehen
- der Straßen und Gassen des Kantons, verwandelt die großen historischen Plätze in
- Betonwüsten, verbreitert die Straßen in den Dörfern zu autobahnähnlichen Boulevards
- und verunstaltet die Landstraßen mit Betonwänden.
- Max Horkheimer bezeichnete die »Überverwaltung« als die schlimmste Geißel der
- modernen demokratischen Staaten. Die Republik Genf ist ein eindrückliches Beispiel
- dafür.
- IV. Die Staatsräson
- Am 2. Mai 1808 drangen französische Revolutionstruppen nach Madrid vor. Die spanische
- Armee und der Hof flohen Hals über Kopf, aber das Volk leistete Widerstand und erhob
- sich. Vom Balkon seines Hauses an der Puerta del Sol beobachtete der damals 62-jährige
- Francisco Goya, wie die Arbeiter und Handwerker Madrids gegen Murats Mamelukken
- kämpften. Die Erhebung wurde niedergeschlagen, die Überlebenden wurden
- festgenommen. In der Nacht vom 3. auf den 4. Mai führte man die Gefangenen ans Ufer
- des Manzanares, wo sie gruppenweise erschossen wurden. Goya schaute bei den
- Exekutionen zu, begleitet von seinem Diener, der die Lampe trug.
- Wie Tausende seiner Landsleute hatte Goya die französischen Soldaten als Befreier
- erwartet. Doch er erlebte die unerbittliche Logik der Macht. Wer sich der Macht in den
- Weg stellt, wird beseitigt, ganz egal, mit welchem Anspruch und welcher legitimierenden
- Theorie die Macht ursprünglich angetreten ist. In dem Gemälde Die Erschießung der
- Aufständischen hat Goya die französischen Soldaten ohne Gesichter dargestellt. Sie
- tragen graue Uniformen und braune Tschakos. Gesichtslose Männer stehen den Opfern
- gegenüber, auf die das volle Licht fällt und die perfekt erkennbar sind.
- Die Staatsräson wendet Gewalt an, um sich durchzusetzen. Ihre Glaubwürdigkeit
- gründet auf Zwang und Repression.
- Montaigne schreibt über die Staatsräson: »Das öffentliche Wohl verlangt, daß man zum
- Verräter werde, daß man lüge und morde? […] Das eigentliche, natürliche und
- allgemeingültige Recht hat andere, erhabnere Normen als die auf die gesellschaftlichen
- Erfordernisse des jeweiligen Landes zugeschnittenen Gesetze.«104
- Die Staatsräson ist keine historische Konstante, sondern eine schwankende, kontingente
- Logik, die in den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen entsteht.
- Das wichtigste Element der Staatsräson ist die Sicherheit. Der Staat erhebt den
- Anspruch, die Sicherheit aller Bürger zu garantieren. Eine absurde Behauptung, wenn
- man die Militärpolitik der meisten Staaten heute bedenkt, ihre übermäßige Rüstung, die
- Demagogie, die sie auf diesem Feld betreiben. Ganz im Gegenteil: Die Staaten schaffen
- mit ihrer Staatsräson die Unsicherheit und stellen die Völker unter eine tödliche
- Bedrohung. Aber die symbolische Kraft der Staatsräson, die Macht der Bilder, die sie uns
- aufzwingt, ist derart, dass die Menschen an die schützende, Sicherheit gewährende
- Mission des Staates glauben wie an ein Naturgesetz.
- Die Effektivität der Staatsräson bemisst sich an zwei unterschiedlichen Parametern:
- einerseits der Intensität und Solidität des Konsenses, den sie erzeugt, andererseits daran,
- wie erfolgreich sie ihr wahres Handeln verschleiert.
- Die Staatsräson organisiert ihre eigene Undurchschaubarkeit, sorgt dafür, dass ihr
- Geheimnis gewahrt bleibt. Je besser es der Staatsräson gelingt, ihr wahres Wirken zu
- verbergen, desto mächtiger, homogener, kohärenter und funktioneller ist sie. Die
- Undurchschaubarkeit gehört ganz wesentlich zu ihr. Sie wirkt überzeugend in dem Maß,
- wie sie die Realität auf Distanz hält, den Widerspruch der Fakten vermeidet, weil sie ganz
- genau weiß, dass jeder Widerspruch sie diskreditiert, sie tötet.
- Der französische Philosoph Henri Lefebvre analysiert diese Strategie folgendermaßen:
- »Der Staat organisiert seine eigene Undurchschaubarkeit, vor allem indem er das
- gesellschaftliche Wissen monopolisiert, indem er dessen Produktion und Distribution
- kontrolliert. In der Folge haben die Menschen nur Zugang zu einem fragmentierten,
- atomisierten Wissen. Die Vervielfachung der staatlichen Institutionen in jeder
- Gesellschaft wird hingestellt und wahrgenommen als Verteilung der Macht über die ganze
- Gesellschaft, ein bisschen so, als könnte die Ausdehnung der staatlichen Funktionen als
- eine echte Sozialisierung verstanden werden. Es wird alles getan, damit die Realität der
- Macht und ihr wahres Gewicht in den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht erkannt
- werden. Die Staatsmacht ist in ihrer fließenden, nicht fassbaren Allgegenwart ein ebenso
- geheimnisvolles wie bedrohliches Wesen. Die Staatsräson verschleiert den Staat und die
- Modalitäten seines Funktionierens ebenso wie die Prozesse, die ihn durchziehen und
- strukturieren.«
- Und an anderer Stelle: »So kann man von der Negation des unterdrückerischen
- Charakters der staatlichen Institutionen (und der Affirmation ihrer funktionellen Natur) zu
- einem Gefühl der tiefen Unterlegenheit angesichts ihrer vermuteten Allmacht gelangen.
- Die Macht erscheint als ewig, weil sie naturalisiert, fetischisiert und mit der abstrakten
- Notwendigkeit der Organisation gleichgesetzt wird, unabhängig von jeder ernsthaften
- Prüfung ihrer widersprüchlichen Beziehungen zu den gesellschaftlichen Klassen. Deshalb
- kann die mittelmäßige darstellerische Qualität der staatlichen Darbietungen, die Pseudo-
- Erhabenheit der personalisierten Mächte sich inmitten des verängstigten oder devoten
- Schweigens und unterwürfigen oder komplizenhaften Beifalls entfalten. Der Staat hat die
- Eigenheit, sich immer als das auszugeben, was er nicht ist.«105
- Arthur E. Schlesinger, ein kluger Analytiker der nordamerikanischen Staatsräson, hat den
- gleichen Inhalt wie Lefebvre prosaischer ausgedrückt. Der ehemalige Geschichtsprofessor
- der New York University war von 1961 bis 1963 einer der wichtigsten politischen Berater
- von Präsident John F. Kennedy. Er sagte: »Je besser es dem Staat gelingt, sich hinter
- dem Geheimnis zu verstecken, desto eher kann er sich das Recht zu lügen anmaßen.«106
- Es gibt eine Lust an der Machtausübung und am Zelebrieren der Staatsräson.
- Der Staat entfaltet zahlreiche, mächtige symbolische Instrumente. Seine stereotypen
- Formeln, sein Apparat, seine Rituale und Fahnen, sein Pomp und sein Flitter beeindrucken
- das kollektive Vorstellungsvermögen. Die Scheingefechte seiner Politiker monopolisieren
- die Diskussionen in der Gesellschaft. Klassen und Kasten lösen sich an der Macht ab: Ihre
- Lebensweisen, die Paläste, in denen sie wohnen, die Bankette, die sie organisieren, die
- Reisen, die sie inszenieren, ihre Fernsehauftritte – all das unterscheidet sich kaum.
- Obschon vom Volk gewählt, gerieren sich die Männer und die wenigen Frauen an den
- Schaltstellen der Macht meist wie Fürsten, denen der Staat, seine Institutionen und die
- gewaltigen symbolischen und materiellen Profite, die sie erbringen, als Eigentum
- gehören. Victor Goldschmidt hat dazu gesagt: »Die aktuelle politische Klasse in
- Frankreich funktioniert wie eine Wahlaristokratie.«107
- Ein Beispiel: Man kann sagen, dass mit Valéry Giscard d’Estaing 1974 die neue moderne
- Mittelschicht aus der Privatwirtschaft an die Macht gelangte. Einige Jahre später, 1981,
- war im Gefolge von François Mitterrand die »unproduktive« Mittelschicht – die Lehrer,
- Pensionäre, Beamten und so weiter – an der Reihe.108 Aber das förmliche Auftreten
- Mitterrands – sein Verhältnis zu Untergebenen, zu den Institutionen, seine Art zu reisen,
- die Funktionsweise seines Hofs – unterschied sich nicht grundsätzlich von der seines
- Vorgängers, im Übrigen auch nicht von der Art seiner Nachfolger, ob Jacques Chirac,
- Nicolas Sarkozy oder François Hollande.
- Die Autonomie der Macht, ihre Nacktheit, ihre Arroganz … Ich gebe ein Beispiel:
- Griechenland zur Zeit der Obristenherrschaft. Im Frühsommer 1974 war die Diktatur in
- höchster Bedrängnis. Dimítrios Ioannídis, der ehemalige Chef der Militärpolizei der Junta,
- hatte Regierungschef Georgios Papadópoulos gestürzt. In Zypern löste der faschistische
- Staatsstreich von Níkos Sampsón, der von Ioannídis ferngesteuert wurde mit dem Ziel,
- Zypern an Griechenland anzuschließen, eine Invasion der türkischen Armee aus, die bis
- heute 40 Prozent der Insel besetzt hält. Tausende griechische Zyprioten kamen ums
- Leben, verschwanden oder flohen. Der Versuch, Präsident Makarios (Erzbischof Makarios
- III.) umzubringen, der ebenfalls von den griechischen Obristen gesteuert wurde, schlug
- fehl. In der Ägäis drohte die Türkei, die Inseln Lesbos, Samos und Chios zu besetzen. In
- Griechenland selbst war die Lage katastrophal. Die Inflation lag bei über 20 Prozent, Not
- und Elend breiteten sich aus. Die Landbevölkerung war der treueste Verbündete, die
- traditionelle gesellschaftliche Basis der Diktatur. Doch in Hunderten von Dörfern wuchs
- die Unzufriedenheit mit jedem Tag. Ioannídis beschloss, die Bauern zu umwerben.
- Allerdings fehlten ihm die Argumente. Da hatte sein Polizeichef einen genialen Einfall: An
- den Eingängen der Dörfer sollte die Polizei in aller Eile Triumphbögen errichten, im
- Allgemeinen aus Eisen, die eine Inschrift in Großbuchstaben zieren solle: »Zito to kratos«
- (Es lebe die Macht). »Zito to kratos« ist die Quintessenz der Staatsräson. Die Politik, die
- der Staat im Namen der Staatsräson führt, heißt »Realpolitik«.
- V. Der gescheiterte Traum des Karl Marx
- Karl Marx schreibt im achtzehnten Brumaire: »Alle Umwälzungen vervollkommneten die
- Maschine, statt sie zu brechen.«
- Marx’ Vision der Gesellschaft ist durch und durch antiautoritär und antistaatlich
- ausgerichtet. Die Revolution, die sie heraufbeschwört, soll nicht nur die
- Staatsmaschinerie zerschlagen, sondern jede Form von Macht, die ein Mensch über einen
- anderen Menschen ausübt. In seinem Brief an Joseph Weydemeyer vom 5. März 1852
- heißt es: »Was ich neu tat, war […] nachzuweisen, daß der Klassenkampf notwendig zur
- Diktatur des Proletariats führt; daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung
- aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.« Marx zufolge ist die Waffe,
- die den Staatsapparat zerschlagen kann, die Diktatur des Proletariats.
- Was ist die Diktatur des Proletariats? Marx sah sie in der Pariser Kommune verwirklicht.
- Die Kommune, eine antiautoritäre gesellschaftliche Struktur, etwas radikal Neues für
- Europa im Industriezeitalter, entstand aus dem Volksaufstand vom 18. März 1871. Am 28.
- Mai desselben Jahres wurde sie von den Streitkräften der Regierung in Versailles unter
- Adolphe Thiers niedergeschlagen. In Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871) schreibt Marx
- über die Kommune, sie sei die »bestimmte Form« der Diktatur des Proletariats.109
- Die Kommune kämpfte gegen die preußischen Besatzer und gegen die Truppen der
- Regierung in Versailles. Aber sie schaffte das stehende Heer ab. Ihre
- Verteidigungstruppen waren das bewaffnete Volk, die Volksmilizen, in denen Männer,
- Frauen und Jugendliche, Junge und Alte Seite an Seite die Stadt verteidigten. Ohne
- politische Macht und damit ohne die Macht ihrer Klasse wurde die Polizei zu einer
- öffentlichen Dienstleistung, die dazu bestellte Bewohner der verschiedenen Stadtviertel
- ausübten. Die gesamte Verwaltung, die gesamte Bürokratie und damit die
- Staatsregierung wurden aufgelöst. Es gab keine Minister mehr, keine Richter, keine
- Priester und keine Beamten. Die Delegierten und Repräsentanten der Kommune wurden
- nach dem allgemeinen Wahlrecht gewählt, waren durch das imperative Mandat gebunden
- und konnten jederzeit abberufen werden. Es gab keine dauerhafte Hierarchie bei
- Gehältern und Funktionen mehr. Jedes Viertel hatte seinen eigenen
- Verteidigungsausschuss, seinen Justizausschuss, seinen Ausschuss für Gesundheit und so
- weiter. Insgesamt war die Kommune nach dem Prinzip der Föderation organisiert, ohne
- Hierarchien und fast vollständig dezentralisiert. In der Fabrik und in den Wohnvierteln,
- überall entstand, wie der Kommunarde Eugène Pottier schrieb, »die Selbstregierung der
- Produzenten«.110
- Tatsächlich war die Kommune ein Augenblick, in dem Ideen eine außerordentliche Blüte
- erlebten, ein gesellschaftliches Laboratorium, in dem ganz Neues, aber auch ganz
- Widersprüchliches versucht wurde. Ihre Geschichte illustriert beinahe perfekt die
- »Absorption des Staates durch die Gesellschaft« und die »Expropriation der Usurpatoren
- durch die Masse« (Marx). In der Pariser Kommune, Marx zufolge das Modell für die
- Diktatur des Proletariats, trat die Verwaltung von Dingen an die Stelle der Regierung von
- Menschen. Natürlich waren die Kommunarden nicht die ersten französischen
- Revolutionäre, die eine nicht-staatliche Föderation, eine antiautoritäre, selbstverwaltete
- Demokratie zu errichten versuchten. Sie hatten Vorläufer, die heute vergessen sind,
- darunter der Generalprokurator von Paris, Pierre-Gaspard Chaumette, und sein Mitstreiter
- Jacques-René Hébert (nach dem Titel seiner Zeitschrift auch Le père Duchesne genannt).
- Sie boten dem Nationalkonvent beharrlich die Stirn. 1794 wurde die Gruppe zerschlagen,
- Hébert starb am 24. März auf dem Schafott, Chaumette am 13. April.
- Für uns Männer und Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat der Begriff »Diktatur des
- Proletariats« einen Abscheu erregenden Beigeschmack. Wir denken dabei an menschliche
- und politische Verhältnisse, die das Gegenteil demokratischer Verhältnisse sind. Aber der
- archaische Begriff darf uns nicht über den Sinn hinwegtäuschen, den Marx ihm gegeben
- hat.
- Die Diktatur des Proletariats ist auch der entscheidende Schritt auf dem Weg zur
- Überwindung des Staates und seiner Ablösung durch die freie Assoziation der
- Produzenten, die sich zusammenschließen, durch eine neue gesellschaftliche
- Organisation, in der die Menschen keine ausbeuterischen und keine hierarchischen
- Beziehungen mehr unterhalten, sondern ausschließlich reziproke, komplementäre,
- solidarische Beziehungen. Jeder bekommt nach seinen Bedürfnissen und gibt nach seinen
- Fähigkeiten. Das Glück und die freie Entfaltung eines jeden ist die Bedingung für die
- Entfaltung und das Glück aller.
- Der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die die
- Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in Paris
- angenommen hat und die jeder Staat, der der UNO beitreten will, unterschreiben muss
- (neben der Charta von 1945) drückt fast perfekt die Vision von Marx aus: »Alle Menschen
- sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen
- begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.«
- Marx’ großartige Vision lebt weiter als Utopie der Emanzipation der Menschen, die am
- Horizont der Geschichte aufscheint.
- Nachtrag
- An einem verschneiten Morgen im November 1917 übernahmen Lenin und die
- bolschewistischen Aufständischen in Petrograd die Macht. Sie errichteten die Diktatur des
- Proletariats. Ihre Sowjetrepublik, eine Föderation selbstverwalteter »Räte« von Arbeitern,
- Bauern und so weiter, verwandelte sich bald in eine blutige Tyrannei, die während drei
- Viertel des Jahrhunderts über große Gebiete in Europa und Asien herrschte.
- Heute behaupten in ihrer Verfassung zwei Staaten, die Diktatur des Proletariats
- verwirklicht zu haben: die Volksrepublik China und die Volksrepublik Nordkorea.
- Zusammen herrschen sie über 1,4 Milliarden Menschen, mehr als ein Siebtel der
- gesamten Weltbevölkerung. Und ihre Herrschaft ist erbarmungslos. Es sind totalitäre
- Staaten der übelsten Sorte – die reine Verhöhnung von Marx’ Vision.
- VI. Die Universalisierung des Staates
- Jedes Volk, das nach der Unabhängigkeit strebt, durchlebt auf dem Weg dorthin den
- unvermeidlichen nationalen Befreiungskampf und den Aufbau eines Staates. Warum ist
- das unvermeidlich?
- Zhou Enlai hat gesagt: »Wir leben in einer Welt von Staaten, leider!« Dieser Satz kam
- von einem der größten Revolutionäre des 20. Jahrhunderts, unmittelbar nach dem
- Triumph in einem nationalen Befreiungskampf, der den gesamten Planeten erschütterte,
- und der Etablierung eines Staates, in dem ein Siebtel der Weltbevölkerung lebt. Der Satz
- drückt eindeutig aus, in welchem Kontext von Notwendigkeit, in welcher Situation der
- Überdeterminiertheit, die Unabhängigkeitskämpfe heute stattfinden.
- Das Handel treibende kapitalistische Bürgertum hat, als es seine Herrschaft dem ganzen
- Planeten aufzwang, das Konzept des Staates und seiner legitimen Gewaltausübung
- generalisiert und verbreitet. Doch bewundernswerte politische Gesellschaften sind ganz
- ohne staatliche Organisation entstanden und haben sich bis ins 20. Jahrhundert
- behauptet. Es sind Gesellschaften, deren Produktionsweisen und deren Territorium
- verschont blieben, weil sie für die kolonialen Ausbeuter nicht interessant waren. Erst als
- ihre Reichtümer – mineralische Bodenschätze, Öl, landwirtschaftliche Produkte – entdeckt
- und sie damit für die kapitalistische Profitgier interessant wurden, sahen sie sich mit
- Problemen von Herrschaft, Stellvertreterkriegen, dem Befreiungskampf konfrontiert – und
- in der Folge mit der Notwendigkeit, einen Staat zu errichten.
- Ich nehme als Beispiel das Nomadenvolk der Sahrauis in der Westsahara. Umschlossen
- vom Atlantik, Marokko, Algerien und Mauretanien, erstreckt sich die Westsahara in den
- Grenzen, die in den Verträgen der Kolonialmächte Frankreich und Spanien 1900, 1904
- und 1912 festgelegt wurden, über rund 310000 Quadratkilometer. Seit Spanien 1958 die
- Region um Tarfaya, Tan-Tan und Guelmime an Marokko abgetreten hat, ist die
- Westsahara 284000 Quadratkilometer groß, etwas mehr als halb so groß wie Frankreich.
- Die Sahrauis wanderten im 13. Jahrhundert aus dem Jemen in das Gebiet ein und
- errichteten eine höchst komplexe politische Gesellschaft, hervorgegangen aus einer
- reichen Kultur. Über Jahrhunderte gab es nie eine wie auch immer geartete Form
- staatlicher Organisation. Die Gesellschaft besaß eine einzige den Stämmen und Clans
- übergeordnete Instanz, den sogenannten »Rat der Vierzig«. So heißt bis heute die
- Versammlung der Anführer der achtzehn Stämme, aus denen das Volk der Sahrauis
- besteht. Die Versammlung findet alljährlich auf der Hochebene von Tindouf im Südwesten
- von Algerien statt und dauert einige Tage.
- Diese durch und durch demokratische Versammlung regelt traditionell die Nutzung der
- Brunnen, die Aufteilung der Weiden, die Wanderungen und die gemeinsame Verteidigung
- gegen äußere Feinde.
- Der »Rat der Vierzig« ist modellhaft für zahlreiche traditionelle Völker Afrikas,
- Südasiens, der Hochebenen in den Anden und des Amazonas-Regenwalds, die ebenfalls
- beeindruckende politische Gesellschaften ohne Staat entwickelt haben. Pierre Clastres
- gibt einen Überblick, von den Dinka im Südsudan bis zu den Kikuyu im Hochland des
- Kilimandscharo.111 Clastres hat festgestellt, dass diese relativ egalitären Gesellschaften
- mit Subsistenzwirtschaft, die nur das Lebensnotwendige produzieren, diese
- »Gesellschaften der Arbeitsverweigerung«, wie er sie nennt, nicht deshalb keinen Staat
- haben, weil sie nicht wissen, was ein Staat ist, sondern weil sie eigens so eingerichtet
- waren, dass sie keinen Staat brauchten, denn gerade das wollten sie nicht: eine
- zentralisierte, starke, autoritäre Macht, einen Zwangsapparat, eine nicht-egalitäre
- Struktur. »Die Geschichte der Völker ohne Geschichte ist […] die Geschichte ihres Kampfs
- gegen den Staat.«112
- 1976 gaben sich die Sahrauis gezwungenermaßen doch eine nationalstaatliche
- Organisation, die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS).
- Ich erinnere mich an einen Frühlingsabend auf der Hamada (Hochebene) von Tindouf.
- Die rote Sonne versinkt hinter den Felsen. Ein leichter Wind lässt die Palmen zittern. Die
- Luft ist klar. Soweit das Auge reicht, reihen sich graue, braune und weiße Zelte
- aneinander. An den Ziehbrunnen schöpfen Frauen in langen roten oder hellen Gewändern
- Wasser – seit unvordenklichen Zeiten ein vertrautes Bild bei den Nomadenvölkern. Sie
- füllen ihre Eimer, heben sie auf den Kopf und kehren mit wiegenden, majestätischen
- Schritten zurück zu ihren Zelten. Hinter dem Palmenhain grasen friedlich ein paar Kamele,
- die wie durch ein Wunder die Bombardements der Marokkaner überlebt haben, die
- letzten Vertreter der großen Herden, die einst der Stolz der Sahrauis waren. Ihre Milch
- wird an die Kinder in der nahe gelegenen Krankenstation verteilt. In der Ferne wirbelt ein
- Landrover, ein winziger Fleck am Horizont, Sandwolken auf. Über der braunen Erde
- leuchtet der Himmel.
- Zusammen mit unserem Fahrer – einem Kämpfer der Befreiungsarmee, der auf
- Heimaturlaub bei seiner Familie ist – und dem warmherzigen Beschir Mustafa Sayyid,
- einem Freund, Anführer der Polisario (Frente Popular de Liberación de Saguía el Hamra y
- Río de Oro), Bruder von Al-Wali, dem Gründer der Polisario und der DARS, der im Alter von
- 28 Jahren im Kampf gefallen ist, und von Baba, dem ersten Vertreter der DARS bei den
- Vereinten Nationen in Genf, erklimmen wir einen kleinen Felshügel hinter dem südlichen
- Eingang zum Lager. Dort stoßen wir – »zufällig«, wie der Kommandant sagt – auf drei
- eindrucksvolle Greise mit wettergegerbten Gesichtern. Sie tragen weite blaue Boubous
- und einen schwarzen oder weißen Turban, der um Kopf und Hals geschlungen ist.
- Seit Tagen versuche ich zu ergründen, wie das soziale Gewebe, die ethnische und die
- Clanstruktur beschaffen sind, die den außerordentlichen Zusammenhalt der Sahraui-
- Gesellschaft ausmachen. Aber meine entsprechenden Fragen wurden bisher nur mit
- verlegenem Schweigen quittiert. An diesem Abend bekomme ich endlich Antworten.
- Die drei Stammesführer – zwei von ihnen haben auf der Seite von Franco bei Toledo
- gegen die spanischen Republikaner gekämpft – sagen lange nichts. 1936 kamen
- spanische Soldatenwerber von den nahegelegenen Kanarischen Inseln zu ihnen und
- erklärten ihnen, es gehe darum, gegen die »Roten« zu kämpfen, die Gottlosen, die Feinde
- des Glaubens und des Propheten. Ihre Vorfahren hatten den Alcázar von Toledo erbaut.
- Sie würden nun über die Meerenge von Gibraltar zurückkehren, die Halbinsel
- zurückerobern, Toledo befreien … Hier vor uns, auf diesem Hügel, schämen sich die alten
- Männer. Die jungen Kämpfer der Frente Polisario – ihre Söhne und Enkel, ihre Neffen und
- Großneffen – haben ihnen Francos Betrug erklärt. Während sie glaubten, gegen
- Ungläubige zu kämpfen, hatten sie sich in Wahrheit von einem faschistischen General
- anwerben lassen, der mit aufklärungsfeindlichen Kardinälen gemeinsame Sache machte,
- den Erben der Inquisition, um vor Toledo die spanischen Bauern und Arbeiter
- abzuschlachten, die gegen ihre Unterdrücker kämpften.
- Schließlich brachen sie ihr Schweigen. Zunächst kamen endlose Höflichkeitsformeln. Die
- Gastfreundschaft und Höflichkeit der Nomaden sind außerordentlich wirksame Mittel,
- einen Fremden zu taxieren, zu kontrollieren, zu beobachten …
- Beschir musste seine ganze Autorität aufbieten, damit die alten Männer es wagten,
- gegen das Tabu zu verstoßen. Die Gesellschaft der Sahrauis – die Krieg gegen einen
- Invasoren führt – duldet keine Hinweise auf die ethnische Herkunft der Kämpfer. Die
- Frente hat nicht nur die Stammesstruktur ausgelöscht und die Macht der Anführer
- gebrochen, sondern explizit verboten, dass Differenzen, Allianzen und Konflikte zwischen
- den Stämmen erwähnt werden, obwohl sie offensichtlich sind.
- Aber an diesem Abend sprechen die alten Männer. Ich höre geradezu unglaubliche
- Geschichten: davon, wie sich eine nomadische Gesellschaft ohne Staat innerhalb weniger
- Jahrzehnte in eine moderne Republik verwandelt hat, in der Männer und Frauen, Junge
- und Alte im gemeinsamen Widerstand gegen den Aggressor unter ärmlichsten
- Bedingungen tagtäglich um ihr Überleben kämpfen.
- Die Berliner Konferenz, auf der 1885 über die Aufteilung Afrikas zwischen den
- europäischen Mächten entschieden wurde, schlug die Westsahara Spanien zu, weil sie als
- unverzichtbares Glacis zum Schutz der Kanarischen Inseln angesehen wurde. 1967/1968
- wurde sich Madrid plötzlich bewusst, wie ökonomisch wertvoll ihre Kolonie mit den
- reichen Vorkommen an Phosphat, Eisen, Öl und Uran war. Die Spanier erkundeten und
- bohrten, kauften einige lokale Stammesführer, gestanden ihnen ein lokales Parlament zu,
- das eine Farce war, zahlten den Männern Gehälter und eröffneten Schulen für die Jungen.
- Die Sahrauis lernten ihren Feind nach und nach kennen, knüpften neue Bande zum
- Ausland, entdeckten die internationale, diplomatische Öffentlichkeit und stellten
- Gemeinsamkeiten mit den Befreiungskämpfen anderer Völker fest. Die Demonstrationen
- vom 17. Juni 1970 markierten den Beginn des politischen Kampfes. Die spanische
- Fremdenlegion antwortete mit Unterdrückung: Hunderte Menschen wurde festgenommen,
- Dutzende getötet, einige »verschwanden«.
- Als Reaktion auf die spanische Repression gründete sich am 10. Mai 1973 die Frente
- Polisario. Al-Wali Mustafa Sayyid, ein ehemaliger Jurastudent aus Rabat, wurde zu ihrem
- Generalsekretär gewählt. Im September 1975 verhandelte die spanische Regierung mit
- al-Wali über den Rückzug ihrer Truppen und erkannte das Recht der Sahrauis auf ihre
- Unabhängigkeit an. Aber beim Gipfel der Afrikanischen Union im Oktober in Rabat
- schlossen Marokko und Mauretanien ein Geheimabkommen, in dem sie die Westsahara
- unter sich aufteilten. Unter dem todkranken Diktator Franco verriet Spanien seine
- Verpflichtungen gegenüber den Sahrauis und akzeptierte die Teilung.
- So begann am 31. Oktober 1975 der Widerstandskrieg der Sahrauis gegen Marokko und
- Mauretanien, ihre beiden Nachbarstaaten, die von Frankreich und später auch von den
- Vereinigten Staaten unterstützt wurden. Die Männer griffen zu den Waffen. 50000 Frauen
- und Kindern gelang die Flucht, sie durchlitten die Tragödie des Exodus; wer blieb, erlebte
- Deportation, Polizeiterror, Verhaftungen, Massenerschießungen. Die Lager wurden mit
- Napalm und Phosphor übergossen, es gab Tausende Tote. Die Irrfahrt der Flüchtlinge
- dauerte fast acht Monate. An der algerischen Grenze in die Enge getrieben, fanden sie
- schließlich Zuflucht, denn Algerien hatte sich zu unbedingter Unterstützung des
- Märtyrervolks der Sahrauis verpflichtet. Am 17. Februar 1976 wurde auf der
- windgepeitschten Hamada von Tindouf die Demokratische Arabische Republik Sahara
- (DARS) ausgerufen.
- Heute kämpfen die Sahrauis immer noch. Ihr Staat wird von den westlichen Mächten
- und natürlich von der marokkanischen Kolonialmacht nicht anerkannt. Die Regierung der
- DARS unter der Führung des Präsidenten Mohamed Abdelaziz ist immer noch im Exil auf
- algerischem Gebiet, ihr Territorium ist zum großen Teil von marokkanischen Truppen
- besetzt, die eine gnadenlose Repression ausüben.113
- Noch ein anderes Volk mit einer Jahrtausende alten Geschichte wird von einer kolonialen
- Besatzungsmacht in seiner Existenz negiert: das palästinensische Volk.
- 1947 entschied die Generalversammlung der Vereinten Nationen, Palästina, das seit
- dem Ende des Osmanenreichs 1922 von Großbritannien als Mandatsgebiet verwaltet
- wurde, in zwei Staaten zu teilen: einen Staat der Juden, der einheimischen wie der
- eingewanderten Siedler, und einen Palästinenserstaat. Die Palästinenser und sämtliche
- arabische Staaten in der Region protestierten gegen diese Entscheidung. Es gab Krieg.
- Der Staat Israel wurde proklamiert. Fast eine Million Palästinenser flohen aus ihren
- Städten und Dörfern, teils vor dem Terror der israelischen Armee, aber auch auf Befehl
- der arabischen Regierungen. 1967 besetzte die israelische Armee im Lauf des Sechs-
- Tage-Kriegs Ostjerusalem, das Westjordanland, Gaza, die Sinai-Halbinsel (die 1973 im
- Jom-Kippur-Krieg von Ägypten zurückerobert wurde) und die Golanhöhen.
- Seit damals hat das palästinensische Volk nicht aufgehört, Widerstand zu leisten. Zwei
- Intifadas 1987 und 1990 wurden von der kolonialen Besatzungsmacht blutig
- niedergeschlagen.
- 2007 hat Israel über das Getto von Gaza, wo sich 1,8 Millionen Menschen, zum größten
- Teil Flüchtlinge, auf einer Fläche von 365 Quadratkilometern drängen, eine vollständige
- Blockade verhängt. Im Juli und August 2014 haben israelische Piloten, Artillerieschützen,
- Marinesoldaten, Panzerfahrer und Scharfschützen das Getto mit einer Feuerwalze
- überzogen, die mehr als 2000 Menschen das Leben gekostet hat, über 10000
- Palästinenser, überwiegend Zivilpersonen, Frauen und Kinder, wurden verwundet,
- verbrannt, gelähmt oder haben ihr Augenlicht verloren (gegenüber 64 israelischen
- Soldaten und drei Zivilisten, die durch palästinensische Raketen starben).
- 2012 erhielt der Staat Palästina, der auf 41 Prozent des Territoriums des historischen
- Palästina errichtet worden war, Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen. Israel
- weigerte sich, den Palästinenserstaat anzuerkennen. Die fast hermetische israelische
- Wirtschaftsblockade geht weiter. Der israelische Staatsterror ebenfalls.
- VII. Der Staat, das unmögliche Bollwerk für die Schwachen
- Ich erinnere mich mit Schrecken an die ausgehungerten, leichenblassen, in Lumpen
- gehüllten, verdreckten Menschen – vor allem Frauen und Kinder – mit ihren flackernden
- Augen, die sich unter den Brücken der Schnellstraße niedergelassen hatten, die den
- Flughafen von Galeão auf der Ilha do Governador von den westlichen Vororten Rio de
- Janeiros trennt. Es sind Einwanderer, die vor der Trockenheit und der Grausamkeit der
- Großgrundbesitzer im Norden geflohen sind, die Familien der flagelados. Tagsüber irren
- sie ohne etwas zu essen, ohne Zukunft, ohne Würde in der Megastadt umher. Sie
- verhalten sich wie gejagte Tiere. Nachts bedrängt sie die Militärpolizei, schlägt sie oder
- tötet sie gar.
- In Entwicklungsländern – wie zum Beispiel Brasilien – legt der Staat zuweilen eine
- erschreckende soziale Inkompetenz an den Tag. In westlichen Industriegesellschaften ist
- die Situation komplizierter. Der Staat ist ein ambivalentes soziales Gebilde. Er verkörpert
- die kapitalistische Logik und bekämpft sie zugleich.
- In einigen begrenzten Bereichen ist der Staat eine Macht des Fortschritts. Ohne das
- Eingreifen des Staates wären alte und junge Menschen, Angestellte und Arbeiter dem
- Wüten des Kapitals schutzlos ausgeliefert. Dank dem Staat gibt es überall in Europa
- großartige Schulen, Universitäten, Kultureinrichtungen, Krankenhäuser, soziale
- Sicherungssysteme, Arbeitsgerichte und vielfältige, wirksame Institutionen zum Schutz
- von Arbeitnehmern, Rentnern und Arbeitslosen. Durch das Steuersystem bewirkt der
- Staat interne Transfers des Volkseinkommens. Er ist der Garant für eine zumindest
- rudimentäre soziale Gerechtigkeit.
- Der Staat ist also auch ein Bollwerk für die Schwachen. Aber heute zerfällt dieses
- Bollwerk allmählich.
- Der Machtzuwachs des globalisierten Finanzkapitals, das neoliberale Dogma von
- »weniger Staat«, die Privatisierung der Welt – all das schwächt mittlerweile die
- Regelungskapazität der Staaten. Diese Entwicklungen überrollen Parlamente und
- Regierungen. Sie machen die meisten Wahlen und fast alle Volksabstimmungen sinnlos.
- Sie höhlen die regulatorische Kompetenz der öffentlichen Institutionen aus. Sie ersticken
- das Gesetz.
- Von der Republik, so wie wir sie aus der Französischen Revolution ererbt haben, bleibt
- nur noch ein Schatten, eine leere Hülle.
- Jürgen Habermas stellt die Diagnose114: »Der Territorialstaat, die Nation und eine in
- nationalen Grenzen konstituierte Volkswirtschaft haben damals eine historische
- Konstellation gebildet, in der der demokratische Prozess eine mehr oder weniger
- überzeugende institutionelle Gestalt annehmen konnte […] Diese Konstellation wird
- heute durch Entwicklungen in Frage gestellt, die inzwischen unter dem Namen
- ›Globalisierung‹ breite Aufmerksamkeit finden […] Die lähmende Aussicht, daß sich die
- nationale Politik in Zukunft auf das mehr oder weniger intelligente Management einer
- erzwungenen Anpassung an Imperative der ›Standortsicherung‹ reduziert, entzieht den
- politischen Auseinandersetzungen den letzten Rest an Substanz […] Kein Zweifel besteht
- schließlich an der beispiellosen Beschleunigung der Kapitalbewegungen auf den
- elektronisch vernetzten Finanzmärkten und an der Tendenz zur Verselbstständigung von
- Finanzkreisläufen, die eine von der Realwirtschaft entkoppelte Eigendynamik entfalten
- […] Weitsichtige Ökonomen haben schon vor zwei Jahrzehnten zwischen den bekannten
- Formen der ›internationalen‹ Ökonomie und der neuen Formation der ›globalen‹
- Ökonomie unterschieden.«115
- Eine neue Macht ist dabei, sich zu etablieren: die Macht der Einschüchterung, die die
- Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals gegenüber demokratisch konstituierten
- Regierungen, Parlamenten, Gerichten und der öffentlichen Meinung ausüben.
- Habermas beschreibt diesen Vorgang so: »Unter Bedingungen eines globalen, zur
- ›Standortkonkurrenz‹ verschärften Wettbewerbs sehen sich die Unternehmen mehr denn
- je genötigt, die Arbeitsproduktivität zu steigern und den Arbeitsablauf insgesamt so zu
- rationalisieren, daß der langfristige technologische Trend zur Freisetzung von
- Arbeitskräften noch beschleunigt wird. Massenentlassungen unterstreichen das
- wachsende Drohpotential beweglicher Unternehmen gegenüber einer insgesamt
- geschwächten Position von ortsgebunden operierenden Gewerkschaften. In dieser
- Situation, wo der Teufelskreis aus wachsender Arbeitslosigkeit, überbeanspruchten
- Sicherungssystemen und schrumpfenden Beiträgen die Finanzkraft des Staates erschöpft,
- sind wachstumsstimulierende Maßnahmen um so nötiger, je weniger sie möglich sind.
- Inzwischen haben nämlich die internationalen Börsen die ›Bewertung‹ nationaler
- Wirtschaftspolitiken übernommen.«116
- Und weiter schreibt er: »Die Verdrängung der Politik durch den Markt zeigt sich also
- daran, daß der Nationalstaat seine Fähigkeit, Steuern abzuschöpfen, Wachstum zu
- stimulieren und damit wesentliche Grundlagen seiner Legitimität zu sichern, zunehmend
- verliert, ohne daß funktionale Äquivalente entstehen […] Statt dessen lassen sich die
- nationalen Regierungen schon angesichts implizit angedrohter Kapitalabwanderung in
- einen kostensenkenden Deregulierungswettlauf verstricken, der zu obszönen Gewinnen
- und drastischen Einkommensdisparitäten, zu steigender Arbeitslosigkeit und zur sozialen
- Marginalisierung einer wachsenden Armutsbevölkerung führt. In dem Maße, wie die
- sozialen Voraussetzungen für eine politische Teilnahme zerstört werden, verlieren auch
- formal korrekt getroffene demokratische Entscheidungen an Glaubwürdigkeit.«117
- Jürgen Habermas ist der intellektuelle wie institutionelle Erbe der Frankfurter Schule. Als
- Schüler und Exeget der deutschen Neomarxisten ist er der geistige Sohn von Max
- Horkheimer (dessen Assistent an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt er
- war), Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock und Erich Fromm. Lassen
- sich seine apokalyptische Vision der Allmacht des Finanzkapitals, sein Pessimismus
- hinsichtlich der Widerstandskraft des republikanischen Staates und seine beißende Kritik
- am gegenwärtigen Funktionieren der Demokratie aus der geistigen Tradition erklären,
- der er entstammt? Tauchen der tiefe Kulturpessimismus der Frankfurter Schule und die
- unterschwellige Verzweiflung ihrer jüdisch-christlichen Eschatologie unversehens in der
- Kritik am vereinheitlichten kapitalistischen Markt wieder auf, wie sie Habermas
- formuliert?
