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Mar 22nd, 2018
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  1. Die Lehre vom Himmel
  2. Das haben sich die Väter des Grundgesetzes anders gedacht: Warum der Religionsunterricht in vielen Bundesländern zur Lebenskunde verkommen ist – und es eine neue religiöse Wissensvermittlung braucht
  3. Ein Gastbeitrag von Hans Michael Heinig
  4. 23. Februar 2018, 8:00 Uhr
  5. AUS DER
  6. ZEIT NR. 09/2018
  7. DIE ZEIT 9/2018
  8. Religionsunterricht: Ein Kreuz in einem Klassenzimmer einer Grundschule in Bayern (Archiv)
  9. Ein Kreuz in einem Klassenzimmer einer Grundschule in Bayern (Archiv) © Karl-Josef Hildebrand/dpa
  10. Mit dem Religionsunterricht ist es ein bisschen wie mit einem Spiel der Fußballnationalmannschaft: Wir sind ein Volk von 82 Millionen Nationaltrainern und genauso vielen religionspädagogischen Besserwissern. Während der Ruf der Nationalmannschaft glänzend ist, ist das Image des Religionsunterrichts ziemlich schlecht. Die Klage über Lehrer und Fächer gehört zwar zum Schulalltag wie Pausenbrote und lange Sommerferien. Doch hört man sich im Freundes- und Bekanntenkreis um, scheint kein anderes Fach so verspottet und verrufen wie der Religionsunterricht.
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  13. Etwas Spezielles ist der Religionsunterricht auch im Rechtssinne. Er ist als einziges Schulfach ausdrücklich im Grundgesetz erwähnt: Artikel 7 GG bestimmt, dass der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach ist und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt wird. Die Erziehungsberechtigten bestimmen bis zur Religionsmündigkeit des Kindes über die Teilnahme. Kein Lehrer kann gezwungen werden, Religionsunterricht zu erteilen.
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  15. Ordentliches Lehrfach heißt: Der Religionsunterricht ist in mancherlei Hinsicht ein Schulfach wie andere auch. Die normalen Rechtsvorschriften für Schulen finden Anwendung. Es greift, vorbehaltlich der Möglichkeit, sich abzumelden, die allgemeine Schulpflicht. Es gibt Prüfungen und versetzungsrelevante Noten. Der Staat trägt die organisatorische Verantwortung (und die Kosten). Er stellt das Lehrpersonal und trägt für seine Ausbildung Sorge. Der Religionsunterricht ist an allgemeine staatliche Erziehungsziele wie die Befähigung zur individuellen Selbstbestimmung und das Erlernen von Gemeinsinn gebunden. Den konkreten Unterrichtsinhalt aber bestimmen Religionsgemeinschaften und nicht der Staat. Sie sind es auch, die die religiöse Befähigung des Lehrpersonals beglaubigen müssen.
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  17. Die Regelung zum Religionsunterricht in unserer Verfassung ist das Überbleibsel einer langen institutionellen Säkularisierungsgeschichte. Im Mittelalter lag das Schulwesen noch in Kirchenhand. Mit der Reformation änderte sich das. Der sich ausbildende moderne Staat lernte schnell, wie wertvoll der Zugriff auf die Erziehung der heranwachsenden Zöglinge machtstrategisch ist. Außerdem veränderte sich das Verständnis von Schule infolge der Aufklärung grundlegend. Ende des 18. Jahrhunderts wurden alle Schulen der staatlichen Schulaufsicht unterstellt, doch bis 1919 blieben Ortsgeistliche in diese Aufsicht eingebunden. Noch Anfang der 1960er Jahre waren viele öffentliche Schulen Konfessionsschulen; erst allmählich setzten sich gemischtkonfessionelle Gemeinschaftsschulen durch. Heute hat nur noch Nordrhein-Westfalen ein weitverzweigtes Netz öffentlicher, zumeist katholischer Konfessionsschulen.
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  20. Die 1949 ausgehandelten Bestimmungen zum Religionsunterricht passen sich nahtlos in das sonstige Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes ein. Man wahrte, wie schon in der Weimarer Republik, Abstand zum laizistischen Frankreich. Religion ist hierzulande nicht einfach Privatsache. Der Staat des Grundgesetzes ist offen für die Religionen seiner Bürger, gerade damit er selbst nicht religiös oder weltanschaulich wird. Weil der Staat "Heimstatt aller Bürger" sein soll, muss er selbst religiös-weltanschaulich neutral bleiben. Folglich kooperiert er dort, wo religiöse oder theologische Kompetenzen gefragt sind, mit Religionsgemeinschaften, also dem Zusammenschluss konfessionell gleich gesinnter Bürger. Auf diese Weise fördert der Staat die positive Religionsfreiheit der Angehörigen einer Religion und schützt zugleich die negative Religionsfreiheit aller anderen.
