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Die Festung von Ebersdorf

Sep 30th, 2013
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  1. Sächsische Zeitung online
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  3. Samstag, 28.09.2013
  4. Die Festung von Ebersdorf
  5. Eine ehemalige Kaserne in Chemnitz ist die erste Station für Asylbewerber, wenn sie nach Sachsen kommen. Was hinter den hohen Zäunen abgeht, erfährt die Öffentlichkeit erst, wenn Konflikte eskalieren, wie am vergangenen Mittwoch.
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  7. Von Thomas Schade
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  9. Mauern und Zäune gab es schon immer auf dem Adalbert-Stifter-Weg im Chemnitzer Stadtteil Ebersdorf. Fast hundert Jahre lang drillten dahinter Militärs ihre Rekruten – erst die des Kaisers in der Friedrich-August-Kaserne, später die der Roten Armee. Dann verschwanden die Soldaten und die Betonmauern wichen modernen, zwei Meter hohen, grünen Metallzäunen – bekrönt von drei Reihen Nato-Draht. Scheinwerfer sorgen in der Nacht für Licht am Zaun. Elektronische Augen beobachten, was auf dem weiträumigen Gelände geschieht. Für Passanten ist das Treiben kaum einsehbar, ein Erdhügel versperrt den Blick über den einstigen Exerzierplatz zu dem Gebäude, in dem sich Küche und Speisesaal befinden sollen. Am Eingang hindert, wie eh und je, ein schweres Tor ungebetene Besucher am Zutritt. Bis vor wenigen Tagen lebten über 700 Asylsuchende aus den verschiedensten Konfliktgebieten der Welt auf dem Gelände. Es ist ein Schmelztiegel der Kulturen – gesichert wie eine Festung. Für jährlich 3.000 bis 4.000 Flüchtlinge ist es die erste Anlaufstelle, wenn sie nach Sachsen kommen.
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  11. Was sich hinter dem Sicherheitszaun des Grundstücks mit der Nummer 25 abspielt, bleibt der Öffentlichkeit weitgehend verborgen. Auf einer roten Backsteinmauer am Eingang leuchten drei Schilder: das der Landesdirektion Sachsen, das der Malteser und das des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Im Bundesamt werden die ankommenden Flüchtlinge erfasst und später auf die Landkreise verteilt. Die Landesdirektion ist Eigentümer und Hausherr der Immobilie und hat die Malteser beauftragt, die Einrichtung zu betreiben.
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  13. Am Eingang hinter Sicherheitsglas sitzt ein Mitarbeiter vom WSM, dem Wachschutz Mittweida. Er öffnet und schließt das schwere Rolltor und überwacht das Kommen und Gehen. „Ich kann Sie nicht reinlassen, wenn Sie keinen Termin haben“, sagt er höflich. Einen Besichtigungstermin zu bekommen ist unmöglich. Ein Mitarbeiter des Bundesamtes fühlte sich nicht zuständig. Er bearbeite hier nur die Anträge und die Verfahren an den Verwaltungsgerichten, sagt er am Telefon. Ein Sprecher der Malteser bittet um Verständnis, dass sich die Landesdirektion jegliche Pressearbeit vorbehalten habe.
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  15. Tatsächlich existiert hinter dem hohen grünen Zaun am Adalbert-Stifter-Weg so etwas wie eine medienfreie Zone. Öffentlichkeit ist hier unerwünscht. Seit Jahren schon hat kein Journalist mehr Zutritt zu den Unterkünften der Flüchtlinge erhalten. Das bestätigte gestern Ingolf Ullrich, Sprecher der Landesdirektion. Das sei eine Entscheidung der Spitze des Hauses gewesen, weil es sich um besonders sensible Bereiche handele. Damit dürfte die Chemnitzer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge eine der verschlossensten, steuerfinanzierten Behörden Sachsens sein.
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  17. Folgerichtig verweigert der Wachmann am Tor Besuchern konsequent den Zutritt. Außerdem könne er deren Sicherheit nicht garantieren. „Was denken Sie, wie schnell hier was passiert“, sagt der Mann in der blauen Uniform und schaltet die Wechselsprechanlage ab.
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  19. Wahrscheinlich meint er die Ereignisse vor wenigen Tagen, als sich Dutzende Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern in die Haare bekommen hatten. 19Personen seien dabei verletzt worden, heißt es bei der Polizei, zwei besonders schwer. Mehr als 300 Unterkunftsplätze in der ohnehin überfüllten Einrichtung sind nach der Keilerei vorerst nicht nutzbar. Die Polizei ermittelt nun gegen mutmaßliche Schläger aus Russland, dem Kosovo, Georgien und Nordafrika. Mittlerweile sollen 200 der ursprünglich 730 Flüchtlinge in die ehemalige Jägerkaserne nach Schneeberg verlegt worden sein, wo der Freistaat seit einigen Monaten eine Außenstelle der Erstaufnahmeeinrichtung betreibt.