- Über ein halbes Jahrhundert lang war Ralf Dahrendorf der schärfste, unerbittlichste
- theoretische Gegner von Jürgen Habermas. Habermas und Dahrendorf gehören zu den
- wichtigsten theoretischen Köpfen der zeitgenössischen deutschen Soziologie. Ich habe
- mehrere »Soziologentage« erlebt, diese Hochämter der deutschen Sozialwissenschaften,
- die abwechselnd von den beiden Gurus einer abgeklärten Achtundsechziger-Generation
- zelebriert wurden.
- Habermas steht der SPD nahe. Der mittlerweile verstorbene Ralf Dahrendorf war Mitglied
- d e r FDP und kurzzeitig sogar Staatssekretär in der Bundesregierung. Doch – welche
- Überraschung! – Dahrendorf gelangte zur exakt gleichen Analyse der tödlichen Gefahren,
- die dem Staat im Westen drohen, wie sein intellektueller Gegenspieler.
- Hören wir, was Dahrendorf schreibt: »Um auf den immer größer werdenden
- Weltmärkten wettbewerbsfähig zu blieben, müssen [die OECD-Staaten] Schritte tun, die
- dem Zusammenhalt der Bürgergesellschaft irreparablen Schaden zufügen […] Die
- dringlichste Aufgabe der Ersten Welt im kommenden Jahrzehnt wird deshalb die
- Quadratur des Kreises aus Wohlstand, sozialem Zusammenhalt und politischer Freiheit
- sein.«118
- Immanuel Kant definierte den Staat als »Gemeinschaft unreiner Einzelwillen vereint unter
- einer gemeinsamen Regel«. Was versteht er unter »unreine Einzelwillen«? Jeder Mensch
- trägt die schlimmsten Leidenschaften in sich: Eifersucht, Machtgier, destruktive Energien.
- Aus Einsicht gibt er einen Teil seiner Freiheit zugunsten des allgemeinen Willens und des
- Allgemeinwohls ab. Mit seinesgleichen begründet er die »allgemeine Regel«, den Staat,
- das Gesetz. Diesem Gründungsakt liegt die größtmögliche Freiheit zugrunde. Kant
- schreibt weiter: »Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete
- Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein das
- Gegenteil der ethischen [Verfassung] bewirken, sondern auch seine politische
- untergraben und unsicher machen.«119
- Kant wusste besser als jeder andere um die extreme Fragilität der gemeinsamen Regel,
- des aus unreinen Einzelwillen geknüpften Netzes, um den Abgrund, der unter den
- scheinbar so soliden Institutionen lauert. Er bezeichnete die Kraft, die die Einzelwillen der
- Bürger auf Abwege lockt und sie dazu bringt, die gemeinsame Regel zu schwächen, zu
- verzerren, im schlimmsten Fall zu vernichten, als das »radikal Böse«.
- Myriam Revault d’Allonnes, die sich intensiv mit Kant beschäftigt hat, schreibt: »Es gibt
- die unvergessliche Größe des historischen Zeichens, das die moralische Disposition der
- Menschheit kundtut. Aber es gibt auch dieses radikal Böse als Neigung der menschlichen
- Natur, als unausrottbare Neigung und unerforschlichen Abgrund einer ursprünglichen
- Macht, die sich sowohl dem Guten wie dem Bösen zuwenden kann […]« Und an anderer
- Stelle: »Der Mensch ist formbar, insoweit ihm nicht von der Natur feste Ziele vorgegeben
- sind […] Die menschliche Spezies ist das, was wir aus ihr machen wollen.«120
- In den meisten Raubtierkapitalisten steckt ein Mephisto. Sie betreiben wissentlich die
- Entmachtung des Staates. Sie diffamieren, diskreditieren und delegitimieren seine
- Regelungskompetenz.121
- Und heute triumphieren sie.
- In einer Schichtgesellschaft, wo die widersprüchlichen Interessen gegensätzlicher
- Klassen aufeinanderprallen, versucht der demokratische Staat permanent und durch
- vielfältige Mechanismen (Umverteilung durch Steuern, soziale Sicherung und so weiter),
- die asymmetrischen Abhängigkeiten zwischen den Individuen abzuschwächen und
- erträglich zu machen. Und die Bürgerinnen und Bürger stehen hinter dem Staat, hinter
- seinen Normen und Entscheidungsverfahren, soweit sie einen praktischen Nutzen davon
- haben. Ein Staat, der seinen Bürgern nicht ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, ihnen
- nicht ein Minimum von gesellschaftlicher Stabilität und Einkommen garantiert, eine
- planbare Zukunft und eine öffentliche Ordnung, die im Einklang mit ihren ethischen
- Überzeugungen steht, ein solcher Staat ist zum Untergang verdammt.
- In zahlreichen westlichen Staaten sind der öffentliche Verkehr, Post und
- Telekommunikation bereits privatisiert. Eine zweite Privatisierungswelle ist in
- Vorbereitung. Sie betrifft die Grundschulen, weiterführenden Schulen, die Universitäten,
- Krankenhäuser, Gefängnisse und bald auch die Polizei.
- Ein Staat, der freiwillig seine wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen abbaut und
- Aufgaben, die sich aus dem allgemeinen Interesse ergeben, auf den privaten Sektor
- überträgt und damit dem Gesetz der Profitmaximierung unterwirft, ist ein failed state, wie
- Eric Hobsbawm ihn genannt hat, ein gescheiterter Staat und ein Staat, der sich schuldig
- macht.
- In den Augen seiner Bürger liegt der Wert eines solchen Staates nahe null.
- Eine Volkswirtschaft, die maximale individuelle Konkurrenz hervorbringt (und preist),
- prekäre Arbeitsverhältnisse, unsichere Lebensbedingungen und Verdienst nach Leistung,
- macht Angst. Von Jean-Jacques Rousseau stammt der Satz: »Zwischen dem Schwachen
- und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.«
- Ein Bürger, der schutzlos großen sozialen Risiken ausgesetzt ist, erkennt sich nicht mehr
- als Staatsbürger. Ein Mensch, der dauernd fürchtet, seinen Arbeitsplatz, sein Einkommen
- und seine Rechte zu verlieren, ist kein freier Mensch mehr.
- Die Privatisierung des Staates zerstört die Freiheit des Menschen. Sie löscht die
- Staatsbürgerschaft aus.
- Beim Weltwirtschaftsforum (World Economic Forum, WEF) im Februar 1996 in Davos im
- Zentrum der kleinen Schweizer Stadt weit hinten im Landwassertal in Graubünden
- ereignete sich ein denkwürdiger Vorfall. Es war ein verräterischer Augenblick, in dem sich
- beispielhaft das Gesicht der neuen Welt zeigte. Mit schwerem Schritt näherte sich Hans
- Tietmeyer, der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank, dem Mikrofon auf dem
- Podium in dem Bunker, in dem die Konferenzen stattfanden. Draußen fielen leise die
- Schneeflocken auf die behelmten Polizisten, die Krawalle verhindern sollten, auf die
- Stacheldrahtabsperrungen und die elektronischen Barrieren, die den Bunker schützten.
- Vor einem silbernen Himmel drehten graue Hubschrauber der schweizerischen Armee
- unablässig ihre Runden.
- Drinnen waren die tausend mächtigsten Oligarchen der Welt, Staatschefs,
- Ministerpräsidenten und Minister aus mehreren Dutzend Ländern versammelt. An die
- Adresse der anwesenden Staatschefs richtete Tietmeyer abschließend die Mahnung: »Von
- nun an stehen Sie unter der Kontrolle der Finanzmärkte!«122
- Lang anhaltender Beifall. Die Staatschefs, Ministerpräsidenten und Minister, viele
- Angehörige sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien, akzeptierten als eine
- selbstverständliche Tatsache, dass die Volkssouveränität der Warenrationalität und der
- spekulativen Logik des globalisierten Finanzkapitals unterworfen wird.
- Die Teilnehmer am Weltwirtschaftsforum in Davos wussten genau, was Tietmeyer sagen
- wollte. Denn alle Staats- und Regierungschefs, alle Ministerinnen und Minister erleben
- jeden Tag persönlich diese »Kontrolle«. Eine Regierung beschließt, die Steuern zu
- erhöhen? Sofort zieht sich das Finanzkapital (das ausländische wie das einheimische)
- zurück und sucht sich günstigere Akkumulationsbedingungen in einem Nachbarstaat. Die
- Rahmenbedingungen für Investitionskapital, die Zölle und die Bestimmungen über die
- Rückführung von Gewinnen multinationaler Gesellschaften in ihre Heimatländer haben
- sich geändert? Das Finanzkapital wird eine Regierung, die sich auf diese Weise »schuldig«
- gemacht hat, unverzüglich abstrafen.
- Viele Würdenträger im Konferenzsaal hatten noch die Auseinandersetzungen um das
- Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) in Erinnerung. Das MAI war von den großen
- multinationalen Konzernen diktiert worden. Es sah vor allem vor, dass ein multinationaler
- Konzern vor einem internationalen Schiedsgericht auf Schadenersatz klagen kann, wenn
- er durch die Entscheidung eines souveränen Staates einen wie auch immer gearteten
- wirtschaftlichen Nachteil hat. Das Abkommen war zunächst unter höchster Geheimhaltung
- in der OECD ausgehandelt worden, der Dachorganisation der größten Industriestaaten. Alle
- Regierungen waren eingeknickt. Es fehlten nur noch die Unterschriften.
- Da erhob sich in der europäischen Zivilgesellschaft, vor allem in Frankreich, ein Sturm,
- wie es ihn noch nie gegeben hatte. In letzter Minute musste der damalige französische
- Premierminister Lionel Jospin seine Unterschrift verweigern. Das Abkommen konnte nicht
- in Kraft treten.
- »Man muss bis zu den schlimmsten Kolonialverträgen zurückgehen, um zu entdecken,
- dass die unantastbaren Rechte des Stärkeren, in dem Fall die Rechte der multinationalen
- Gesellschaften, und die drakonischen Pflichten, die den Menschen auferlegt werden, mit
- so viel herrscherlicher Arroganz formuliert wurden wie in dem Multilateralen
- Investitionsabkommen (MAI).«123
- Heute ist der Investitionsschutz ein wichtiges Thema in den Verhandlungen zwischen
- der EU und Amerika über das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic
- Trade Investment Partnership). Auf der anderen Seite des Atlantiks haben die Vereinigten
- Staaten durchgesetzt, dass die Bestimmungen des MAI in das Abkommen über die
- Amerikanische Freihandelszone (FTAA, Free Trade Area of the Americas) mit
- aufgenommen wurden, das die USA mit Kanada und Mexiko abgeschlossen haben. Mit der
- Komplizenschaft der Söldner des Finanzkapitals, die in den Regierungen, den
- Parlamenten, der Presse und den Berufsverbänden sitzen, versuchen sie, diese
- Regelungen allen Ländern Lateinamerikas und der Karibik aufzuzwingen. Aber mächtige
- soziale Bewegungen wie die Landlosenbewegung (Movimento dos trabalhadores sem
- terra, MST) in Brasilien, das Bündnis der indigenen Nationalitäten Ecuadors (Confederación
- de Nacionalidades Indígenas des Ecuador, CONAIE) oder Via Campesina organisieren einen
- schlagkräftigen Widerstand gegen die mörderische Politik des »freien Dumpings«.
- Die neuen Akkumulations- und Ausbeutungsstrategien der transnationalen Oligarchien
- richten in den nationalen Volkswirtschaften schreckliche Verwüstungen an. Die Staaten,
- selbst die mächtigsten, sind gezwungen, sich auf ihrem eigenen Territorium in ihrer
- Haushalts- und Wirtschaftspolitik dem Diktat der transkontinentalen Finanz- und
- Produktionsgesellschaften zu beugen. Sollten sie sich weigern, würden sie sofort mit dem
- Abzug internationaler Investitionen und mit Kapitalflucht bestraft.
- Unter anderem aus diesem Grund ist die Regierung von François Hollande nicht in der
- Lage, die soziale Katastrophe, unter der Millionen französische Familien leiden, in den
- Griff zu bekommen.
- Wie ein Bach, der im Frühjahr anschwillt, überspült das transkontinentale Finanzkapital
- mit seiner außerordentlichen Kraft alle Barrieren, reißt alle staatliche Gewalt fort und
- verwüstet wohlbestellte Landschaften. In Zukunft bleibt allen Regierungen, auch denen
- der reichsten und mächtigsten Staaten, nichts anderes übrig, als bei dem mitzumachen,
- was Jürgen Habermas als »Weltinnenpolitik«124 bezeichnet. Und das bedeutet: Sie
- müssen sich den Diktaten der Herren des transkontinentalen Kapitals beugen.
- Laut dem Jahrbuch der Weltbank kontrollierten 2013 die 500 quer über die
- Wirtschaftssektoren mächtigsten multinationalen Konzerne 52,8 Prozent des weltweiten
- Bruttosozialprodukts, das heißt des gesamten Reichtums – Kapital, Waren,
- Dienstleistungen, Lizenzen und so weiter –, der in einem Jahr auf dem Planeten
- produziert wird. Diese gigantic immortal persons (»riesigen unsterblichen Personen«), wie
- Noam Chomsky sie nennt, entziehen sich jeder einzelstaatlichen, supranationalen,
- gewerkschaftlichen und sonstigen Kontrolle. Sie häufen finanziellen Reichtum an,
- wirtschaftliche, politische und kulturelle Macht in einem Ausmaß, wie kein König, kein
- Kaiser und kein Papst in der Geschichte der Menschheit sie je besessen hat.
- Sie funktionieren – das ist ganz normal so – nach einem einzigen Grundsatz:
- Maximierung ihres Profits in möglichst kurzer Zeit.
- Deutsche Politiker verwenden häufig einen schrecklichen, in andere Sprachen praktisch
- nicht übersetzbaren Begriff: »Sockelarbeitslosigkeit«. In den 28 Mitgliedsstaaten der
- Europäischen Union gibt es 2014 insgesamt 30,2 Millionen langzeitarbeitslose Männer und
- Frauen, das heißt Personen, die seit mindestens 22 Monaten keine Arbeit haben. 38
- Prozent davon sind junge Leute unter fünfundzwanzig, die seit ihrem Schul- oder
- Studienabschluss noch nie gearbeitet haben. Die meisten bleiben lebenslang vom
- Arbeitsprozess ausgeschlossen. Sie bilden den unverrückbaren, unzerstörbaren,
- unauflösbaren Sockel der Arbeitslosigkeit in Europa. Diese Menschen ohne Arbeit, diese
- Ausgeschlossenen werden heute als normale Erscheinung akzeptiert, sie gehören einfach
- zur »Natur« des europäischen Arbeitsmarkts, wie seine Weihrauchträger behaupten. Die
- Kanzlerin sieht nur ein Problem: Wie kann man ihnen eine zum Überleben ausreichende
- Minimalversorgung zukommen lassen, damit es keine offene Revolte gibt?
- Der souveräne Staat mit seiner wirksamen Kraft zur Normsetzung bildete einst das
- letzte Bollwerk, die letzte Verteidigungslinie gegen die Geißel des »naturalisierten«
- kapitalistischen Markts. Die ultima trinchera, wie die sandinistischen Guerillakämpfer in
- Nicaragua sagten. Dieses Bollwerk bröckelt heute.
- Im Mai 2014 fanden in den 28 Mitgliedsstaaten der EU die Wahlen zum Europaparlament
- statt. Im Zentrum des Wahlkampfs stand das Transatlantische Freihandelsabkommen
- (TTIP) mit den Vereinigten Staaten. Die Verhandlungen zwischen dem
- Kommissionspräsidenten der EU und dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama
- hatten Anfang 2013 begonnen. Sie laufen vollständig hinter verschlossenen Türen ab, die
- Mitgliedsstaaten der EU werden sich erst bei der Ratifizierung zu Wort melden können.
- Offiziell wird über die Schaffung einer Transatlantischen Freihandelszone gesprochen,
- die größte Freihandelszone, die es jemals gegeben hat. Tatsächlich geht es um etwas
- Grundsätzlicheres und viel Bedrohlicheres. Wenn TTIP zustande kommt, wird die
- Wirtschafts- und Finanzpolitik der Staaten endgültig den multinationalen privaten
- Konzernen, diesen kalten Monstern, ausgeliefert sein.
- Die entscheidende Klausel des Abkommens ist die über die Schaffung von
- Schiedsgerichten. Sollte das Abkommen jemals unterschrieben werden, sollte das
- Europäische Parlament seine Zustimmung geben, sollten die 28 nationalen Parlamente
- der Mitgliedsstaaten es ratifizieren, und sollte es dann in Kraft treten, könnte jedes
- private multinationale Unternehmen gegen jeden Staat klagen, der eine Entscheidung
- träfe, die gegen seine Interessen und Wünsche verstieße.
- Das betroffene Unternehmen könnte entweder die Aufhebung der Entscheidung
- verlangen oder Schadenersatz. Und noch wichtiger: Der Konflikt würde nicht von einem
- Gericht des beteiligten Staates entschieden, sondern von einer auf der Grundlage von TTIP
- eigens geschaffenen Schiedsinstanz. Wird TTIP erfolgreich ausgehandelt und ratifiziert,
- realisiert sich endgültig die Weltallmacht der Konzerne.
- SIEBTES KAPITEL
- Die Nation
- I. Wie entsteht und behauptet sich die Nation in Europa?
- Die Nation ist das Produkt der französischen Revolution. Mit der Kanonade von Valmy
- betritt sie die Bühne der Geschichte.
- In der Morgendämmerung des 20. September 1792, auf den vom Regen durchweichten
- Feldern und Hügeln in der Nähe des kleinen, im Marnetal gelegenen Dorfes Valmy,
- blickten die Revolutionssoldaten unter dem Doppelkommando der Generäle Dumouriez
- und Kellermann auf die viel besser bewaffneten, dichten Reihen der Armee des Herzogs
- von Braunschweig. Das antirepublikanische feudale Europa, zu Hilfe gerufen von
- französischen Aristokraten im Exil, angeführt von preußischen und österreichischen
- Marschällen, bereitet sich auf die Invasion Frankreichs vor. Es will Rache für den Affront
- vom 10. August 1792, als die Monarchie gestürzt wurde, will die Revolution
- niederschlagen, auf der vom Atlantik bis in die weiten Ebenen Ungarns alle Hoffnungen
- der unterjochten Völker ruhen.
- Eine Kanonade, der rollende Donner der Granaten … und ein Schrei aus Zehntausenden
- von Kehlen: »Vive la nation!« An diesem Morgen triumphieren die Soldaten von
- Dumouriez und Kellermann in ihren schäbigen Uniformen und mit ihren
- zusammengewürfelten Waffen über die Rachegelüste des feudalen Europa.
- Auf einer Anhöhe hinter den preußischen Linien beobachtet ein Mann von 43 Jahren das
- Geschehen. Der Mann ist Minister am Hof des Herzogs von Weimar und heißt Johann
- Wolfgang von Goethe. Er erkennt sehr klar, was vor sich geht. Tief beindruckt von dem
- Ereignis, tat er am Abend nach der Schlacht in einem Kreis von Offizieren den Ausspruch:
- »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus.«
- Wie definierte sich die Nation in dem Augenblick, als diese Idee ganz Europa erfasste?
- Voltaire schrieb: »Die Nation ist eine Gruppe von Menschen auf einem bestimmten
- Territorium, die eine politische Gemeinschaft bildet und sich durch das Bewusstsein ihrer
- Einheit und ihres Willens, gemeinsam zu leben, auszeichnet.«125 Und weiter: »Die Nation
- ist eine juristische Person, die durch die Gesamtheit der Individuen gebildet wird, die
- einen Staat darstellen, aber sie ist verschieden von diesem und Träger des subjektiven
- Rechts der Souveränität.«126
- In Europa und speziell in Frankreich ging die Nation aus einer Revolution hervor, aus
- einem Bruch mit der Feudalgesellschaft. Die Nation entstand mit der Etablierung der
- Warenökonomie, aus dem Kampf, den das neue, Handel treibende Bürgertum gegen die
- Feudalherren und gegen den König führte und der es an die Macht brachte. Das
- Bürgertum war »Ausdruck« der neuen Produktivkraft, die sich anschickte, der Gesellschaft
- ihr Gesetz aufzuzwingen, als das Kapital den Boden als wichtigste Produktivkraft ablöste.
- Obwohl die neue Klasse sehr heterogen war (Großbürgertum, das vom Kolonialprofit
- lebte, städtisches Industrie- und Handelsbürgertum, kleines und mittleres Bürgertum in
- der Provinz und so weiter), zog sie allen Vorteil aus dem Aufstand gegen die Aristokraten
- und den König. Dennoch stürmte nicht das Bürgertum die Bastille, und es begann auch
- nicht den gewaltsamen Kampf gegen das Feudalregime und setzte ihn fort; diesen Kampf
- fochten vielmehr die ärmsten Klassen aus. Das Bürgertum ergriff die Zügel der
- Revolution, als sie schon in vollem Gang war, und deutete sie gewissermaßen zu seinem
- eigenen Vorteil um. Es gab der Revolution eine neue Richtung, die seinen
- Klasseninteressen entsprach. Der Nationalstaat – das heißt der Staat, der seine
- Legitimität einzig aus dem Allgemeinwillen der Bürger ableitet – ist die Krönung dieses
- Prozesses. Am 21. Januar 1793 wurde der König hingerichtet.127
- Jacques Berque vertritt die Auffassung, dass die französische Nation dem Nationalstaat,
- wie er Ende des 18. Jahrhunderts entstand, vorausging und mindestens schon tausend
- Jahre länger existierte.128 Aber der Streit ist letztlich nur ein semantischer: Im Mittelalter
- bedeutete Nation »eine Gruppe von Menschen derselben Herkunft«, das heißt, es ging
- allein um die Abstammung, der Begriff hatte keine politische Konnotation. Die Politik war
- damals ausschließlich Sache der Könige, Fürsten und Geistlichen – die Untertanen hatten
- keine oder ganz wenige politische Rechte. Die nationale Legitimität im modernen Sinn
- des Wortes – die Nation als Gruppe von Menschen, die auf einem bestimmten Territorium
- leben, unabhängig von ihrer Herkunft, und die eine politische Gemeinschaft bilden –
- entstand erst in der Nacht vom 4. auf den 5. August 1789. In dieser Nacht wurde der
- übergesellschaftliche, göttliche Ursprung der Macht radikal bestritten. Der Dritte Stand
- konstituierte sich als Nationalversammlung und schaffte das Feudalsystem ab. Eine neue
- Macht betrat die Bühne: eben die, die aus dem Gesellschaftsvertrag der Bürger
- hervorgegangen war, aus dem allgemeinen Willen der Menschen, die, vermittelt durch
- Deputierte, alle Macht ausüben. Dieser Punkt ist wichtig: Die Nation duldet keine
- metasoziale Begründung. Sie ist, wie Voltaire es ausdrückt, »die Inhaberin des
- subjektiven Souveränitätsrechts«. Mit anderen Worten: Sie ist die ausschließliche Quelle
- der Legitimität aller Macht, die sie auf ihre Delegierten überträgt und die in ihrem Namen
- ausgeübt wird. Vor dem 4. August 1789 war Frankreich eine mächtige historische
- Gemeinschaft mit einem zentralistischen Staat, in dem sich im Verlauf eines sehr
- langsamen Prozesses die Bedingungen für die Entstehung einer Nation entwickelt hatten,
- aber es war noch keine Nation.
- In ihren Anfängen von 1789 bis 1792 war die französische Nation so, wie sie Robespierre
- zufolge sein sollte: eine »große Nation«, eine dualistische Nation, die universelle Werte
- hervorbrachte, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Dualistisch war sie, weil sie
- auch ein transnationales Ziel hatte: Sie wollte allen Völkern der Welt die Segnungen der
- in Frankreich errungenen Freiheiten bringen.
- Sehen wir uns ein Beispiel an. Von 1801 bis 1803 tauchten in der Bucht von Belém
- (Brasilien) am Ufer des Solimões und des Amazonas seltsame Karawanen erschöpfter,
- zerlumpter Menschen mit blutigen Füßen aus dem Wald auf. Es waren die Überlebenden
- der Sklavenaufstände auf den Französischen Antillen. 1795 hatte eine verblüffende
- Nachricht aus Paris die Karibik erreicht: Die Sklaverei war abgeschafft, die Gleichheit aller
- Menschen verkündet, die Herren waren unter der Guillotine gestorben. Die flüchtigen
- Sklaven trugen die Nachricht von der Französischen Revolution, von den Menschenrechten
- und von der Abschaffung der Sklaverei bis in die abgelegensten Gebiete am Amazonas.
- Flüchtige kreolische Sklaven erzählten am Ufer des großen Stroms die Geschichte der
- blutigen Rebellion auf Haiti. Die Voodoo-Geister begleiteten sie. Diese schwarzen Schüler
- von Robespierre, ihre Frauen und Kinder wurden größtenteils von Kriegern der
- Indianergemeinschaften massakriert, die entlang des Flusses lebten. Die Überlebenden
- entfesselten 1830 am Rand des lusitanischen Reichs Brasilien den Cabanagem-Aufstand.
- Unter dem Eindruck der Bedrohung durch das reaktionäre Europa ergriff die junge
- französische Republik die notwendigen Mittel zu ihrer Verteidigung. Aber sehr bald schon
- zeigte das siegreiche Bürgertum, diese von Robespierre gefeierte »universelle« Klasse,
- die den Anspruch erhob, den Völkern die Freiheit zu bringen, sein wahres Gesicht: das
- einer egoistischen, herrschenden Klasse, die wild entschlossen war, ihre jüngst
- errungenen Privilegien zu verteidigen und ihren Platz auf den europäischen Märkten zu
- erobern. Eine bemerkenswerte Konsequenz neben anderen: Auf den Antillen wurde 1803
- die Sklaverei wieder eingeführt.
- Ein Mann prangerte diese Perversion an: Gracchus Babeuf. Dieser Revolutionär hatte
- sich 1786 erstmals zu Wort gemeldet. Elf Jahre später, 1797, ließen die neuen
- Besitzenden ihn festnehmen, aburteilen und enthaupten. Die Eroberungskriege des
- Direktoriums und Napoleons dienten den Interessen des neuen nationalen Bürgertums,
- auch wenn es – im Namen der herrschenden Ideologie von Freiheit, Gleichheit und
- Brüderlichkeit – gleichzeitig zur Errichtung laizistischer, demokratischer Republiken in den
- eroberten Gebieten beitrug.
- Die europäische Nation hat drei Hauptmerkmale:
- Eine bestimmte Vision der Geschichte
- Dem »Wunsch, gemeinsam zu leben«, dem »Bewusstsein der Einheit« (Voltaire), liegt
- eine gemeinsame Vision der Geschichte zugrunde, die die Mehrheit der Angehörigen der
- Nation teilt. Das Versprechen von Unabhängigkeit, Freiheit, Gerechtigkeit lässt in allen
- Bevölkerungsklassen den Wunsch entstehen, gemeinsam eine Nation zu bilden. Ein
- gemeinsames historisches Projekt, eine von allen geteilte Sicht der Existenz, der
- durchlebten Vergangenheit und des künftigen Lebens: Sie einen alle Klassen der
- Gesellschaft. In diesem Sinn ist das nationale Projekt klassenübergreifend und setzt sich
- über ethnische und regionale Schranken hinweg.
- Aber die Klassenkämpfe gehen dennoch weiter. Die dominierende Klasse will sich des
- revolutionären Prozesses zu ihrem Vorteil bemächtigen und zugleich die Nation
- konsolidieren, die sie künftig lenkt. Dazu muss sie ihre eigene Klassenideologie mit der
- nationalen Ideologie verschmelzen. Mit anderen Worten: Sie muss den zur Nation
- gewordenen beherrschten Klassen ihre eigene Klassenideologie als nationale Ideologie
- aufzwingen und dabei die Werte integrieren, die ursprünglich einmal alle Klassen als
- Werte betrachteten. Sie werden damit zum Motto der Machtausübung des Bürgertums.
- Über den Eingängen der Schulen und Rathäuser steht bis heute die Devise: Liberté,
- Égalité, Fraternité.129
- Der Ausdruck »zur Nation gewordene beherrschte Klasse« hat eine doppelte Bedeutung.
- Die Arbeiterklasse beispielsweise ist eine nationale Klasse insofern, als sie die
- Souveränität, die Unabhängigkeit und das Recht der Nation auf Selbstbestimmung
- verteidigt, energischer und kompromissloser als andere. So hat während der Nazi-
- Besatzung die französische Arbeiterklasse den höchsten Preis für den Widerstand bezahlt.
- Die Arbeiter stellten die weitaus größte Zahl der Untergrundkämpfer der FTP (Francs-
- Tireurs et Partisans). Aber die Bezeichnung »zur Nation geworden« enthält auch eine
- Einschränkung: Wenn ein Großteil der Arbeiter in Europa nach und nach die
- Notwendigkeit der internationalistischen, anti-imperialistischen Solidarität mit den
- Arbeitern in Lateinamerika, Afrika und Asien, mit allen, die das multinationale
- europäische Finanzkapital ausbeutet, aus dem Blick verliert, markiert der Begriff »zur
- Nation gewordene Arbeiterklasse« ganz offensichtlich einen Rückschritt, eine Verengung
- des Bewusstseins.
- Überdies hat sich das Bürgertum der verschiedenen Nationen Europas im 19. und 20.
- Jahrhundert im Zeichen nationaler Ideologien gegenseitig bekämpft. Die
- Bewusstseinsinhalte einer Nation werden dann apologetisch in dem Maß, wie es für die
- herrschenden Klassen bedeutsam wird, die Bewusstseinsinhalte anderer Nationen radikal
- abzulehnen.
- Von da an verwandelt sich die gemeinsame Sicht der Geschichte in eine bürgerliche
- Sicht, die den abhängigen Klassen gewaltsam aufgezwungen wird.
- Doch der klassenübergreifende Charakter der Sicht auf die Geschichte, der für die
- Konstruktion und die Aufrechterhaltung der Nation notwendig ist, überdauert die
- verschiedenen Phasen der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise. Seit 1792
- hat sich die kapitalistische Produktionsweise fundamental verändert. Dem bürgerlichen
- Kapitalismus, den ein auf Spekulation ausgerichtetes nationales Bürgertum einführte,
- folgte der koloniale Kapitalismus, gekennzeichnet durch eine rasche Überakkumulation
- und die militärische Beherrschung der ausländischen Märkte und der rohstoffreichen
- Regionen. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts erlebte der Kapitalismus in Frankreich (wie
- andernorts) eine dritte entscheidende Veränderung: Das Finanzkapital war mittlerweile
- transnational geworden und übernahm das Ruder, multinationale Konzerne tauchten auf,
- der bürgerliche kapitalistische Staat verlor an Gewicht und das nationale Bürgertum mit
- ihm. Aus dem Bürgertum löste sich allmählich eine sehr kleine, aber sehr mächtige
- Oligarchie, die ihre überstaatliche, übernationale Macht aus der imperialistischen
- Profitakkumulation bezieht.
- Die Nation erschien im Lauf dieser verschiedenen Phasen als eine klassenübergreifende
- feste Größe, insofern alle Klassen der nationalen Gesellschaft weiterhin in der Nation ihr
- Interesse verwirklicht fanden, sei es, indem sie die Nation beherrschten, sei es, dass die
- Nation für sie das Territorium darstellte, das es zu befreien galt, die Herausforderung der
- Souveränität, die erst noch wirklich erobert werden muss.130
- Ein Territorium
- Das Territorium ist vorgegeben. Die geografischen Grenzen der Nation sind das Ergebnis
- der historischen Entwicklung. Daraus entstehen immer wieder territoriale
- Interessenkonflikte zwischen den Nationen. Die Art und Weise, wie diese Konflikte die
- nationalen Gefühle anstacheln, ist das Maß dafür, welche Bedeutung die Vorstellung vom
- Territorium im kollektiven Über-Ich der Nation hat. Das Territorium steht im Mittelpunkt
- der nationalistischen ideologischen Denkfiguren. Es konkretisiert materiell, sinnlich – mit
- seinen Horizonten, seinem Klima, den verschiedenen natürlichen Produkten, mit seinen
- Bauten und Monumenten, seinen Erinnerungsorten und so weiter – das Gefühl der
- nationalen Identität. Die Mythen legitimieren es, die Ursprünge der Nation sind dort
- verankert. Das Territorium bewahrt, erinnert, feiert das Gedächtnis der Nation. Deshalb
- liebt jeder seine Landschaften, ist stolz auf seine Heimat.
- Die Nationalhymnen besingen das Land, patriotische Gedichte beschwören es. Es ist ein
- klassenübergreifender Bewusstseinsinhalt ganz einfach deshalb, weil es im Bewusstsein
- aller Klassen, die in der Gesellschaft gegeneinander kämpfen, enthalten ist. La Colline
- inspirée, die Hymne auf die Schönheit Frankreichs, ist das Werk von Maurice Barrès,
- einem Anhänger der extremen Rechten.131 Jean Ferrat, der kommunistische Troubadour,
- besingt dasselbe Land, dieselben Landschaften in einem Liebesgedicht mit dem Titel Ma
- France (1969). Und Charles Trenet sang während der Besatzung in den Pariser Folies-
- Bergères Douce France (1941), und der ganze Saal stimmte in den Refrain wie in eine
- Hymne auf die Nation mit ein. Mit anderen Worten: Das französische Territorium prägt,
- wenn auch je nach Klassen- und Generationszugehörigkeit unterschiedlich, die kollektive
- Vorstellungswelt aller Franzosen. Das Territorium besitzt wahrscheinlich von allen
- Bewusstseinsinhalten, die das nationale Bewusstsein bilden, die stärkste integrative
- Kraft.
- Eine Sprache
- Die Sprache ist das privilegierte Instrument, mit dem die Nation ihr neues Bewusstsein
- durchsetzt. Wie das Territorium existiert die Sprache bereits vor der Nation, aber sie ist
- nicht so vorgegeben wie das Territorium. Nach den Kämpfen zwischen den herrschenden
- Klassen, die aus gegensätzlichen historischen Gemeinschaften hervorgegangen sind,
- wurde die Sprache der siegreichen Gemeinschaft über alle Gemeinschaften hinweg die
- dominierende Sprache. Aber erst die Nation setzt die nationale Sprache durch. Ihre
- allgemeine Verbreitung ist das Ergebnis der nationalen Integration, eines historischen
- Prozesses, der durch den Zwang der die Nation dominierenden Klasse gesteuert wird.
- Die nationale Sprache setzt sich mit der symbolischen Gewalt durch, die aus dem
- kollektiven Über-Ich der Nation erwächst, aus seinen Mythen und Gesetzen, aus seiner
- Pädagogik, seinem Wunsch nach Effizienz im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und
- kulturellen Verkehr. Sie ist genormt, hat ihre Akademien und Wörterbücher, ihre Wächter
- und Zensoren. Sie wird aufgrund eines besonderen Status zur nationalen Sprache erklärt.
- Sie ist ein Produkt der Macht. In Frankreich beispielsweise hat die zentralistische
- Monarchie das Idiom der Loire-Gegend auf die verschiedenen Regionen des Landes
- ausgedehnt und allgemein verbreitet. Aber erst die Nation hat, oft gewaltsam, das
- Französische als gemeinsame Sprache bei allen Schichten der Gesellschaft durchgesetzt.
- Die zwangsweise sprachliche Vereinigung war nach 1789 für den Apparat eines
- zentralistischen Nationalstaats das notwendige Instrument der nationalen Bildung, einer
- Schule für alle. Und das gilt immer noch, auch wenn die Forderungen nach Autonomie und
- Freiheit in den Regionen, die sich gegen die Zentralmacht auflehnen, in den alten
- Sprachen der französischen Provinzen erhoben werden. Die bretonische (keltische)
- Sprache in der Bretagne, das Provençal in der Provence, die Langue d’Oc im Südwesten
- Frankreichs, das Elsässische im Elsass erleben derzeit eine lebhafte Renaissance, ohne
- die Nationalsprache zu gefährden.
- Alle Nationen sind definitionsgemäß multiethnisch – eine Folge der Wechselfälle der
- Geschichte, von Wanderungsbewegungen, Entdeckungen und Eroberungen, von
- Austausch aller Art, Mischehen –, laizistisch und bestehen aus mehreren Klassen. Ihre
- gefährlichsten Feinde sind die Rassisten, die Antisemiten, die Fremdenfeinde und die
- religiösen Fundamentalisten.
- II. Die rassistische Bedrohung
- Seit einer Generation hat sich die ideologische Landschaft in Europa radikal verändert:
- Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind wieder da. Eine Mehrheit der Menschen hält die
- Äußerung entsprechender »Meinungen« für ebenso legitim wie andere Meinungen auch.
- Heute vereinen überall auf dem Kontinent fremdenfeindliche politische Parteien und
- Bewegungen bei absolut freien und demokratischen Wahlen und Volksabstimmungen
- immer mehr Stimmen auf sich. In Frankreich ist der Front National auf dem besten Weg,
- zur stärksten politischen Kraft zu werden. In Italien beherrscht die Lega Nord132 die
- Regionen Veneto, Lombardei und teilweise Piemont. Der Vlaams Belang (Flämisches
- Interesse), ehemals Vlaams Blok, dominiert in einer großen Stadt wie Antwerpen und den
- umliegenden wohlhabenden Regionen. In der Schweiz stellt die Schweizerische
- Volkspartei (SVP) die größte Fraktion in der Bundesversammlung, dem Parlament; im
- Februar 2014 hat ihre Initiative gegen den freien Personenverkehr zwischen der
- Europäischen Union und der Schweiz bei einer Volksabstimmung eine Mehrheit an Ja-
- Stimmen bekommen.133 In den Niederlanden, in Bulgarien, der Slowakei, in Dänemark
- und England erleben Bewegungen der extremen Rechten einen Aufschwung. In Ungarn
- regiert eine Koalition rechtsextremer Parteien unter der Führung von Viktor Orbán.
- In den Kirchen und Glaubensgemeinschaften der drei monotheistischen Religionen
- gewinnen fundamentalistische Strömungen mit jedem Jahr mehr Einfluss.
