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Süddeutsche article - Till Lindemann new accusation (German)

Jun 2nd, 2023 (edited)
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  1. Werden bei „Rammstein“-Konzerten Fans für Sex mit Till Lindemann gecastet? Zahlreiche Frauen werfen ihm Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe vor. Über ein System, das dem Sänger liefert, was immer er will.
  2. Mit Grenzbereichen kennen Rammstein sich aus, der Grenzbereich ist ihr Revier. Hypersexualisierte Texte, schwarzbrotkrustige Deutschtümelei und immer wieder gezielte Provokationen in Liedtexten, Gedichten, Videos.
  3. Um den Song „Deutschland“ zu bewerben, veröffentlichten sie 2019 vorab einen Videoausschnitt, der die Band in der Kleidung von KZ-Insassen mit Stern auf der Brust am Galgen zeigt. Der Zentralrat der Juden sah damals den Holocaust zu „Marketingzwecken missbraucht“. Das Video steht aktuell bei mehr als 317 Millio- nen Views. So geht das.
  4. Jetzt sieht sich die Band, vor allem ihr Frontmann Till Lindemann, mit Vorwürfen konfrontiert, die selbst den für Kontroversen sehr weiten Rammstein-Rahmen sprengen. Mehrere Frauen schildern übereinstim- mend ein ausgefeiltes System, das wohl dazu dient, dem Bandleader gezielt Frauen zuzuführen. Es geht um die Verführung weiblicher Fans durch die Nähe zu einer sehr prominenten Person, um möglichen Macht- missbrauch und mutmaßliche sexuelle Übergriffe.
  5. Und es geht um das Risiko, dass offenbar jede Frau, die ins optische Schema passt, in Situationen geraten kann, über die sie irgendwann die Kontrolle verlieren könnte – nur weil sie ein Angebot bekommt, das so reizvoll klingt, dass sie es nicht ablehnen will: Till Lindemann kennenzulernen.
  6. Rammstein ist Deutschlands wohl wertvollstes künstlerisches Exportgut der Gegenwart. Da sind diese teils fantastische Musik und die stilbildenden Live-Shows:
  7. Der immerwährende Widerspruch der Band spiegelt sich auch in den Texten des an guten Tagen sehr ge- nauen Lyrikers Till Lindemann, 60, dessen Protagonisten nicht selten beides sind: sexbesessener Raptor und arme, kleine Wurst.
  8. Zumindest in den ersten Jahrzehnten. Die jüngsten Alben fielen demgegenüber etwas ab. Manchmal ließen sich Texte und Musik nicht mehr ganz trennscharf von Ballermann-Hits unterscheiden: „Sie muss nicht klug sein, nein / Sie musss nicht reich sein / Doch um eines möcht‘ ich bitten: / Dicke Titten“.
  9. Die Kunst vom Künstler trennen, Lindemann ist dafür die Masterclass.
  10. Die Abschlussprüfung für die Lindemann-Versteher war sein Gedicht „Wenn du schläfst“, aus dem bei Kiepenheuer & Witsch 2020 veröffentlichten Band „100 Gedichte“, (herausgegeben von Alexander Gorkow, einem der Feuilletonchefs der Süddeutschen Zeitung). Lindemanns Protagonist, der wie in all diesen Fällen natürlich nicht mit dem Autor gleichzusetzen ist, exerziert eine Vergewaltigung unter Einsatz von K.O.-Trop- fen durch: „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst“, heißt es da. Und am Ende: „Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas) / Kannst dich gar nicht mehr bewegen / Und du schläfst / Es ist ein Segen“.
  11. Alles durch die Kunstfreiheit gedeckt. Welche Fantasien den Musiker im echten Leben antreiben könnten, darüber wird öffentlich diskutiert, seit Shelby L. in sozialen Netzwerken berichtete, was ihr vergangene Wo- che beim Rammstein-Konzert in Vilnius nach eigenen Angaben widerfahren sein soll. Die Irin äußerte den Verdacht, ihr könne bei einer Party vor der Show mit einer Droge versetzter Alkohol gegeben worden sein.