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  22. Christ&Welt 9/2018
  23. Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 09/2018. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
  24. Was in der juristischen Theorie so wunderbar klingt, verursacht in der Praxis zunehmend Dissonanzen. Denn die empirische Ausgangslage hat sich seit der Verabschiedung des Grundgesetzes grundlegend verändert. Die Volkskirchen schrumpfen, die Zahl der Konfessionslosen steigt, und Migrationsbewegungen haben zu einer neuen Qualität religiöser Vielfalt geführt.
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  26. Das hinterlässt auch in den Schulen und damit im Religionsunterricht Spuren. Nach der letzten Auswertung der Kultusministerkonferenz nehmen noch zwei Drittel der Schüler aus den Klassen eins bis zehn am evangelischen oder katholischen Religionsunterricht teil. 24 Prozent besuchen ein Ersatzfach wie Ethik oder Philosophie. Acht Prozent belegen weder das eine noch das andere.
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  28. Daneben steht ein kunterbuntes Feld unterschiedlicher Ansätze, schulisch religiöse Bildung zu vermitteln. Hamburg kennt einen Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung. Zukünftig soll diese Verantwortung mit islamischen Verbänden geteilt werden. In Brandenburg ist der Besuch des Faches Lebenskunde – Ethik – Religion die Regel. Teilnehmende eines konfessionellen Religionsunterrichts können sich davon abmelden. Berlin hat einen für alle verbindlichen Ethik- und Religionskundeunterricht etabliert, der nach den Vorstellungen einiger Politiker auch die Bindung an die Herkunftsreligion relativieren soll. Daneben können Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in eigener Verantwortung in den öffentlichen Schulen unterrichten, also ohne irgendeiner Aufsicht der Schulbehörden zu unterliegen.
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  30. HANS MICHAEL HEINIG
  31. (46) ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Kirchenrecht und Staatskirchenrecht in Göttingen.
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  33. Vielfältige Schwierigkeiten macht die Einrichtung eines flächendeckenden islamischen Religionsunterrichts. Der Organisationsgrad der Muslime ist schwach, ebenso die Autorität einiger Dachverbände an der Basis. Man weiß nicht so genau, für wen sie eigentlich mit welcher Verbindlichkeit sprechen. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat deshalb jüngst entschieden, dass der Zentralrat der Muslime und der Islamrat keine Religionsgemeinschaften im rechtstechnischen Sinne darstellen. Hessen kooperiert mit der straff organisierten Ditib. Die wird von der türkischen Religionsbehörde kontrolliert. Die Einflussnahme Ankaras auf den Unterricht in deutschen Schulen ist politisch wie rechtlich eine heikle Angelegenheit. Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben mehrere Verbände in einen Beirat eingebunden, der die Mitwirkungsrechte einer klassischen Religionsgemeinschaft wahrnimmt. In den Beiräten sitzen nicht nur Verbandsvertreter, sondern weitere fachkundige Personen, die der Staat im Einvernehmen mit den Verbänden beruft. Andere Länder sehen nur eine staatlich verantwortete Islamkunde vor oder verzichten ganz auf eine besondere Unterrichtsform für muslimische Schüler.
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  35. Hat der Religionsunterricht eine Zukunft?
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  37. Doch auch der evangelische und katholische Religionsunterricht kommt zunehmend in schweres Fahrwasser. In der Fläche fällt es immer schwerer, die notwendigen Schülerzahlen und Lehrpersonen zusammenzubringen, um klassischen konfessionellen Religionsunterricht zu erteilen. Die beiden Kirchen gehen deshalb dazu über, einen kooperativen Religionsunterricht zu entwickeln, obwohl die theologischen Differenzen kirchentrennend fortbestehen. In Nordrhein-Westfalen haben Bistümer und Landeskirchen jüngst eine entsprechende Vereinbarung unterzeichnet. Nur das Bistum Köln verweigerte sich.
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  39. Juristische Experten runzeln bei all diesen Entwicklungen besorgt die Stirn. Die Organisation des Religionsunterrichts in der Praxis entfernt sich immer weiter vom ursprünglichen verfassungsrechtlichen Idealzustand. Hinzu kommt ein tiefgreifender Wandel in der Religionspädagogik. Religionsunterricht, das ist heutzutage zu weiten Teilen von Lehrern begleitete individuelle Sinnsuche der Schüler, das Aufspüren impliziter religiöser Erfahrungen im Alltag der Heranwachsenden oder schlicht die Kummer- und Kümmerstunde im hektischen, von Prüfungsstress geprägten Schulalltag. Wo religiöse Konflikte auftauchen, etwa der Streit zwischen Schülern um das Verständnis von Fasten- oder Bekleidungsregeln, ist es für Lehrerkollegien bequem, das Problem an Religionslehrer zu delegieren. Der Religionsunterricht soll dann auch noch den Schulfrieden sicherstellen.