- Die Ursachen für den plötzlichen Ausbruch und das stetige Anwachsen rechtsextremer,
- fremdenfeindlicher, rassistischer, separatistischer, laizistischer oder religiöser
- Bewegungen in den demokratischen Gesellschaften Europas sind vielfältig und
- vielschichtig.
- Eine der wichtigsten Ursachen ist sicher psychologischer Natur. Die weltweite Diktatur
- der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals, die Existenz eines Weltmarkts, der nur
- seinen eigenen Gesetzen gehorcht, die als »Naturgesetze« hingestellt werden, der zum
- Dogma erhobene Wettbewerb zwischen den Menschen und zwischen den Nationen, das
- faktische Verschwinden eines öffentlichen Diskurses, der Werte wie Solidarität,
- Allgemeinwohl, öffentliche Dienstleistung und soziale Gerechtigkeit, dazu die konkrete
- Verunsicherung der individuellen Existenzen: All das provoziert ein Gefühl persönlicher
- Unsicherheit, eine tiefe, anhaltende Ratlosigkeit bei Männern und Frauen in den
- kapitalistischen Warengesellschaften. Claude Lévi-Strauss hat diese Reaktion als neues
- mal du siècle bezeichnet: »Der Zusammenbruch jahrhundertealter Gewohnheiten, das
- Verschwinden von Lebensweisen, das Zerbrechen althergebrachten
- Zusammengehörigkeitsgefühls, all das verbindet sich häufig mit einer Identitätskrise.«134
- Alle fremdenfeindlichen Bewegungen der extremen Rechten haben unabhängig von
- ihren geografischen und historischen Ursprüngen eines gemeinsam: Sie suchen sich
- Sündenböcke. Sie setzen sich über die analytische Vernunft hinweg und machen den
- »Anderen«, den »Fremden« für alle Störungen, Traumata und Ängste, die in der
- Gesellschaft entstehen, verantwortlich. Amin Maalouf schreibt dazu vor dem Hintergrund
- der schmerzhaften Erfahrung des Bürgerkriegs in seinem Heimatland, dem Libanon: »Im
- Zeitalter der Globalisierung mit seinen schwindelerregenden Umwälzungen, die uns alle
- erfassen, ist ein neues Verständnis von Identität vonnöten. Wir können uns nicht damit
- zufriedengeben, Milliarden von ratlosen Menschen nur die Wahl zwischen einem
- übertriebenen Beharren auf ihrer Identität und dem Verlieren jeglicher Identität, zwischen
- Fundamentalismus und Traditionsverlust zu lassen.«135
- Rassismus ist ein absolutes Verbrechen, die höchste Form des Hasses, die endgültige
- Negierung dessen, was eine Nation ausmacht. Ein Schwarzer, ein Araber, ein Jude, die
- gehasst werden, weil sie schwarz, arabisch und jüdisch sind, können dem Hass nicht
- entgehen, weil sie nicht aufhören können zu sein, was sie sind, in den Augen des
- Rassisten wie in ihren eigenen Augen: schwarz, arabisch, jüdisch. Die allgemein
- anerkannte Definition von Rassismus lautet so, wie sie die UNESCO von Claude Lévi-Strauss
- übernommen hat: »Der Rassismus ist eine Doktrin, die in den intellektuellen und
- moralischen Merkmalen, die einem Komplex von Individuen zugeschrieben werden (wie
- immer man diesen Komplex definiert), die zwangsläufige Auswirkung eines gemeinsamen
- genetischen Erbguts zu sehen behauptet.«136 Das ist der Rassismus des Nazis, des
- Antisemiten, des Buren in Südafrika, des Ku-Klux-Klan, des ewigen Faschisten. Und das
- absolute Gegengift gegen den Rassismus ist das Nationalbewusstsein.
- Wer dem Gesellschaftsvertrag im Sinn von Rousseau137 beitritt und die Gesetze der
- Republik respektiert, ist Teil der Nation.
- Machen wir uns einen Begriff vom wunderbaren zivilisatorischen Reichtum der
- europäischen Nationen, der aus tausend kulturellen Beiträgen als Folge der
- unaufhörlichen Wanderungen entstanden ist, der sich konflikthaften Akkulturationen
- ebenso verdankt wie der Gesamtheit der historischen, linguistischen, literarischen und
- künstlerischen Erbschaften, dem Austausch und den Vermischungen?
- Roger Bastide spricht von einem savoir savoureux (köstlichem Wissen), das durch die
- einzigartige Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Kulturen und
- Erinnerungen vermittelt wird. Neben und unterhalb der Hochkultur existiert – wie ein
- mächtiger unterirdischer Strom – die Volkskultur. Sie entsteht durch Vermengung, durch
- Vermischung der Völker, durch zufälligen, unerwarteten und unvorhersehbaren Austausch,
- durch die spontanen Wahrnehmungen eines jeden. Sie wohnt dem nationalen
- Bewusstsein inne und bereichert es.
- Die Ansammlung einzigartiger kultureller Zugehörigkeiten in einer Gesellschaft und die
- vielfältigen Zugehörigkeiten, die jeder in sich trägt, bilden den großen Reichtum der
- Nationen und sind das Zeichen der großen Kulturen. Der Terror, den rassistische Parteien
- und Bewegungen verbreiten, die nur eine Identität kennen, bedroht diesen Reichtum, das
- Zeichen der Zivilisiertheit.138
- Man könnte auf die Nation übertragen, was Fernand Braudel, der geniale Chronist des
- Mittelmeerraums, über die Kultur gesagt hat: »Lebendig sein heißt für eine Kultur, fähig
- zu sein zum Geben, aber auch zum Nehmen, zur Anleihe […] Doch genauso gut erkennt
- man eine große Kultur auch an dem, was sie zu übernehmen sich weigert, woran sie sich
- nicht anpassen will, was sie aus dem Angebot an fremden Einflüssen auswählt, die ihr
- häufig aufgezwungen würden, wenn dem nicht Wachsamkeit oder schlicht
- Unvereinbarkeiten von Temperament und Appetit entgegenstünden.«139 In der Realität
- schließen sich verschiedene Formen des Austauschs und des Widerstands innerhalb einer
- Nation nicht aus. Wenn man einen Gegensatz daraus konstruiert, wie es die Parteien der
- extremen Rechten tun, führt das zum Niedergang, zur Sterilität. Die Besonderheit einer
- jeden Nation ergibt sich zwar aus einer gewissen Abgrenzung, aber ohne Austausch und
- ohne bereichernde Anleihen bei anderen erstarrt die Nation und geht zugrunde.
- Ich habe es bereits gesagt: Gegen den unerbittlichen Zwang der Globalisierung erhebt
- sich der Mensch. Er weigert sich, mit einer schlichten Information in einem elektronischen
- Kreislauf gleichgesetzt zu werden. Er begehrt auf und wehrt sich. Aus den Trümmern
- dessen, was ihm von der Geschichte geblieben ist, von alten Glaubensüberzeugungen,
- von Erinnerungen, von aktuellen Wünschen, bastelt er sich eine Identität, in der er
- Zuflucht sucht und sich vor der totalen Zerstörung zu schützen versucht. Die homogene
- Identität einer kleinen Gruppe, die manchmal ethnisch definiert ist und manchmal
- religiös, aber fast immer rassistische Züge trägt, ist ein solcher Zufluchtsort. Diese
- »Bastelei« ist Frucht der Ratlosigkeit und öffnet politischen Manipulationen Tür und Tor.
- Unter dem Vorwand des Rechts auf Selbstverteidigung rechtfertigt der Rassismus Gewalt.
- Die Mono-Identität ist das genaue Gegenteil der Nation, einer demokratischen
- Gesellschaft, einer lebendigen, zur Entwicklung fähigen Gesellschaft, die aus der Nutzung
- unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeiten und aus freien Stücken übernommener
- kultureller Vermächtnisse entstanden ist.
- Die Nation, die der neoliberalen Ideologie und der Privatisierung der Welt ausgeliefert
- ist, droht zu sterben. Alain Touraine hat dafür dieses eindrucksvolle Bild gefunden:
- »Zwischen dem weltweiten, globalisierten Markt und den unzähligen
- fundamentalistischen Bewegungen an seinen Rändern befindet sich ein großes schwarzes
- Loch. In diesem Loch drohen der allgemeine Wille, das öffentliche Interesse, der Staat,
- die Werte, die öffentliche Moral, die Beziehungen zwischen den Menschen zu versinken,
- kurzum alles, was die Nation ausmacht.«140
- III. Die misslungene Dekolonisation
- Der Genfer Park von Mon Repos ist ein mit uralten Zypressen bestandener öffentlicher
- Garten, der sich längs des linken Ufers der Genfer Seebucht erstreckt. Die verwunderten
- Anwohner des benachbarten Quartiers Les Pâquis wohnen regelmäßig einem ziemlich
- erstaunlichen Spektakel bei: Ein korpulenter, hochgewachsener schwarzer Mann mit
- traurigen Augen bewegt sich – halb gehend, halb laufend – mit keuchendem Atem über
- die Uferpromenade, gefolgt von vier jungen Genfer Kantonspolizisten, einem Tross
- schwarzer Leibwächter und einigen ebenfalls keuchenden schwarzen Diplomaten. Es ist
- der morgendliche Trainingslauf des amtierenden Präsidenten der Republik Kamerun, Paul
- Biya. Biya ist einer der schillerndsten Satrapen des Kontinents, ein willfähriger Söldner,
- insbesondere der französischen Konzerne.
- Seit über dreißig Jahren sorgen die französischen Geheimdienste dafür, dass die
- »Wahlen« im gewünschten Sinn ablaufen. 1984 wurde Paul Biya zum ersten Mal mit 99
- Prozent der Stimmen »gewählt«. Stéphane Fouks, ein persönlicher Freund und politischer
- Verbündeter von Manuel Valls (seit März 2014 französischer Premierminister) ist heute für
- Biyas internationales Erscheinungsbild zuständig. Auf der Liste des
- Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen rangiert Kamerun auf Platz 131. Die
- durchschnittliche Lebenserwartung – von Frauen und Männern zusammengerechnet –
- beträgt 52 Jahre (gegenüber 80 Jahren in Frankreich). Weniger als 30 Prozent der
- Menschen haben regelmäßig Zugang zu sauberem Trinkwasser. 36,8 Prozent leiden unter
- dauerhafter, schwerer Unterernährung.
- Auf der anderen Seite besitzt Kamerun Erdöl, Erze und landwirtschaftliche Produkte im
- Überfluss.
- Biya und seine Freunde lieben Genf. Er hält sich mehrfach im Jahr dort auf und wohnt
- dann bis zu 44 Tage auf zwei eigens für ihn reservierten Etagen des Luxushotels
- Intercontinental. 44 Tage ist der maximale Zeitraum, für den nach der Verfassung von
- Kamerun die Macht verwaist sein darf. Die Gebühren, die dafür fällig werden, dass die
- Präsidentenmaschine auf dem Flughafen Genf-Cointrin stehen darf, belaufen sich auf
- 11000 Euro – pro Tag.
- Die Soziogenese der außereuropäischen Nationen, insbesondere der Nationen in Afrika,
- unterscheidet sich radikal von der europäischer Nationen.
- Tatsächlich leben heute sehr wenige afrikanische Völker, vor allem südlich der Sahara,
- eine authentische kollektive Existenz. Das vorherrschende soziale Gebilde im heutigen
- Schwarzafrika ist die Protonation. Das griechische Wort protos (erster) bedeutet hier
- embryonal, rudimentär, unvollendet, fragil. Die Protonation ist keine Etappe auf dem Weg
- der Nationenentstehung, und sie ist auch keine Fehlform der vollendeten Nation, die in
- ihrer Entwicklung ins Stocken geraten ist. Die Protonation ist ein gesellschaftliches
- Gebilde sui generis. Sie ist eine reine Schöpfung des Imperialismus.
- Bevor wir die afrikanischen Protonationen näher untersuchen, wollen wir sehen, wie und
- warum die Kolonialreiche zusammengebrochen sind.
- Die Entkolonialisierung der afrikanischen Völker, ist ein Prozess, der vor mehr als fünfzig
- Jahren begonnen hat und bis heute nicht zu Ende ist. Bestimmte afrikanische Völker wie
- die Sahrauis in Westafrika leben, wie wir gesehen haben, immer noch unter kolonialer
- Besatzung. Um die Gründe dafür zu verstehen, müssen wir uns den Prozess der Auflösung
- der Kolonialreiche näher anschauen.
- Erste Kausalkette: die Bedingungen der Kämpfe gegen die Kolonialherren und das
- Desinteresse der Kommunistischen Internationale für diese Kämpfe. Beim sechsten
- Komintern-Kongress in Moskau 1928 verhalf die Sowjetunion – auf die sich damals alle
- Hoffnungen auf Befreiung richteten – einer streng dogmatischen These zum Triumph.
- Stalin zufolge war der Kolonialismus nur ein Epiphänomen. Der Aufbau des Sowjetstaats,
- die Doktrin vom »Sozialismus in einem Land« als nationale Bastion einer Revolution, die
- die gesamte Welt erfassen sollte, musste absolute Priorität haben. Da Kolonialismus und
- Imperialismus notwendige Entwicklungsstadien der kapitalistischen Gesellschaft seien,
- werde der Zerfall dieser Gesellschaft das Problem lösen. Mit dem Triumph der
- proletarischen Revolution in den westeuropäischen Gesellschaften werde ipso facto die
- Kolonialherrschaft in Afrika, Asien und Lateinamerika enden.
- Innerhalb der Komintern gab es ein Gremium, das damit beauftragt war, die
- revolutionäre Arbeit bei den Schwarzen in Afrika und in der Diaspora zu koordinieren: das
- »Negerbüro«. Die besten afrikanischen Aktivisten wurden Mitglieder der sowjetischen
- kommunistischen Partei. Bis zu ihrem endgültigen Bruch mit der III. Internationale 1935
- arbeiteten sie in Organisationen wie der Liga gegen den Imperialismus, der Liga zur
- Verteidigung der Negerrasse und der Liga für die Befreiung des Orients, deren
- revolutionäre Ausstrahlung bis in die Karibik und in die Vereinigten Staaten reichte.
- Ich nenne zwei Beispiele: George Padmore, ein Aktivist von den englischen Antillen,
- wurde Delegierter der Komintern in China. Wie alle revolutionären Kämpfer aus Afrika
- brach er 1935 mit der Komintern.
- Beim 5. Panafrikanischen Kongress in Manchester 1945 stellte er seine Erfahrung und
- seine Intelligenz Kwame Nkrumah zur Verfügung. In der Folgezeit spielte er eine
- entscheidende Rolle bei der Organisation des ghanaischen Unabhängigkeitskampfs und
- beim Aufbau des ersten Nationalstaats in Afrika, Ghana, dessen Unabhängigkeit 1957
- proklamiert wurde.141 Lamine Senghor aus Kaolack, der als Senegalschütze am Ersten
- Weltkrieg teilnahm, trat 1924 im 13. Pariser Arrondissement als kommunistischer
- Kandidat bei der Abgeordnetenwahl an. Er wurde Präsident des Komitees für die
- Verteidigung der schwarzen Rasse. Sein Tagebuch La Voix des nègres (Die Stimme der
- Neger) übte auf eine ganze Generation von Kämpfern gegen den Kolonialismus großen
- Einfluss aus. Zusammen mit Gorki, Nehru, Messali Hadj, Barbusse und Albert Einstein
- wurde er in seinem Todesjahr 1927 beim Kongress in Brüssel ins Büro der Liga gegen den
- Imperialismus gewählt.142
- 1945 waren die Rahmenbedingungen endlich so, dass die nationalen Befreiungskämpfe
- wieder aufgenommen werden konnten. Die Delegierten der Bewegungen aus den
- französischsprachigen Ländern Afrikas trafen sich in Bamako zur Gründungsversammlung
- der Afrikanischen Demokratischen Sammlung (Rassemblement démocratique africain,
- RDA), bei der sie die Grundlagen für eine einheitliche Befreiungsfront des gesamten
- Kontinents legten. Die Aktivisten aus den englischsprachigen afrikanischen Ländern
- wiederum versammelten sich im selben Jahr zum 5. Panafrikanischen Kongress in
- Manchester. Unter dem Vorsitz von Jomo Kenyatta, unterstützt von Kwame Nkrumah,
- arbeiteten sie ein detailliertes Programm aus, wie der panafrikanische Befreiungskampf in
- Gang gebracht werden sollte. Aber im Verlauf der Unabhängigkeitskämpfe wurden die
- Sektionen der RDA (von der Elfenbeinküste, aus Guinea, Mali und so weiter) allesamt zu
- »nationalen« Parteien. Wenn man die Ursachen für diesen Rückzug auf sich selbst
- betrachtet, darf man ganz sicher den Druck aus den Metropolen nicht außer Acht lassen.
- So setzte beispielsweise 1956 Gaston Defferre, damals Minister für die überseeischen
- Gebiete in der französischen Regierung, ein Rahmengesetz durch (»loi-cadre Defferre«),
- das den Kolonialgebieten innere Autonomie bringen sollte. Jedes Gebiet bekam ein
- Parlament und eine eigene Regierung. Tatsächlich unterlief diese »fortschrittliche«
- Maßnahme, die ab 1957 angewendet wurde, das Projekt von Bamako und sprengte die
- kontinentweite antikolonialistische Front der RDA. In dem Zusammenhang muss noch der
- Verrat des Präsidenten der RDA, Félix Houphouët-Boigny erwähnt werden, der der
- Studentenvereinigung innerhalb der RDA unter Führung von Cheikh Anta Diop Widerstand
- leistete und sich hartnäckig allen Forderungen nach Unabhängigkeit widersetzte.
- Heute ist Afrika mit seinen 54 Staaten der am stärksten zersplitterte Kontinent des
- Planeten. Die Projekte von Bamako und Manchester, der Traum von der Befreiung des
- afrikanischen Kontinents, der panafrikanischen Erhebung, sind gescheitert. Und drei
- Viertel der afrikanischen Nationen verfügen heute über keinerlei echte Souveränität.
- Die zweite Kausalkette beim Sturz der Kolonialreiche und der Entkolonialisierung der
- afrikanischen Völker hat ihren Ursprung mitten im Zweiten Weltkrieg und geht auf eine
- Initiative von Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill zurück.
- Am 14. August 1941 trafen sich der britische Premierminister Churchill und der
- amerikanische Präsident Roosevelt auf dem Kriegsschiff USS Augusta, das vor Neufundland
- kreuzte. Roosevelt hatte das Treffen vorgeschlagen. In seiner »Rede über die vier
- Freiheiten« hatte er am 6. Januar 1941 vor dem Kongress in Washington die Freiheiten
- aufgezählt, die er, wie er versicherte, weltweit durchsetzen wollte: Meinungsfreiheit,
- Religionsfreiheit, Freiheit von Not (freedom from want) und Freiheit von Furcht (freedom
- from fear).
- Die »vier Freiheiten« gaben die Grundlage für die Atlantikcharta ab, die am 14. August
- 1941 auf der USS Augusta beschlossen wurde. Dies sollte die Geburtsstunde einer neuen
- internationalen Ordnung sein. Hören wir noch einmal die Artikel der Charta:
- »1. Unsere Länder streben nicht nach territorialer Expansion.
- 2. Sie wünschen keinerlei territoriale Veränderungen, die nicht im Einklang mit den in
- voller Freiheit ausgedrückten Wünschen der betroffenen Völker stehen.
- 3. Sie achten das Recht aller Völker, sich jene Regierungsform zu geben, unter der sie zu
- leben wünschen. Die souveränen Rechte und autonomen Regierungen aller Völker, die
- ihrer durch Gewalt beraubt wurden, sollen wiederhergestellt werden.
- 4. Sie werden, ohne ihre eigenen Verpflichtungen außer Acht zu lassen, für einen freien
- Zutritt aller Staaten, der großen wie der kleinen, der Sieger wie der Besiegten, zum
- Welthandel und zu jenen Rohstoffen eintreten, die für deren wirtschaftliche Wohlfahrt
- vonnöten sind.
- 5. Sie erstreben die engste Zusammenarbeit aller Nationen auf wirtschaftlichem
- Gebiete, eine Zusammenarbeit, deren Ziel die Herbeiführung besserer
- Arbeitsbedingungen, ein wirtschaftlicher Ausgleich und der Schutz der Arbeitenden ist.
- 6. Sie hoffen, dass nach der endgültigen Vernichtung der Nazi-Tyrannei ein Frieden
- geschaffen werde, der allen Völkern erlaubt, innerhalb ihrer Grenzen in vollkommener
- Sicherheit zu leben, und der es allen Menschen in allen Ländern ermöglicht, ihr Leben frei
- von Furcht und von Not zu verbringen.
- 7. Dieser Friede soll allen Völkern die freie Schifffahrt auf allen Meeren und Ozeanen
- ermöglichen.
- 8. Sie sind von der Notwendigkeit überzeugt, dass aus praktischen wie aus sittlichen
- Gründen alle Völker der Welt auf den Gebrauch der Waffengewalt verzichten müssen. Da
- kein Friede in Zukunft aufrechterhalten werden kann, solange die Land-, See- und
- Luftwaffen von Nationen, die mit Angriff auf fremdes Gebiet gedroht haben oder damit
- drohen können, zu Angriffszwecken benutzt werden können, halten sie bis zur Schaffung
- eines umfassenden und dauerhaften Systems allgemeiner Sicherheit die Entwaffnung
- dieser Nationen für notwendig. Ebenso werden sie alle Maßnahmen unterstützen, die
- geeignet sind, die erdrückenden Rüstungslasten der friedliebenden Völker zu erleichtern.«
- Ein paar Monate vor seinem Tod bekräftigte Roosevelt mit eindrucksvollen Worten die
- Entscheidung, die er zusammen mit Churchill getroffen hatte: »Ohne wirtschaftliche
- Sicherheit und Unabhängigkeit kann es keine echte persönliche Freiheit geben. Menschen,
- die Sklaven der Notwendigkeit sind, sind keine freien Menschen. Völker, die hungern und
- keine Arbeit haben, sind der Stoff, aus dem Diktaturen gemacht werden. Heute gelten
- diese Wahrheiten als selbstverständlich. Wir brauchen eine zweite Erklärung der
- Menschenrechte, mit der Sicherheit und Wohlstand für alle ein neues Fundament
- bekommen, unabhängig von ihrer Klasse, Rasse und ihrem Glauben.«143
- Die Atlantikcharta von 1941 verurteilte eindeutig und ein für allemal jede Form der
- Kolonialherrschaft in Afrika und überall auf der Welt. Weil Winston Churchill von seinem
- amerikanischen Verbündeten abhing, musste er notgedrungen diese Verurteilung,
- schlimmer noch: diesen Totenschein für das britische Weltreich unterschreiben.
- In der Atlantikcharta war auch zum ersten Mal von der Einheit aller Nationen der Welt
- die Rede. Die Weltorganisation mit dem ergreifenden Namen »Vereinte Nationen« wurde
- nach dem Tod des Visionärs Roosevelt im Juni 1945 in San Francisco gegründet. Eines
- ihrer von Anfang an aktivsten und einflussreichsten Organe ist der Treuhandrat
- (Trusteeship Council), der den Auftrag bekam, die Auflösung der Kolonialreiche und den
- Weg der Kolonialvölker in die Unabhängigkeit zu steuern – gewissermaßen
- Entkolonialisierung durch die Kolonialherren selbst.
- Die dritte Kausalkette hängt offenkundig damit zusammen, dass die westlichen
- Kriegsparteien im Zweiten Weltkrieg Hunderttausende Soldaten aus Übersee eingesetzt
- haben. Die Soldaten aus Vietnam, Kambodscha und Indien, vor allem aber die
- Senegalschützen (die Bezeichnung wurde zum Oberbegriff für alle Soldaten aus
- Schwarzafrika), die marokkanischen Goumiers und andere, die im Allgemeinen heldenhaft
- gekämpft und entsetzliche Verluste erlitten hatten, erkannten schlagartig die Absurdität
- der Situation: Sie hatten schreckliches Leid ertragen, um Europa von der Nazi-Pest zu
- befreien, und nun kehrten sie nach Hause unter das koloniale Joch zurück! Die Mehrheit
- dieser Kämpfer bildete die Avantgarde der neuen kolonialen Rebellenbewegungen.
- Ahmed Ben Bella, der zusammen mit Kameraden den Aufstand an Allerheiligen 1954
- organisierte und 1962 erster Präsident des befreiten Algerien wurde, hatte 1944 zu den
- Helden der Schlacht um Monte Cassino gehört, in der die Armee von General Juin sich
- durch die deutschen Linien nördlich von Neapel kämpfte und auf Rom vorrückte. General
- de Gaulle hatte Ben Bella persönlich für seine Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichnet.
- Eine vierte Ursache für die Implosion der Kolonialreiche hat schließlich mit den
- schrecklichen Verheerungen – Hunger, materielle Zerstörung, Verluste an Menschenleben,
- wirtschaftlicher Ruin – zu tun, die die nationalsozialistische Aggression in den Ländern
- Europas anrichtete. Als die Schlächterei des Zweiten Weltkriegs vorüber war, hatten
- weder Frankreich noch Belgien, noch England – um nur diese drei Kolonialmächte zu
- nennen – die Kraft, ihre Reiche zu konsolidieren. 1947 wurde der indische Subkontinent
- unabhängig. Die französische Kolonialstreitmacht wurde 1954 im Kessel von Diên Biên
- Phu aufgerieben. In Afrika eröffnete der Sieg des aufständischen Volks von Algerien den
- Weg für die Befreiung aller frankophonen Staaten. Die britischen Soldaten erlitten im
- Hochland von Kenia, zwischen dem Kilimandscharo und dem Berg Kenia, trotz äußerst
- grausamer Verbrechen (wozu insbesondere die systematische Entmannung ihrer
- Gefangenen gehörte) durch die Mau-Mau-Kämpfer eine Niederlage nach der anderen.
- IV. Das Versagen der Eliten
- Kommen wir nun zu der Frage, warum in Schwarzafrika die Dekolonisation weitgehend
- gescheitert ist und warum – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine Nationen,
- sondern nur Protonationen entstanden sind.
- In Luanda (Angola), in einer wunderschönen Bucht am Südatlantik gelegen, stehen
- unermessliches Elend und aggressiver Luxus unmittelbar nebeneinander. Die Paläste der
- Generäle, Minister und der Herrscherfamilie ragen mitten aus dem trostlosen Meer der
- Wellblechhütten der Elendsquartiere, genannt mukeke. Verseuchtes Wasser,
- Unterernährung und Epidemien töten in Angola jährlich Zehntausende von Menschen.
- Angola ist nach Nigeria der zweitgrößte Erdölproduzent südlich der Sahara. Zehn meist
- staatliche Minen beuten 76 Prozent der Diamanten aus. Die Befreiungsarmee und die
- Widerstandsfront des MPLA (Mouvement Populaire de la Libération d’Angola), die in den
- 1960er- und 1970er-Jahren gegen Portugal die Unabhängigkeit erkämpften und im
- November 1975 vor Luanda – dank der Hilfe kubanischer Soldaten – das südafrikanische
- Expeditionskorps in die Flucht geschlagen hatten, sind heute korrupte Banden. Die großen
- Gründerväter – Agostino Neto, der Poet Mario de Andrade, Lucio Lara – sind längst tot
- oder verstoßen (Lucio Lara). Die absolute, uneingeschränkte Macht liegt seit über dreißig
- Jahren in den Händen des in Russland ausgebildeten und mit einer Russin verheirateten
- Ingenieurs Eduardo dos Santos und seiner Verwandten.
- Gestohlen wird mittels eines undurchsichtigen Geflechts von Offshore-Gesellschaften.
- 2013 verlangte der IWF Auskunft über den Verbleib von 33,4 Milliarden US-Dollar, die als
- Kredit an Angola gegangen und daraufhin unauffindbar verschwunden waren. Diamanten
- werden meist direkt in den Minen geraubt oder von den Garimpeiros (illegale
- Diamantenschürfer) erpresst.
- Diamanten sind international nur handelbar, wenn sie durch ein Exportzertifikat
- legitimiert sind. Die angolanische Herrscherfamilie und ihre Komplizen haben mit dem
- schweizerischen Zoll ein fruchtbares Arrangement gefunden: Die geraubten Diamanten
- werden ins riesige Zollfreilager (Ports Francs et Entrepôts) in Genf eingeliefert. Dann
- werden sie an Scheinfirmen oder Strohmänner ausgeliefert – »entzollt« – und kommen
- auf den Markt. Die Republik Genf, in deren Boden bis dato noch nie ein Diamant gefunden
- wurde, gehört somit zu den größten »Diamantenproduzenten« der Welt.
- Der koloniale Besatzer, das multinationale Finanzkapital, die politische, wirtschaftliche
- und militärische Aggression haben die präkapitalistischen Produktionsweisen zerstört, die
- politischen Ordnungen der verschiedenen Ethnien durcheinandergebracht, soziale
- Unterschiede verschärft, »nationale« Grenzen oktroyiert, die den Trennlinien folgten, die
- bei der Berliner Konferenz 1885 gezogen wurden, als die westlichen Mächte Afrika unter
- sich aufteilten. Die afrikanische Kompradoren-Bourgeoisie144, die aus der
- Entkolonialisierung hervorging, verdankt ihre Existenz dem kolonialen Pakt und allein dem
- Willen der Konzerne. Anders als die Bourgeoisie in Europa ist sie nicht durch den Kampf
- gegen eine einheimische Feudalklasse entstanden und definiert sich nicht im Gegensatz
- zu ihr. Außerdem baut die Protonation nicht auf einem alternativen Bewusstsein auf, das
- mit dem System der symbolischen Gewalt des transkontinentalen Finanzkapitals bricht.
- Vielmehr neigt diese Bourgeoisie stark zur Nachahmung, zur Reproduktion von
- Konsumgewohnheiten, die aus den kolonialen Metropolen stammen, zur Übernahme
- fremder Muster. Doch obwohl die politischen Führer der Protonationen in das weltweite
- imperialistische System integriert sind und damit die finanzielle und wirtschaftliche
- Ausbeutung ihrer Länder zulassen, versuchen sie ihren eigenen Platz im imperialistischen
- Geflecht zu finden.
- Bei der Ausarbeitung ihrer Selbstbilder bedienen sie sich denkbar wirrer, konfuser
- Theorien: Diese Bilder und Symbolsysteme reichen von der »Authentizitäts«-Theorie des
- Marschalls Joseph-Désiré Mobutu bis zur »Lord’s Resistance Army« des Uganders Joseph
- Kony.
- Die Protonation ist das Ergebnis einer besonderen Wendung in der Geschichte des
- Imperialismus: Sie entstand durch die Umorientierung, die Umstrukturierung, die neue
- Ausbalancierung des imperialistischen Systems am Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals
- entschieden die imperialistischen Mächte, den »autochthonen« Klassen, die sie selbst
- geschaffen hatten und die sie nach wie vor mit symbolischer Gewalt beherrschten, formell
- die Macht zu übertragen.
- Ein kompliziertes Gewirr von Verträgen über die »gemeinsame Sicherheit« garantiert
- den Fortbestand der Regime, die bei der »Unabhängigkeit« der betreffenden Staaten
- installiert wurden.
- Konkret bedeutet dies, dass das Kompradoren-Bürgertum, dem die Kolonialherren die
- formelle Macht übertragen haben, sich überall, von Bangui bis Douala, von Nairobi bis
- Kampala, im Wesentlichen gleich verhält. Frantz Fanon sagt darüber: »Trotzdem fordert
- auch die ›nationale‹ Bourgeoisie die Nationalisierung der Wirtschaft und des Handels,
- weil nationalisieren für sie nicht heißt, die gesamte Wirtschaft in den Dienst des Volkes
- stellen, alle Bedürfnisse der Nation befriedigen, den Staat an neuen sozialen
- Verhältnissen ausrichten, um deren Entwicklung zu fördern. Nationalisierung bedeutet für
- sie ganz einfach die Übertragung der aus der Kolonialperiode ererbten Vorrechte auf die
- Autochthonen.«145
- Frantz Fanon hat recht: Charakteristisch für die Machtausübung der »Eliten«, die in der
- Vergangenheit vom Kolonialherren installiert wurden und heute von den Oligarchien des
- transkontinentalen Kapitals benutzt werden, ist eine permanente Vermischung von
- individuellem Vorteil und Gemeinwohl. In den meisten Ländern des afrikanischen
- Kontinents gründet die Vorstellung von »nationalen« politischen Führern auf dieser
- Vermischung mit der Folge, dass sie sich zuverlässig persönlich bereichern können: Denis
- Sassou-Nguesso, seit mehr als einer Generation Präsident von Kongo-Brazzaville, geht
- mit den Abgaben, die der französische Erdölkonzern ELF dafür zahlt, dass dieser die
- Ölvorkommen im Meer vor Pointe-Noire ausbeuten darf, so um, als wäre es sein
- persönliches Einkommen und das seiner Familie. Zwei renommierte Zeitschriften haben
- die Vorwürfe untersucht, Forbes aus den Vereinigten Staaten und Venture aus Nigeria. Im
- Jahr 2014 gibt es auf dem afrikanischen Kontinent 55 Dollarmilliardäre, während 35,2
- Prozent der Bevölkerung unter anhaltender schwerer Unterernährung leiden. Die meisten
- Milliardäre stehen in engen Beziehungen zu den Staatschefs. An der Spitze der
- Milliardärsliste rangieren drei Frauen, die Verwandte von Staatschefs sind oder zu ihrem
- engen Umkreis gehören. Die älteste Tochter des angolanischen Präsidenten José Edoardo
- dos Santos, die schöne Isabel dos Santos, besitzt ein Vermögen von 3,5 Milliarden Dollar.
- Ngina Kenyatta, die Witwe von Jomo Kenyatta und Mutter des amtierenden kenianischen
- Präsidenten Uhuru Kenyatta, ist 5,4 Milliarden Dollar schwer. Und die sehr enge
- Mitarbeiterin des ehemaligen nigerianischen Präsidenten Ibrahim Babangida, Folorunsho
- Alakija, hat laut Venture ein persönliches Vermögen von 7,3 Milliarden Dollar.
- Die Protonation ist heute die in Afrika am meisten verbreitete Gesellschaftsform. Sie ist
- eine Schöpfung des Imperialismus. Der Imperialismus steckte in der Krise, musste sich
- umorientieren, seine Kräfte neu sammeln, effizientere, flexiblere und rationellere Formen
- der Beherrschung etablieren, die kostengünstiger und schließlich auch sicherer waren als
- die vorherigen. Die Protonation war das Ergebnis der neuen Strategie. Sie rechtfertigt den
- direkten Zugriff des transkontinentalen Finanzkapitals auf die natürlichen Ressourcen, die
- Arbeitskraft und das strategisch wichtige Territorium der Länder der Peripherie.
- Ihr Zugriff ist bewundernswert gut verschleiert. Formal herrscht eine »unabhängige«
- Regierung über das Land. Ein autochthoner Staat – mit eigener Polizei, Armee,
- Arbeitsgesetzgebung und so weiter – erstickt alle aufrührerischen Anwandlungen und
- alles Aufbegehren gegen die Ausbeutung. Ein eng mit den ausländischen
- Raubtierkapitalisten verbundenes lokales Bürgertum lebt von den Krumen, die bei der
- imperialistischen Ausplünderung abfallen, und verwaltet den Staat. Natürlich führt dieses
- lokale Bürgertum »nationalistische« Reden, spricht von »Unabhängigkeit«, von
- Forderungen und äußert manchmal sogar »revolutionäre« Ideen, die aber, weil es den
- Worten niemals Taten folgen lässt, nur eine Nebelwand sind. Es täuscht die weltweite
- öffentliche Meinung ebenso wie die unterjochten Völker selbst. Hinter der Nebelwand
- kann das transkontinentale Finanzkapital in Ruhe die Ausplünderung organisieren.
- Für all das gibt es unzählige Beispiele. Fria, ein Konsortium westlicher Firmen,
- ursprünglich zusammengebracht von dem französischen Aluminiumkonzern Pechiney, hat
- über mehr als fünfzig Jahre hinweg die Bauxit-Vorkommen in Guinea-Conakry zu extrem
- günstigen Bedingungen ausgebeutet, die es selbst diktiert hatte. Guinea verfügt über ein
- Drittel der gesamten Bauxit-Reserven des Planeten. Der Staat musste direkt oder indirekt
- den größten Teil der Infrastruktur bezahlen (Wohnungen für die Arbeiter, Eisenbahnlinien
- zum Meer, Hafeneinrichtungen und so weiter). Und er musste das überausgebeutete Volk
- unterwerfen und ihm eine strikte Ordnung aufzwingen. Das Bauxit-Konsortium nimmt bis
- heute Einfluss bei jeder noch so kleinen politischen, wirtschaftlichen und
- gesellschaftlichen Entscheidung der Regierung in Conakry.146
- Ein weiteres Beispiel: Seit mehr als vierzig Jahren beutet der französische multinationale
- Konzern Areva die Uranminen in Niger aus. Niger verfügt über die zweitgrößten
- Uranvorkommen weltweit. Auf der Liste der ärmsten Länder der Welt, die alljährlich vom
- Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP-Human Development Index) erstellt
- wird, rangiert Niger an vorletzter Stelle. Niger ist demnach das zweitärmste Land der
- Welt. Die 10 Millionen Einwohner leiden regelmäßig unter Dürre und schrecklichen
- Hungersnöten. Aber ihre Regierung kann nicht einen Cent ausgeben, um
- Bewässerungsprogramme umzusetzen oder Lebensmittel aufzukaufen und
- Nahrungsmittelreserven anzulegen. Greenpeace hat es trotz all seiner Bemühungen –
- auch auf juristischem Weg – nicht geschafft, dass der ausbeuterische Vertrag
- veröffentlicht wurde, der Niger an Areva bindet.
- Welches ist die neue herrschende Klasse in diesen Protonationen? Das nationale
- Bürgertum? Das existiert in Schwarzafrika praktisch nicht. Die Kompradoren-Bourgoisie?
- Sie ist die wahre herrschende Klasse in den Protonationen. Sie schöpft das ab, was man
- als »staatlichen Mehrwert« bezeichnet. Sie konsumiert verschwenderisch. Sie kümmert
- sich wenig um die Akkumulation im Land. Sie steuert die Importe des Landes nach ihren
- Konsumgewohnheiten und nicht nach den realen Bedürfnissen des Landes.
- Die Bauern im Senegal bekommen für ihre Erdnüsse ein Achtel des durchschnittlichen
- Weltmarktpreises. Staatliche Einrichtungen des Senegal kaufen die Erdnüsse auf und
- streichen den Mehrwert ein. Der Mehrwert fließt zum größten Teil zurück an die
- Staatsbourgeoisie, an die hohen und mittleren Funktionäre, Politiker und so weiter, deren
- Gehälter in keinem Verhältnis zum Durchschnittseinkommen der Menschen stehen. Diese
- vielköpfige, oftmals parasitäre Staatsbourgeoisie genießt zahlreiche Privilegien. Neben
- luxuriösen Dienstlimousinen bekommt sie üppige Baudarlehen: Die Staatsbourgeoisie
- besitzt Villen, die mit Steuergeldern errichtet wurden, und vermietet sie dann zu
- astronomischen Preisen an Ausländer. Kurzum: In den meisten Protonationen ist die
- Staatsbourgeoisie eine wahre Geißel des Volkes. Sie ist komplett dominiert von der
- symbolischen Gewalt des multinationalen Finanzkapitals.