  12. Till Lindemann, twitterte sie im Verlauf der Debatte ausdrücklich, habe sie nicht angefasst und nicht verge- waltigt – das hatte sie auch nie behauptet. Was sie allerdings schrieb: Sie sei für das Bühnentreffen mit dem Musiker gezielt ausgewählt worden. Der Sänger habe ihr Alkohol angeboten und sei davon ausgegangen, dass sie in einer Konzertpause Sex mit ihm haben wolle. Nach eigenen Angaben lehnte Shelby L. ab, woraufhin der Sänger aggressiv geworden sei. Dann habe ihre Erinnerung immer wieder ausgesetzt.
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  14. Rammstein dementierten, doch da rollte die Welle schon: Immer mehr Frauen berichteten von ihren Erfah- rungen
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  16. Am Morgen habe sie im Hotel Blutergüsse am Körper gefunden und die Polizei eingeschaltet, berichtet sie. Ein inoffizieller Drogentest sei zwar negativ ausgefallen, aber für einen Blackout, gab sie an, habe sie bei Weitem nicht genug getrunken. Und: Sie sei nicht die Einzige, die von solchen oder ähnlichen Erlebnissen berichten könne.
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  18. Die Band hat die Darstellung – knapp vier Tage später – zurückgewiesen. „Zu den im Netz kursierenden Vorwürfen zu Vilnius können wir ausschließen, dass sich was behauptet wird, in unserem Umfeld zugetragen hat. Uns sind keine behördlichen Ermittlungen dazu bekannt“, twitterten Rammstein, deutsch und englisch.
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  20. Doch da rollte die Welle schon: Immer mehr Frauen berichteten von ihren Erfahrungen rund um Rammstein und Till Lindemann.
  21. Süddeutsche Zeitung und NDR haben in den vergangenen Tagen mit zahlreichen Frauen gesprochen. Sie er- heben teils schwere Vorwürfe gegen Lindemann. Alle Namen sind der Redaktion bekannt, einige der Frauen versichern ihre Angaben an Eidesstatt. Alle mutmaßlich Betroffenen bleiben in diesem Text zu ihrem Schutz anonym, die verwendeten Namen sind nicht ihre echten. Die Recherchen haben keine Hinweise darauf er- geben, dass die Frauen einander kennen. Ihre Berichte ergänzen sich aber zu einem Bild, das wie die indust- rielle Variante des einst romantisch verklärten Groupietums wirkt.
  22. Die Schilderungen enthalten im Fall Lindemann keine Spur von Romantik mehr. Die Frauen, mit denen der Sänger vor und nach den Auftritten der Band – oder bei seinen Solokonzerten – auch zum Zwecke sexueller Befriedigung versorgt worden sein soll, wurden demnach nach optischen Kriterien ausgewählt, schon vor oder während der Konzerte angesprochen, mit Backstage-Armbändern und Alkohol versorgt. Einige von ihnen sollen dem Superstar zugeführt worden sein. Manche habe man auf potenziellen Sex mit Lindemann vorbereitet, andere wollen davon völlig überrascht worden sein.
  23. Das Rammstein-Management reagierte auf eine Anfrage nicht. Lindemann ließ Fragen zu allen in diesem Text relevanten Punkten ebenfalls unbeantwortet. Sein Anwalt schickte ein Schreiben, aus dem nicht zitiert werden dürfe. Es befasst sich mit Kriterien der Verdachtsberichterstattung und Hinweisen auf die Privatsphä- re seines Mandanten, die zu berücksichtigen sei.
  24. Cynthia A. war 21, als sie 2019 ein Rammstein-Konzert in Hannover besuchte. Dort, so erzählt sie, sei sie zum ersten Mal in Kontakt mit Alena M. gekommen. Auf Online-Plattformen gilt die Russin als Türöffnerin für den Backstage-Bereich von Rammstein, bei Instagram nennt sie sich „Casting Director, on the tour with @till_lindemann_official“.
  25. Alena M., 35, war Schauspielerin – und ist zuallererst Fan. 2013 waren Rammstein Headliner bei „Rock over the Volga“ in M.s Heimatstadt Samara. Freier Eintritt, zehntausende Fans, und zehn junge Frauen wurden ausgesucht, mit auf die Bühne zu gehen. Alena M. war eine von ihnen. „Es gibt diese Momente und Begeg- nungen“, schrieb sie später einmal im Netz, „die das Leben in ein Vorher und ein Nachher teilen.“
  26. Auch sie antwortet nicht auf Fragen der SZ. Durch Social-Media-Posts und Gespräche mit Menschen, die mit ihr zu tun hatten, lässt sich aber nachvollziehen, wie aus Alena M. offenbar mehr wurde als ein gewöhnlicher Fan. „Das berühmteste russische Groupie“, nennt sie ein Online-Magazin. Sie habe mit allen möglichen Stars geschlafen, heißt es in Artikeln. Besonders scheinen es ihr Rammstein angetan zu haben.