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  21. Hinter dem Tor am Adalbert-Stifter-Weg stehen Polizeiwagen, und ein halbes Dutzend Beamte langweilt sich offensichtlich. Drinnen patrouillieren einige Kollegen mit leuchtend grünen Westen. Nur hin und wieder kontrollieren die Polizisten junge Männer, die aus der Stadt kommen – oft bepackt mit Plastiktüten. Die Beamten suchen nach Alkohol. Die Flüchtlinge müssen ihr Bier aus dem Supermarkt draußen lassen oder vor dem Tor austrinken.
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  23. Über das Leben hinter dem Zaun kann man nur von den Asylbewerbern selbst etwas erfahren. Wie von Can und Hasan, zwei Kurden, die seit zwei Monaten im Heim leben und mit etwas Deutsch und Englisch erzählen, dass sich die Situation in den letzten Wochen immer mehr zugespitzt habe. Unter Arabern und Tschetschenen habe sich Feindschaft gebildet, sagt einer der beiden. Das würde schon im Speisesaal losgehen, wo die verfeindeten Gruppen um die Vorherrschaft gekämpft hätten. Jetzt sei das Haus geräumt, in dem sie gelebt haben. Die Polizei sei noch immer da drin und würde im gesamten Areal Streife laufen. Can und Hasan dürfen die Einrichtung jederzeit verlassen. Sie besitzen, wie jeder Asylbewerber hier so etwas wie einen elektronischen Schlüssel. Den drücken sie auf ein Lesegerät, danach wird die eiserne Drehtür entriegelt, sie können nach draußen.
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  25. Auf dem Adalbert-Stifter-Weg sind sie nicht unbeobachtet. Auf der anderen Straßenseite reihen sich Siedlungshäuser aneinander. An jedem vierten Grundstück haben die Hausherren Videokameras auf ihre Gartentore gerichtet. Einer von ihnen, er möchte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, sagt geradeheraus, dass er wegen der Asylbewerber nicht nur elektronisch aufgerüstet hat. „Ich habe auch einen Hund, der nachts draußen ist.“ Der Mann kramt einen Zeitungsausschnitt hervor. „Massenschlägerei, 4 Verletzte, 42 festgenommen“ heißt die Schlagzeile. Beschrieben wird eine Auseinandersetzung zwischen Asylbewerbern aus dem Jahr 1996. Damals waren Albaner auf Araber losgegangen, weil ein Asylbewerber aus dem Irak angeblich das öffentliche Telefon zu lange benutzt und Albaner damit verärgert hatte. Streit gebe es „mit denen“ immer, mal mehr mal weniger, sagt der Mittfünfziger, der hier auf der Straße groß geworden ist. „Mit den Russen hatten wir uns arrangiert, mit den Asylbewerbern wird das wohl nie passieren.“
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  27. Wenn sich Deutsche und Asylbewerber nach fast 20 Jahren noch fremd sind auf dem Adalbert-Stifter-Weg, das liegt nach Ansicht von Ali Moradi vom sächsischen Flüchtlingsrat vor allem auch am festungsartigen Charakter der Einrichtung. Seit Jahren würden sich Hilfsorganisationen um ein Büro in der Einrichtung bemühen. „Da geht kein Weg rein“, sagt er. Von den 20 Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland sei die in Chemnitz die mit den größten Restriktionen. „Das ist der sächsische Sonderweg in der Flüchtlingspolitik“, sagt er. Auch Moradi habe die Unterkünfte in Chemnitz bisher nicht betreten dürfen. So führe die AG In- und Ausländer Chemnitz ihre Beratungsgespräche vor dem Tor auf der Straße durch. Er kenne keine derartige Einrichtung, die so abweisend auf Betreuungsangebote reagiere.
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  29. Dass soziale Angebote notwendig sind, steht für Ali Moradi außer Frage. „Die Menschen kommen aus Krisenregionen, haben mitunter familiäre Tragödien hinter sich, viele sind in schwieriger seelischer Verfassung.“ Diese Leute könne man nicht allein lassen. Und der Geschäftsführer des Flüchtlingsrates schätzt ein: „Diese Defizite sind eine Ursache für die unschönen Dinge, die sich in Chemnitz zugespitzt haben.“
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