- Natürlich reden die aktuellen Satrapen in den afrikanischen Protonationen – Männer vom
- Schlag eines Umar al-Baschir, Joseph Kabila, Robert Mugabe, Idriss Déby Itno, Paul Biya,
- Denis Sassou-Nguesso, Ali Bongo Ondimba, José Edoardo Dos Santos, Michael Sata,
- Hifikepunye Pohamba – gern von »Nationalbewusstsein« und »Unabhängigkeit«. Sie
- treten bei Konferenzen auf, bewegen sich ganz vorn auf der internationalen politischen
- Bühne, reisen eifrig zu Staatsbesuchen und geben jedes Mal feierliche Bekenntnisse zu
- »Freiheit« und »Frieden« ab. Wenn sich aber ein Volk auf dem Kontinent zu befreien
- versucht, rufen sie sogleich die Truppen dieser oder jener imperialistischen Macht zu
- Hilfe.
- V. Eine Mordkampagne
- Auf die Frage, warum die Nationenbildung in zahlreichen afrikanischen Ländern so
- tragisch gescheitert ist, gibt es noch andere Antworten.
- Auf Druck der weltweiten öffentlichen Meinung, der regelmäßigen Sitzungen der
- Generalversammlung der Vereinten Nationen und der aufständischen Bewegungen in
- Afrika selbst musste Frankreich zwischen 1958 und 1965 18 afrikanischen Kolonien die
- »Unabhängigkeit« gewähren. Im selben Zeitraum sahen sich auch Belgien und England
- gezwungen, ihre Kolonien in Afrika in die »Unabhängigkeit« zu entlassen. Wenig später
- folgten Portugal und Spanien.
- Doch bevor sie – auf Druck und gezwungenermaßen – die Souveränität auf die ehemals
- Beherrschten übertrugen, führten ihre Geheimdienste umfangreiche Säuberungen durch
- und ermordeten reihenweise gezielt Personen, um die wichtigsten Anführer
- nationalistischer Bewegungen physisch zu beseitigen.
- Diese Art der Gewalt trat ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Erscheinung. In
- Algerien ermordete oder verletzte die französische Armee nach 1945 in Sétif fast 40000
- Menschen, die für die Unabhängigkeit demonstrierten. In Madagaskar gab es bei der
- Niederschlagung des Aufstands von 1947 durch die Franzosen mehr als 80000 Tote.
- Im Jahr 1959 starben der zentralafrikanische Nationalist Barthélemy Boganda und seine
- Begleiter, als ihr Flugzeug explodierte – ein Attentat, für das französische
- Nachrichtendienste verantwortlich gemacht wurden. Am 17. Januar 1961 wurde der
- Premierminister von Kongo und Anführer der nationalen Befreiungsbewegung des Kongo
- (Mouvement national congolais, MNC), Patrice Lumumba, in der Nähe von Lubumbashi
- ermordet. Er starb durch die Maschinengewehrsalven eines katangesischen
- Exekutionskommandos. Belgische Söldner beseitigten die Leichen Lumumbas und seiner
- zwei Begleiter, indem sie sie in Schwefelsäure auflösten. 1966 wurde der Ghanaer
- Kwame Nkrumah, der Architekt der panafrikanischen Bewegung und der erste
- nationalistische Führer in Schwarzafrika, dem es gelungen war, die Unabhängigkeit zu
- erreichen, in einem Militärputsch gestürzt, dessen Drahtzieher der englische
- Geheimdienst war. Er starb im Exil in einem rumänischen Krankenhaus an einer
- mysteriösen, nie aufgeklärten Krankheit. Am 20. Januar 1973 wurde Amílcar Cabral, der
- Kommandant der Befreiungsarmee von Guinea-Bissau und Gründer der PAIGC (der
- Afrikanischen Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde) von einem
- Agenten der politischen Polizei Portugals ( PIDE) ermordet, 14 Monate bevor sein Land die
- Unabhängigkeit erlangte.
- Der Staatsterror war unerbittlich: Es galt, um jeden Preis die wahren nationalistischen
- Anführer zu beseitigen, um die »Macht« auf präparierte »Eliten« übertragen zu können,
- die die Kolonialherren in den Sattel gehoben hatten und kontrollierten.
- Paradigmatisch ist der Fall Kamerun. In diesem wunderschönen Land, das sich von den
- Savannen des Tschad bis ans Ufer des Atlantiks erstreckt, spielen die politischen,
- wirtschaftlichen und finanziellen Interessen Frankreichs bis heute eine entscheidende
- Rolle. Paris übergab die Macht einem traditionellen muslimischen Herrscher aus dem
- Norden, Amadou Ahidjo. Ahidjo residierte 23 Jahre lang im Präsidentenpalast von
- Yaoundé, bis er von seinem ehemaligen Kabinettschef abgelöst wurde, dem heutigen
- Präsidenten Paul Biya. Ahidjo war bis zuletzt ein Handlanger der neokolonialistischen
- Politik Frankreichs. Doch in Kamerun gibt es viele mutige, irredentistische Völker mit
- jahrtausendealten Traditionen und dem glühenden Wunsch nach Unabhängigkeit. So
- widersetzte sich beispielsweise die Union der Völker Kameruns (UPC) der französischen
- Scharade. Die Gegner der UPC griffen zu den Waffen.
- Die Repression war grausam.
- 15. Januar 1970, auf dem zentralen Platz von Bafoussam im Westen Kameruns. Die
- Soldaten des Exekutionskommandos der kamerunischen Armee stellen sich so auf, dass
- sie die aufgehende Sonne im Rücken haben. Eine Gruppe uniformierter französischer
- Offiziere und ein paar Europäer in Zivil mit weißen Hemden und Leinenhosen überwachen
- das Ganze. Bauern von der Volksgruppe der Bamileke, ihre Frauen und Kinder sammeln
- sich schweigend am Rand des Platzes. Eine Kolonne geschlossener LKWs und anderer
- Fahrzeuge bringt weitere Soldaten, den Staatsanwalt, die Militärrichter, den
- Gerichtsmediziner und schließlich den Verurteilten. Schwere Wolken hängen über der
- Stadt, aber trotzdem ist der Morgen klar: Gleißende Sonnenstrahlen brechen durch die
- Wolkendecke und tauchen den Platz in helles Licht. Ernest Ouandié, fünfzig Jahre alt, das
- Gesicht gezeichnet von den Verhören, der Erschöpfung, den Schlägen, wird von den
- Gendarmen aus einem LKW gezerrt. Er ist sehr mager, vorzeitig gealtert, seine Haare sind
- ergraut. Sein Blick ist müde. In Handschellen wird er vor den Hinrichtungspfahl gestoßen.
- In dem Augenblick, in dem die Soldaten feuern, schreit er: »Es lebe Kamerun!«, dann
- stürzt er mit dem Gesicht voraus zu Boden. Aus der Gruppe der Zuschauer löst sich ein
- französischer Offizier, tritt auf den Sterbenden zu, greift nach seinem Revolver, beugt sich
- hinunter und feuert zweimal in seine Schläfe. Der wichtigste Führer der kamerunischen
- Befreiungsfront ist tot.147
- Ausnahmslos alle nationalistischen Anführer aus Kamerun wurden nach und nach
- umgebracht: Ruben Um Nyobe bereits 1955, später seine Nachfolger Isaac Nyobe
- Pandjok, David Mitton und Tankeu Noé.
- 1960 kam der junge Arzt und Präsident der UPC, Félix-Roland Moumié, nach Genf, wo er
- versuchte, diplomatische Unterstützung zu organisieren. Ein französischer »Journalist«,
- der bei den Vereinten Nationen akkreditiert war, lud ihn in eine Bar in der Innenstadt ein.
- Am Abend bekam er starke Bauchschmerzen. Er wurde ins Kantonsspital gebracht, wo er
- in der Nacht starb. Der »Journalist« wurde bald enttarnt: Es handelte sich um Oberst
- William Bechtel, Offizier des französischen Auslandsgeheimdienstes SDECE (Service de
- documentation extérieure et de contre-espionnage). Bechtel reiste fluchtartig ab. Gegen
- ihn wurde ein internationaler Haftbefehl erlassen. Zwanzig Jahre später, am 8. Dezember
- 1980, stellte die Anklagekammer des zuständigen Genfer Gerichts das Verfahren gegen
- ihn ein. Die Genfer Justiz hatte kein Problem damit, sich lächerlich zu machen: Die
- Entscheidung fiel, eine Woche nachdem in Frankreich die Erinnerungen von Oberst Le
- Roy-Finville erschienen waren. Dieser war 1960 der Vorgesetzte von Bechtel gewesen. In
- seinem Buch schilderte er detailliert die Ermordung Moumiés durch den Residenten des
- SDECE in Genf.148
- 1966 wurde Castor Osende Afana, in Frankreich ausgebildeter Ökonom, ein brillanter
- Kopf, Kämpfer gegen die Kolonialherrschaft, im äquatorialen Dschungel aufgespürt und in
- der Nähe der Grenze zwischen Kongo, Gabun und Kamerun umgebracht.
- Die Republik Kamerun ist die Heimat großartiger Kulturen und tapferer Völker. Aber die
- französische Mordkampagne in früheren Zeiten hat ein derartiges Trauma hinterlassen,
- dass sich trotz all der Korruption, der Ausplünderung des Landes und der extremen Not,
- die einen großen Teil der Bevölkerung quaält, keine Widerstandsbewegung formiert.
- VI. Die Zerstückelung eines Kontinents
- Ein letzter Grund, warum die Nationenbildung in so vielen Ländern Afrikas gescheitert ist,
- hängt mit der Berliner Konferenz 1885 zusammen.
- Ein außergewöhnlicher europäischer Staatsmann hat damals bei der Ordnung der im
- Entstehen begriffenen Kolonialwelt eine entscheidende Rolle gespielt: der deutsche
- Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck. Bismarck hatte eine wichtige Tatsache begriffen:
- Die anarchische Entwicklung der kolonialen Eroberungsfeldzüge verschiedener
- europäischer Staaten gefährdete die Heilige Allianz der reaktionären Mächte, wie sie
- 1815 aus dem Sieg über die Französische Revolution und das Napoleonische Reich
- hervorgegangen war. Die Raffgier der Händler, Soldaten und Finanziers und der
- Fanatismus vieler Missionare hatten ein solches Ausmaß erreicht, dass sie den Frieden in
- Europa und das Gleichgewicht der Mächte ins Wanken brachten. In Haut-Dahomey (heute
- Benin), an der Grenze des Sudan, am Rand des vulkanischen Hochplateaus von Nigeria,
- standen französische Truppen englischen Invasoren gegenüber. Die Offiziere der
- französischen Republik beschimpften die Abgesandten Ihrer Majestät. Tatsächlich gab es
- kein Gesetz, kein juristisches Kriterium, keine Regel des Gewohnheitsrechts, um die
- jeweiligen Einflusszonen der einzelnen europäischen Staaten in Afrika abzugrenzen und
- zu definieren. Die Aggression der kolonialen Streitkräfte, ihr Drang nach Eroberungen, die
- Verlockungen des Ruhms, aber auch handfeste wirtschaftliche Interessen und
- ideologisches Sendungsbewusstsein (gleichermaßen religiöser wie weltlicher Natur)
- machten die Afrikafeldzüge der Europäer zu wahren Heldenepen, bei denen es um
- »Nationalstolz«, die »Würde« der Staaten und die »Glaubwürdigkeit« der Regierungen
- ging. Aus dem kleinsten Zusammenstoß von englischen und französischen Truppen,
- portugiesischen Händlern oder deutschen Forschungsreisenden im entlegensten Winkel
- der Sahelzone oder in den Bergen von Benguela drohte ein kaum vermeidbarer, großer
- Konflikt zu werden.
- Klarer als jeder andere erkannte Bismarck die Gefahr. Damals beschäftigten ihn der
- Aufstieg der europäischen Arbeiterschaft und ihrer Organisationen geradezu obsessiv. Die
- Arbeitersolidarität entwickelte sich rasch. Bismarck, Herr über die am besten organisierte
- Polizei Europas, registrierte sehr genau den wachsenden Einfluss der Arbeiterbewegung in
- allen europäischen Ländern, die den Weg der Industrialisierung eingeschlagen hatten.
- Bebel, Guesde, Liebknecht und Malatesta verfolgten ihn in seinen schlaflosen Nächten.
- (Bismarck litt unter schweren, sehr schmerzhaften Neuralgien.) »Die gemeine Bande«,
- wie er sie nannte, spukte durch seine Albträume. Mit diesem Ausdruck bezeichnete er die
- Arbeiterführer, die überall in Deutschland – vor allem nach dem Vereinigungsparteitag
- von Gotha 1875 – seine Macht infrage stellten. Und wenn die Heilige Allianz in Europa
- zerbrach, drohten die sozialistischen Revolutionäre die Macht in Berlin, Paris, London,
- Rom und Madrid zu ergreifen.
- Im Gegensatz zu anderen Politikern seiner Zeit hing Bismarck keinen kolonialen
- Eroberungsträumen nach. Seine einzige, beständige Sorge galt der Konsolidierung der
- fragilen deutschen Einheit, die er 1871 endlich erreicht hatte, und der Stärke und dem
- Ruhm des deutschen Kaiserreichs. Als weitblickender Mann verstand er, dass die
- alltäglichen Konflikte infolge der anarchischen Besetzung Afrikas durch die europäischen
- Mächte das ausgeklügelte, komplexe System der Bündnisse zwischen den europäischen
- Staaten gefährdeten, mit dem er den Fortbestand und die Größe des Reichs zu sichern
- versuchte. Kurzum, Bismarck wollte vor seinem Tod noch Regeln durchsetzen, nach
- denen bei kolonialen Eroberungen Gebiete und Legitimität aufgeteilt werden sollten. Und
- so berief er 1885 eine Konferenz nach Berlin ein.
- Die Liste der Teilnehmer an der Eröffnungssitzung am 26. Februar vermittelt einen
- Eindruck von der Zusammensetzung des Kartells der Kolonialherren, zu dem praktisch alle
- großen und mittleren militärischen, wirtschaftlichen und finanziellen Mächte der
- damaligen Zeit gehörten. Wir finden dort den deutschen Kaiser, die Königin von England,
- den Sultan des Osmanenreichs, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, den Zaren von
- Russland, die Könige von Spanien und von Portugal, den Kaiser von Österreich-Ungarn,
- die Könige von Italien, Belgien, Schweden-Norwegen, der Niederlande und den
- Präsidenten der französischen Republik.
- Die großen und mittleren Kolonialmächte verfügten nach Belieben über Afrika. Sie
- zerstückelten den Kontinent, schnitten ihren Besitz heraus, zerstreuten Völker, zerstörten
- Kulturen und traditionelle kollektive Identitäten, sie plünderten, brandschatzten,
- vergewaltigten und raubten den Reichtum des Bodens, der Wälder und der Menschen,
- wie es ihnen mit ihren egoistischen Interessen gerade gefiel. Die Berliner Konferenz sollte
- die Anarchie beenden.
- Ziel der Konferenz war es, der kolonialen Ordnung der Welt und insbesondere Afrikas
- Legitimität und Legalität zu verleihen. Man wollte den »wilden« Besetzungen ein Ende
- machen und festlegen, dass zwischen konkurrierenden europäischen Staaten das Recht
- des »ersten Eroberers« gelten sollte. Außerdem wollte man die großen Flüsse für die
- internationale Schifffahrt öffnen, den Sklavenhandel eindämmen und den Umgang mit
- einheimischen Arbeitskräften kontrollieren. Auch ein kleines Stück internationales Recht
- wurde eingeführt: Ein Gebiet, über dem die Fahne eines europäischen Landes wehte,
- sollte als legitimer Besitz des betreffenden Landes angesehen werden. Wenn ein
- konkurrierender europäischer Staat ebenfalls Ansprüche auf das Gebiet erhob, musste er
- vor einer Schiedsinstanz beweisen, dass seine Besitzansprüche schwerer wogen (zum
- Beispiel durch Schutzabkommen mit Häuptlingen der Eingeborenen, durch Kaufverträge
- und dergleichen).149
- Mit der Berliner Konferenz entstand ein tatsächliches Weltsystem mit eigenen Regeln für
- Besetzung und Verhalten, mit Schiedsinstanzen, mit einer legitimierenden Ideologie und
- einer eigenen Rechtsordnung. Mit diesem homogenen, strukturierten, kohärenten
- Kolonialsystem hatten es künftig die Befreiungsbewegungen zu tun.
- Die Konferenz hat Afrika zerstückelt wie ein Kannibale, der einen lebendigen Körper
- zerstückelt.
- Die nach den Interessen und dem Gutdünken der Kolonialherren festgelegten Grenzen
- haben die großen traditionellen Gesellschaften, die Kulturen und Zivilisationen
- zerschlagen. Eingeschlossen in Grenzen, die nichts »Natürliches« hatten und in keinerlei
- Beziehung zur je einzigartigen Geschichte der betroffenen Völker standen, haben diese
- verstümmelten, aber lebendigen Stücke von Kultur im Inneren der willkürlich
- ausgeschnittenen Gebiete extreme Spannungen verursacht, die bis heute spürbar sind.
- Kurzum: Bismarck hat Europa befriedet, wenn auch nur sehr vorübergehend, dabei aber
- Afrika verstümmelt.
- Am 23. Mai 1963 wurde in Addis Abeba der Gründungskongress der Organisation für
- Afrikanische Einheit (OAU) eröffnet, der Vorläuferorganisation der heutigen Afrikanischen
- Union. Unter Führung des ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah leisteten die
- Anhänger einer kontinentalen Struktur Widerstand gegen die Vertreter eines »Afrika der
- Staaten« um den senegalesischen Präsidenten Léopold Sédar Senghor. Letztere setzten
- sich durch. Um Bruderkämpfe im unabhängigen Afrika zu verhindern, legte die Charta der
- OAU ausdrücklich fest, dass die Kolonialgrenzen unantastbar sein sollten. Damit wurde die
- Zerstückelung der traditionellen kollektiven Identitäten und der großen überkommenen
- Kulturen festgeschrieben.
- Die möglichen kulturellen Orientierungen für die künftigen afrikanischen Nationen waren
- damit von vornherein beschnitten. Anstelle eines aufkeimenden Nationalbewusstseins
- regierte in vielen Regionen der Tribalismus. Unter allen gegenwärtigen Formen des
- Rassismus ist der Tribalismus eine der unerbittlichsten, schlimmsten und destruktivsten.
- Der Tribalismus verheert das kollektive Bewusstsein der Protonationen, in denen die
- regierenden ethnischen Gruppen das Gewaltmonopol behaupten und autokratische
- Regierungen installieren, die die anderen ethnischen Gruppen diskriminieren – im Namen
- und entsprechend ihrer jeweiligen Stammesidentität.
- VII. Die Hölle im Südsudan
- Das eindrücklichste aktuelle Beispiel für das Drama des Tribalismus bietet der jüngste der
- 195 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, die Republik Südsudan.
- Die 12 Millionen Einwohner des Südsudan, die verschiedenen Niloten-Kulturen
- angehören – Azande, Nuer, Dinka, Massalit, Schilluk und so weiter –, leben in einem
- prächtigen Land mit einer Fläche von mehr als 900000 Quadratkilometern, bestehend aus
- unberührten Wäldern, einer außergewöhnlichen Fauna, fruchtbaren Ebenen und
- fischreichen Flüssen.
- Die Republik Südsudan hat den längsten nationalen Befreiungskampf aller Länder
- Afrikas hinter sich: Der Sudan war seit 1899 ein Kondominium Großbritanniens und
- Ägyptens. Auf Druck von Gamal Abdel Nasser und seiner Freien Offiziere, die seit 1952 die
- Macht in Kairo innehatten, wurde das Kondominium 1956 aufgelöst. Sofort revoltierte das
- Equatoria Corps, die Truppen, die die englische Kolonialmacht bei den christlichen
- nilotischen Völkern im Süden rekrutiert hatte. Der lange Krieg gegen das muslimische
- Regime in Khartum begann. Bis dahin hatten zwei großartige Völker mit einer
- strahlenden, hochentwickelten Kultur, mit reichen und lebendigen Kosmogonien die
- Southern Sudan Liberation Army (SSLA) dominiert: die Dinka und die Nuer. Ihre jeweiligen
- kollektiven Erinnerungen, ihr symbolischer Überbau, ihre gesellschaftlichen (nichtstaatlichen)
- Organisationen haben die Anthropologen fasziniert, allen voran Edward E.
- Evans-Pritchard.150
- In einem Zeitraum von etwas mehr als einem halben Jahrhundert starben ganze
- Generationen junger Nuer und Dinka in den Sümpfen des Weißen Nils, im Dschungel und
- in den Savannen im Kampf, wurden bei lebendigem Leib verbrannt, durch Artilleriefeuer
- und Bomben der muslimischen Armeen verwundet. Zehntausende Frauen und Kinder aus
- dem Süden wurden bei den Terrorbombardements der Luftwaffe aus dem Norden
- zerfetzt. Das Kommando über die SSLA teilten sich Offiziere der Nuer und der Dinka (die
- letzten beiden Oberkommandierenden John Garang und Salva Kiir waren allerdings beide
- Dinka; Garang starb bei der Explosion seines Flugzeugs).
- Ich erinnere mich an meinen kürzlichen Besuch in Juba – eine krakenhafte Riesenstadt
- mit ihren Hochhäusern und überbevölkerten, armseligen Slums. Vor der Unabhängigkeit
- war Juba in erster Linie eine Garnisonsstadt gewesen, extrem arm, gelähmt von Angst.
- Aus dem Ozean rostiger Hausdächer ragten hier und da hohe gelbe Häuser mit rissigen
- Wänden heraus, deren Terrassen die Fluten der Regenzeit und die Feuchtigkeit, die
- dauernd aus dem Bahr al-Dschabal, dem Weißen Nil, aufsteigt, zersetzt hatten. Mir ist vor
- allem das ehemalige British Railway Hotel in Erinnerung geblieben, ein elegantes,
- langgezogenes, zweistöckiges Gebäude aus ockerfarbenen Ziegeln. Eine Veranda mit
- Arkaden, in der sich Sessel und Tische aus Weidengeflecht aneinanderreihten, schützte
- den großen Speisesaal im Erdgeschoss vor der Hitze. Bahr al-Dschabal heißt wörtlich »das
- weiße Meer«, denn flussaufwärts von Juba verschwindet der Nil wie durch Magie unter
- Millionen weißer Seerosen.
- Am 15. Januar 2011 fand das Referendum über die Selbstbestimmung des Südsudan
- statt, und am 9. Juli wurde die Unabhängigkeit verkündet. Die Staatsgewalt übernahmen
- gemeinsam Salva Kiir vom Volk der Dinka als Staatspräsident und Riek Machar vom Volk
- der Nuer als Vizepräsident.
- Aber kaum zwei Jahre nach der Unabhängigkeit, im Juli 2013, beanspruchte die
- ethnische Mehrheit der Dinka die alleinige Macht. Salva Kiir entließ Riek Machar und alle
- Minister und Generäle vom Volk der Nuer. Nuer-Familien flohen zu Tausenden aus der
- Hauptstadt Juba.
- Kiir ist ein stämmiger Dinka, einen Meter neunzig groß, mit einem warmherzigen
- Lächeln; er trägt immer einen schwarzen, breitkrempigen Hut. Machar hingegen ist der
- typische Nuer, schlank und agil. Er erinnert an die Hirten seines Volkes, die, auf einem
- Bein stehend mit einem langen Stock in der Hand, an den Zuflüssen des Weißen Nils die
- beeindruckenden Herden der Zebus mit den wie eine Leier geschwungenen Hörnern
- hüten. Machar ist ein Intellektueller, ehemaliger Philosophieprofessor an der Universität
- Khartum. Kiir erhob gegen Machar eine absurde Anklage, um die Jagd auf die Nuer zu
- eröffnen: Sein Stellvertreter habe geplant, bei der Präsidentschaftswahl 2015 gegen ihn
- zu kandidieren, und sich somit der Verschwörung schuldig gemacht.
- Angesichts eines gemeinsamen, unerbittlichen muslimisch-arabischen Feinds haben die
- Völker des Südens trotz regelmäßiger ethnischer Konflikte mit außerordentlichem Mut und
- großartiger Entschlossenheit Widerstand geleistet und ihre Identität, ihre Religion, ihr
- Land verteidigt. Doch dieser Kampf, den Generationen aus unterschiedlichen
- Volksgruppen geführt und für den sie mit schrecklichen Leiden bezahlt haben, ließ kein
- strukturiertes gemeinsames Bewusstsein entstehen, kein die ethnische Zugehörigkeit
- übergreifendes Nationalbewusstsein. Die Stammesidentität ist nach wie vor der
- Bezugspunkt letzter Instanz, die ultimative Zuflucht für die Völker im Südsudan. Und nach
- fünfzig Jahren Krieg zur Selbstverteidigung sind Tribalismus und Ethnozentrismus immer
- noch die beiden einzigen Faktoren, die das vielfach gespaltene kollektive Bewusstsein
- strukturieren.
- Die uralten Hochkulturen der Niloten-Völker wie Nuer, Dinka, Azande, Massalit und
- Schilluk zählen, wie ich bereits gesagt habe, zu den höchstentwickelten, komplexesten,
- reichhaltigsten Kulturen auf unserem Planeten. Ihre Kosmogonien bieten eine
- allumfassende Erklärung der Welt und der Bestimmung der Menschen. Ihre
- Verwandtschaftssysteme und Initiationsriten dienen dazu, das gesellschaftliche Wissen
- von Generation zu Generation weiterzugeben. Ihre Hierarchien von Befehl und Gehorsam,
- die sich durch Komplementarität und Reziprozität zwischen Männern und Frauen,
- zwischen unterschiedlichen Altersklassen, Clans und so weiter auszeichnen, ihre
- Begräbnisrituale, die das Weiterleben, die Unsterblichkeit, die beständige
- gesellschaftliche Anwesenheit der Verstorbenen garantieren: All das erzeugt eine stark
- strukturierte soziale Basis, solide kollektive Identitäten.
- Solange aufeinanderfolgende arabisch-muslimische Herrscher in Khartum den Nilvölkern
- zugesetzt haben und versuchten, sie zu unterwerfen und manchmal zu vernichten,
- sammelten sie sich in einer gemeinsamen Widerstandsfront.
- Doch als der Sieg errungen war, die Fesseln der Unterdrückung gesprengt waren und der
- äußere Druck nicht mehr bestand, löste sich die gemeinsame Front auf, und die
- verschiedenen ethnischen Gruppen übernahmen wieder das Monopol auf die
- Strukturierung des jeweiligen kollektiven Bewusstseins. Die Hochkulturen der Nilvölker
- wurden füreinander zu »mörderischen Identitäten«, um es mit einem Begriff von Amin
- Maalouf zu sagen.
- Bis zum Sommer 2014 sind in diesem neuen Krieg bereits viele Zehntausend Frauen,
- Kinder und Männer aller ethnischen Gruppen gestorben. Millionen Menschen haben die
- Städte verlassen, vor allem Bentiu, Bor, Leer und Juba, wo die schlimmsten Kämpfe
- tobten, und sind in den Busch geflohen.
- In allen Winkeln dieses riesigen, herrlichen Landes rufen lokale Radiostationen, die
- wichtigsten Kommunikationsinstrumente, dazu auf, Frauen zu vergewaltigen, die nicht
- der eigenen ethnischen Gruppe angehören.151 In Leer, im Osten des Landes, wo Nuer
- leben, musste die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ihr Krankenhaus aufgeben.
- Hunderte Verwundete und Kranke hielten sich monatelang in den Sümpfen versteckt. Im
- April 2014 verübten Schergen von Machar in Bentiu, wo Tausende Dinka-Familien Zuflucht
- gefunden hatten, ein Massaker.
- Kaum entstanden, ist die Protonation Südsudan somit wieder zerfallen. Neben der
- Wiederkehr des Tribalismus sind das soziale Elend, der Hunger und Epidemien an dem
- gegenwärtigen Chaos schuld. Seit der Proklamation des Staates Südsudan vor drei Jahren
- sind 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Uganda, Kongo und Äthiopien ins Land zurückgeströmt.
- Zwar liegen 85 Prozent der sudanesischen Ölfelder im Süden, aber der Norden kontrolliert
- die Pipelines, die das Öl nach Port Sudan und zu den Häfen am Roten Meer
- transportieren.
- Um die Protonationen zu stabilisieren und zu verhindern, dass die Staaten mit ihrer
- fiktiven Souveränität im Chaos versinken, vor allem aber um den eigenen Einfluss zu
- sichern, hat die ehemalige Kolonialmacht mit den Regierungen, die nach der
- Unabhängigkeit die Macht übernahmen, Abkommen über die sogenannte »gemeinsame
- Sicherheit« geschlossen. In Abidjan, in Dakar und in anderen Hauptstädten unterhält die
- französische Armee Garnisonen. Denn in Ländern, in denen die legale Opposition verfolgt
- wird, suchen sich Unzufriedenheit, Verzweiflung und das Leiden der Bevölkerung oft
- Ausdruck in Protestbewegungen, die außerhalb der Legalität agieren.
- In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land des Kontinents, achtgrößter Ölproduzent
- der Welt, sind Korruption, Vetternwirtschaft und Wahlbetrug an der Tagesordnung.
- Texaco, ExxonMobil, British Petroleum und Shell beuten das Land aus und machen dabei
- gemeinsame Sache mit den Herrschern in Abuja. Im Delta kämpfen irredentistische
- Bewegungen, im Norden treiben die Terroristen von Boko Haram ihr Unwesen.
- Die Dschihadisten verheeren das Sahelgebiet. Aber die französischen Garnisonen in
- Niamey (Niger), Dakar (Senegal), Nouakchott (Mauretanien) und Bamako (Mali) sind so
- lange nutzlos, wie Areva und andere französische Unternehmen weiterhin zu
- Bedingungen, die an Plünderung grenzen, die Uranminen in Niger ausbeuten, die
- Goldvorkommen in Mali oder das fruchtbare Land in der Schleife des Flusses Senegal. Die
- Abkommen über die »gemeinsame Sicherheit«, die die herrschenden neokolonialen Eliten
- schützen sollen, erweisen sich letztlich als wirkungslos. Die Protonationen gehen von
- innen heraus zugrunde.
- VIII. Der äußere Faschismus
- In welchem Augenblick der Geschichte und an welchem Ort der Welt die Nation auch in
- Erscheinung tritt, sie birgt immer universelle Werte in sich.
- Ein Beispiel: Kurz vor Valmy hielt Maximilien Robespierre in Paris folgende Rede:
- »Franzosen, unsterblicher Ruhm erwartet euch, aber ihr müsst ihn unter großen Mühen
- erringen. Ihr habt nur die Wahl zwischen der schändlichsten Sklaverei und der
- vollkommenen Freiheit. Entweder die Könige unterliegen oder die Franzosen. Das
- Schicksal aller Nationen ist mit dem unseren verknüpft. Das französische Volk muss das
- Gewicht der Welt tragen […] Auf dass die Sturmglocke, die in Paris ertönt, von allen
- Völkern gehört werde.«152
- Und noch ein Beispiel: Der Erhebung der polnischen Nationalisten gegen die russischen
- Besatzer endete mit einer Niederlage und mit Blutvergießen. Dennoch beanspruchte die
- entstehende polnische Nation die gleiche Universalität wie Robespierre. In einer Nacht im
- September 1831 tauchten an den Mauern von Warschau Plakate auf, direkt vor den
- Fenstern des Feldmarschalls Paskiewitsch, dem russischen Peiniger Polens. In lateinischer
- und kyrillischer Schrift stand auf den Plakaten zu lesen: »Für unsere Freiheit und für
- eure.« Nur wenige Soldaten der russischen Besatzungsarmee verstanden die Botschaft.
- Die Erhebung wurde niedergeschlagen. Die Polen mussten bis zum Jahr 1989 und zum
- friedlichen Sieg von Solidarnosc darauf warten, dass sich der Griff der russischen
- Kolonialherren lockerte und die polnische Nation aus der Asche wiederauferstehen
- konnte.
- Ein letztes Beispiel: Im August 1942 übernahm Missak Manouchian von Boris Holban die
- Führung der Partisanenorganisation MOI (Mouvement des ouvriers immigrés, Bewegung
- der immigrierten Arbeiter). Die Nazi-Besatzer hatten in Paris Tausende rote Plakate
- aufgehängt, die die Gesichter bestimmter Mitglieder der Gruppe mit ihren Namen zeigten.
- Da es alles ausländische Namen waren, hauptsächlich armenische und polnische, wollten
- die Nazis damit den Eindruck erwecken, der bewaffnete Widerstand und dessen »Terror«
- seien das Werk von Ausländern. Im November wurde die Gruppe an die Gestapo verraten.
- Manouchian und mehr als sechzig Kameraden, Männer und Frauen – darunter die 23, die
- auf dem roten Plakat zu sehen waren – wurden festgenommen. Nach entsetzlichen
- Folterungen starben sie im Morgengrauen des 21. Februar auf dem Mont Valérien im
- Kugelhagel eines Erschießungskommandos. Sie stammten aus unterschiedlichen Ländern,
- Kulturen und Volksgruppen, aber fast alle riefen, ehe die Kugeln sie trafen: »Es lebe
- Frankreich!«
- Alle Menschen streben nach Leben, Gesundheit, Bildung, Wissen, einer sicheren Existenz,
- einem festen Arbeitsplatz, einem regelmäßigen Einkommen. Sie wollen ihre Familien vor
- Demütigungen schützen, ihre politischen und staatsbürgerlichen Rechte im vollen Umfang
- ausüben können, ohne Willkür ausgeliefert zu sein, und wollen vor Unglücken bewahrt
- werden, die ihre Würde verletzen.
- Die Nation, die in Valmy erstanden ist, ist eine Nation der Armen, die entschlossen sind,
- zu leben – und frei zu leben. Sie ist heute das Modell für die meisten Volksbewegungen,
- für die Revolutionäre in Bolivien, in Venezuela, in Ecuador, in Kuba, in Bahrain, Nepal und
- an vielen anderen Orten auf der Welt.
- Innerhalb des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen haben die westlichen Länder
- (die europäischen und nordamerikanischen) 2010 eine informelle, aber mächtige
- Organisation gebildet, die sich regelmäßig trifft und ihr Abstimmungsverhalten
- koordiniert: die like minded group. Diese Gruppe besteht aus den Ländern, die den
- Anspruch erheben, gemeinsam die Demokratie, die Menschenrechte und die
- Freiheitsrechte erfunden zu haben.
- Doch wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass diese Länder mit einem
- gespaltenen Bewusstsein leben. Die Grundwerte werden bei ihnen im Allgemeinen
- geachtet und gelten auf ihren jeweiligen nationalen Territorien. Aber ihre Geltung endet
- an ihren nationalen Grenzen.
- In Bagram in Afghanistan, im größten Militärgefängnis der Welt, und in Guantánamo,
- dem Gefangenenlager auf dem Stützpunkt der US-Navy im Südosten von Kuba, wendeten
- die Vereinigten Staaten – wie wir gesehen haben – systematisch Folter und andere
- unmenschliche Behandlungen gegenüber ihren politischen Gefangenen an, die aus allen
- Ecken des Planeten stammen. Im Jemen und in Pakistan töten amerikanische Drohnen
- jeden Monat Dutzende Kinder, Männer und Frauen, die absolut nichts mit terroristischen
- Aktivitäten zu tun haben.
- Die Europäische Union praktiziert Dumping in Schwarzafrika, das heißt, sie verkauft ihre
- eigenen Agrarprodukte billiger als die lokalen Produkte und zerstört damit wissentlich die
- lokale Landwirtschaft. Ihre Organisation FRONTEX schickt jedes Jahr Tausende Männer,
- Frauen und Kinder auf das Meer zurück – Menschen, die versuchen, über den Atlantik
- oder das Mittelmeer in die Festung Europa zu gelangen, auf die Kanaren, nach Malta oder
- an die italienische Küste. Nach Angaben des Hochkommissariats für Flüchtlinge sind dabei
- von 2001 bis 2013 31000 Menschen ertrunken.
- Laut einer Untersuchung, die Global Financial Integrity veröffentlicht hat, eine 2006 in
- Washington gegründete Nichtregierungsorganisation, die sich um Korruption, Schmuggel,
- organisiertes Verbrechen und Steuerflucht kümmert, sind durch »anonyme Scheinfirmen,
- undurchsichtige Steuerparadiese und kommerzielle Geldwäsche im Jahr 2011 fast 1000
- Milliarden Dollar aus den ärmsten Ländern der Welt abgeflossen«. Die astronomischen
- Summen, die illegal aus den Ländern gelangen, werden von Jahr zu Jahr größer. »Der
- Anstieg betrug 13,7 Prozent gegenüber 2010 und 250 Prozent gegenüber 2002. Von 2002
- bis 2011 haben die Entwicklungsländer nach Schätzungen der Studien insgesamt 5900
- Milliarden Dollar verloren […] Das Volumen der Kapitalflucht lag 2011 um das Zehnfache
- höher als die Netto-Entwicklungshilfe, die im selben Jahr den 150 Ländern gewährt
- wurde, mit denen sich die Studie befasst. Das bedeutet, dass für jeden Dollar
- Entwicklungshilfe, den ein Land bekommt, 10 Dollar auf illegalem Weg abfließen.«153
- Und etwas weiter heißt es: »Das subsaharische Afrika, wo sich die Kapitalflucht jedes
- Jahr auf mehr als 5,7 Prozent des BIP summiert, ist die Region, die unter
- volkswirtschaftlichem Gesichtspunkt am meisten unter dieser Entwicklung leidet. In den
- letzten zehn Jahren lag der Anstieg bei den Summen, die illegal aus dem Land geschafft
- wurden, deutlich über den Wachstumsraten des BIP.«154
- Im Jahr 2014 hat das schweizerische Außenministerium eine Forschergruppe der
- Universität Bern beauftragt, die Ströme von illegal aus Afrika abgeflossenem Kapital zu
- untersuchen, die in den Tresoren von schweizerischen Banken landeten. Und das war das
- Ergebnis ihrer Untersuchung: 83 Länder der südlichen Hemisphäre bekamen
- Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe aus der Schweiz. 2013 hat die Schweiz dafür
- umgerechnet 2,2 Milliarden Dollar ausgegeben. Aber im selben Zeitraum deponierten die
- herrschenden »Eliten« dieser
- Länder auf ihren persönlichen Konten bei diversen Schweizer Banken insgesamt
- geschätzte 7,5 Milliarden Dollar, das Dreifache der mit Steuergeldern finanzierten
- Entwicklungshilfe …
- Die Kapitalflucht, die von schweizerischen und europäischen Banken organisiert wird,
- führt überall zu Katastrophen.
- Einer meiner brillantesten Studenten an der Universität Genf war Carlos Lopes aus dem
- kleinen westafrikanischen Land Guinea-Bissau. Im marmorverkleideten »Palast der
- Nation«, am Ufer des Mittelmeers, nahe bei Algier gelegen, habe ich ihn wiedergesehen.