  27. Alena M. nennt Lindemann einen Freund. Sie teilt mit ihren Followern auf Instagram, Facebook und dem russischen Netzwerk VK Geburtstagswünsche und gemeinsame Selfies vor dem Weihnachtsbaum, er im schwarzen Anzug, sie im roten Kleid. Und immer wieder Videos und Fotos von Rammstein-Konzerten, sie mit einem AAA-Pass um den Hals, der gewährt Zutritt überall. 2019 ging Alena M. mit auf Rammstein-Tour.
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  29. Sie war inzwischen ihrem Idol nicht nur sehr nahe, sondern sorgte offenbar auch dafür, dass ihm andere Frauen nahe sein können. Das sprach sich herum: Wer bei Rammstein in die „Row Zero“ will – den Bereich direkt an der Bühne, noch vor der Absperrung, und zur Aftershow-Party –, der muss sich an Alena M. wen- den. Sie werde für ihre Dienste nicht bezahlt, heißt es aus ihrem Umfeld, zumindest nicht mit Geld.
  30. Alena M. sei diejenige gewesen, die beim Rammstein-Konzert in Hannover 2019 die Row-Zero-Mädchen be- grüßt habe, erinnert sich Cynthia A. Sie selbst sei mit einer Freundin schon um 6 Uhr dagewesen, von Alena
  31. M. hatten sie bereits zuvor im Netz gehört. Beide Frauen hätten später auch Einlassbändchen für die After- show-Party bekommen.
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  33. Von den Partys soll es, das berichten Zeuginnen übereinstimmend, zwei sehr unterschiedliche Arten geben: eine mit der Band und eine nur mit Lindemann. Cynthia A. und ihre Freundin feierten laut eigener Aussage mit der Band, Alena M. und andere Frauen seien weitergezogen zum exklusiven Treffen mit Lindemann. Die Veranstaltungen mit allen Musikern schildern viele Augenzeuginnen als großartiges Erlebnis, von Übergrif- fen und Entgleisungen berichtet keine, auch Cynthia A. nicht.
  34. Fortan sei ihr Alena M. auf Instagram gefolgt und habe sie gefragt, ob sie auch auf dem Konzert in Wien sei, sagt Cynthia A. „Da war ich aber nicht.“ Stattdessen habe sie Karten für ein Konzert von Lindemanns Solo- tour im Februar 2020 in Hannover gekauft. Vor diesem Event habe Alena M. eine Freundin von Cynthia A. angeschrieben und gefragt, „ob sie Mädchen kenne, die Till kennenlernen wollen“. Und sie habe auch gefragt, ob sie jemanden kenne, „der eine Nacht mit Till verbringen würde“. Die Freundin habe daraufhin das Profil von Cynthia A. an Alena M. geschickt, „ungefragt“, sagt A. Alena M. habe geantwortet: Das müsste passen.
  35. Im Monat vor dem Konzert sei sie mit anderen jungen Frauen in eine Whatsapp-Gruppe aufgenommen wor- den, erzählt Cynthia A. Gesucht worden seien drei Frauen, die während des Konzerts in einer Disco-Kugel tanzen sollten. „Und ich war eine von den Dreien. Ich wollte total gern Till kennenlernen, ich war ein wirk- lich großer Rammstein-Fan.“ Arbeitsverträge, Geld oder eine Choreographie habe es nicht gegeben. Es solle nur geil aussehen, habe ein Mitarbeiter gesagt.
  36. Was in der Garderobe passiert sein soll, in die sie ein Bodyguard demnach brachte, darüber kann Cynthia
  37. A. nach eigenen Angaben nur schwer sprechen. Erst später, als sie Leuten davon erzählt habe, die zum Teil
  38. „ganz schockiert“ oder „mit krasser Verurteilung“ reagiert hätten, sei ihr der Gedanke gekommen, „dass das vielleicht schlimm war, was mir da passiert ist“.