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  41. Diese Wirklichkeit scheint meilenweit von dem entfernt, was das Bundesverfassungsgericht dereinst Ende der 1980er Jahre über den Religionsunterricht schrieb: Sein Gegenstand sei der Bekenntnisinhalt, die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft in ihrem religiösen Wahrheitsanspruch. Der Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzes meine etwas anderes als die überkonfessionelle, vergleichende Betrachtung der verschiedenen Religionskulturen, als Morallehre und Sittenunterricht oder als ein Fach "Kulturgeschichte des Christentums".
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  43. Hat der Religionsunterricht also überhaupt eine Zukunft? Das Fach steckt in einem Dilemma. So unkompliziert wie in den Zeiten blühender volkskirchlicher Strukturen lässt es sich wegen der veränderten Zusammensetzung der Schülerschaft nicht mehr organisieren. Auch inhaltlich waren Neuausrichtungen zwingend geboten. Die meisten Mitglieder verbitten sich heutzutage autoritäre Glaubensbelehrungen, wie sie lange Zeit üblich waren. Wenn sich der Religionsunterricht aber bloß als Mischung aus praktischer Toleranzübung, Religionskunde, Ethik für alle und sozialtherapeutischem Schuldienst versteht, schafft er sich auf Dauer ab. Ohne klar erkennbare, Eltern und Politikern vermittelbare theologische Zuspitzung entfällt die besondere Rechtfertigung dafür, dass der Staat hier mit Religionsgemeinschaften kooperiert. Religionskunde und Ethikunterricht kann er auch in eigener Verantwortung im Klassenverband betreiben. So spart er viel Geld und Aufwand.
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  45. Eine Rückbesinnung, warum das Grundgesetz den Religionsunterricht verfassungsrechtlich garantiert, tut not. Artikel 7 GG ist nicht dafür da, den Religionsgemeinschaften ein Missionsfeld zu eröffnen. Vielmehr wird das Erziehungsrecht derjenigen Eltern geschützt, die ihre Kinder in einer bestimmten religiösen Tradition beheimatet sehen wollen. Damit trägt der Religionsunterricht dazu bei, dass solche Eltern das öffentliche Schulwesen akzeptieren und nicht ins Privatschulwesen ausweichen. Folglich fällt der Anteil kirchlicher Privatschulen in Deutschland, anders als etwa im laizistischen Frankreich, kaum ins Gewicht.
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  47. Der Religionsunterricht soll vor allem aber auch einen Beitrag zur religiösen Bildung leisten. Denn wer von Religion keine Ahnung hat, glaubt am Ende alles, schrieb einmal die Theologin Petra Bahr. Religiöse Bildung schützt vor tumbem Fundamentalismus und befähigt zur Mündigkeit in religiösen Fragen. Mit der forcierten religiös-weltanschaulichen Vielfalt unserer Zeit kann nur souverän umgehen, wer gelernt hat, sich selbst zu positionieren. Mit anderen Worten: wer in Religions- und Weltanschauungsfragen eine reflektierte eigene Identität ausbildet.
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  49. In der Praxis scheint jedoch weniger das Vertrautmachen mit religiösen Traditionsbeständen und der theologisch kompetente Umgang mit ihnen, sondern "Wertevermittlung" im Vordergrund des Religionsunterrichts zu stehen. Kirchen und Religionspädagogen werben damit, dass ihre Form der Wertevermittlung nachhaltiger ist als die Instantmoral, die ein rein säkularer Unterricht in Lebenskunst zu bieten hat. Dafür spricht einiges. Doch sollte man sich hüten, der alten Mär aufzusitzen, dass religiös ungebundene Menschen per se moralisch weniger gefestigt sind.
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  51. Die Kirchen verkennen ihre Rolle in der modernen Gesellschaft, wenn sie sich als Bundeswerteagenturen gerieren. Ebenso geht der Religionsunterricht fehl, wenn er vor allem sich für zuständig hält, Sitte und Anstand in der Schule zu heben. Wir leben schließlich nicht mehr unter dem Allgemeinen Preußischen Landrecht. Damals waren die Kirchen tatsächlich für die "sittlich gute Gesinnung" zuständig. In einer religiös hyperdiversen und zugleich stark säkularisierten Gesellschaft wird Religionsunterricht, in welcher organisatorischen Gestalt auch immer, nur eine Zukunft haben, wenn er mehr als Ethik, Religionskunde und Glückskeksweisheiten bietet.
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