- Dort wurde am Morgen des 28. Mai 2014 die 17. Ministerkonferenz der Blockfreien
- Staaten eröffnet. Meiner Freundschaft mit Abd al-Aziz Bouteflika verdankte ich meine
- Einladung als »ausländischer Beobachter«. Carlos Lopes ist heute beigeordneter UNOGeneralsekretär
- und leitender Sekretär der UNO-Wirtschaftskommission für Afrika (UNECA)
- mit Sitz in Addis Abeba. Sein Vortrag fand spätabends am 29. Mai statt. Carlos Lopes
- prangerte detailliert die westliche Plünderungsstrategie an, erklärte akribisch die illegalen
- Kapitalflüsse und analysierte die tödlichen Gefahren, welche die flutartig ansteigende
- Kapitalflucht für die Völker des Kontinents verursachten. Die Minister waren erschüttert …
- und sprachlos. In zahlreichen Ländern Afrikas ist die Infrastruktur marode, Krankenhäuser
- und Schulen müssen schließen, Unterernährung und Arbeitslosigkeit richten fürchterliche
- Verheerungen an. Die Länder sind ausgeblutet. In Burkina Faso stirbt eines von sechs
- Kindern vor dem zehnten Lebensjahr. Wegen chronischer Unterernährung können nur 25
- Prozent der Frauen in Mali ihre Säuglinge stillen.
- Gewisse Ideologen im Dienst der transkontinentalen Finanzoligarchien behaupten, ein
- großer Teil der Länder Afrikas mache spektakuläre wirtschaftliche Fortschritte. Was hat es
- damit auf sich?
- Der IWF hat über fünf Jahre (2004–2008) das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 30 der 54
- afrikanischen Länder untersucht; auf sie entfallen 86 Prozent der Bevölkerung des
- Kontinents und 91 Prozent der Produktion. Und das sind die durchschnittlichen
- Wachstumsraten des BIP in diesen Ländern: 5 Prozent in 2005, 5,8 Prozent in 2006, 5,5
- Prozent in 2007, 6 Prozent in 2008.
- Wie ist dieser »Erfolg« zu erklären? Vor allem durch die Intensivierung der Ausbeutung
- von Bodenschätzen durch die ausländischen transkontinentalen Gesellschaften und den
- Preisanstieg bei Rohstoffen wie Erzen, Gas und Erdöl. Nigeria zum Beispiel ist achtgrößter
- Erdölproduzent der Welt. Viele afrikanische Volkswirtschaften sind Rentenökonomien, in
- denen das Wachstum durch die ausländische, vor allem asiatische, Nachfrage angeheizt
- wird.
- Die Kehrseite des Wachstums ist das unermessliche Elend zahlreicher Völker. Gemessen
- an seiner Bevölkerung hat Afrika heute die höchste Hungerrate der Welt: 35,2 Prozent
- seiner Bevölkerung sind permanent schwerstens unterernährt. Afrika ist ein Bettler, der
- auf einem Goldberg sitzt.
- Ich war kürzlich in Goma in der Republik Kongo, der einst stolzen Metropole von Nord-
- Kivu, die im Ostafrikanischen Grabenbruch am Fuße der Virunga-Vulkanberge liegt. Dort
- erlebte ich, dass eine banale Infektion tödlich sein kann. Dass die Krankenhäuser keine
- Antibiotika haben. Dass die anderen Medikamente knapp sind. Im Kongo fordern
- Krankheiten, die die Medizin seit Langem besiegt hat, jedes Jahr Hunderttausende von
- Opfern. Die medizinische Grundversorgung ist mangels staatlicher Investitionen praktisch
- zusammengebrochen.
- Afrika erfreut sich einer enormen demografischen Vitalität. 2014 waren 65 Prozent der
- Afrikaner jünger als dreißig Jahre, in Europa hingegen nur 29 Prozent. 2005 machten die
- Afrikaner 12 Prozent der Weltbevölkerung aus, 2050 werden es bereits 22 Prozent sein.
- 2007 zählte Afrika 960 Millionen Einwohner, 2025 werden es 1,4 Milliarden sein und 2050
- 2 Milliarden. Aber diese Menschen müssen die Folgen einer erdrückenden
- Staatsverschuldung tragen, einer vor allem durch ausländische Investoren induzierten
- Korruption, unzureichender Investitionen in die lokalen Unternehmen, das Gesundheitsund
- Bildungswesen sowie in die Infrastruktur; sie müssen zusehen, wie ihre Bodenschätze
- durch multinationale Konzerne geplündert werden und die Massenarbeitslosigkeit steigt.
- Doch wie man weiß, handeln die privaten multinationalen Konzerne in vollem Einklang
- mit den Regierungen ihrer Heimatländer – und manchmal sogar mit deren aktiver
- Unterstützung.
- Somit praktizieren die Mitglieder der like minded group gegenüber den armen Ländern
- der südlichen Hemisphäre das Gesetz des Dschungels, die Politik des Stärkeren. Sie
- negieren die Werte, die sie innerhalb ihrer eigenen Grenzen verkünden und hochhalten.
- Maurice Duverger, Professor für Verfassungsrecht an der Sorbonne und Kolumnist der
- Zeitung Le Monde, hat zur Zeit des Vietnamkriegs ein solches Verhalten als »äußeren
- Faschismus« bezeichnet.155
- Man muss in Maniema, in Kivu und Katanga im Osten des Kongo, in den Tälern des
- Sambesi in Sambia und Mosambik oder auch im angolesischen Benguela die Gettos
- gesehen haben, die multinationale Konzerne wie Glencore, Anaconda Copper oder Rio
- Tinto für ihre Minenarbeiter errichtet haben. Diese Gettos werden von bis an die Zähne
- bewaffneten Privatmilizen bewacht. Kinderarbeit ist an der Tagesordnung. Die
- Ausbeutung der Arbeiter – Bergleute, Steinbrecher, Transportarbeiter und so weiter –
- macht ganze Völker zu Sklaven: die Bafulero, die Bashi, die Bateke. Nie werde ich die
- verängstigten Blicke vergessen, die ausgemergelten Körper der jungen Männer, die für
- einen Hungerlohn in den Coltan-Minen in Kivu schuften, ständig bedroht durch Milizionäre.
- In der Region Kivu lagern 60 bis 80 Prozent der weltweiten Reserven dieses strategisch
- wichtigen Erzes, das für die Produktion elektronischer Bauteile156, von Handys und
- Flugzeugen unerlässlich ist.
- Die Nation ist eine der wunderbarsten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation.
- Die Soziologie kann einen wichtigen Beitrag leisten, um sektiererische Verirrungen,
- Fundamentalismen und rassistische Tendenzen zu bekämpfen. Sie spielt auch eine
- entscheidende Rolle beim Kampf gegen den »äußeren Faschismus«, den so viele
- westliche Länder gegenüber den Völkern der südlichen Hemisphäre ausüben.
- ACHTES KAPITEL
- Wie entsteht und wie entwickelt sich die Gesellschaft?
- Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte
- geknechtete, als die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu
- Ende führt.
- Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte« (1940)157
- I. Die Gesetze der Geschichte
- Zwei Gruppen von Wissenschaftlern haben die Entstehung der sozialen Realität mit
- besonders scharfem Blick betrachtet. Da sind zum einen die Soziologen der Frankfurter
- Schule zu nennen, die Deutschen Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse,
- Walter Benjamin, Erich Fromm sowie ihre Freunde und zeitweise Verbündeten, der Ungar
- Georg Lukács und der Deutsche Ernst Bloch. Der Frankfurter Schule gehörten marxistisch
- orientierte deutsche Soziologen an. 1924 gründeten sie das Institut für Sozialforschung in
- Frankfurt am Main (das ein privater Mäzen finanzierte) und gaben eine Zeitschrift heraus,
- die legendäre Zeitschrift für Sozialforschung. 1933, als die Nazi-Barbaren an die Macht
- gelangten, löste sich die Gruppe auf, die Mitglieder emigrierten nach
- Genf, Paris und Oxford, später in die USA, wo sie an der New Yorker Columbia-Universität
- eine Heimat fanden.
- Nur einer fehlte beim Appell: Walter Benjamin. Im Juni 1940 war er im Lager Vernuche
- in der Nähe von Nevers interniert worden und später dank der Hilfe von Freunden
- freigekommen. Am Vorabend des deutschen Einmarschs in Paris floh Benjamin in
- Richtung Spanien. Als er in Portbou die Nachricht erhielt, dass nach einer neuen Direktive
- der spanischen Regierung Flüchtlinge nach Frankreich zurückgebracht werden sollten,
- nahm er sich am 26. September 1940 das Leben.
- Nach dem Zweiten Weltkrieg zerfiel die Gruppe. Horkheimer und Adorno kehrten nach
- Deutschland zurück und lehrten als Professoren an der Johann-Wolfgang-Goethe-
- Universität in Frankfurt, Horkheimer bis zur Emeritierung, Adorno bis zu seinem Tod.
- Horkheimer wurde Rektor der Universität. Fromm und Marcuse hingegen glaubten nicht,
- dass Deutschland ein demokratisches Land werden könnte. In ihren Augen war der
- Faschismus in ihrem Land immer noch lebendig. Sie weigerten sich deshalb,
- zurückzukehren. Marcuse antwortete Max Horkheimer, als der ihn zur Rückkehr drängte,
- mit einem Zitat von Brecht: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.« Marcuse
- wurde Professor in Massachusetts und lehrte nach seiner Emeritierung an der Universität
- von San Diego in Kalifornien. Er starb 1979 im Alter von 81 Jahren während einer
- Vortragsreise in Westdeutschland in der Nähe von München. Erich Fromm, der lange in
- Mexiko gelebt hatte, verbrachte seine letzten Lebensjahre in der Schweiz, im Tessin, wo
- er 1980 starb.
- Georg Lukács und Ernst Bloch hatten nie zur Frankfurter Schule gehört. Anders als
- Horkheimer und seine Freunde entschieden sie sich für den Beitritt zur kommunistischen
- Partei (Lukács) oder standen ihr nahe (Bloch). Aber Lukács und Bloch hatten mit den
- Soziologen der Frankfurter Schule etwas gemeinsam: Wie sie wollten sie die
- zeitgenössischen Sozialwissenschaften auf die Grundlage strenger materialistischer und
- dialektischer Methoden stellen.
- Zur Erinnerung: Lukács, in Budapest geboren, wurde 1919 Volkskommissar für Kultur
- und Bildung in der Räteregierung von Béla Kun.158 Er floh vor den Massakern während der
- Gegenrevolution und lebte erst in Deutschland, dann in Moskau. Nach dem Zweiten
- Weltkrieg kehrte er nach Budapest zurück. Der unbeugsame Ernst Bloch weigerte sich,
- die kaiserliche Uniform zu tragen, und emigrierte während des Ersten Weltkriegs in die
- Schweiz. In der Zeit des Nationalsozialismus lebte er im amerikanischen Exil in
- Philadelphia. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Leipzig zurück und wurde
- Professor an der dortigen Karl-Marx-Universität. Aber er geriet schon bald in Konflikt mit
- der Staatsführung der DDR. Er verließ Leipzig und zog nach Tübingen, wo er 1977 starb.
- Zur Bezeichnung dieser ersten Gruppe verwende ich den Begriff »deutsche
- Neomarxisten«. Der einzige Nicht-Deutsche der Gruppe, Lukács, sprach fließend Deutsch,
- war mit der deutschen Kultur aufgewachsen und schrieb die meisten seiner Bücher auf
- Deutsch.
- Die deutschen Neomarxisten stehen in der Nachfolge von Marx und Hegel und tragen
- das Erbe der revolutionären Bewegung weiter. Sie erforschen die
- Produktionsbedingungen in den Industriegesellschaften und die Wege, die zur
- Emanzipation der Arbeiter führen, und kombinieren dabei Instrumente der marxistischen
- Philosophie, der Soziologie und der Psychoanalyse. In Frankreich haben in der jüngeren
- Vergangenheit Soziologen wie Henri Lefebvre, Pierre Naville, Pierre Fougeyrollas und
- Alain Touraine ähnliches Terrain erkundet.
- Die zweite Gruppe der Soziologen und Anthropologen, die versuchten, umfassende
- Antworten auf einige der Fragen zu geben, die uns hier beschäftigen – vor allem auf die
- Frage nach dem historischen Ursprung der menschlichen Gesellschaft –, besteht aus
- Wissenschaftlern unterschiedlicher Herkunft. Ihnen verdanke ich persönlich entscheidende
- Antworten auf einige Fragen, die mich umtreiben, insbesondere die Frage nach der
- Aggressivität, nach der Gewalt, die jedem Menschen und jeder Gesellschaft innewohnt.
- Einige dieser Forscher stammen aus Deutschland, andere haben einen polnischen oder
- ungarischen Hintergrund, wieder andere einen englischen, australischen oder
- amerikanischen. Das verbindende Element ist, dass sie alle – manche nur kurz, andere
- über die ganze Zeit ihres aktiven Lebens – in England gelebt haben. Die wichtigsten
- Vertreter dieser Gruppe sind Bronislaw Malinowski, Melville Herskovits, Solly Zuckerman
- und Géza Róheim. Ich nenne sie die »angelsächsischen Kulturanthropologen«.
- Diese zweite Gruppe ist aus der Auseinandersetzung mit der positivistischen
- darwinistischen Evolutionstheorie heraus entstanden159 und hat sich über die empirischen
- Forschungen der ersten Prähistoriker zusammengefunden. In diesem Bereich haben
- mehrere französische und belgische Anthropologen und Prähistoriker wichtige Beiträge
- geleistet, insbesondere Claude Lévi-Strauss, Marcel Mauss, André Leroi-Gourhan, Luc de
- Heusch, Jean Clottes und Yves Coppens.
- In diesem Kapitel schauen wir uns zuerst an, was die deutschen Neomarxisten zur
- Entstehung der Gesellschaft zu sagen haben, und dann die Ausführungen der
- angelsächsischen Kulturanthropologen.
- In der Weltsicht der deutschen Neomarxisten gibt es keinen Platz für das Nichts, das
- absolut Unergründliche. Was der Mensch nicht kennt, nicht kontrolliert und beherrscht, ist
- einfach »noch nicht« bekannt oder »noch nicht« beherrscht. Es gibt keine endgültige
- »natürliche« Grenze für die menschliche Praxis, für die Arbeit des Menschen, für seine
- Fähigkeit, immer neue Gebiete der »noch nicht vermittelten« Natur, wie Bloch sagte, in
- gesellschaftliche Realität zu überführen. Bloch, Horkheimer und Lukács verfolgen in ihrer
- Soziologie das Ziel, einen möglichst großen Teil der Welt in »Bewusstsein« zu
- verwandeln. Die Praxis der Menschen – die immer klassengebunden ist – ist das einzige
- Thema der Geschichte. Die Menschen können buchstäblich alles. Bloch behauptet sogar,
- dass eines Tages auch der Tod besiegt werden könne, weil nichts uns beweise, dass es
- eine »natürliche« Grenze für den beständigen Fortschritt der naturwissenschaftlichen
- Erkenntnisse gebe. Im Fortschritt der kollektiven, klassengebundenen Praxis trete eine
- objektive Vernunft zutage. Wie lässt sie sich erfassen?
- Die deutschen Neomarxisten haben, ausgehend von ihrer Beschäftigung mit der
- Geschichte der gesellschaftlichen Revolutionen in Europa vom 16. bis zum 20.
- Jahrhundert, ihre Theorie über die objektive Vernunft, die das Schicksal der
- Gesellschaften bestimmt, konstruiert. Diese Theorie wirft eine Reihe von Problemen auf.
- Es gibt den – offensichtlichen, wenn auch seltenen – Fall, dass eine siegreiche
- Revolution schlagartig die analytische Vernunft bestätigt, die politische Theorie, die die
- Revolutionäre bewegt. Die subjektive Vernunft des Akteurs und die objektive Vernunft,
- der zu dienen sie behauptet, fallen zusammen, zeigen sich in der Synchronizität, im
- selben Augenblick, in einem einzigartigen Ereignis. So analysierte Lenin im Oktober 1917
- mit seinen Genossen die Widersprüche, von denen die russische Gesellschaft zerrissen
- und gelähmt wurde. Seine subjektive, analytische, antizipierende Vernunft postulierte,
- dass die Widersprüche zur Reife gelangt waren, dass die bestehende institutionelle Hülle,
- das heißt der neue bürgerliche, parlamentarische und halbdemokratische Staat, den
- Kerenski seit Februar führte, nicht in der Lage war, diese gesellschaftlichen Widersprüche
- zu bewältigen. Dass deshalb die Stunde gekommen war, wo ein revolutionärer Akt, ein
- Akt der kollektiven Gewalt das ganze alte Gesellschaftsgebäude zum Einsturz bringen und
- eine neue Gesellschaft entstehen lassen konnte, neue Produktionsverhältnisse und eine
- neue Weltsicht. Also gab Lenin das Signal für den Sturm auf den Winterpalast. Das
- zaristische Russland brach zusammen. Ein Gedicht von Nâzim Hikmet illustriert meine
- Worte:
- Im Winterpalast Kerenski,
- In Smolny die Sowjets und Lenin,
- Auf der Straße Dunkelheit,
- Schnee,
- Wind,
- und sie.
- Und sie wissen, dass er gesagt hat:
- »Gestern zu früh, morgen zu spät,
- der einzige Augenblick ist heute.«
- Und sie haben gesagt: »Verstanden, wir wissen es.«
- Und sie wussten nie
- etwas mit einem so schonungslosen und
- vollkommenen Wissen.160
- Aber meistens sind die Dinge unendlich viel komplexer: Dem Bewusstsein, der
- subjektiven Vernunft der Menschen, der analytischen Wahrnehmung des Menschen
- erscheint die objektive Vernunft die meiste Zeit wie eine »falsche Zwangsläufigkeit« (ein
- Begriff von Lukács161). Erst im Rückblick verleiht sie den Ereignissen ihren wahren Sinn,
- nach einer langen Reihe widersprüchlicher Vorkommnisse. Lukács nennt ein Beispiel für
- diese falsche Zwangsläufigkeit: den Konflikt, der innerhalb des revolutionären Prozesses
- in Frankreich zwischen Gracchus Babeuf und seinen Freunden und Maximilien Robespierre
- entstand.
- Mehrere Historiker sind der Ansicht, dass im revolutionären Prozess in Frankreich eine
- »Refeudalisierung« stattgefunden habe. Tatsächlich entschied Maximilien Robespierre aus
- Gründen der politischen Opportunität, weil er angesichts der ausländischen Bedrohung die
- nationale Einheit bewahren wollte, die Freiheit privaten Kapitals, unangetastet zu lassen.
- Im April 1793 erklärte er vor der Nationalversammlung: »Die Gleichheit der Vermögen ist
- eine Schimäre.« Die Spekulanten, die Neureichen, all jene, die von der Not des Volkes
- profitierten, all jene, die damit beschäftigt waren, aus den revolutionären Umbrüchen
- ansehnliche Gewinne zu ziehen, atmeten auf. Robespierre sagte zu ihnen: »Ich werde
- euch eure Schätze nicht wegnehmen.«162 Was immer seine insgeheimen Absichten waren,
- mit dieser Erklärung öffnete Robespierre dem privaten Kapital den Weg zur Herrschaft in
- der Ersten französischen Republik, während des Direktoriums, dann im Kaiserreich – und
- in allen Regimes, die folgten.
- Gracchus Babeuf, Jacques Roux und mit ihnen noch andere – aber nicht Saint-Just –
- verbündeten sich gegen Robespierre, prangerten die Privilegierten an, die Profit aus der
- Revolution zogen, und forderten die Abschaffung des Privateigentums, die
- Vergemeinschaftung des Bodens und der Produktionsmittel.
- Gracchus Babeuf schrieb: »Hinterlistige: Ihr schreit, dass der Bürgerkrieg vermieden
- werden müsse, dass man nicht die Fackel der Zwietracht ins Volk werfen dürfe, aber
- welcher Bürgerkrieg ist empörender als der Krieg, bei dem alle Mörder auf der einen Seite
- sind und alle Opfer schutzlos auf der anderen […] Möge der Kampf beginnen um das
- Kapitel der Gleichheit und des Eigentums! Möge das Volk alle alten barbarischen
- Institutionen stürzen! Möge der Krieg der Reichen gegen die Armen endlich diesen
- Anschein großer Kühnheit auf der einen Seite und großer Feigheit auf der anderen
- einbüßen! […] Ja, ich wiederhole es. Alle Missstände sind auf ihrem Gipfel, sie können
- nicht schlimmer werden. […] Fassen wir das Ziel der Gesellschaft ins Auge! Fassen wir
- das gemeinsame Glück ins Auge und ändern wir nach tausend Jahren diese groben
- Gesetze!«163
- Die Nationalversammlung stellte sich hinter Robespierre. Roux wurde zum Tode
- verurteilt und beging 1794 Selbstmord. Auch Babeuf wurde wenige Jahre später der
- Verschwörung angeklagt und am Morgen des 27. Mai 1797 blutüberströmt aufs Schafott
- getragen. (Er hatte in der Nacht zuvor einen Selbstmordversuch unternommen.)
- Maximilien Robespierre und Gracchus Babeuf erhoben praktisch identische Ansprüche.
- Sie behaupteten beide, die Gesetze der Geschichte verstanden, die objektive Vernunft
- des revolutionären Kampfs erkannt zu haben und zu beherrschen. Sie sagten zu ihren
- Mitbürgern: Wenn ihr mich an die Macht bringt und mir die Regierung anvertraut, bringt
- ihr die universelle Klasse an die Macht! Damit war gemeint: Die Interessen der Klasse,
- aus der ich stamme, sind so umfassend, dass sie universell sind und die speziellen
- Interessen aller anderen Klassen mit einschließen. Wenn diese universelle Klasse erst
- einmal die Macht hat, werden sich alle Klassen einträchtig um sie herum versammeln und
- den Frieden in Frankreich sicherstellen. Robespierre und Babeuf glaubten tatsächlich, ihre
- jeweilige Herkunftsklasse sei der Keim einer universellen Klasse: bei Robespierre das
- gebildete mittlere Bürgertum aus der Provinz, bei Babeuf das Pariser Proletariat. Der eine
- war Träger einer richtigen subjektiven Vernunft (er glaubte an seine Aussage) und einer
- falschen objektiven Vernunft (was er sagte, wurde von den Fakten widerlegt); der andere
- war Träger einer richtigen subjektiven und richtigen objektiven Vernunft.
- Aber erst auf lange Sicht, im Licht der Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts, wurde
- deutlich, dass die objektive Vernunft, wie sie Robespierre vertrat, falsch war und dass
- Babeuf objektiv recht hatte. Die Klasse, die Maximilien Robespierre repräsentierte, das
- kleine und mittlere gebildete, Handel treibende Bürgertum aus der Provinz, schrumpfte
- im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts kontinuierlich. Hatte es zu Beginn der Ersten
- Republik noch triumphiert, so verlor es danach schrittweise seine Macht zugunsten einer
- kapitalistischen und imperialistischen Oligarchie, die aus der Verwandlung des
- Industriekapitals und des Handelskapitals in Finanzkapital und weiter aus der
- Monopolisierung und der Globalisierung dieses Finanzkapitals hervorgegangen war.
- Eingeklemmt zwischen einer immer mächtigeren Arbeiterbewegung einerseits und
- andererseits einem kolonialen und dann imperialistischen Großbürgertum, das sich immer
- aggressiver und brutaler gebärdete, verlor die Klasse der kleinen und mittleren
- Unternehmer, der Immobilienbesitzer, der Anwälte und Notare, die das mittlere
- Bürgertum ausmachten, nach und nach ihre beherrschende Position im Staat. Bedrängt
- von allen Seiten, verfiel sie und spielt heute nicht mehr die entscheidende Rolle, weder in
- der materiellen Produktion noch in der symbolischen.164 Hingegen vergrößerte die Klasse,
- die Babeuf repräsentierte, die Arbeiterklasse, das ganze 19. und 20. Jahrhundert hindurch
- kontinuierlich ihren Einfluss und ihre politische, wirtschaftliche und ideologische Macht.
- Die industrielle Revolution und der Niedergang der ländlichen Welt zugunsten der Städte
- katapultierten sie ganz nach vorn auf die politische Bühne bis zu einem Punkt, den Babeuf
- selbst nicht hatte voraussehen können, und verlieh ihren Interessen eine universelle
- Dimension. Die Arbeiterklasse gab sich mächtige Organisationen – Gewerkschaften,
- Kooperativen, Versicherungsvereine, Parteien –, die bis heute zu den stärksten Gegnern
- der globalisierten kapitalistischen Ideologie gehören.
- Wie lässt sich die Interaktion zwischen der menschlichen Praxis und der nicht vollendeten
- Welt erfassen? Wie lässt sich die Bewegung ermessen, die das nicht vermittelte Handeln,
- die praktische, instrumentelle, subjektive Vernunft der Menschen in die Natur einbringt?
- Die deutschen Neomarxisten haben das zu einem ihrer bevorzugten Forschungsgebiete
- gemacht. Sie haben die Prinzipien, die Marx formuliert hat, feineren, um die Erfahrungen
- aus der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereicherten Analysen
- unterzogen, haben sie kritisiert, korrigiert und erweitert.
- Ein Beispiel soll das Zusammenwirken von praktischer und theoretischer Vernunft
- erhellen.
- In einem Dorf am Fuß eines bewaldeten Hügels beschließen arme, hungernde Bauern,
- die Fläche, die ihnen als Ackerland zur Verfügung steht, zu vergrößern. Das einzige
- Gebiet, das noch nicht bewirtschaftet wird, ist der bewaldete Hang hinter dem Dorf. Die
- Bauern kommen zusammen, beraten und entscheiden, den Hang zu roden. Sie verteilen
- die Arbeit, schleifen ihre Äxte und machen sich auf den Weg zu dem Hang. Bäume
- werden gefällt, die Wurzeln verbrannt. Das gerodete Land wird umgepflügt und eingesät.
- Der Frühling geht ins Land, der Sommer kommt und dann der Herbst. Im nächsten
- Frühjahr schmilzt der Schnee, es regnet, und das Wasser unterspült das neu erschlossene
- Land. Das Erdreich rutscht weg, es sind keine Wurzeln da, um es zu halten. Das Dorf wird
- von einer Schlammlawine begraben.165
- Die Dialektik, die die antinomischen Kräfte der menschlichen Praxis und der
- »natürlichen« Kausalität einander gegenüberstellt, verbindet und aufhebt, wirft zahlreiche
- Probleme auf.
- Für Marx müssen die Menschen die Natur beherrschen, denn nur so können sie sich von
- der Mühsal befreien, die die Natur ihnen aufzwingt, wenn sie sich ernähren und die
- ständige Gefahr der Not bannen wollen. Die Beherrschung geht folgendermaßen
- vonstatten: Es wird eine Theorie der Praxis formuliert, die Praxis bestätigt die Theorie
- oder widerlegt sie, eine neue Theorie wird aufgestellt, wieder folgt die Überprüfung durch
- die Praxis und so weiter. Marx zufolge rühren die Hindernisse für die Verwandlung der
- Natur und die Befreiung der gesellschaftlichen Kräfte einzig aus der Logik des
- Kapitalismus her. Übertragen auf das zitierte Beispiel heißt das: Die Menschen ziehen die
- Lehre aus der Katastrophe und erweitern dadurch ihr Wissen, sodass sie imstande sind,
- eine zutreffende Theorie über die Beziehung zwischen der Natur des Bodens, dem Fließen
- des Wassers, der Erosion und dem Ausbringen des Saatguts zu formulieren. Doch
- aufgrund der kapitalistischen Bedingungen verursacht die rücksichtslose Ausbeutung des
- Bodens weiterhin derartige Katastrophen und verhindert den richtigen Umgang des
- Menschen mit der Natur.
- Für die Soziologen der Frankfurter Schule können sich die Instrumente, die der Mensch
- einsetzt, um die Natur zu »beherrschen«, gegen ihn selbst wenden. Die Beziehung
- zwischen den Instrumenten und der Natur kann sich auch verselbstständigen und den
- Menschen vollkommen ausschließen, von den Instrumenten ebenso wie von der Natur
- und damit von der Geschichte. Die Theorie dieser neuen Beziehungen hat einer der Erben
- der deutschen Neomarxisten vorgelegt, Jürgen Habermas, in seiner Schrift Theorie und
- Praxis, die 1963 erstmals erschienen ist.166 In Frankreich führte André Gorz, der auch
- unter dem Pseudonym Michel Bosquet veröffentlicht hat, zu dieser Problematik ähnliche
- Untersuchungen durch wie Habermas mit seiner Gruppe in Starnberg in den Jahren nach
- 1971. Von Gorz/Bosquet sollte man Ökologie und Freiheit lesen, das erstmals 1977167
- erschienen ist, und in seinem 1959 veröffentlichten Vorgängerbuch Morale de l’histoire
- das Kapitel über »Die Entfremdung der Bedürfnisse«.168 Habermas zufolge ist die Technik
- heute zu einem wichtigen autonomen Subjekt geworden, das unabhängig von den
- Menschen seine eigene Geschichte erzeugt.
- Heute wird die Diskussion über eine mögliche Verselbstständigung des Verhältnisses von
- Werkzeug und Natur anhand von Beispielen aus den fortgeschrittensten Technologien wie
- der Atomtechnologie und der Gentechnik geführt.
- Eine weitere Schwierigkeit macht das Projekt der Verwandlung der noch nicht in
- gesellschaftliche Realität transformierten Natur noch einmal komplizierter: Die Techniken
- entwickeln sich viel rascher als die theoretische Vernunft, die ihre Anwendung leitet. Man
- weiß, dass die geistigen Strukturen der Menschen sich langsamer entwickeln als die
- materiellen Strukturen der Produktion. Die Menschen leben immerfort unter der
- Herrschaft überholter Bilder der Realität. Die deutschen Neomarxisten haben dieses
- Problem schon vor langer Zeit aufgegriffen. Ihr Fazit: Die Menschen sind nie das, was sie
- zu sein glauben.
- Vor allem Horkheimer und Adorno haben sich in mehreren grundlegenden Werken mit
- dieser Diskrepanz befasst.169 Die Menschen, so schreiben sie, bedienen sich zur
- Formulierung der Theorie ihrer Praxis, um sich ein Bild dessen zu machen, was sie leben,
- geistiger Instrumente, die aus Praktiken der Vergangenheit hervorgegangen sind. Dieser
- Widerspruch könnte leicht durch eine permanente Anpassung der theoretischen
- Instrumente überwunden werden, wenn die Produktion der Instrumente nicht von den
- verschiedenen Einrichtungen der herrschenden Klassen überwacht würde. Diese Klassen
- haben schon immer ein Interesse daran, die menschliche Praxis unter möglichst vielen
- Schleiern zu verbergen. Deshalb findet keine kontinuierliche Anpassung der Theorie an
- die Praxis statt, sondern Intransparenz und Ignoranz regieren. Die Praxis wird beständig
- durch falsche Theorien behindert, die von den Interessen der herrschenden Klassen
- diktiert sind. Hinzu kommt noch, dass die Arbeitsteilung die schrittweise
- Verselbstständigung der Felder begünstigt, auf denen die Theorien zur Erklärung der Welt
- entstehen, und so die objektiven Bedingungen verstärkt werden, die den Fortbestand
- überholter Theorien gewährleisten.
- Eine archaische Vorstellung der Realität kann jedoch unter bestimmten Umständen zur
- Avantgarde werden. Ich erinnere in dem Zusammenhang an einen Kampf, der 1972
- begann und an dem ich selbst teilgenommen habe: der Kampf gegen den Bau eines
- Atomkraftwerks an der Rhône, in Verbois, neben dem Dorf Russin bei Genf. Das Projekt,
- das eine multinationale Elektrizitätsgesellschaft (EOS Holding) auf den Weg gebracht
- hatte, wurde sowohl von der Bundesregierung in Bern als auch von der Regierung des
- Kantons Genf unterstützt. Die Bewegung, die gegen das Projekt kämpfte, bestand am
- Anfang hauptsächlich aus kommunistischen Aktivisten, Umweltschützern und Anarchisten.
- Ihr Widerstand speiste sich aus einer grundsätzlichen Ablehnung der Atomtechnologie:
- Gleichgültig, wie man die nuklearen Abfälle lagert, sie werden auf jeden Fall für
- Jahrtausende eine tödliche Bedrohung für die Menschen und die Umwelt darstellen –
- denn die Frage ihrer Behandlung und Zwischenlagerung ist ungelöst. Zudem stellte auch
- das Kernkraftwerk für sich eine Gefahr dar, eine höchst reale, da es in der Einflugschneise
- des Flughafens Genf-Cointrin liegen sollte, 14 Kilometer von der Stadt entfernt.
- Der Kampf war schwierig. Die Gegner waren eine Randgruppe, wurden von der Presse
- diffamiert, von den Behörden ignoriert und von den Wissenschaftlern als naiv bezeichnet.
- Physiker des benachbarten CERN (Centre européen de recherche nucléaire, Europäische
- Organisation für Kernforschung), darunter mehrere Nobelpreisträger, wollten sie beraten,
- hielten ihre Ängste aber für unbegründet. Die linken Parteien waren auf die Idee des
- »Fortschritts« fixiert und klammerten sich hartnäckig an das Projekt – zumindest bis zu
- dem Tag, an dem ein wissenschaftlicher Bericht ergab, dass sich das Wasser der Rhône,
- mit dem die Reaktoren gekühlt werden sollten, um vier Grad erwärmen würde. Verbois
- liegt im Herzen eines herrlichen Weinbaugebiets, am Fuß einer Moräne, wo alte
- Rebsorten wie Gamay und Chasselas gedeihen. Durch die Erwärmung des Flusses hätte
- sich permanenter Nebel gebildet, der die Sonneneinstrahlung behindert und Weinbau
- unmöglich gemacht hätte.
- Die Winzer in dieser Region sind überwiegend traditionelle Calvinisten, durch und durch
- konservativ, deren Weltsicht Lichtjahre von der kommunistischer Atomkraftgegner und
- Umweltschützer entfernt ist. Trotzdem schlossen sich etliche alarmierte Winzer den AKWGegnern
- an. Die Bewegung wuchs, weitere Gruppen entstanden, es gab Koordination auf
- kantonaler und Bundesebene, und schließlich bildete sich sogar eine ökologische Partei.
- Und endlich siegte die Bewegung. Sie brachte eine kantonale Volksinitiative ein unter
- dem Motto »L’énergie, notre affaire« (»Energie, unsere Sache«) mit dem Ziel, in die
- Genfer Verfassung einen Artikel aufzunehmen, dass auf dem Gebiet des Kantons kein
- Atomkraftwerk gebaut werden dürfe. Ein halbes Jahr nach der schrecklichen Katastrophe
- in Tschernobyl in der Ukraine (26. April 1986), am 7. Dezember 1986, stimmten 59,82
- Prozent der Bürger für die Initiative.
- II. Wann und wie ist die erste menschliche Gesellschaft entstanden?
- Die Alltagslogik darf sich nicht einschüchtern lassen, wenn sie sich in die Jahrhunderte begibt.
- Bertolt Brecht,
- Bemerkungen zu Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui170
- Nie werde ich jenen Julimorgen 2012 auf dem von Urwald bestandenen Abhang des
- Virunga-Massivs in Ruanda vergessen. Ein männlicher Gorilla, mächtig, mit schwarzem,
- von silbernen Streifen durchzogenem Fell, trat plötzlich aus einem nur wenige Meter
- entfernten Busch. Er stand vor mir und schaute mich lange und aufmerksam an … mit
- einem vollkommen menschlichen Blick. Dann drehte er sich um, ließ sich auf seine Hände
- fallen und entfernte sich langsam in Richtung des Vulkanrands. Äste knisterten. Aus dem
- Unterholz kamen drei Gorillaweibchen. Ihr schwarzes Fell glänzte in der Morgensonne.
- Zwei Gorillakinder tollten um sie herum. Der ganze Tross folgte seinem Anführer. Dass
- dieser ruandische Berggorilla und seine Familie zu meinen direkten Vorfahren gehörten,
- war für mich in diesem Moment eine intuitive Evidenz.
- Wie entstand die erste menschliche Gesellschaft? Welche Unterschiede gibt es zwischen
- menschlichen und tierischen Gemeinschaften? Welche gesellschaftlichen Institutionen
- sind als erste in der Geschichte aufgetaucht? Welchen materiellen Notwendigkeiten
- gehorchte die Etablierung der ersten gesellschaftlichen, nicht-biologischen Beziehungen?
- Seit der Entschlüsselung der DNA wissen wir, dass praktisch das gesamte menschliche
- Genom (99,9 Prozent) mit dem Genom des Schimpansen übereinstimmt. »Der Mensch
- stammt nicht vom Affen ab, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Er ist ein
- Affe«, sagt der Genetiker André Langaney.171 Tatsächlich stammen der Mensch, der
- Schimpanse und der Gorilla von einem gemeinsamen Vorfahren ab, und die drei Linien
- haben noch eine Zeitlang miteinander Nachkommen gezeugt, bis schließlich drei
- unterschiedliche Arten daraus wurden.172 Der Mensch unterscheidet sich vom Affen seither
- zum einen durch die Sprache, die Kombination von Wörtern nach einer bestimmten
- Grammatik, sodass sie Sätze ergeben, und zum anderen durch seine Fähigkeit, sich
- unterschiedlichen Umwelten anzupassen – anders als die Tierarten, die in der Natur
- jeweils eine bestimmte Umweltnische besetzen und gleichbleibende Verhaltensweisen an
- den Tag legen. 173 Es gibt nur eine menschliche Spezies, die auf den gemeinsamen Ahnen
- zurückgeht, und trotz ihrer vielfältigen Unterschiede können sich alle Menschen
- miteinander fortpflanzen.
- Die erste menschliche Gesellschaft entstand mit der neolithischen Revolution (die an
- verschiedenen Orten auf dem Planeten zwischen 12500 und 7500 vor unserer
- Zeitrechnung begann174). Der australische Archäologe V. Gordon Childe hat diesen Begriff
- in den 1930er-Jahren geprägt als Bezeichnung für den großen Schritt in der Geschichte
- der Menschheit.175 In Frankreich hat Claude Lévi-Strauss den Begriff populär gemacht.
- Nach seiner Auffassung hat es nur zwei große historische Brüche in der Entwicklung der
- Menschheit gegeben: die neolithische Revolution und die industrielle Revolution.
- Es ist charakteristisch für die neolithische Revolution, die sich über mehrere
- Jahrtausende hinzog, dass es den Menschen gelang, die Natur ihren Bedürfnissen zu
- unterwerfen: durch die Produktion von Nahrungsmitteln mit Ackerbau und die
- Domestizierung von Tieren und Viehzucht; durch die Entdeckung des Metalls, was die
- Herstellung von Werkzeugen zur Bearbeitung der Erde (die Hacke) möglich machte, und
- von Töpfen zur Aufbewahrung der Erzeugnisse; durch feste Siedlungen in Dörfern,
- entweder im Zuge der Sesshaftigkeit oder zur Stabilisierung einer insgesamt nomadischen
- Lebensweise; durch die Bildung von Reserven, also Reichtum, woraus erbliche Macht und
- die ersten Kriege entstanden; und schließlich durch eine demografische Explosion
- aufgrund einer reichhaltigeren, ausgewogeneren und vielfältigeren Ernährung.