  39. Was passiert sein soll: Lindemann habe den drei Frauen Alkohol angeboten, den sie abgelehnt hätten. „Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch nie Alkohol getrunken“, sagt Cynthia A. Der Sänger habe ihnen auf einem Laptop das kurz zuvor erst veröffentlichte Musikvideo zum Song „Platz eins“ gezeigt, einen Film mit harten Sexszenen, Gewaltfantasien, nackten Frauen und der Textzeile: „Alle Frauen, alles meins / Alles dreht sich nur um mich“. Lindemann habe sie, Cynthia A., mit einer Handbewegung herangewinkt, weil er ihr „etwas zeigen“ wolle. „Ich war noch sehr unerfahren, ich hatte noch keinen richtigen Freund. Ich dachte, kurz vor der Show will er mir wirklich was Cooles zeigen.“ Sie habe angenommen, wenn sie irgendwann zusage, mit ihm mitzugehen, „dann ist das nach der Show in seinem Hotelzimmer“. Genug Zeit also, sich alles noch mal zu überlegen.
  40. Wie es weitergegangen sein soll, beschreibt Cynthia A. so: „Er hat mich mit in die Garderobe genommen, die Tür zugemacht und dann ging es halt los. Ich will nicht sagen, dass das eine Vergewaltigung war, weil ich ja zugestimmt habe, aber ich war jetzt auch nicht offensichtlich glücklich darüber, was da passiert. Ich hatte auch ziemlich starke Schmerzen und es muss ihm auch aufgefallen sein, dass es nicht leicht war, mit mir zu schlafen. Und dass ich verkrampft war. Ich habe danach auch geblutet und es hat vielleicht zehn Minuten gedauert. Das war alles ziemlich schnell und ziemlich gewaltvoll. In dem Moment habe ich nur gedacht: ‚Oh mein Gott, das tut weh, hoffentlich ist es bald vorbei‘. Aber ich wollte eben auch nicht sagen, dass es wehtut, weil es war eben Till Lindemann. Nach zehn Minuten war er fertig und hat sich bedankt und gesagt, es ginge ihm jetzt besser.“ Nach ihrem Namen habe er sie nie gefragt.
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  42. Rammstein-Fans haben nach den ersten Schilderungen von Shelby L. sofort die Front geschlossen. Ihr Tenor in den sozialen Netzwerken: Ein geltungssüchtiges Fan-Girl beschwert sich, dass die Dinge nicht so gekom- men sind, wie sie es sich vorher ausgemalt hat. War doch alles freiwillig.
  43. „Diesen ‚Vorfall‘ hat es nie gegeben!“, sagte Sophia Thomalla, von 2011 bis 2015 Lindemanns Lebensgefähr- tin, der Bild-Zeitung. Die Vorwürfe von Shelby L. seien „frei erfunden von einer Person, die sich auf dem Rücken eines Rockstars für fünf Minuten Ruhm verschaffen möchte“. Ihr Ex sei ein Mann, der Frauen be- schütze.
  44. Derweil postet Alena M. Beiträge von Fans, die sich bedanken für die unvergessliche Erfahrung, Backstage bei Rammstein und Lindemann gewesen sein zu dürfen. Sei alles super gewesen, tolle Party! M. hat – eine entsprechende Chatnachricht liegt SZ und NDR vor – Frauen selbst per Whatsapp um Hilfe gebeten: „Er- zählt den Leuten die Wahrheit.“ Die Fans sollten Storys mit Fotos und Videos von den Aftershow-Partys posten und bitte die Hashtags #istandwithrammstein und #justiceforrammstein benutzen.
  45. Sie wolle nicht, dass Lindemann gecancelt werde, „nur weil es einem Fan nicht gepasst hat“, sagt eine Frau, die 2022 in Zürich mit dem Sänger nach einem Konzert in seiner Garderobe gefeiert haben will – die beste Party ihres Lebens, wie sie sagt. Zehn oder fünfzehn andere Frauen seien dort gewesen, eine habe auf dem Tisch getanzt, eine habe Lindemann ihre Brüste gezeigt. Beim Tanzen habe er seine Hand auf ihre Taille gelegt. Da habe sie ihm gesagt, sie wolle nicht, dass er ihr nah kommt, das habe er wohl falsch verstanden. Und er habe das akzeptiert, sich sogar entschuldigt. Am Ende des Abends sei Lindemann ohne weibliche Begleitung nach Hause gegangen, obwohl es nach ihrem Eindruck „genug Frauen gab, die mit ihm schlafen wollten“.