- Bis zur neolithischen Revolution war die Weltbevölkerung der Jäger und Sammler nicht
- sehr zahlreich (ungefähr 30000 Individuen) und sehr verwundbar gewesen, bedroht durch
- häufige Hungersnöte und den Härten der Umwelt ausgeliefert. Dank einer
- Klimaerwärmung, Landwirtschaft und Viehzucht wuchs die Zahl der Menschen um das
- Zehn- bis Dreißigfache.
- Was war die Vorgeschichte der neolithischen Revolution? Wie sind die grundlegenden
- gesellschaftlichen Institutionen der ersten sozialen Gruppe entstanden?
- Die angelsächsischen Kulturanthropologen haben diese Fragen als Erste beantwortet.
- Sie haben zunächst die Gemeinschaftsbildung bei Menschenaffen untersucht. Dann
- haben sie die Entwicklung dieser Gruppen zu den ersten Erfahrungen mit menschlicher
- Gemeinschaftsbildung im Lauf des langen, komplexen Prozesses nachgezeichnet, in dem
- aus einigen Primatengruppen Menschen wurden.
- Die Geschichte der Menschheit beginnt vor rund 4 Millionen Jahren,
- höchstwahrscheinlich in Ostafrika. Dort hat sich ein gemeinsamer Vorfahr der Gattung
- Homo, der Australopithecus, von der Gattung der Affen gelöst. Schon in den 1930er-
- Jahren hat Solly Zuckerman176 dem Menschen ein Alter von mindestens 2 Millionen Jahren
- zugesprochen. Hier stellt sich die Frage: Wie lange schon existiert Leben auf unserem
- Planeten überhaupt? Und wie alt ist – im Vergleich zu den ersten Anzeichen von Leben –
- der Mensch? Die Biologen sind im Allgemeinen der Auffassung, dass das Leben auf der
- Erde vor 3,8 Milliarden Jahren begann; in diesem Zeitraum lassen sich zumindest die
- ältesten Hinweise auf Photosynthese (der Prozess, bei dem Wasser und Kohlenstoffdioxid
- in Sauerstoff und Kohlenhydrate umgewandelt werden) finden. Von da an hat sich
- Sauerstoff in der Atmosphäre angesammelt, und dadurch sind die Bedingungen für Leben
- auf der Erde immer besser geworden. Das Leben hat wohl mit einem einfachen Molekül
- begonnen, das in der Lage war, sich zu reproduzieren. Vor dem Hintergrund, wie lange es
- Leben auf der Erde gibt, entspricht die Zeit seit der Entstehung des Menschen nur einer
- Sekunde. Bronislaw Malinowski und Yves Coppens datieren das Auftauchen der ersten Art
- der Gattung Homo (homo habilis) ungefähr 3 Millionen Jahre und unsere direkten
- Vorfahren (homo sapiens) ungefähr 150000 Jahre zurück.177 Der »Naturmensch« lebte in
- kleinen Gruppen von Blutsverwandten, die durch biologische Bindungen strukturiert
- waren. Über mindestens 1900 Jahrtausende haben der Mensch aus der Olduvai-
- Schlucht178 und seine Nachfahren in Schutzräumen gelebt, die die Natur ihnen bot, die
- meiste Zeit in Felshöhlen oder Höhlen, die sie selbst in den Boden gruben. Außerdem hat
- der Mensch des Paläolithikums Hütten gebaut.
- Über den »Naturmenschen«, den Jäger, Sammler und Fischer, wissen wir nicht genug,
- um beschreiben zu können, welche sozialen Strukturen sein Leben bestimmten. Die
- ersten Vertreter beherrschten um 400000 vor unserer Zeitrechnung das Feuer und
- konnten ihre Lebensmittel kochen. Sie hatten ein Bewusstsein für das Mysterium des
- Lebens und des Todes, den sie durch Begräbnisrituale, durch die Anlage von Gräbern und
- durch Vorstellungen von einem anderen Leben, in dem die Verstorbenen ihre Identität
- behielten, zu bannen und zu überwinden trachteten. Damit brach die Fantasie in die
- Wahrnehmung der Realität ein. Die Archäologen haben Beweise dafür gesammelt, dass
- bereits der Neandertaler (ein Verwandter des homo sapiens, der zwischen 100000 und
- 28000 vor unserer Zeitrechnung lebte und dessen Linie erloschen ist) seine Toten in
- Embryonalhaltung mit zusammengebundenen Hand- und Kniegelenken auf einem Bett
- aus Blütenpollen bestattete, sie mit Ocker bestäubte und ihnen Muschelschmuck oder
- Tierzähne mitgab. Die faszinierenden Wandmalereien und Felszeichnungen aus der
- Jungsteinzeit wie die in der Höhle von Altamira, die 1879 in Kantabrien (Spanien)
- entdeckt wurde, in Lascaux in der Dordogne (entdeckt 1940), in der Chauvet-Grotte in
- der Ardèche (entdeckt 1994) – diese Grotte ist über 30000 Jahre alt – sind ein
- universelles Faktum, das man in der Vorzeit in allen bewohnten Gebieten der Welt findet.
- Sie zeugen von verblüffenden Fertigkeiten bei der Darstellung von Tieren und
- höchstwahrscheinlich von magisch-religiösen Riten, bei denen diese Bilder als »Schrift«
- dienten, um Dingen eine über ihre konkrete Präsenz hinausweisende Dimension zu
- verleihen, sie in gewisser Weise als symbolische Instrumente zu begreifen. Die Bilder, die
- Phallusstatuetten und die Frauenstatuetten, die die Archäologen als »Venus« oder
- »Muttergottheit« bezeichnen – Darstellungen der Fruchtbarkeit, die den Bauch, die
- Brüste, das Geschlecht und das Hinterteil betonen –, künden von denselben Fähigkeiten,
- was das Wissen, die Vorstellung und den geistigen Entwurf des Geheimnisses von Leben
- und Begehren angeht.
- Über mehr als 2,8 Millionen Jahre hinweg haben Hominini (habilis, erectus und dann
- sapiens) Beziehungsnetze geknüpft, Hierarchien ersonnen und Konflikte erlebt, über die
- wir noch nicht viel wissen.179
- Der erste Mensch in seiner Hütte lebte noch hauptsächlich von dem, was er sammelte.
- Bis heute gibt es Zivilisationen von Sammlern. Um das Paläolithikum besser zu verstehen,
- hat Zuckerman die Zivilisationen der Buschmänner und der Damara untersucht, die auf
- dem Gebiet der heutigen Republik Südafrika, von Botswana und Namibia leben. Über
- diese Völker wissen wir relativ viel, vor allem aus den Arbeiten von Isaac Schapera.180
- Das Volk der Buschmänner, deren Werkzeuge auffällig den kulturellen Artefakten ähneln,
- die auch an Fundstellen aus dem Paläolithikum vorkommen, umfasst gegenwärtig nur
- wenige tausend Menschen. Sie leben vom Sammeln und von der Fallenstellerei. In ihrem
- Verhalten und durch gewisse äußere Merkmale erinnern sie an die Pygmäen aus dem
- Ituri-Regenwald, die Colin M. Turnbull untersucht hat.181 Wie die Pygmäen im Ituri-
- Regenwald in der Demokratischen Republik Kongo besitzen die Buschmänner bis auf
- einige Hunde keine Haustiere. Sie treiben keinen Ackerbau und bewegen sich in kleinen
- Gruppen von fünfzig bis hundert Personen auf einem eng begrenzten Territorium.
- Zwischen den Gruppen gibt es keine erkennbare hierarchische Ordnung. Die Damara
- ähneln in mancher Hinsicht den Buschmännern. Sie leben in der Savanne und den Wüsten
- von Namibia, ebenfalls hauptsächlich als Sammler und von der Fallenstellerei. Aber sie
- bauen manchmal Tabak an und halten ein paar Ziegen. Ihre Gruppen sind noch kleiner
- als die der Buschmänner (und der Pygmäen aus dem Ituri-Regenwald) und zählen
- höchstens zehn bis dreißig Personen.
- Ein Faktum muss in diesem Zusammenhang ganz besonders betont werden: die soziale
- Funktion des Territoriums im Leben der betreffenden Völker. Jede Gruppe wandert in
- einem bestimmten Gebiet. Ihr Weg wird in erster Linie durch die ökonomischen
- Erfordernisse des Sammelns und die Zufälle der Jagd diktiert, in zweiter Linie durch die
- Lage der Wasserstellen. Wenn in der Trockenzeit das Wasser knapp wird, teilen sich die
- Gruppen auf. Untergruppen von Blutsverwandten ziehen allein, jede für sich, weiter durch
- das Gebiet. Die Grenzen des Gebiets einer Gruppe werden strikt beachtet. Wenn sie
- zufällig oder absichtlich von einer anderen Gruppe verletzt werden, verteidigt die
- zugehörige Gruppe die Grenzen erbittert. Selbst wenn sich die Gruppe in der Trockenzeit
- in Untergruppen aufteilt, wird das Territorium nicht aufgeteilt. Der Boden mit allem, was
- darauf wächst, gehört allen gemeinsam. Die Menschen kooperieren nach strengen Regeln
- bei der Jagd und teilen das erlegte Wild miteinander. Es gibt keine Reichen und keine
- Armen. Zwischen den Untergruppen eines Volkes ist Austausch an der Tagesordnung.
- Über die Grenzen des Territoriums hinweg kommt es zu freundschaftlichen Besuchen,
- werden Geschäfte abgewickelt und Ehen geschlossen. Zwischen den Mitgliedern der
- verschiedenen Gruppen ist sogar Exogamie die Regel. Sie findet auf ungewöhnliche Weise
- statt: Der Mann schließt sich der Gruppe der Frau an und wechselt damit auf ihr
- Territorium. Bald nach der Geburt des ersten Kindes kehrt er im Allgemeinen wieder
- zurück (meist allein, ab und zu begleitet von seiner neuen Familie). Normalerweise
- schließt er sich wieder seiner eigenen Gruppe an.
- Der Mensch im Paläolithikum lebte wie die Buschmänner vom Sammeln und vielleicht
- von der Fallenstellerei. Fossilienfunde lassen überdies vermuten, dass er sich auf einem
- genau definierten, relativ begrenzten Territorium bewegte. Die Menschengruppen waren
- sehr klein. Wahrscheinlich praktizierten sie wie die Buschmänner noch in der jüngsten
- Vergangenheit Kindstötung.
- Es war wichtig, dafür zu sorgen, dass die Menge der verfügbaren Nahrung und die Zahl
- der zu ernährenden Menschen sich im Gleichgewicht befanden. Und da die Menschen im
- Paläolithikum über keine landwirtschaftlichen Techniken verfügten, um die Menge der
- Nahrungsmittel zu vergrößern, blieb nur der Weg, die Zahl der Menschen zu verringern.
- Darauf geht die mörderische Selektion zurück, zu der sich die Menschen seit ihren
- Anfängen gezwungen sahen. Eine der ersten regelmäßig wiederholten und darum
- institutionalisierten gesellschaftlichen Handlungen war vermutlich ein Akt der Zerstörung
- – mehr noch, ein Akt der Selbstzerstörung.
- Wir haben es hier mit prospektiver Kindstötung zu tun. Die erwachsenen männlichen
- Angehörigen der Buschmänner ermittelten regelmäßig, wie viel Nahrung zur Verfügung
- stand. Dann schätzten sie die Bedürfnisse der Gruppe ab. Schließlich verglichen sie die
- beiden Ergebnisse und brachten so viele Kinder um, wie nötig war, um das Gleichgewicht
- zwischen verfügbaren Nahrungsmitteln und den zu ernährenden Lebewesen wieder
- herzustellen.
- Was ist der Unterschied zwischen der Gemeinschaftsbildung bei Tieren und bei
- Menschen?
- Raymond Dart182 hat Gesellschaften von Menschenaffen und menschliche Gesellschaften
- des Paläolithikums miteinander verglichen. Er sagt, das soziale Handeln der Menschen sei
- eine Funktion des biologischen Erbes. Aber dieses Erbe teilt der Mensch mit einer großen
- Zahl anderer Primaten. Als erstes Problem hat Dart das Territorium untersucht: Dabei hat
- er neue Erkenntnisse über die Bindungen des Menschen an sein Territorium zutage
- gefördert. Die territorialen Bindungen dominieren eindeutig gegenüber den Bindungen,
- die er mit seinesgleichen, seinen Eltern und Geschwistern, seinen Kindern unterhält.
- Bevor der Mensch die Menschen liebt, liebt er das Land, auf dem er lebt. Der Mensch im
- Paläolithikum definierte – wie wir gesehen haben – höchstwahrscheinlich ein bestimmtes
- Territorium als sein eigenes, stellte sich die Welt als Funktion des Territoriums vor,
- sprach ihm feste Grenzen zu, verteidigte sie mit seinem Leben, verließ seine Frau und
- sein Kind und kehrte auf sein Territorium zurück, sobald er auf dem Nachbarterritorium
- den Zeugungsakt vollzogen und sich von seiner Wirksamkeit (der Geburt eines Kindes)
- überzeugt hatte. Dart hat dazu interessantes Material gesammelt: Er hat nicht nur
- bewiesen, dass die Bindung an das Territorium eine (oder die) grundlegende Struktur der
- tierischen Gemeinschaftsbildung ist, vor allem bei den höheren Primaten, sondern auch,
- dass die Ausdehnung des Territoriums und seine Nutzung sich regelmäßig mit den
- Führungsqualitäten des Anführers der Gruppe ändern.
- Um das näher zu erläutern, beziehe ich mich auf Arbeiten des Primatenforschers
- Clarence R. Carpenter. 183 Carpenter hat Experimente mit über vierhundert Rhesusaffen
- durchgeführt. Eine Gruppe von Affen brachte er auf die Insel Santiago, eine Nachbarinsel
- von Puerto Rico in der Karibik, wo sie in Freiheit lebten. Diese Gruppe bestand aus etwa
- vierzig erwachsenen männlichen und hundertfünfzig erwachsenen weiblichen Tieren. Das
- Verhältnis von männlichen zu weiblichen Tieren betrug also ungefähr 1 zu 4. Carpenter
- teilte die Affengruppe auf: Die einzelnen Untergruppen oder Gesellschaften bestanden
- aus unterschiedlich vielen Tieren. Die Affengesellschaft, die uns in unserem
- Zusammenhang besonders interessiert, umfasste fünfundzwanzig Tiere, darunter sieben
- erwachsene Männchen mit unterschiedlichem Verhalten und Aussehen. Ihr Anführer war
- ein eindrucksvoller dominierender, aggressiver Affe, das mächtigste und dominanteste
- Tier auf der ganzen Insel. Die Affengesellschaften grenzten von Anfang an (seit ihrer
- Entstehung durch Aufteilung der ursprünglichen Gruppe) und sofort nach ihrer Entlassung
- in die Freiheit Territorien ab. Die Abgrenzung war das Ergebnis einer effektiven
- Besitzergreifung, das heißt einer organisierten, zielgerichteten Wanderung. Ihr jeweiliges
- Territorium verteidigten sie gegen Einfälle anderer Horden. Sie kannten auf Anhieb die
- Grenzen. Aber eine Horde respektierte weder die Grenzen ihres eigenen Territoriums
- noch die anderer Horden auf der Insel: die Horde des beschriebenen dominanten,
- aggressiven Anführers. Sie drang regelmäßig und im Allgemeinen mit Erfolg auf
- angrenzende Territorien vor, lieferte sich Kämpfe mit den anderen Affen und gewann sie
- meistens. Eines Tages fingen die Forscher den Anführer und sperrten ihn in einen Käfig.
- Die Horde zerfiel keineswegs oder zeigte Zeichen der Ratlosigkeit, sondern akzeptierte
- auf der Stelle einen neuen Anführer: das nach physischer Stärke und Dominanz zweite
- männliche Tier in der Hierarchie der Gruppe. Unter seiner Führung ging der Krieg weiter:
- Die Horde griff weiterhin die Territorien anderer Horden an, schaffte Eroberungen und
- gliederte die eroberten Gebiete in ihr ursprüngliches eigenes Territorium ein. Doch unter
- der Herrschaft des neuen Anführers passierten zwei Dinge: Die eroberten und in das
- Ursprungsterritorium eingegliederten Gebiete wurden kleiner; innerhalb der Gesellschaft
- nahmen die Streitigkeiten und Rangeleien zwischen Gruppenmitgliedern zu. Als Nächstes
- sperrten die Forscher auch den zweiten Anführer in einen Käfig. Der nach Dominanz und
- physischer Kraft Dritte in der Hierarchie übernahm sofort die Macht. Jedes Mal, wenn ein
- Anführer eingesperrt wurde, rückte sofort ein neues männliches Tier nach. Der Übergang
- der Macht erfolgte im Allgemeinen kampflos, als wäre die Nachfolge durch das Schweigen
- der Horde abgesegnet und legitimiert. Mit einer einzigen Ausnahme: Das in der
- Hierarchie fünfte männliche Tier setzte sich gegenüber dem vierten durch und nahm ihm
- die Macht ab, die ihm nach den Regeln der Gesellschaft nach dem Verschwinden des
- dritten zugefallen war. Mit jedem Wechsel des Anführers wurden die Eroberungen kleiner,
- die Wanderungen ungeordneter, die Grenzen fließender, und innerhalb der Gesellschaft
- entstand ein endemischer Krieg. Unter der Herrschaft des vierten Anführers, dessen
- Position anscheinend beschädigt war, bevor er überhaupt die Macht übernommen hatte
- (weil der fünfte ihm eine Niederlage bereitete), begann die Gesellschaft sich aufzulösen.
- Kleinere Gruppen spalteten sich ab, und die gesellschaftliche Organisation drohte
- vollkommen zu zerfallen. Die Forscher ließen daraufhin die ersten drei Anführer wieder
- frei, auch den dominierenden ersten. Als er auf sein Territorium zurückkehrte, liefen
- sofort ein Dutzend weibliche Tiere auf ihn zu. Er übernahm unverzüglich wieder die
- Macht, schlichtete allein durch seine Anwesenheit oder mit seiner Körperkraft die internen
- Konflikte der Affengruppe und vergrößerte durch Eroberungen das gemeinsame
- Territorium.
- Aus diesem Experiment lassen sich drei Schlüsse ziehen.
- Offenbar hing die gesellschaftliche Organisation der Affengruppe von ihrem Territorium
- ab. Wenn ein Gebiet erobert und verteidigt wird und durch regelmäßige Wanderungen
- vertraut ist, bekommt die Horde einen festen geistigen Referenzrahmen, und es bildet
- sich eine relativ stabile Gesellschaft. In einer sich wandelnden, feindseligen Welt, die fast
- vollkommen unverständlich bleibt, ist das Territorium für die Primaten die unverzichtbare
- Voraussetzung für jede zielgerichtete gesellschaftliche Konstruktion.
- Die Macht ist im Übrigen keine Funktion der blutsmäßigen Zugehörigkeit, sondern des
- Territoriums. Das Individuum, dem es gelingt, die Stabilität der Grenzen zu garantieren,
- sie kontinuierlich auszudehnen und dementsprechend die ständige Bedrohung durch
- Hunger zu bannen, herrscht über die Gruppe.
- Und eine dritte Schlussfolgerung ergibt sich aus den beiden erstgenannten: Die Konflikte
- innerhalb der Horde hängen von der Stabilität der territorialen Grenzen ab. Wenn das
- Territorium infrage gestellt wird, wenden sich die Individuen von der kollektiven Aufgabe
- ab, die Gruppe zu strukturieren (vermutlich weil ihnen das gesellschaftliche Bemühen
- sinnlos erscheint), und verteidigen aggressiv ihre unmittelbaren eigenen und
- ausschließlich individuellen Interessen. Die geordneten Wanderungen hören auf.
- Dart hat daraus gefolgert, dass die Bindung des steinzeitlichen Menschen an sein
- Territorium sich kaum von dem Verhalten unterschied, das bestimmte Menschenaffen
- gegenüber dem Territorium der Gruppe an den Tag legen.
- Unter den Nachfahren des Australopithecus gab es allerdings einige, die
- unternehmenslustiger und neugieriger waren oder vielleicht auch durch die
- Klimaentwicklung gezwungen wurden, ihr ursprüngliches Territorium zu verlassen und die
- sich dann aufgemacht haben, die Erde zu erobern. Die ersten transkontinentalen
- Eroberungen fanden zwischen 1,5 Millionen und 500000 Jahren vor unserer Zeitrechnung
- statt.
- Und noch in einem weiteren Bereich hat Dart Beobachtungen angestellt, die Analogien
- zwischen Menschenaffen und Menschen nahelegen – manche erkennen sie an, andere
- bestreiten sie: im Bereich des sexuellen Verhaltens. Es ist ein wichtiges Thema: Es geht
- dabei um die Frage, ob das sexuelle Verhalten der Menschenaffen bestimmten festen
- Schemata folgt oder ob es vollkommen chaotisch ist.
- Die Gegner der These, dass man aus der Beobachtung von Affen wichtige Erkenntnisse
- über das Sexualleben der Menschen gewinnen kann, bringen folgende Einwände vor:
- Affen einer bestimmten Spezies können scheinbar monogam sein. Aber wenn viele
- zusammenkommen, können sie sich trotzdem promiskuös verhalten. Dieselben Affen ein
- und derselben Spezies sind manchmal polygam und manchmal polyandrisch. Mit anderen
- Worten: Sie leben in totaler sexueller Anarchie. Bei den Menschenaffen wird das sexuelle
- Verhalten immer und überall von den Umständen und zufälligen Begegnungen bestimmt.
- Es wirkt nie so, als regierten feste Regeln. Die Befürworter der Analogie zwischen
- Menschenaffen und Menschen verweisen jedoch darauf, dass es bei beiden dauerhaft
- heterosexuelle Beziehungen gibt. Außerdem glauben sie nicht, dass die sexuelle Anarchie
- der Menschenaffen von fundamentaler Bedeutung ist, weil auch bei den Menschen des
- Paläolithikums ab der Pubertät höchstwahrscheinlich eine entsprechende Anarchie
- herrschte.
- Der erste Punkt erscheint mir wichtig: Im Allgemeinen leben männliche und weibliche
- Affen zusammen. Bei den Menschenaffen hängt das damit zusammen, dass die
- reproduktiven Organe der erwachsenen Tiere immer aktiv sind und deshalb die dauernde
- Anwesenheit von erwachsenen Individuen des anderen Geschlechts erforderlich ist.
- (Potenziell entsteht so die Keimzelle zu einer Familie von Blutsverwandten, die
- möglicherweise schon durch eine gewisse affektive Zuneigung der Partner geprägt ist.)
- Bei den heutigen Menschen ist das offensichtlich nicht mehr der Fall. Wir wissen nicht, ob
- diese physiologische Gegebenheit das Sexualleben der Menschen im Paläolithikum
- bestimmt hat. Aber selbst wenn es nicht so gewesen sein sollte oder wenn die Intensität
- im Lauf des langen Prozesses der Entwicklung zum Menschen abgenommen haben sollte,
- hat sich auf jeden Fall die Gewohnheit herausgebildet, dass die beiden Geschlechter
- zusammenleben. Diese Gewohnheit ist der Ursprung der Ehe und der Kleinfamilie, die
- heute in den europäischen Gesellschaften dominieren. A contrario argumentierend,
- könnte man sich sehr gut vorstellen, dass es bei Menschenaffen und den Menschen auch
- andere als heterosexuelle Gesellschaften geben könnte. Es gibt a priori keinen Grund,
- warum männliche und weibliche Individuen nicht radikal getrennte Gesellschaften bilden,
- deren Isolation nur gelegentlich durch kurze Begegnungen von Individuen unterbrochen
- werden würde. Weder die Geburt noch die Erziehung der Kinder erfordern die dauernde
- Anwesenheit von zwei Individuen unterschiedlichen Geschlechts und dementsprechend
- die Existenz einer heterosexuellen Gesellschaft. Empirische Belege zeigen jedoch, dass es
- bei den Affen ohne nennenswerte Ausnahme nur permanent heterosexuelle
- Gesellschaften gibt oder solche, in denen sich Getrennt- und Zusammenleben regelmäßig
- abwechseln.
- Bei den Menschen sind heterosexuelle Gesellschaften bereits vor der Steinzeit belegt,
- als Männer und Frauen aus unterschiedlichen Verwandtengruppen begannen, in den
- Dörfern zusammenzuleben. In den steinzeitlichen Höhlen wurden oft an ein und
- denselben Stellen Schädel- und Skelettknochen von Männern und Frauen gefunden.
- Deshalb erscheint es uns möglich oder sogar wahrscheinlich, dass sich die
- heterosexuellen Gesellschaften der Menschen aus den entsprechenden Gesellschaften der
- Menschenaffen heraus entwickelt haben.
- Bei dem Zweig der Familie der Menschenaffen, der die geheimnisvolle Veränderung
- durchlief, die allmählich zum Menschen führte, verlor sich im Lauf von einigen
- hunderttausend Jahren die permanente Bereitschaft der Fortpflanzungsorgane der
- erwachsenen Individuen. Aber das Zusammenleben der Geschlechter war zu einer festen
- Gewohnheit geworden: Es hatte sich so im Bewusstsein der Gruppe verankert, dass es
- nicht mehr infrage gestellt wurde, obwohl künftig der physiologische Zwang zum
- Zusammenleben fehlte, den es bei den Menschenaffen gegeben hatte. Dart behauptet
- außerdem, dass eine direkte Linie von den sexuellen Verhaltensweisen der
- Menschenaffen zu denen der Menschen des Paläolithikums führt. Die Menschenaffen
- wählen ihre Sexualpartner nicht gezielt aus (genauer gesagt, sie wählen nicht gezielt
- bestimmte Individuen) und folgen bei ihren Fortpflanzungsaktivitäten chaotischen
- zufälligen Impulsen. Das hypothetische Band, das den Mann mit der Frau verbindet, mit
- der er den Sexualakt vollzieht, ist sehr schwach. Erinnern wir uns nur daran, dass bei den
- afrikanischen Buschmännern und bestimmten australischen Eingeborenen bis heute der
- Mann häufig nach der Geburt des ersten Kindes zu seiner Gruppe zurückkehrt.
- Wann und aus welchen Gründen erfolgte der Übergang von der Natur zur Kultur? Welches
- waren die ersten Institutionen dieser für den Menschen typischen Kultur, die es bei den
- Gesellschaften der Menschenaffen nicht gibt?
- Der Ursprung der ersten kulturellen Institutionen ist die erweiterte Gruppe. Keine
- Affengesellschaft hat jemals die Dimension menschlicher Zusammenschlüsse erreicht:
- Nationen, Kirche, Staaten und so weiter. Als erste kulturelle Institutionen lassen sich die
- Arbeitsteilung (zuerst nach Geschlecht, später nach anderen Kriterien), das Inzesttabu,
- die gemeinschaftliche Nahrungssuche und schließlich die immer weiter entwickelte
- Produktion von Nahrung identifizieren. Angesichts der engen Verflechtung (oder aber: der
- oft gleichzeitigen oder zumindest zeitlich nicht sehr weit getrennten Entstehung) der
- genannten ersten Kulturinstitutionen ist es nicht möglich, hier die Entwicklung jeder
- einzelnen nachzuzeichnen.
- Der Mensch ist der einzige Allesfresser unter den höheren Primaten. Darum muss es an
- einem bestimmten Punkt in seiner Geschichte eine Ernährungsrevolution gegeben haben.
- Die Prähistoriker machen eine Klimaveränderung im Pliozän (zwischen 5,33 und 2,58
- Millionen Jahren) dafür verantwortlich. Durch diese Klimaveränderung, die vor allem in
- Afrika spürbar war, gingen die Wälder zurück, und die Böden wurden trockener. Eine
- Gruppe oder mehrere Gruppen von Primaten, die flexiblere Ernährungsgewohnheiten
- hatten als die anderen, schafften es, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen und
- pflanzliche Nahrung (die zunehmend knapper wurde) durch Wild zu ersetzen – und
- vielleicht auch durch das Fleisch ihrer Artgenossen. Kurzum: Sie wurden Fleischfresser.
- Diese Veränderung der Ernährung hatte Auswirkungen auf die Jagdstrategien der
- betreffenden Individuen, und sie veränderte nach und nach ihr wirtschaftliches und
- soziales Leben.
- Eine Wirtschaftsweise, die auf der Jagd basierte, verlangte immer raffiniertere
- Werkzeuge. Die neuen Herausforderungen, vor denen die Gruppe stand, übten auf ihre
- Mitglieder enormen Druck aus. Der Druck führte zur Intensivierung der geistigen Aktivität.
- Die so entfachte geistige Aktivität brachte neue Konzepte hervor, die wiederum die
- Koordination verbesserten, sodass neue Bewegungsabläufe gelernt wurden. Die Hominini
- ersannen immer bessere Werkzeuge und konnten immer geschickter damit umgehen.184
- Die Jagd ist, verglichen mit dem Sammeln von Nahrung, eine sehr viel stärker
- spezialisierte Tätigkeit. Sie verlangt Training, Schnelligkeit und erhebliche Körperkraft.
- Dadurch kommt es zu einer natürlichen Selektion: Schwangere Frauen, Kinder und Alte
- können sich nur unter Schwierigkeiten an der Jagd beteiligen. Eine erste Form der
- Arbeitsteilung entsteht: Die erwachsenen männlichen Individuen gehen auf die Jagd, die
- Frauen widmen sich weniger gefährlichen Tätigkeiten in der unmittelbaren Umgebung
- ihrer Behausung. Eine erste Differenzierung der Gesellschaft zeichnet sich ab.
- Rudimentäre soziale Klassen bilden sich heraus in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen
- Tätigkeit. Ein wichtiger Schritt in der Kulturentwicklung ist getan.
- Durch die Arbeitsteilung ändert sich das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Beide –
- die Frau für den Mann und der Mann für die Frau – sind nicht mehr nur Objekte einer rein
- physiologischen sexuellen Aktivität. Das Individuum wird als Person wahrgenommen, die
- sich in einer bestimmten persönlichen Aktivität entfaltet – die sich von den Aktivitäten
- und Funktionen der anderen Mitglieder der Gruppe unterscheidet. Ein Gesicht taucht auf,
- ein Charakter tritt zutage. Dank der durch die zunehmende Arbeitsteilung
- individualisierten Aufgaben werden die Geschicke eines jeden Menschen singulär. Seine
- Fertigkeiten wachsen und entwickeln sich auf einzigartige, unvergleichliche Weise. Nach
- und nach entdeckt der Geist Rätsel, die nur er lösen kann. Edgar Morin schreibt dazu:
- »Wie könnte man übersehen, daß das, was im höchsten Maß biologisch ist – das
- Geschlecht, der Tod –, zugleich dasjenige ist, was im höchsten Maße von Symbolen, von
- Kultur durchtränkt ist?«185
- Wahrscheinlich müssen wir die Entstehung des Inzesttabus und seiner gesellschaftlichen
- Konsequenz, der Exogamie, in dieselbe Ereigniskette einordnen. Wir wissen nicht, warum
- und wann genau das Inzesttabu auftauchte. Die Erklärung, dass es einem spontanen
- Widerwillen des – zur Person gewordenen – Individuums entsprach, sich sexuell mit
- einem oder einer engen Verwandten zu vereinen, ist nicht überzeugend. Das gilt auch für
- die Theorie, die das Inzesttabu damit in Verbindung bringt, dass man auf einmal die
- biologischen Gefahren für das aus dem Verkehr von Blutsverwandten hervorgegangene
- Kind entdeckt hätte. Diese Erklärungen wären nur dann akzeptabel, wenn die Abneigung
- oder das Bewusstsein für die Gefahr bei allen Menschen aufgetaucht wären. Aber gerade
- das ist nicht der Fall.
- Inzest wurde beispielsweise als wichtiger ritueller Akt – das heißt weder heimlich noch
- unterdrückt – von den Machthabern in verschiedenen sakralen Königreichen Afrikas
- praktiziert.186 In mehreren ägyptischen Pharaonendynastien war Inzest eine staatliche
- Institution. Auf der anderen Seite wissen wir aus den Forschungen von Malinowski und
- Róheim, dass das Inzesttabu in menschlichen Gesellschaften einerseits sehr verbreitet zu
- sein scheint, es sich aber offenbar nicht immer um die gleiche Form von Inzest handelt.
- Bei den Bewohnern der Trobriand-Inseln187, die Malinowski untersucht hat, sind sexuelle
- Spiele zwischen Verwandten in aufsteigender und absteigender Linie zulässig, während
- der Kontakt zwischen Bruder und Schwester strikt verboten ist. Bei den meisten Völkern,
- die Róheim erwähnt, gilt das gesellschaftliche Tabu vor allem für den Inzest zwischen
- Verwandten in aufsteigender und absteigender Linie. Wenn man das Inzesttabu durch ein
- Bewusstsein für die genetische Gefahr durch die Blutsverwandtschaft erklären möchte,
- erscheint es wenig überzeugend, dass die Menschen der Steinzeit bereits über ein
- entsprechendes konzeptuelles System verfügt haben sollen, um diese Gefahren zu
- erkennen und ihre verheerenden Folgen zu antizipieren, vorausgesetzt, dass es sie
- überhaupt gegeben hat.
- Zwischen sexuellen Tabus und dem Tausch besteht ein gewissermaßen funktionelles
- Band. »Jedes Verbot ist zugleich und in anderer Beziehung eine Vorschrift«, stellt Claude
- Lévi-Strauss fest.188 Die Vorschrift, die aus dem Inzestverbot (sei es gegenüber der
- Mutter, sei es gegenüber der Schwester) hervorgeht – durch einen Mechanismus, den Luc
- de Heusch189 als »logische Motivation« im Gegensatz zur psychologischen Motivation
- bezeichnet –, ist die Exogamie. Patrilineare Gesellschaften, in denen man die universelle
- Existenz des Ödipuskomplexes annehmen kann, und matrilineare Gesellschaften belegen
- den Inzest mit einem praktisch absoluten Tabu. Dass es sich nicht um die gleiche Art von
- Inzest handelt, spielt letztlich keine große Rolle: Denn beide Verbote führen zur gleichen
- Vorschrift, zur Exogamie.
- Eine Gruppe, die Inzest zulässt, zerfällt in immer kleinere Gruppen. Sie atomisiert sich.
- Austausch muss nicht stattfinden, die Suche nach Sexualpartnern außerhalb der Gruppe
- ist nicht nötig. Aber wir haben gesehen, dass am Übergang von der Altsteinzeit zur
- Jungsteinzeit nicht nur Gruppenbildung stattfand und die Gruppenstrukturen sich
- festigten, sondern dass die Gruppen auch permanent größer wurden. Das hing in erster
- Linie damit zusammen, dass weniger Kinder getötet wurden, weil (dank Jagd und bald
- auch dank Ackerbau) mehr Nahrung verlässlich zur Verfügung stand. Aber weder die
- geringere Zahl von Kindstötungen noch möglicherweise eine vermehrte Geburtenzahl bei
- den nunmehr besser ernährten Menschen kann die quantitative Veränderung der Gruppen
- voll und ganz erklären. Nur eine Intensivierung des Austauschs als Folge der Exogamie
- und damit die gesellschaftliche Verurteilung des Inzests erklären letztlich das Aufkommen
- der erweiterten Gruppe. Aber die neolithische Revolution mit ihren erstaunlichen
- Errungenschaften (Anbau von Getreide, Domestizierung bestimmter Tierarten und so
- weiter) war das Ergebnis einer Vielzahl zufälliger oder gezielter Experimente der
- Menschen. Für einen solchen Prozess des Ausprobierens, mit Misserfolgen und der
- systematischen Wiederholung gelungener Versuche, waren viele Akteure nötig. Ohne
- große Gruppen hätte es die neolithische Revolution nicht gegeben.
- Aus Sicht der angelsächsischen Kulturanthropologen war die Entstehung des
- Kulturmenschen und mit ihm der menschlichen Gesellschaft kein kontinuierlicher Prozess
- über Hunderte von Jahrtausenden hinweg. Vielmehr erschien der Kulturmensch relativ
- abrupt. Sein Auftauchen zeugt von dem qualitativen Sprung, der stattfindet, wenn
- innerhalb einer bestimmten sozialen Struktur viele und sehr verschiedenartige Elemente
- zusammenkommen. Keines dieser Elemente (oder genauer: keiner der einzelnen
- evolutionären Prozesse) ließ für sich allein erahnen, was aus dem Kulturmenschen
- werden sollte, seine Einzigartigkeit, die Art und Weise, wie er seine Gemeinschaften
- bildete.
- Für alle bekannten menschlichen Gruppen ist es typisch, dass sie praktisch permanent
- von Konfliktsituationen geprägt sind. Trotz seiner 3 Millionen Jahre langen Geschichte ist
- es dem Menschen nicht gelungen, sich endgültig mit sich selbst und seinesgleichen zu
- versöhnen. Konflikte sind, wie wir gesehen haben, menschlichen Gruppen und den
- Beziehungen zwischen den Menschen inhärent. Es gibt keine menschliche Gesellschaft,
- die sich nicht mit Grenzen gegen andere abschottet. Die Aggressivität ist ein fester,
- anscheinend unvermeidlicher Bestandteil des menschlichen Verhaltens. Dart hat dazu die
- folgende Hypothese: Dem Menschen wohnt eine starke Aggressivität inne, die weder
- individuell noch durch fortschreitende Sozialisation zu beherrschen ist. Sie treibt ihn
- immer wieder zu den schlimmsten Gewalttaten. Die moderne Psychoanalyse scheint
- Darts These zu bestätigen.190 Darts Originalität besteht darin, wie er die Genese der
- menschlichen Aggressivität erklärt: Sie sei ein tierisches Erbe, man könne sie
- zurückverfolgen bis zu den biophysiologischen Gemeinsamkeiten aller höheren Primaten,
- der Vorfahren des Menschen.
- NEUNTES KAPITEL
- Die Völker des Schweigens
- Inzwischen reißen Stämme und Völker
- das Erdreich auf und schlafen in der Kohlenmine,
- fischen mitten in des Winters Stacheln,
- nageln Nägel in die eigenen Särge
- errichten Städte, die sie nicht bewohnen,
- säen aus das Brot, das sie morgen nicht besitzen,
- sie streiten über Hunger und Gefahr.
- Pablo Neruda, Memorial von Isla Negra191
- Die großen Werke der Frankfurter Schule analysieren bewundernswert die Mechanismen
- der materiellen und symbolischen Herrschaftsinstrumente, die die kapitalistischen Klassen
- anwenden, um die Arbeiter und Angestellten im Zentrum und die Völker an der Peripherie
- zu unterjochen. Aber sie schweigen zu dem unermüdlichen, unbeugsamen Widerstand,
- den die Völker an der Peripherie ihren Aggressoren entgegensetzen.
- Die angelsächsischen Kulturanthropologen gehen den umgekehrten Weg: Sie
- konzentrieren sich auf vormoderne Gesellschaften in Afrika, Indien, Ozeanien und so
- weiter, und arbeiten ihre ontogenetischen Kulturen heraus, ihre Formen der
- gesellschaftlichen Organisation, ihre Kosmogonien. Hingegen verzichten sie mehrheitlich
- fast vollständig auf die Analyse der Strategien, mit denen die Industrie- und
- Finanzmächte des Zentrums ihre Aggression ausüben.
- Um die – komplexe, vielschichtige und gewaltsame – Dialektik des Konflikts zwischen
- den Industriegesellschaften mit ihrer prometheischen Sicht der Geschichte,
- ausgeklügelten Werkzeugen und einer aggressiven Symbolik einerseits und den
- traditionellen Gesellschaften andererseits, mit ihren überkommenen Kulturen, ihrer
- agrarischen und handwerklichen Produktionsweise zu verstehen, müssen wir Rat bei einer
- Gruppe von Soziologen suchen, die mit der Résistance in Frankreich entstanden ist. Ihre
- Thesen haben sich im Kampf gegen den dogmatischen Marxismus einerseits und gegen
- die koloniale Ideologie andererseits bewährt.
- Ich bezeichne die Gruppe mit einem Ausdruck, den ich von Georges Balandier
- übernehme: Sie sind die Anhänger einer »generativen Soziologie«. Balandier sagt
- darüber: »Unsere neuen Forschungen ermöglichen es, den Raum der Freiheit und der
- Besonderheit in jeder Gesellschaft genauer zu ermessen. Sie enthüllen – durch ein
- Vorgehen, das man als generative Soziologie bezeichnen kann – die Wandelbarkeit der
- gesellschaftlichen Konfigurationen: dauernd dabei, sich zu bilden und ihren Sinn
- festzulegen. Sie zeigen, dass es keine flachen oder auf eine einzige Dimension
- reduzierten Gesellschaften gibt und dass jede mehrere Dimensionen in sich trägt, an
- denen die gesellschaftlichen Akteure ihre Zukunft orientieren können.«192
- Zu dieser Gruppe von Soziologen zählen vor allem Roger Bastide, Georges Balandier,
- Jean Duvignaud, Gilbert Durand und Edgar Morin. Sie haben mehrere Dinge gemeinsam:
- Die meisten haben während der Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten in
- verschiedenen Organisationen der Résistance gekämpft: Georges Balandier im Maquis in
- der Franche-Comté, Jean Duvignaud und Edgar Morin bei den Francs-tireurs et partisans
- (FTP) der kommunistischen Partei.
- Nach der Befreiung von Paris wurde Georges Gurvitch aus seinem Exil in New York auf
- den Lehrstuhl für Soziologie an der Sorbonne berufen. Er trat die Nachfolge von Maurice
- Halbwachs an, der nach Buchenwald deportiert worden und wenige Wochen vor der
- Befreiung des Lagers dort gestorben war. Gurvitch, ein Mann von außerordentlicher
- Vitalität und intellektueller Kreativität, gründete in Paris das Laboratoire de sociologie de
- la connaissance.193
- Die französische Gesellschaft war zu der Zeit ganz von den Hoffnungen und Projekten
- erfüllt, die mit der Résistance, der Befreiung und dem Sieg über den Faschismus
- entstanden waren. Das neue Laboratoire spielte in dieser Gesellschaft eine beträchtliche
- Rolle. Zahlreiche junge Forscher und Forscherinnen (zum Beispiel Germaine Tillon) aus
- der Generation der Widerstandskämpfer, darunter sehr produktive und innovative,
- versammelten sich dort spontan.194 Gurvitch stellte ihnen einen institutionellen Raum für
- ihre Forschungen zur Verfügung. Diese jungen Soziologen (Philosophen,
- Erkenntnistheoretiker, Anthropologen) waren überzeugt, dass eine erneuerte, von
- dogmatischen Lehrsätzen und apodiktischen »Wahrheiten« befreite Wissenschaft dazu
- beitragen konnte, die französische Gesellschaft und die ganze Welt zu verändern.
- Die Enttäuschung ließ nicht lange auf sich warten. Die politische Elite der Vierten
- Republik und die Honoratioren an den Universitäten erstickten die Hoffnung auf eine
- Revolution, auf eine radikale Erneuerung, die in der Résistance geboren worden war. Der
- Kalte Krieg begann und hinterließ seine Spuren in der akademischen Forschung. Und
- schließlich begünstigten der Ausbruch des Koreakonflikts (1950) und die Bedrohung durch
- einen dritten Weltkrieg überall und besonders an den Universitäten das Aufblühen der
- rückständigsten konservativen Instinkte. Die jungen Soziologen erlebten eine bittere
- Desillusionierung.
- Der Aufbau einer neuen europäischen Gesellschaft, zu dem sie durch ihre Forschungen
- und ihr politisches Engagement beitragen wollten, scheiterte. Gleichzeitig hatte die
- Hoffnung das Lager gewechselt und bewegte jetzt die Kolonialvölker, die für ihre
- Unabhängigkeit kämpften. Die Soziologen dieser Gruppe brachen also auf, wenn schon
- nicht nach Übersee, so doch zumindest über die Grenzen ihrer Welt hinaus. Die
- Zufälligkeit ihrer Wege führte sie in Gesellschaften, die noch nicht ganz von der
- symbolischen Gewalt des Kapitals und der Praxis der Warenrationalität zerstört waren.
- Sie entdeckten die bislang unbewusst gebliebenen objektiven Grenzen, die die mentalen
- Kategorien ihrer Herkunftskultur ihrer Wahrnehmung setzten. Bastide, Balandier,
- Duvignaud, Morin, aber auch Touraine, der einige Zeit in Gurvitchs Laboratoire
- mitarbeitete, brachten ganze Bereiche des überkommenen Wissens zum Einsturz.
- Balandier reiste nach Westafrika (wo er sich an den Kämpfen zur Befreiung von der
- Kolonialherrschaft beteiligte) und weiter nach Zentralafrika. Von seinen Reisen brachte er
- ein großartiges Werk mit, Sociologie actuelle de l’Afrique noire195. Jean Duvignaud
- konzentrierte sich auf den Maghreb. In einer Oase in Südtunesien entstand sein
- Hauptwerk Chebika196. Morin, der wie Duvignaud aus der kommunistischen Partei
- ausgeschlossen wurde, wagte sich auf noch überraschenderes Terrain. Er untersuchte den
- infrakonzeptuellen Diskurs im Alltag der Industriegesellschaft; sein umfangreiches,
- eindrucksvolles Werk mündete in einen neuen Diskurs über Die Methode197. Er setzte sich
- über die traditionellen Grenzen zwischen den akademischen Disziplinen hinweg und
- bezog stattdessen alle Wissenschaften ein. Morin erklärte: »Wir brauchen eine
- Erkenntnismethode, die der Komplexität des Realen Rechnung trägt, die Existenz der
- Menschen anerkennt, sich dem Mysterium der Dinge annähert.« Roger Bastide schließlich,
- der Claude Lévi-Strauss an der Spitze der französischen Kulturmission als Professor in São
- Paulo nachgefolgt war, blieb 16 Jahre in Brasilien, von 1938 bis 1954. Als Eingeweihter
- des Orixa-Kults, Sohn des Xangô und König des candomblé Opá Afonjá von Salvador de
- Bahia, etablierte er die Soziologie der afrikanischen Diaspora in Brasilien.
- Die generative Soziologie brach radikal mit allen Theorien, den marxistischen, den der
- angelsächsischen Kulturanthropologen und anderen, die eine unilineare Entwicklung der
- Produktionsweisen, der Symbolsysteme und der sozialen Gebilde postulierten. Für sie gibt
- es weder »entwickelte« Gesellschaften noch »unterentwickelte«, noch
- »Schwellenländer«. Sie bestreiten die Aussage, dass die auf die materielle Produktion
- ausgerichtete Industriegesellschaft mit ihren vielfältigen Werkzeugen und ihrer schnellen
- Akkumulation allen anderen Gesellschaften überlegen sei. Jede soziale Organisation –
- jede Eigentumsordnung, jede Ideologie, jeder Staat, jede Produktionsweise, jedes
- System der Beziehungen zwischen den Nationen und zwischen den Menschen – ist »gut«,
- insofern es die Autonomie des Individuums vergrößert, dessen Fähigkeit, sein Leben
- selbst zu organisieren, ihm einen Sinn zu geben und mit den Widersprüchen
- fertigzuwerden, die unvermeidlich zur menschlichen Existenz gehören. Eine soziale
- Ordnung ist »schlecht« und muss deshalb bekämpft werden, wenn sie den Menschen und
- die Natur für eine Logik instrumentalisiert, deren ausschließliche Parameter nicht die
- Entfaltung und das Glück der Menschen sind.
- Die generative Soziologie verwendet neue Kriterien für die Evaluation, die sich sehr von
- denen unterscheiden, die die deutschen Neomarxisten und die angelsächsischen
- Kulturanthropologen benutzen. Alle Gesellschaften stehen unabhängig von ihrer
- materiellen und symbolischen Produktionsweise, den klimatischen Bedingungen, ihren
- demografischen Gegebenheiten vor einer Reihe identischer Probleme. Georges Balandier
- nennt sie Anthropo-Logien198. Ich zitiere einige Beispiele.
- Jede Gesellschaft reproduziert sich nur dank der Heterosexualität. Deshalb muss jede
- Gesellschaft Mechanismen für den Umgang mit dem Gegensatz der Geschlechter und die
- Einbindung des Reproduktionsakts entwickeln und sich Normen geben, die in der Lage
- sind, die Phantasie und Praxis der Sexualität zu beherrschen, zu ordnen, zu
- domestizieren.
- Ein weiteres Beispiel: In jeder Gesellschaft gibt es eine Pyramide von Altersklassen. Die
- Weitergabe des instrumentellen Wissens erfordert, bestimmte Formen für die Weitergabe
- dieses Wissens zu erfinden (Initiationsriten in den Gesellschaften mit mündlicher
- Tradition wie in Afrika, pädagogische Methoden und schulische Einrichtungen in Europa).
- Und noch ein Beispiel: Jede Gesellschaft wird von vielfältigen strukturellen oder
- willkürlich hereinbrechenden Konflikten zerrissen. Deshalb muss jede Gesellschaft
- Mechanismen erfinden, wie sie die Konflikte beherrscht und einhegt. Der candomblé der
- Nagôs in den Gesellschaften der afrikanischen Diaspora in Brasilien (Bahia, Maragnan,
- Para) hat Trance-Rituale hervorgebracht, um die Gesellschaft zu befrieden, eine
- regelmäßige Katharsis herbeizuführen und die vielfältigen Konflikte zu lösen, die die
- Menschen untereinander austragen. Die kapitalistischen Warengesellschaften im Westen
- und die »sozialistischen« Gesellschaften im Osten (China, Nordkorea) haben für die
- Lösung der gleichen Probleme ein komplexes Netz aus juristischen und psychiatrischen
- Einrichtungen geschaffen, Einrichtungen zum Schutz, zur Überwachung, zur Repression,
- zur Bestrafung.
- Die Anhänger der generativen Soziologie lehnen zwar radikal die Unterscheidung von
- »entwickelten Gesellschaften«, »unterentwickelten Gesellschaften« und
- »Schwellenländern« ab, die heute in den Vereinten Nationen und den meisten
- Forschungsinstituten geläufig ist, aber wie wir gesehen haben, vertreten sie dennoch
- keine agnostische Weltsicht.
- Ihr zentrales Unterscheidungskriterium ist das Ausmaß von Gewalt, das eine Gesellschaft
- mobilisiert, um ihre Anthropo-Logien zu lösen. Wenn sie regelmäßig massive Gewalt
- anwendet, rangiert sie ganz unten auf der Stufenleiter. Wenn ihre Mechanismen hingegen
- zur Lösung von Konflikten (zwischen Familien, zwischen Nachbarn, zwischen Angehörigen
- eines Clans und so weiter) Rituale enthalten, Institutionen, die die Autonomie des
- Subjekts maximal respektieren und nur mit minimalem Zwang verbunden sind, dann gilt
- die Gesellschaft als exemplarisch und steht ganz oben in der Hierarchie. Dazu ein
- Beispiel: Ohne Zweifel spielt Repression bei der streng ritualisierten kollektiven Trance,
- der Reproduktion der Ordnung des Universums durch die Besessenen, wie sie im
- candomblé der Nagôs von Salvador de Bahia (von Maragnan, von Piaui und so weiter)
- praktiziert wird, keinerlei Rolle. Verglichen mit der Strafjustiz, den psychiatrischen
- Anstalten und den Gefängnissen der westlichen Gesellschaften zeigen die Einrichtungen
- de s candomblé einen deutlich höheren Grad an Zivilisiertheit, als man ihn in Europa
- antrifft.
- Ich füge noch hinzu, dass es in den Gesellschaften, die den candomblé kennen, sehr
- wenige Rückfälle gibt. Nach dem Auftauchen aus der kollektiven Trance sind die Konflikte
- im Allgemeinen geklärt und der »Missetäter« wird wieder in die Gemeinschaft
- eingegliedert. In den Gesellschaften, die Konflikte mit Methoden regeln, die auf
- Gewaltanwendung basieren, ist das offenkundig nicht so.
- Die kollektive Trance wird durch die Kosmogonie der Nagôs (der Name für die Afro-
- Brasilianer, die von den Yoruba abstammen) normiert. Sie ist genau genommen ein
- rituelles Theater. Jeder Besessene verkörpert eine Gestalt aus dem Pantheon der
- afrikanischen Gottheiten, den Orixas. Die Orixas sind weder Tote, die sich den Lebenden
- zu erkennen geben, noch reine Geister. Die Orixas sind Kräfte des Universums. Jeder von
- ihnen verkörpert eine spezifische Eigenschaft des menschlichen Charakters.
- Bei der Besitzergreifung, dem zentralen Element der Initiationsgesellschaft, manifestiert
- sich eine solche Kraft im Körper einer Frau, seltener im Körper eines Mannes. Wenn der
- Orixa herabsteigt und von einem Menschen Besitz ergreift, ist dessen Bewusstsein
- vollkommen blockiert. Die ronda, das rituelle Theater, löst die Konflikte der Gesellschaft,
- indem es sie in Gestalt von Orixas auf die Bühne bringt.
- Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Konflikte, die in den candomblés von Bahia
- wüten, oft von äußerster Brutalität sind. Die eingeweihten jungen Frauen, die oft sehr
- schön sind, haben ein explosives Temperament. Ihre Leidenschaft und ihre Eifersucht
- oder die ihrer Gefährten sind Auslöser vieler Dramen. Der Alltag der schwarzen
- Hafenarbeiter, der Fischer in der Bucht, der Bediensteten in den großen Hotels, der
- Hausangestellten der weißen Plantagenbesitzer ist hart und elend, erfüllt von
- Demütigungen und Ängsten. Die afro-brasilianischen Proletarier schenken sich
- untereinander nichts. Ihre Frustrationen und ihre kompensatorische Aggressivität
- entladen sich häufig in lautstarken, gewalttätigen, manchmal blutigen
- Auseinandersetzungen.
- Aber die kollektive Trance, das rituelle Theater, hat eine solche Kraft, dass die
- Befriedung der Gesellschaft regelmäßig und geradezu wundersam gelingt.
- Zu meinen schönsten Erinnerungen zähle ich die Nächte, die ich im Terreiro Olga de
- Alaketu im Busch von Matatu de Brotas in Bahia verbracht habe. Bei Anbruch der
- Dunkelheit strömen scharenweise Habenichtse, Arbeiter, Verkäuferinnen in bunten
- Gewändern und ärmlich gekleidete Kinder auf den Hügel. Viele haben verschlossene,
- beinahe hasserfüllte Gesichter. Die Trommeln ertönen, die ronda bildet sich, die Orixas
- steigen herab. Zehn Stunden später, wenn die Sonne sich über dem Atlantik erhebt,
- ziehen die Menschen in Kolonnen den Hügel wieder hinunter, beruhigt und glücklich. Sie
- sprechen leise miteinander, halten sich an den Händen und freuen sich daran, dass die
- Orixas den Frieden wiederhergestellt haben.
- Für mich steht es vollkommen außer Zweifel, dass in der Hierarchie der Gesellschaften
- die traditionellen präkapitalistischen Gesellschaften der afrikanischen Diaspora in
- Brasilien weit über den westlichen Warengesellschaften rangieren.
- Das Bedürfnis, die Welt kennenzulernen und die eigene Position in der Welt, das Streben
- nach Totalität ist etwas ganz Wesentliches für den Menschen. Jede Gesellschaft bringt
- ihre eigenen Wertesysteme hervor und gibt ihren Praktiken wechselnden Sinn.
- Wenn es in der Soziologie um »Sinn« und »Werte« geht, so ist ein Hinweis angebracht:
- Werturteile begleiten die wissenschaftliche Arbeit, wie sie das soziale Handeln eines
- jeden Menschen begleiten, aber der Soziologe ist nicht im Besitz des Wertekodex, der die
- menschliche Geschichte lenkt und leitet. Er wirkt daran mit, Maßstäbe für die Legitimität
- der Werte zu erarbeiten. Zwar gibt es keine soziologischen Kriterien für die Wahrheit des
- Menschen und den Sinn der Geschichte – denn, um es noch einmal zu wiederholen, der
- Sinn der Geschichte und die Wahrheit des Menschen sind das Produkt kollektiven
- Handelns, an dem der Soziologe wie jeder andere Mensch teilhat –, aber die Werte und
- der Sinn sind Forschungsobjekte der Soziologie. Die Soziologie kennt keine
- unveränderliche, unabhängige, ewig gültige »Wahrheit«. Ihre zentralen Fragen zielen
- darauf, wie viele Menschen einer bestimmten Gesellschaft eingeladen sind, an der
- Entwicklung von Sinn und Werten teilzuhaben, über wie viel Freiheit sie bei der
- Formulierung ihrer Vorschläge verfügen und wie wirksam ihre Vorschläge umgesetzt
- werden. Balandier hat das, was ich meine, so zusammengefasst: »Wechselseitige
- Kontrolle der Macht und kollektive Hervorbringung von Sinn: Das entscheidende Problem
- ist die kontinuierliche Beteiligung der größtmöglichen Zahl von Akteuren an den – immer
- wieder neuen – Definitionen der Gesellschaft: Das zu erkennen heißt deutlich zu machen,
- dass sie an den Stellen der Gesellschaft präsent sein müssen, an denen die für die
- Gesellschaft wichtigen Entscheidungen fallen und wo das entsteht, was ihr Sinn
- verleiht.«199
- Jede Wissenschaft muss ihren Gegenstand definieren. Die generative Soziologie
- formuliert in diesem Kontext Elemente einer Theorie, die einen radikalen Bruch mit den
- Theorien der deutschen Neomarxisten und der angelsächsischen Kulturanthropologen
- darstellt. Kein Gegenstand ist für die soziologische Erforschung »einfach da«. Vielmehr ist
- der Wissenschaftler bei der Konstituierung eines jeden Objekts persönlich beteiligt.
- Hören wir, was Roger Bastide dazu sagt: »Das Subjekt und seine eigenen Interessen
- sind Bestandteile der Definition des Objekts. […] Das Subjekt beobachtet sich in dem,
- was es betrachtet. Bild gegen Realität.«200 Und weiter: »Es gibt eine Frustration der
- Vernunft, wie es eine Frustration der Libido gibt. Es gibt auch eine Verirrung der Vernunft
- unter dem Eindruck dieser Frustration.«201 Man könnte einwenden, dass diese Situation
- keine Besonderheit der Sozialwissenschaften ist. Die Chemiker, die Astronomen, die
- Physiker und Biologen definieren ebenfalls ihre Objekte und respektieren die Tabus, die
- ihre frustrierte Libido ihnen auferlegt. Insofern ist es in allen Wissenschaften so, dass
- Objekte nicht einfach da sind.
- Trotzdem unterscheidet sich die Situation in den Naturwissenschaften radikal von der in
- den Humanwissenschaften, und das aus mindestens zwei Gründen: Zur Natur der toten
- Dinge gehört eine Reihe von Determinierungen, die, wenn sie erst einmal ans Licht
- gebracht wurden und handhabbar sind, dem Experiment einen praktisch absoluten
- objektiven Wert verleihen. Die Natur bestätigt oder widerlegt die Hypothesen des
- Experimentators in vollkommener Unabhängigkeit. In den Sozialwissenschaften ist das
- offensichtlich anders. Es gibt keine unwandelbare Natur, die die Hypothesen des
- Forschers bestätigt oder widerlegt.
- Der zweite Grund für diesen fundamentalen Unterschied zwischen Naturwissenschaften
- und Humanwissenschaften hängt mit dem Prozess der Konstituierung des
- Forschungsgegenstands zusammen. Der Forschungsgegenstand der Naturwissenschaften
- ist fast immer eindeutig. Der Apfel, der Newton vor die Füße fiel, wurde durch Newtons
- Willen zum Forschungsobjekt, aber er ist ein eindeutiges Objekt, weil die Eigenschaft, die
- ihn aus einem beliebigen Gegenstand zu einem Forschungsobjekt verwandelt, gerade in
- der Tatsache liegt, dass er fällt. Nicht der Apfel, sondern seine Bewegung zur Erde hin
- gibt den Anlass zur Nachforschung, als Herausforderung für den menschlichen Geist oder
- Gegenstand der Wissenschaft. Der Apfel fällt. Er steigt nicht auf und bewegt sich auch
- nicht horizontal. Mit anderen Worten: Seine Bewegung ist »einzigartig«, eindeutig. Das
- Gravitationsprinzip gilt universell. Die Soziologie hat es mit einer ganz anderen Situation
- zu tun. Eine gesellschaftliche Dialektik, eine noch so perfekt strukturierte Institution, ein
- Verhältnis von Befehl und Gehorsam, ein Kunstwerk oder eine Ideologie ist nie eindeutig.
- Wie Bastide sagt: Die aufeinanderfolgenden oder nebeneinander existierenden
- Definitionen ein und desselben gesellschaftlichen Objekts »erfassen nie dieselben Anteile
- des Realen«.
- Kommen wir noch einmal auf das Beispiel mit dem Apfel zurück. Gleichgültig, ob er von
- einem Baum in Japan, Frankreich oder Kansas fällt, er regt die Physiker immer zu den
- gleichen Überlegungen über die Gravitation an, mit Ausnahme einiger messbarer
- Variablen, die durch den Ort der Beobachtung beeinflusst werden.202 Hingegen erfasst die
- Definition einer Farbe, etwa der Farbe Gelb, nie dieselben Anteile des Realen, um es mit
- Bastide zu sagen. Ein Deutscher denkt beim Anblick einer Landschaft, in der die Farbe
- Gelb dominiert, an die Sonne, an Sommer und Hitze, Ferien, ein Feld mit Weizen, Raps
- oder Sonnenblumen, an Wohlbehagen. Für einen Bauern oder Nomaden im Sahel
- bedeutet Gelb Trockenheit, Leiden, Durst, Hunger, Ruin und Tod.
- Der Soziologe ist somit selbst an der Konstituierung seines Forschungsgegenstands
- beteiligt, und zwar mit einer Intensität und Tiefe, die weder der Biologe kennt noch der
- Astronom, weder der Chemiker noch der Physiker. Die Bilder, die der Soziologe mobilisiert
- und auf den Forschungsgegenstand projiziert – den er anschließend rational analysiert –,
- sind aller Wahrscheinlichkeit nach das genaue Abbild innerer Erfahrungen und
- existenzieller Konflikte, bewusster oder verdrängter, die er selbst durchlebt. Für Bastide
- reduziert sich das vertrackte Problem der Konstituierung des Forschungsgegenstands,
- oder anders gesagt: das Problem der Objektivität in der Soziologie, letztlich auf die
- scheinbar schlichte Feststellung: »Die Motive zu kennen, die uns antreiben, ist der einzige
- Weg, wie wir unsere Subjektivität überwinden können.«203
- Die generative Soziologie wehrt sich gegen die künstliche Begrenzung der Realität, die
- beispielsweise bei den marxistischen Soziologen die Regel ist. Die Marxisten
- unterscheiden zwischen dem normierten Verhalten und dem »verrückten«, zwischen dem
- »Normalen« und dem »Pathologischen«. Sie weigern sich, Träume zu befragen,
- verweisen infrakonzeptuelle Vorgänge, wie sie in der Trance auftauchen, in der
- Besessenheit, im Wissen von Eingeweihten, in den Bereich des Pathologischen. Doch ein
- großer Teil unseres Lebens spielt sich auf einer infrakonzeptuellen Ebene ab: Es bringt
- Bilder hervor, Symbole, Gewissheiten, Ängste, Motive, Obsessionen, die nicht die Form
- von Konzepten annehmen. Besessenheit, Traum und Trance stehen im Mittelpunkt der
- meisten großen afrikanischen, indianischen und ozeanischen Kulturen. Sie geben auf ihre
- Weise Antworten auf die ontologischen Fragen der Menschen.
- An dieser Stelle schiebe ich eine Parenthese ein. Der Begriff Ontologie heißt hier nur
- Referential (Bezugspunkt) im Sinn des Schweizer Mathematikers und Philosophen
- Ferdinand Gonseth. Das Referential verweist auf das Vorhandensein einer Frage, die
- jeden Diskurs bedeutungslos werden lässt, der sich nicht darauf bezieht. Das Referential
- urteilt in keiner Weise darüber, ob der semantische Inhalt des Diskurses objektiv richtig
- oder falsch ist. Ein kulturelles System (oder eine Soziologie), die Aussagen über das Sein
- des Lebens macht, kann sich jederzeit in ihren Formulierungen täuschen und falsche
- Dinge über den realen Menschen behaupten. Hingegen wissen wir, dass eine Kultur oder
- eine Soziologie, die versucht, das ontologische Problem, das heißt die Frage nach dem
- Sinn des Lebens und dem Sein des Menschen, zu verschleiern, mit Sicherheit eine falsche
- Kultur oder Soziologie wäre. Denn die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sein
- des Menschen ist eine unausweichliche Frage und damit eine richtige Frage.
- Die generative Soziologie führt neue Erkenntnisobjekte ein, die zuvor negiert wurden –
- wie beispielsweise Traum, Trance, Wahn, die Kosmogonien agrarischer Gesellschaften,
- Begräbnisrituale und Tod –, und schenkt damit den beherrschten Gesellschaften
- Aufmerksamkeit. Sie gibt den Völkern des Schweigens eine Stimme. Deren Gesellschaften
- gehen von einer kulturellen, symbolischen und materiellen Geschichte aus, die anders ist
- als die, die von der Antike über das Mittelalter und die Renaissance bis in die moderne
- Zeit die westlichen urbanen Gesellschaften geprägt hat. Die generative Soziologie
- postuliert somit die Pluralität der Vernunft, die aus der Pluralität der gesellschaftlichen
- Organisationsweisen, der Ausdrucksweisen und der Methoden der Symbolisierung
- entstanden ist, auf die Gesellschaften mit unterschiedlichen Ursprüngen zurückgreifen.
- Die generative Soziologie verwirft den Gegensatz von »historischen Gesellschaften« und
- »Gesellschaften ohne Geschichte« oder von »prometheischen Gesellschaften« und
- »Gesellschaften mit einer zyklischen Geschichtsvorstellung«. Was ist damit gemeint? Die
- Abwertung außereuropäischer Gesellschaften, insbesondere afrikanischer
- Traditionsgesellschaften, aber auch agrarischer Gesellschaften in Europa durch eine
- ethnozentrische Soziologie, ob marxistischer Prägung oder nicht. Die Industrie- und
- Warengesellschaften Europas vergegenwärtigen sich ihre Vergangenheit, indem sie
- versuchen, die Abfolge der Ereignisse zu reproduzieren. Sie haben einen Code erfunden
- (meistens die Rechnung in Jahrhunderten), um die Vergangenheit zu strukturieren.
- Außerdem pflegen sie eine Geschichtsphilosophie, die in der verwirrenden Abfolge der
- Ereignisse einen verborgenen Sinn aufspüren soll, den sie »Sinn der Geschichte« nennen.
- Die Industriegesellschaften befassen sich intensiv mit ihrer Vergangenheit. Ganz
- unbestreitbar sind sie entscheidend von der vergangenen Zeit geprägt. So gesehen sind
- sie zweifellos »historische Gesellschaften«.
- Die traditionellen afrikanischen Gesellschaften jedoch erheben nicht den Anspruch, die
- Vergangenheit so zu rekonstruieren, wie sie tatsächlich gewesen ist. Bei ihren
- regelmäßigen Festen, zentralen Augenblicken des sozialen Lebens, wird der
- Gründungsmythos der betreffenden Gesellschaft immer wieder in Szene gesetzt. Damit
- erinnern sie an die ontologischen Fundamente ihrer Gemeinschaft. In einer Gesellschaft
- mit mündlicher Tradition, wie es die meisten afrikanischen Gesellschaften sind, würde
- man vergebens nach einem historischen Code suchen, vergleichbar jenem der
- Chronologie, der uns aus den europäischen Gesellschaften vertraut ist. Und ebenso
- vergeblich würde man dort nach einer geistigen Tätigkeit oder einem gesellschaftlichen
- Ansinnen suchen, die man mit der westlichen Geschichtsphilosophie vergleichen könnte.
- Aber die Gesellschaften, die angeblich »keine Geschichte« haben, sind dennoch nicht
- ahistorisch. Sie haben eine Geschichte, nur gehen sie anders mit ihr um als die
- kapitalistischen Warengesellschaften. Auf eine Geschichtswissenschaft haben sie zwar
- verzichtet, aber sie widmen sich seit eh und je mit größter Hartnäckigkeit der Aufgabe,
- die für ihr Leben wirklich wichtigen Gewissheiten weiterzugeben. Den zufälligen
- Wechselfällen des menschlichen Lebens schenken sie nur wenig Aufmerksamkeit. Ein
- Beispiel: Ein Bauer vom Volk der Bahutu, der in den prächtigen Hügeln von Burundi lebt,
- am Ufer des Tanganjikasees, kennt nur ausnahmsweise sein Geburtsdatum, aber er weiß
- nahezu alles über seinen künftigen Tod, über die Orte, wo die Toten zu Hause sind, über
- den Sinn des Lebens, die Kräfte, die dem Universum innewohnen. In seiner Sprache ist
- »kera« das Wort, das die Vergangenheit bezeichnet (»es ist lange her«, »es war
- einmal«). Kera steht für die ganze Vergangenheit.
- Die soziale Zeit der kapitalistischen Warengesellschaft und die Zeit der traditionellen
- afrikanischen Gesellschaften trennt ein tiefer Graben.
- Die afrikanischen Gesellschaften verorten Augenblicke der Veränderung nicht auf einer
- universellen Zeitleiste, sondern nur in Bezug auf ihre eigenen gesellschaftlichen
- Strukturen. Die Gründungsmythen erklären der Gesellschaft ihre eigene Entstehung. Die
- traditionellen afrikanischen Gesellschaften leben mit so etwas wie Sorglosigkeit
- gegenüber der Universalität der Spezies. In ihrem Bild von der Welt kommen im
- Allgemeinen nur ihre eigenen isolierten Existenzen vor. So macht sich der
- Gründungsmythos der Bahutu nicht die Mühe, die Völker des Ostkongo, von Katanga oder
- Tansania innerhalb oder außerhalb ihres Universums einzuordnen und ihnen einen Platz
- zu geben. Obschon diese Völker die unmittelbaren Nachbarn der Bahutu sind. Die Bahutu
- wissen genau, dass es sie gibt, und kennen sie zumindest durch Augenschein.
- Jede traditionelle afrikanische Gesellschaft hat ihre eigene Vorstellung von Zeit. Sie
- umfasst die Lebenden und die Toten, Gott und die Menschen, den Himmel, die Erde, das
- Reich der Verstorbenen. Aber, ich wiederhole es noch einmal, die zeitliche Situation
- anderer Gesellschaften kommt nicht oder kaum vor.
- Weder das Königreich Burundi noch der brasilianische candomblé kennen eine
- kumulative, schriftlich fixierte Geschichte. Es handelt sich also nicht um »prometheische
- Gesellschaften«, um die Formulierung von Georges Gurvitch aufzugreifen, in denen jede
- »neue Erfahrung das gesamte gesellschaftliche Projekt infrage stellt.«204 Die Geschichte
- traditioneller afrikanischer Völker ist bis auf wenige Ausnahmen immer eine Geschichte,
- die nur das Wesentliche vermittelt. Aber das auf höchst eindrucksvolle Weise: durch
- Feste, Masken, Divinationen, Rituale. Sie behandelt einzig und allein die Fragen, die es
- wert sind, dass man sich mit ihnen befasst: Woher kommt der Mensch? Was ist seine
- Aufgabe auf der Erde? Wie stirbt er, und kann er hoffen, zu Lebzeiten eine Beziehung zu
- Gott herzustellen? Die mündliche Tradition Afrikas ist ein konkretes, nicht verdinglichtes
- System der Selbstdeutung. Durch dieses System erklärt die Gesellschaft sich selbst. Die
- Geschichte der Afrikaner nähert sich einer ontologischen Wahrheit an.
- Was verbindet uns? Jeder Mensch empfindet Kälte, Hitze, Hunger, Liebe, Hoffnung und
- Angst. Er fühlt sich lebendig, indem er existiert, sein Leben lebt. Jeder Mensch will
- glücklich sein, möchte essen, vor Angst und Einsamkeit geschützt sein. Jeder Mensch –
- auf welchem Kontinent auch immer er lebt, welcher Nation, Klasse, Kultur, Ethnie und
- Altersgruppe auch immer er angehört – fürchtet den Tod und hasst die Krankheit. Jedem
- Menschen wohnt ein reflektierendes Bewusstsein inne. Ein kategorischer Imperativ
- beseelt ihn: die Welt zu erkennen oder, genauer gesagt, seine konkrete Situation in der
- Welt zu verstehen.
- Was ist meine persönliche Überzeugung? Sie deckt sich mit der bekannten Aussage von
- Feuerbach: »Bewußtsein […] ist nur da, wo einem Wesen seine Gattung, seine Wesenheit
- Gegenstand ist. […] Wo Bewußtsein, da ist Fähigkeit zur Wissenschaft. Die Wissenschaft
- ist das Bewußtsein der Gattungen. Nur ein Wesen, dem seine eigene Gattung, seine
- Wesenheit Gegenstand ist, kann andere Dinge oder Wesen nach ihrer wesentlichen Natur
- zum Gegenstande machen.«205 Unter allen Lebewesen hat allein der Mensch ein
- Bewusstsein seiner Identität. Ein jedes unterernährte Kind ist für Menschen ein
- unerträglicher Anblick. Immanuel Kant hat geschrieben: »Die Unmenschlichkeit, die
- einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.« Das Leiden des anderen
- lässt mich leiden, es verletzt mein eigenes Bewusstsein, fügt ihm einen Riss zu, macht es
- unglücklich, zerstört in mir das, was ich als einen unverzichtbaren »Wert« empfinde: den
- Wunsch, nicht zu leiden, zu essen, glücklich zu sein. Es zerstört das Wertvollste in mir:
- meine »Menschlichkeit«, das heißt das unbezwingbare Bewusstsein der ontologischen
- Einheit aller menschlichen Wesen. Diese »Werte« bedürfen keiner wie auch immer
- gearteten metasozialen, ideologischen oder religiösen Begründung. Diese »Werte« sind
- potenziell universell, weil sie konstitutiv für den Menschen sind.
- ZEHNTES KAPITEL
- Die Bruderschaft der Nacht
- Nun werdet ihr sehen, was wir sind und wiegen.
- Nun werdet ihr sehen, was wir sind und sein werden.
- Wir sind das reine Silber der Erde,
- des Menschen wahrhaftes Erz,
- wir verkörpern das Meer, das unermüdliche,
- die Feste der Hoffnung:
- eine Minute Dunkel macht uns nicht blind:
- und keine Agonie wird uns töten.206
- Gegen die weltweite Diktatur des globalisierten Finanzkapitals, ihrer Satrapen und
- Söldner, erhebt sich heute ein neues geschichtliches Subjekt: die weltweite
- Zivilgesellschaft.
- Ernesto Che Guevara hat den prophetischen Satz niedergeschrieben: »Auch die stärksten
- Mauern fallen durch ihre Risse.«207
- Heute tauchen überall Risse auf. Sie werden immer zahlreicher und immer größer. Die
- Ordnung der Welt wankt. Aus den unzähligen Widerstandskämpfen, die jeden Tag und
- jede Nacht auf allen fünf Kontinenten stattfinden, greife ich zwei Beispiele heraus. Sie
- zeugen von der Vitalität und der Wirksamkeit des neuen Widerstands und ebenso von der
- solidarischen Vernunft, die ihn antreibt, genährt von dem Wissen der Vorläufer in diesem
- Kampf.
- Bangladesch ist ein Land von unglaublicher Schönheit. Seine 150 Millionen Einwohner sind
- mehrheitlich Muslime. Auf den 116000 Quadratkilometern des Staatsgebiets – gelegen
- zwischen den Ausläufern des Himalaya und dem Golf von Bengalen – erstrecken sich
- Hügel und kleine Täler von einem intensiven Grün, Sümpfe, in denen es von Reptilien
- wimmelt, Mangrovenwälder und die unendlichen Weiten des Deltas, die beim
- sommerlichen Monsun von den wilden Fluten des Ganges und des Brahmaputra
- überschwemmt werden.
- Am Vorabend meiner ersten Mission im Auftrag der UNO in Bangladesch warnte mich der
- Botschafter von Bangladesch in Genf, Toufik Ali, ein zurückhaltender, freundlicher, aber
- auch besorgter Mann: »You will see people everywhere all the time, you will never be
- alone« (»Sie werden immer und überall Menschen sehen, Sie werden nie allein sein«).
- Tatsächlich, wo immer man unterwegs ist in diesem Land, ob in den pulsierenden
- Megastädten oder in einem abgelegenen Dorf, überall sieht man Menschen. Frauen und
- junge Mädchen mit dunkler Haut und feingeschnittenen Zügen, mit einem strahlenden,
- aber schüchternen Lächeln. Sie sind in zarte Saris aus buntem Baumwollgewebe
- gekleidet. So, wie sie in der Menge gehen, hat der Beobachter den Eindruck, sich in
- einem Meer aus Blumen zu bewegen. Die Männer und die Jugendlichen, die freundlich
- grüßend ihre Fahrräder vor sich herschieben, haben fast alle lange weiße
- Baumwollhemden an, die sauber gewaschen, aber vielfach geflickt und ausgebessert
- sind. Sie tragen ihre tadellos gebügelten Lumpen mit Stolz.
- Mit 1084 Einwohnern pro Quadratkilometer ist Bangladesch das am dichtesten
- bevölkerte große Land der Welt. Trotzdem fühlte ich mich zu keiner Zeit von der Masse
- bedrängt, erstickt, eingesperrt (anders als beispielsweise in der U-Bahn von Tokio mit
- ihren vielen unterirdischen Stockwerken). Die Bengalen sind ein zurückhaltendes,
- vornehmes, warmherziges Volk.
- Aber Bangladesch ist auch das drittärmste Land der Welt (nach dem Human
- development index des UNDP, des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen). Die
- meisten Bauern besitzen kein Land, die Führungsschicht ist durch und durch korrupt.
- Die dauerhafte Unterernährung richtet in der Bevölkerung schrecklichste Verheerungen
- an. Die Hälfte der Menschen, 75 Millionen, bekommt nicht ausreichend Nahrung. Ein
- Drittel der Menschen hat weniger als 1 US-Dollar pro Tag zum Leben. Die Mehrheit der
- Männer, Frauen und Kinder leidet an einer Unterversorgung mit Mikronährstoffen. Aber
- gerade der Mangel an Mikronährstoffen (Mineralstoffen und Vitaminen) verursacht
- Fehlernährung. Darüber hinaus leiden die meisten Frauen in Bangladesch unter
- Diskriminierung. In den Familien essen die Frauen und die Töchter als Letzte, und das
- bedeutet, dass sie oft hungrig bleiben.
- Verschmutztes Wasser tötet ebenso viele Menschen wie der Mangel an Nahrungsmitteln.
- Aus den Granitschluchten im Himalaya-Massiv ergießen sich viele Zuflüsse in die großen
- Ströme Bengalens, die mit Arsen verseucht sind. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)
- hat 64 Distrikte im Land untersucht. In 59 entdeckte sie mit Arsen verseuchte Brunnen.
- In jedem Sommer gehen schwere Monsunregenfälle über Bangladesch nieder. Das
- Himalaya-Gebirge speist die zahlreichen Zuflüsse der großen Ströme, die bei Hochwasser
- enorme Felsbrocken mit sich führen und Bäume und Häuser wegreißen, Deiche,
- Talsperren und Brücken zerstören und Hunderttausende Hektar Ackerland mit einer
- braunen, wirbelnden, schlammigen Brühe bedecken, die Ernte vernichten und die am
- Wasser gelegenen Wohnviertel verwüsten. Die Sandbänke in der Mitte der Flüsse, auf
- denen viele Tausend Menschen leben, werden weggeschwemmt. Rund um die auf
- Felsvorsprüngen errichteten Hütten brodelt das Wasser. In manchen Jahren, wenn der
- Monsun besonders schlimm ist und, was oft vorkommt, mit Wirbelstürmen und Flutwellen
- vom Meer zusammentrifft, wird das ganze Delta überschwemmt, und 70 Prozent von
- Bangladesch stehen unter Wasser.
- Das Elend und die Demütigung treffen die Frauen und die jungen Mädchen am
- schlimmsten. Aber sie sind es auch, die in den meisten Fällen für das materielle
- Überleben der Familien sorgen. So drängen sich die Mütter und jungen Mädchen mit vier
- oder fünf Leidensgefährtinnen beispielsweise in dem einzigen Raum einer Hütte in
- Gulshan zusammen, einem der schlimmsten Slums in Dhaka (mit 800000 Bewohnern),
- und gehen von dort aus in die Fabrik zum Arbeiten.
- Trotz der Diskriminierung, die sie in ihren Familien erleben, sind die Frauen von
- Bangladesch oft starke Persönlichkeiten. Sie sind emanzipiert und bereit, alle Opfer zu
- bringen, damit ihre Angehörigen überleben.
- Nie werde ich die elf- oder zwölfstöckigen grauen Betonkasernen mit ihrer dreckigen
- Einrichtung, den kaputten Fliesen und den wackligen Wendeltreppen vergessen, die die
- südlichen und östlichen Vororte der Hauptstadt verschandeln. Kohorten von Sklaven lösen
- sich an den Nähmaschinen ab, die rund um die Uhr rattern. Bangladesch ist nach China
- weltweit der zweitgrößte Lieferant von Textilprodukten für die großen Weltmarken. In
- Bangladesch gibt es etwa 6000 Textilfabriken. Sie gehören Geschäftsleuten aus Indien,
- Bangladesch, Taiwan und Südkorea, viele von ihnen sind wahre Gangster. Die Sklaven
- schneiden Jeans, Jacken, Hosen, Hemden, T-Shirts und Unterwäsche zu und nähen sie,
- stellen Schuhe und Fußbälle her, alles für die großen westlichen Modemarken wie Nike,
- Adidas, Levi’s, Converse, Zara, Gucci, Prada, Armani, H&M, Benetton, Marks & Spencer,
- Calvin Klein, Carrefour und viele andere.
- Die multinationalen Bekleidungsfirmen und ihre asiatischen Subunternehmer in
- Bangladesch erzielen astronomische Gewinne. Die schweizerische
- Nichtregierungsorganisation »Erklärung von Bern« analysiert die Entwicklung der Preise
- und des Mehrwerts, den diese Sklaven erwirtschaften. Eine Jeans der Marke Spectrum
- Sweater wird in der Rue du Rhône in Genf für 66 Franken verkauft, umgerechnet rund 54
- Euro. Die Näherin in Bangladesch bekommt davon im Durchschnitt 25 Cent.
- 2014 lag der gesetzliche Mindestlohn in Bangladesch bei 51 Euro im Monat. Nach
- Auskunft der Gewerkschaftsallianz Asia Floor Wage Alliance wäre ein Monatslohn von 272
- Euro erforderlich, um das Existenzminimum einer vierköpfigen Familie zu sichern.
- Am Morgen des 24. April 2013 stürzte in einem östlichen Vorort von Dhaka ein
- zehnstöckiges Gebäude ein, das Rana Plaza. Dabei starben 1138 Menschen
- unterschiedlichen Alters, überwiegend Frauen. Außer den Toten zogen die Retter mehr als
- 2500 größtenteils schwer verletzte Personen aus den Trümmern. Besitzer des Rana Plaza
- ist ein Geschäftsmann aus Bangladesch, Subunternehmer der großen westlichen
- Bekleidungsfirmen. Ohne Baugenehmigung hatte er das altersschwache Gebäude, dessen
- Mauern von Rissen durchzogen waren, um zwei Stockwerke erhöht. Am Vorabend der
- Tragödie waren die Risse breiter geworden. Mehrere Frauen hatten sich daraufhin
- geweigert, in die oberen Stockwerke zu gehen. Daraufhin drohte ihnen der Eigentümer,
- ihren Monatslohn nicht auszuzahlen. Schließlich gingen die Frauen doch an ihre
- Arbeitsplätze. Viele starben in jener Nacht, andere sind für ihr Leben verstümmelt.
- Die Tragödie des Rana Plaza ist alles andere als ein Einzelfall. Immer wieder werden
- Textilarbeiterinnen Opfer von Unfällen. Ein Beispiel: Am 11. April 2005 stürzte in Dhaka
- die achtstöckige, aus Stahlbeton gebaute Pulloverfabrik der Firma Spectrum Sweater über
- den Arbeiterinnen der Nachtschicht zusammen. Das Gebäude hatte ursprünglich nur drei
- Stockwerke gehabt und war unter Missachtung der Sicherheitsanforderungen um fünf
- Etagen erhöht worden. Die Regierung weigerte sich, eine Opferzahl zu nennen. Die
- westlichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und die International Garment Workers
- Union schätzten, dass mehrere Hundert Menschen gestorben waren und mehrere
- Tausend schwere Verletzungen (Verlust von Gliedmaßen etc.) davongetragen hatten.
- Spectrum Sweater entließ alle Überlebenden und zahlte ihnen sowie den Familien der
- Opfer nicht einen Cent Entschädigung. Rund 3000 Beschäftigte (zu 90 Prozent Frauen)
- verloren bei der Tragödie ihren Arbeitsplatz. Die Besitzer kamen völlig ungeschoren
- davon.
- Die Tragödie des Rana Plaza war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
- Diesmal begehrte die internationale Zivilgesellschaft auf. Angeführt von westlichen NGOs
- und mächtigen sozialen Bewegungen – wie Clean Clothes Campaign, Partnership for
- Development and Justice, Netz Bangladesch, der Internationalen
- Textilarbeitervereinigung – bildete sich eine internationale Koalition. Ihr Name: Coalition
- No Blood on my Clothes (»Kein Blut auf meiner Kleidung«). Die Koalition übt Druck auf
- die großen multinationalen Konzerne aus, die Auftraggeber der Subunternehmen sind. Sie
- fordert vor allem anständige Arbeitsbedingungen für die Frauen in Bangladesch, eine
- Verdoppelung des Mindestlohns bis Ende 2015, Sicherheit und regelmäßige internationale
- Inspektionen der Gebäude, Entschädigungen für die Familien der Opfer des Einsturzes von
- Rana Plaza ebenso wie für die verstümmelten Opfer sowie die strafrechtliche Verfolgung
- der Eigentümer des Gebäudes. Die Koalition verlangt von den Auftraggebern, ein
- Abkommen mit ihr zu schließen (»Bangladesh Accord«). Dieses enthält einen besonders
- wichtigen Artikel, in dem es um die gewerkschaftliche Freiheit geht. Bisher ließen die
- meisten Subunternehmer in ihren Fabriken Schrecken und Willkür regieren und
- verbannten Gewerkschaften. In Bangladesch ist nur 1 Prozent der Näherinnen und Näher
- gewerkschaftlich organisiert.
- Im September 2013 gingen viele Tausend Arbeiterinnen und Arbeiter der
- Bekleidungsindustrie in Bangladesch auf die Straße, errichteten Barrikaden, besetzen
- Fabriken und forderten eine Erhöhung des Monatslohns auf 104 US-Dollar.
- Ein Jahr nach der Tragödie hat sich der Kampf zwischen der internationalen
- Zivilgesellschaft und den Auftraggebern zugespitzt. Es wurden bereits Teilsiege errungen
- und bis Mai 2014 150 Abkommen unterzeichnet.
- In den Vereinigten Staaten, in Kanada, Australien, Italien, Deutschland und anderen
- Ländern prangern Pressekampagnen die verantwortlichen Auftraggeber an; Geschäfte,
- die in Bangladesch hergestellte Kleidung verkaufen, wurden boykottiert. Demonstranten
- blockierten wochenlang die Eingänge.
- Eine internationale Bekleidungsmarke, mag sie noch so berühmt sein und noch so
- geschickt im Marketing, hängt von ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit ab. Auf einem
- extrem wettbewerbsintensiven Weltmarkt ist es für jedes Unternehmen, auch für das
- mächtigste, tödlich, seine Glaubwürdigkeit zu verlieren, in diesem Fall die moralische.
- Adidas, Nike, Zara, Benetton und viele andere haben schließlich eingelenkt und
- Abkommen mit der Koalition geschlossen. Im März 2014 sind die ersten
- Entschädigungszahlungen geflossen. Bisher hat nur eine große Kette jede Verantwortung
- bestritten: der deutsche Bekleidungsdiscounter Kik. Coalition No Blood on my Clothes
- erwägt, vor einem deutschen Gericht Klage gegen Kik zu erheben wegen »fahrlässiger
- Tötung«.208
- Die Eigentümer der Fabrik im Rana Plaza weisen jede Verantwortung von sich und
- haben sich nach der Katastrophe nach Indien abgesetzt. Unter dem Druck der
- internationalen öffentlichen Meinung, die die Koalition alarmiert hat, musste die Justiz
- von Bangladesch ihre Auslieferung verlangen. Im Mai 2014 hat vor dem Strafgerichtshof
- in Dhaka der Prozess gegen sie begonnen.
- Noch eine andere Schlacht, in der die solidarische Vernunft der Rationalität des
- Finanzkapitals gegenübersteht, wird weltweit geschlagen: die Schlacht vor den Vereinten
- Nationen um die Annahme einer internationalen Konvention zum Schutz der Rechte von
- Kleinbauern.
- Seit Urzeiten steht die Landbevölkerung im Zentrum des Kampfs gegen Hunger und
- Elend, und das aus mindestens zwei Gründen: Zum einen liefert sie das, was die
- Menschen zum Leben brauchen; zum anderen stellen – paradoxerweise – die Kleinbauern
- und ihre Familien das mit Abstand größte Kontingent der Hungernden und Notleidenden.
- Elend und Hunger sind heute vor allem ein Problem der ländlichen Regionen. Sehen wir
- uns die Zahlen an: Von der Masse der gequälten Menschen (fast eine Milliarde), die laut
- FAO an dauernder, schwerer Unterernährung leiden, leben 75 Prozent auf dem Land.
- Die Situation der Landarbeiter und ihrer Familien hat sich seit 2008 erheblich
- verschlechtert. Nachdem das Banditentum der internationalen Banken die Finanzmärkte
- ruiniert hatte, wandten sich die großen Räuber – die Hedgefonds, die multinationalen
- Banken und so weiter – wie bereits erwähnt den Rohstoffen zu. Durch Spekulation mit Öl,
- Erz, aber auch und vor allem mit Agrarrohstoffen erzielten sie astronomische Gewinne.
- Aber Reis, Weizen und Mais sind Grundnahrungsmittel der Menschheit und decken in
- normalen Zeiten 75 Prozent ihrer Bedürfnisse. Innerhalb von fünf Jahren hat der
- Marktpreis für Reis, Mais und Weizen durch das Treiben der Spekulanten stark
- geschwankt, aber insgesamt zeigte die Tendenz klar nach oben. Seit 2008 hat sich der
- Preis für eine Tonne Brotweizen verdoppelt, der Preis für Mais ist um 31,9 Prozent
- gestiegen und der für Reis um 37 Prozent. Und das obwohl die Ernteerträge (zum Beispiel
- bei Reis) in den letzten Jahren regelmäßig gewachsen sind.209
- Die Explosion der Weltmarktpreise für landwirtschaftliche Rohstoffe hatte eine
- unerwartete Konsequenz: den Run der Spekulanten auf Ackerland in der südlichen
- Hemisphäre. Nach Angaben der Weltbank haben im Jahr 2012 Hedgefonds, Großbanken
- und andere »ausländische Investoren« 41 Millionen Hektar im subsaharischen Afrika
- aufgekauft. Und der Trend beschleunigt sich. Die Übernahme erfolgt auf zwei Wegen:
- Pacht über 99 Jahre zu lächerlichen Konditionen, Kauf oder Eigentumsübertragung
- praktisch zum Nulltarif nach Bestechungsmanövern.
- Eins meiner Bücher, Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten
- Welt, ist auf Französisch 2011 erschienen und wurde in etliche Sprachen übersetzt.210 Ich
- habe es bei mehreren Vorträgen in verschiedenen Städten in Europa, Amerika und Afrika
- vorgestellt.
- Im September 2011 sprach ich auf Einladung des norwegischen Außenministers im
- Litteraturhuset in Oslo. Am Ende meines Vortrags meldete sich jemand ganz hinten im
- Saal und stellte mir die Frage: »Wie kann es sein, dass es hier in Oslo saudi-arabische
- Kartoffeln zu kaufen gibt?« Ich antwortete: »Sie müssen sich irren. In Saudi-Arabien
- wachsen keine Kartoffeln.« Am nächsten Morgen warteten vor dem Hotel Bristol fünf
- Gewerkschafter auf mich, zwei Männer und drei Frauen, um mich in die großen Geschäfte
- zu begleiten. Und dort sah ich tatsächlich hohe Pyramiden mit Kartoffeln, leuchtend und
- groß wie Straußeneier, mit dem Etikett »Saudi Arabian potatoes«.211 Zurück in Genf,
- befragte ich meine Mitarbeiter, die das Rätsel mühelos aufklären konnten. In Gambela im
- Süden der äthiopischen Provinz Sidamo, im Tiefland an der Grenze zum Sudan, besitzen
- Scheich Mohammed Hussein Al Amoudi und seine Saudi Star Agricultural Development
- Company mehr als 150000 Hektar Ackerland. Sie zahlen der äthiopischen Regierung eine
- jährliche Pacht von 30 Birr (knapp 1 Euro) pro Hektar. Die Nuer-Bauern wurden von der
- Armee verjagt. Wohin? Vermutlich in die dreckigen Slums von Addis Abeba. Auf ihrem
- Land produzieren jetzt Arbeiter aus Sri Lanka Rosen und Kartoffeln, die Al Amoudi in die
- Länder mit hoher Kaufkraft exportiert – unter anderem nach Norwegen.
- Via Campesina ist eine weltweite Bewegung, der Organisationen von Landlosen, kleinen
- und mittleren Bauern, Pächtern, Landfrauen, Landarbeitern, Fischern, Viehzüchtern,
- Wanderarbeitern und autonomen landwirtschaftlichen Gemeinschaften in Afrika, Asien,
- Amerika und Europa angehören. Gegründet wurde sie 1993.212 Sie definiert sich als
- autonom, pluralistisch und politisch unabhängig. Ein internationaler
- Koordinationsausschuss (CVC, Coordination Via Campesina) mit 18 Mitgliedern, zwei für
- jede Region (ein Mann und eine Frau), vertritt die Kleinbauern- und
- Landarbeiterorganisationen von neun Regionen der Erde: Europa, Ostasien und
- Südostasien, Südasien, Nordamerika, Karibik, Mittelamerika, Südamerika, Afrika 1
- (südliches und östliches Afrika), Afrika 2 (westliches Afrika). Der CVC ist das wichtigste
- Band zwischen den verschiedenen Einzelorganisationen.
- Alle zwei Jahre wird auf Kongressen der Bewegung die Strategie festgelegt. Der CVC
- koordiniert die Aktionen auf den fünf Kontinenten, und das Generalsekretariat kümmert
- sich um die tägliche Kommunikation zwischen den verschiedenen Gewerkschaften und
- Bewegungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Die Organisationen, die Via
- Campesina bilden, stammen aus 70 Ländern und haben insgesamt mehr als 200 Millionen
- Mitglieder. Das Generalsekretariat rotiert. Gegenwärtig wird Via Campesina von Harare
- (Simbabwe) aus von einer starken, durchsetzungsfähigen, warmherzigen und fröhlichen
- Frau geleitet, Elizabeth Mpofu.
- Ich erinnere mich sehr gern an ihren Vorgänger Henry Saraghi, einen gedrungenen Mann
- mit einem Gesicht voller Narben, Lachfältchen, dunkler Haut. Er war Bauer in Indonesien
- und Mitbegründer der mächtigen FSPI (Federasi Serikat Petani Indonesia). Wie viele seiner
- Kameraden hatte er wie durch ein Wunder überlebt: in seinem Fall die Folterkeller und
- Exekutionskommandos der indonesischen Generäle, die im Dienst der Großgrundbesitzer
- stehen. Saraghi und Menschen wie er sind das Salz der Erde.
- Andere große Bauernbewegungen wie die FIMARC (Fédération internationale des
- Mouvements d’adultes ruraux catholiques, Internationale Katholische
- Landvolkbewegung), die älteste, bereits 1964 entstandene Bewegung mit heute rund 3
- Millionen Mitgliedern, haben sich Via Campesina angeschlossen.
- Seit jeher kämpfen Bauern auf allen Kontinenten für ihr Land, ihre Identität, ihr
- Überleben. 1992 wurden auf Anregung von führenden Mitgliedern des brasilianischen MST
- (Movimento dos trabalhadores rurais sem terra, Bewegung landloser Landarbeiter) und
- französischen Bauernführern wie José Bové erste internationale Kontakte geknüpft. Im
- Juni 2002 tauchte Via Campesina auf der internationalen Bühne auf. Damals fand in Rom
- der Welternährungsgipfel der FAO (Food and Agriculture Organization, Ernährungs- und
- Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) statt. Die anwesenden Staats- und
- Regierungschefs segneten die neoliberale Landwirtschaftsstrategie der
- Welthandelsorganisation (WTO) ab, die von der FAO übernommen worden war. Diese
- Strategie postuliert die vollkommene Freiheit des Handels mit Lebensmitteln. Jedes
- Lebensmittel soll dort produziert werden, wo die Kosten am niedrigsten sind, und dann in
- die Länder, die es konsumieren, exportiert werden. So importiert der Senegal heute 70
- Prozent seiner Nahrungsmittel, vor allem Reis, aus Thailand und Vietnam und gibt sein
- bestes Land für die Produktion von Erdnüssen her, die für die französische
- Speiseölindustrie bestimmt sind. Mali exportiert Baumwolle und importiert zum größten
- Teil den Reis, den es verbraucht. Es gibt noch viele weitere ähnlich absurde Beispiele.
- Wegen der Preisexplosion als Folge der Spekulation an Lebensmittelbörsen verursacht
- die Strategie der WTO in vielen Ländern, allen voran afrikanischen, Hunger und schwere
- Unterernährung. 2013 importierten die 54 Länder des afrikanischen Kontinents
- Nahrungsmittel im Wert von 24 Milliarden US-Dollar. Aber viele haben nicht die nötigen
- finanziellen Mittel, um ausreichende Importe sicherzustellen, und überlassen einen Teil
- ihrer Bevölkerung dem Hungertod.
- Via Campesina hat alle Bauernbewegungen gegen diese neoliberale Konzeption des
- Handels mit Agrarprodukten mobilisiert. Die Organisation will das Prinzip der
- Ernährungssouveränität durchsetzen, mit anderen Worten: das Recht eines jeden Landes,
- sich selbst zu versorgen und seine Bauern, ihr Land und ihre Produktionsmittel, ihr
- Saatgut, ihr Wasser, die Biodiversität zu schützen. Zu diesem Ziel hat Via Campesina der
- UNO die Ausarbeitung einer internationalen Konvention vorgeschlagen.
- Henry Saraghi und seine Mitarbeiter bekommen Unterstützung von vielen Regierungen:
- aus Bolivien, Venezuela, Algerien, Südafrika, Kuba. Diese Staaten haben ihre
- Forderungen dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen vorgelegt.
- Die privaten multinationalen Hersteller von Saatgut und Düngemitteln sowie die großen
- Agrarkonzerne (Monsanto, Cargill, Continental, Dreyfus, Bunge und andere) und an ihrer
- Seite die Hedgefonds haben eine massive Reaktion organisiert und auf alle erdenklichen
- Arten Druck auf die westlichen Regierungen ausgeübt. Letztere wehren sich heute gegen
- eine Konvention.
- Ein besonders umstrittener Punkt ist – neben dem Schutz der Biodiversität und damit
- der Auswahl des Saatguts – die Festlegung des Gerichtsstands bei Konflikten zwischen
- »ausländischen Investoren« und den ausgebeuteten Bauern vor Ort.
- Vincent Bolloré ist ein enger Freund des Präsidenten von Benin, Boni Yayi. Dank ziemlich
- undurchsichtiger Verträge hat Bolloré Konzessionen über etliche Tausend Hektar mit
- Ölpalmen in Benin erhalten. Aber Nestor Mahinou und seine Kameraden von der
- Bauerngewerkschaft Synergie paysanne verteidigen die Kleinbauern in Benin, die von
- Bolloré von ihrem Land verjagt wurden. In Kamerun ist Alexandre Vilgrain ein Vertrauter
- des Staatschefs Paul Biya. Vilgrains Firma SOMDIAA SA (Société d’organisation de
- management et de développement des industries alimentaires et agricoles, Gesellschaft
- für die Leitung und Entwicklung der Nahrungsmittel- und Agrarindustrie) hat mit dem
- Staat Kamerun einen Pachtvertrag mit 99 Jahren Laufzeit über 11000 Hektar fruchtbares
- Land abgeschlossen. Auch hier haben die geplünderten Bauern energischen Widerstand
- geleistet.
- Die gewerkschaftlich organisierten Bauern in Benin und Kamerun haben lange juristische
- Kämpfe vor den Gerichten ihrer jeweiligen Länder ausgefochten, um die Aufhebung dieser
- Verträge zu erreichen. Finanziell werden sie von der mächtigen IUF (International Union of
- Food213, Internationale Gewerkschaft der Nahrungsmittelarbeiter) unterstützt, und
- beraten werden sie bei ihrer Strategie von der sympathischen und überaus kompetenten
- Sue Longley, die bei IUF für den juristischen Beistand für Arbeiter in der Landwirtschaft
- und auf Plantagen zuständig ist. Aber die Unabhängigkeit der Justiz ist in den beiden
- genannten Ländern weitgehend nicht existent. Die Klagen der Gewerkschafter wurden
- abgewiesen.
- Der Artikel der Konvention, der den ausgebeuteten Bauern (und den Gewerkschaften,
- die sie vertreten) das Recht auf einen Gerichtsstand im Ausland zuspricht, ist deshalb
- entscheidend wichtig. Der ausländische Gerichtsstand ist der des Landes, aus dem der
- Ausbeuter stammt, im Fall von Bolloré und Vilgrain Frankreich.
- Im Sommer 2014 tobt die diplomatische Schlacht um Annahme oder Ablehnung der
- Konvention durch den Menschenrechtsrat. Eine interstate working group (eine
- Arbeitsgruppe, die aus Vertretern von Mitgliedsstaaten des Menschenrechtsrats besteht)
- unter dem Vorsitz von Angélica Navarro Llanos, der energischen Botschafterin Boliviens
- bei den Vereinten Nationen in Genf, versucht gegenwärtig, im Hinblick auf die Annahme
- der neuen Normen Kompromisslösungen mit den Vereinigten Staaten, Japan, Kanada,
- Australien und Deutschland auszuarbeiten.
- Aber schon jetzt hat die internationale Zivilgesellschaft, mobilisiert von Via Campesina,
- unerwartete Erfolge errungen. Hier einige Beispiele.
- Syngenta, einer der weltweit größten Konzerne in der Agrochemie, ist der zweitgrößte
- Produzent von Saatgut und Pestiziden. Die Firma hat ihren Sitz in Basel. Im
- schweizerischen Parlament und in der Presse hat Syngenta effiziente Söldner. In den
- Jahren 2012/2013 machten sich die schweizerischen Diplomaten dementsprechend für die
- Ablehnung der Konvention stark.
- Danach kam es zu einer radikalen Wende: Im Bündnis mit der evangelischen und der
- katholischen Kirche, einigen wenigen unabhängigen Abgeordneten und
- Solidaritätsbewegungen zwang die Gewerkschaft Uniterre die Regierung zu einem
- Kurswechsel. Seitdem setzt sich die schweizerische Regierung für die Rechte der Bauern
- ein, unterstützt ihren Kampf gegen transgenes Saatgut und ihr Recht auf einen
- Gerichtsstand im Ausland. Im April 2014 finanzierte das schweizerische Außenministerium
- sogar ein Seminar in Genf mit Beteiligung von Experten aus aller Welt, bei dem die
- Thesen von Via Campesina verbreitet und untermauert wurden.
- In Frankreich ist die Confédération paysanne von José Bové, ebenfalls Mitglied von Via
- Campesina, dabei, den Widerstand des Außenministeriums zu brechen. Deutschland, das
- der Konvention lange ablehnend gegenüberstand, will ebenfalls seine Haltung ändern.
- Flavio Valente, der Generalsekretär von FIAN (Food International Action Network) und
- seinem Vorgänger Michael Windfuhr ist es gelungen, eine schlagkräftige nationale
- Koalition zusammenzubringen, die in der Lage ist, den Druck von Bayer und anderen
- deutschen Giganten der Agrochemie auf die Regierung Merkel zu neutralisieren.
- Der Kampf ist noch lange nicht gewonnen. Aber bereits heute erringen die neue
- weltweite Zivilgesellschaft und ihre solidarische Vernunft in den westlichen Ländern
- immer wieder Siege gegen die Rationalität des globalisierten Finanzkapitals und bringen
- damit Hunderten Millionen bäuerlichen Familien auf der ganzen Welt Hoffnung und eine
- Chance für ihr Überleben.
- SCHLUSS
- Auf welcher Seite stehst du?
- Mit wem säße der Rechtliche nicht zusammen
- Dem Recht zu helfen?
- Welche Medizin schmeckte zu schlecht
- Dem Sterbenden?
- Welche Niedrigkeit begingest du nicht, um
- Die Niedrigkeit auszutilgen?
- Könntest du die Welt endlich verändern, wozu
- Wärest du dir zu gut?
- Wer bist du?
- Versinke in Schmutz
- Umarme den Schlächter, aber
- Ändere die Welt, sie braucht es!
- Bertolt Brecht, Ändere die Welt214
- »Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in
- mir.« Ich wiederhole die Erkenntnis von Kant und mache sie mir zu eigen. Jeder von uns
- trägt den kategorischen Imperativ in sich.215 Er ist der Motor der weltweiten
- Zivilgesellschaft. Das Bewusstsein der Identität – ich bin der andere, der andere ist ich –
- gehört wesensmäßig zum Menschen. Das grundlegende Prinzip des kapitalistischen
- Systems ist die unerbittliche Konkurrenz zwischen den Individuen und den Völkern. Das
- Bewusstsein der Identität und der moralische Imperativ setzen eine radikal
- entgegengesetzte Strategie in Gang: die der Solidarität.
- Die Logik des Kapitals gründet auf Konfrontation, Krieg, Vernichtung; die Logik der
- Solidarität gründet auf Komplementarität und Reziprozität der Beziehungen zwischen den
- Menschen.
- Theodor W. Adorno stellt in seinen Minima moralia fest: »Es gibt kein richtiges Leben im
- falschen.«216
- Unmittelbar nach dem Sieg der sandinistischen Rebellen in Managua sah ich folgendes
- Transparent an der baufälligen, von tropischen Unwettern ausgewaschenen Fassade des
- Innenministeriums: »La solidaridad es la ternura de los pueblos« (»Die Solidarität ist die
- Zärtlichkeit der Völker«).217
- Ist es nicht utopisch, die Strategie der Solidarität der Strategie der Konkurrenz, der
- Unterwerfung und Ausbeutung entgegenzusetzen? Wie wir gesehen haben, dominieren
- die Oligarchien den öffentlichen Diskurs in Europa, Nordamerika, Japan, China und so
- weiter. So haben Millionen von Menschen, die doch zum größten Teil frei leben in
- Gesellschaften, in denen Informationen ungehindert zirkulieren, den moralischen
- Imperativ aus den Augen verloren, weil er unter falschen Bedeutungen verschüttet ist und
- erstickt wird. In den westlichen Gesellschaften – und in den Gesellschaften der südlichen
- Hemisphäre, die sie imitieren – ist die Entfremdung des kollektiven Bewusstseins beinahe
- vollständig. Ich habe es in diesem Buch gezeigt.
- Max Horkheimer schreibt, »daß nicht nur der unvermittelte Zwang diese Ordnung jeweils
- aufrechterhalten hat, sondern daß die Menschen selbst sie bejahen lernten«.218
- Ist also alle Hoffnung vergebens, illusorisch, nur ein Trostpflaster angesichts des Bildes,
- das eine verrückt gewordene Welt bietet? Ist die Geschichte wie das Leben selbst »eine
- Mär/Aus einem Tölpelmund, voll von Getön/Und Toben, und bedeutet nichts« (»a
- tale/Told by an idiot, full of sound and fury/Signifying nothing«), wie Shakespeare
- Macbeth sagen lässt?219 Ich glaube nicht. Die Widerstandskämpfe der weltweiten
- Zivilgesellschaft zeigen es.
- Ein neues, noch ungenügend artikuliertes Bewusstsein für die eigene Situation entwickelt
- sich heute in Europa – und andernorts auf der Erde. Marx schrieb an seinen Freund
- Weydemeyer: »Der Revolutionär muß imstande sein, das Gras wachsen zu hören.« In
- diesem Zusammenhang ist äußerste Aufmerksamkeit, allergrößte geistige Wachheit
- vonnöten. Die Verweigerungsfront – die gemeinsame Front von Männern und Frauen, die
- sich dieser kannibalischen Weltordnung nicht mehr unterwerfen wollen – ist überall aktiv.
- Sie handelt spontan, kein Zentralkomitee leitet sie, keine Parteilinie und kein Dogma
- engen sie ein. Der moralische Imperativ taucht oft dann auf, wenn man es am wenigsten
- erwartet, und löst kollektiven Widerstand aus, Insubordination. Daniel Bensaïd zitierte
- gern Sätze von Charles Péguy über den 14. Juli 1789: »Niemandem wurde befohlen, die
- Bastille einzunehmen. Niemand wurde dazu bestimmt.«220 Und Bensaïd fügt hinzu:
- »Trotzdem wurde sie eingenommen.«221
- Hören wir, was Riccardo Petrella sagt: »Der neue Diskurs, der jeden Tag in allen
- Sprachen von den Medien aller Länder geführt wird, sagt uns, dass die gegenwärtige
- Globalisierung ein grundlegender, unausweichlicher, unwiderstehlicher Sachzwang ist,
- gegen den niemand ankämpfen und sich wehren kann. Die Globalisierung verschärft in
- bislang nie gekanntem Ausmaß die meisten politischen, wirtschaftlichen,
- gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen, vor denen die menschlichen
- Gesellschaften stehen […] Im dominierenden Diskurs ist ›Anpassung‹ das Schlüsselwort.
- Es heißt, man müsse sich an die Globalisierung anpassen. Wer sich nicht anpasst, wird
- eliminiert. Das Überleben eines jeden hängt von erfolgreicher Anpassung ab.«222
- Nun sind da aber auch jene, die sich nicht anpassen, die die Unterwerfung verweigern,
- die ihre Freiheit einfordern und die falsche Ordnung der Welt überwinden wollen. Sie
- setzen ihr die Hoffnung auf eine Welt entgegen, in der es Gerechtigkeit und Glück für alle
- Menschen gibt.
- Niemand kann sie zum Schweigen bringen. Wir erleben Tag für Tag, wie ihre Zahl größer
- wird und ihre Stimme lauter.
- Die Verweigerungsfront, diese unsichtbare Bruderschaft der Nacht, versammelt heute
- viele Tausend Männer und Frauen aus dem Westen, dem Osten, dem Norden und dem
- Süden, die die negative Einheit der Welt nicht mehr ertragen, eine Ordnung, die es als
- natürlich, universell und notwendig hinstellt, dass einige wenige unglaublich reich sind,
- während die große Masse zugrunde geht. Mit ihrer radikalen Kritik an dieser Ordnung
- verkörpern sie den Wunsch nach dem ganz anderen, den Tagtraum, die positive Utopie,
- die Eschatologie einer Welt, in der Gerechtigkeit regiert.
- Die Verweigerungsfront hat ihre eigene Sprache. Es ist die Sprache der individuellen und
- kollektiven Opposition, eine abweichende Sprache. Ihre Kritik ist heute viel radikaler als
- jede in Formeln erstarrte Ideologie. Denn sie zielt nicht darauf ab, die Macht zu
- übernehmen, sondern will alle Macht zerstören, die Menschen über andere Menschen
- ausüben.
- Eine prometheische Überzeugung bewegt die Kämpfer der Verweigerungsfront. Wie die
- deutschen Neomarxisten glauben sie, dass es kein »Ende der Geschichte« gibt, dass die
- menschliche Praxis das einzige Subjekt der Geschichte ist und dass die Menschen,
- solange sie existieren, versuchen werden, immer neue Bereiche der noch nicht
- vermittelten Natur in gesellschaftliche Realität zu verwandeln. Das endgültige Ziel aller
- Aktivisten der Zivilgesellschaft ist es, möglichst viel von der Welt in »Bewusstsein« zu
- verwandeln, eine möglichst große Zahl von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und
- politischen Verhaltensweisen der solidarischen Vernunft zu unterwerfen.
- Im Verlauf der Geschichte entfaltet sich ihr Sinn. Ihr Fortgang fördert schrittweise
- objektiv richtiges Wissen über die Welt und die Menschen zutage. Jean Jaurès hat es so
- ausgedrückt: »Der Weg ist von Leichen gesäumt, aber er führt zur Gerechtigkeit.«223 Die
- Geschichte verläuft somit vektoriell. Sie geht in eine bestimmte Richtung. Ihr endgültiges
- Ziel, das etappenweise erreicht wird – aber jede Etappe kann jederzeit durch absurdes
- Handeln oder Verrat abbrechen –, ist die Errichtung einer solidarischen Gesellschaft, die
- Humanisierung des Menschen, die Entfaltung all seiner unendlichen schöpferischen
- Kräfte, seiner Fähigkeit, glücklich zu sein, zu lieben, kurzum, seiner Freiheit.
- Dieser Sinn der Geschichte, diese objektive Vernunft, diese Eschatologie verkörpern die
- sozialen Bewegungen der neuen weltweiten Zivilgesellschaft.
- Wie ihr Kampf ausgehen wird, weiß heute niemand. Die Zukunft gehört der befreiten
- Freiheit im Menschen. Welche Gesellschaft der befreite Mensch erschaffen wird, gehört
- dem Mysterium der Geschichte an.
- Erinnern wir uns an das Gedicht von Antonio Machado:
- Wanderer, es gibt keinen Weg,
- Den Weg bahnst du im Gehen.
- Schritt um Schritt, Gedanken um Gedanken –
- Wanderer, deine Spuren sind dieser Weg
- Und nichts anderes mehr.
- Wanderer, es gibt keinen Weg. Den Weg bahnst du im Gehen.
- […]224
- Sieg oder Niederlage der neuen planetarischen Zivilgesellschaft liegen im Dunkeln. Wohin
- führt der Weg? Wie lange dauert der Marsch? Allein der Horizont ist bekannt. Die Völker
- der Erde haben ihn formuliert im Ausgang des fürchterlichen Weltkriegs:
- »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit
- Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit
- begegnen.«225
- »Den Feind erkennen! Den Feind bekämpfen!«, sagt Jean-Paul Sartre.
- Jeder und jede von uns muss in jedem Augenblick seines und ihres Handelns klar
- wählen, wo er oder sie steht. Er muss die Frage beantworten, wie sie in einem
- berühmten Lied der amerikanischen Arbeiterbewegung gestellt wird: Which Side Are You
- On? (1931) – auf welcher Seite stehst du? Die Feinde des Menschen sind heute die
- weltweite Diktatur der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals und die absurde
- Ordnung, die sie dem Planeten aufzwingt mit ihrem Gefolge aus gedemütigten,
- hungernden Menschen und zerstörten Familien.
- Die Bemühungen der Intellektuellen nützen heute nichts, wenn sie den Feind nur
- bekannt machen und nicht auch dazu beitragen, die Menschen in die Lage zu versetzen,
- ihn zu bekämpfen und zu besiegen.
- Hören wir Voltaire: »Die Freiheit ist das einzige Gut, das sich nur abnutzt, wenn man es
- nicht benutzt.« Ich sage es noch einmal: Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Die
- allermeisten Oligarchen stammen aus Nordamerika und Europa. Bürger und Bürgerinnen
- dieser Staaten besitzen laut Verfassung alle demokratischen Rechte, Freiheiten und
- Werkzeuge, die notwendig sind, um die Diktatur der Konzerne zu stürzen. Alles, was es
- braucht, ist, die verfassungsmäßigen Waffen zu ergreifen und sie gegen die
- weltbeherrschende Finanzoligarchie zu richten … und schon morgen früh bricht die
- kannibalische Weltordnung zusammen.
- Der Entfremdungs- und Unterdrückungsapparat zeigt Risse. In Südeuropa, in Frankreich,
- in Deutschland entstehen radikale gesellschaftliche Widerstands- und Protestbewegungen
- und schließen sich zusammen. Auf den fünf Kontinenten wirkt die neue weltweite
- Zivilgesellschaft. Der moralische Imperativ ist ihr Antrieb, aber auch die Wut, der Zorn
- über das Chaos in der Welt. Wie Victor Hugo gesagt hat: »Der Zorn facht den Aufruhr an
- wie der Wind das Feuer.«226
- Im Süden und im Norden, im Osten und im Westen hat sich der Wind erhoben.
- Auf den Fronten des Widerstands ruht die Hoffnung der Völker.
- Bertolt Brecht sehnte in sehr finsteren Zeiten die Morgenröte herbei:
- Am Grunde der Moldau wandern die Steine
- Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
- Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
- Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
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