  46. Das System, von dem Konzertbesucherinnen aus verschiedenen Städten und Ländern der SZ und dem NDR berichten, legt eine Art sexuell konnotierte Auswahl nahe. Das Ganze ginge, so es bis zur letzten Konsequenz zutrifft, weit über den misslichen Umstand hinaus, dass sich Superstars eben nicht mehr einfach an eine Bar setzen und dort Frauen kennenlernen können.
  47. Auch andere Promis gewähren Fans bisweilen Zugang in den Bereich hinter der Bühne, manchmal harmlos für Selfies und Handshakes, oft gekoppelt an einen satten VIP-Ticket-Aufpreis, und manchmal eben auch für Sex, Drugs und Rock’n’roll – einvernehmlich.
  48. Die Casting-Regeln für Lindemanns Backstage-Bereich sehen Fotobewerbungen bei „Casting-Direktorin“ Alena M. vor. Den Frauen wurde später die Kleiderordnung geschickt, sexy-elegant, gothic rock, Cocktail- kleider, alles gut, nur keine Rammstein-T-Shirts bitte. Entsprechende Chat-Verläufe liegen SZ und NDR vor.
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  50. Josephine D. hat 2019 in Gelsenkirchen ein Rammstein-Konzert besucht. Als sie von Alena M. über Face- book angeschrieben worden sei, ob sie „mit der Band Party machen“ wolle, habe sie das zunächst für einen Scherz gehalten und abgelehnt. Später habe M. ihr noch mal geschrieben, dass Lindemann in seinem Hotel in Düsseldorf allein sei: „I want to find a nice girl for him… to have some fun in the hotel.“ Er sei ein Gent- leman. Auch das habe Josephine D. für einen Scherz gehalten. Als M. sie dann später beim Konzert aufgefor- dert habe, in die Row Zero zu kommen, habe sie auf ihr „schlechtes Bauchgefühl“ gehört und nein gesagt.
  51. Miriam K. erzählt, 2022 für ein Konzert in Göteborg von Alena M. rekrutiert worden zu sein. Sie war dem- nach auch auf der Backstage-Party, mit 60, 70 anderen Frauen. Doch dann habe diese Party nicht stattfinden können, hätten Alena M. und Joe L., DJ und Tour-Assistent von Rammstein, ihnen mitgeteilt und rund 20 von ihnen ausgewählt, um in einem anderen Raum zu feiern, ohne Smartphones. Lindemann sei später auf- getaucht und aggressiv gewesen – ganz anders noch als auf der Party vor der Show. Da sei Lindemann „nett und sehr Gentleman-like“ aufgetreten, „wie es jeder beschreibt“. Später sei Lindemann immer wieder mit verschiedenen Frauen aus dem Raum verschwunden, immerzu sei dasselbe Lied gespielt worden, in dem es
  52. „nur um Sex“ gehe.
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  54. Jessica B. wurde nach eigenen Angaben von einer Frau zu einem Konzert in Köln 2020 eingeladen. Alena
  55. M. habe sie direkt gefragt, ob sie mit Lindemann schlafen würde oder jemanden mitbringen könne, die das wolle. Dazu sei es bei der Party nicht gekommen, Jessica B. habe abgelehnt. Später sei sie dennoch gefragt worden, ob sie mit Lindemann in dessen Hotel essen wolle – und ob sie Weihnachten mit ihm feiern würde, weil Lindemann einsam sei. Nur ihr Alter solle sie nicht verraten, das „Alterslimit“ des Sängers nach oben sei unter ihrem. Jessica B. war zu dem Zeitpunkt Ende 20. Sie sagt, sie habe die Einladung ausgeschlagen.
  56. Auch vor den Konzerten seien nochmal Fotos gemacht worden, für wen und zu welchem Zweck, sei offen- geblieben, berichten die Frauen. Falsches Kleid? Umziehen oder raus. Freund soll mitkommen? Leider nein. Handy behalten? Sorry, you have to go. Entsprechende Chatnachrichten und Erinnerungsberichte liegen SZ und NDR vor. Dort ist auch von generell viel Alkohol die Rede, auch Kokain soll Frauen angeboten worden sein.
  57. Die Frage ist, ob alle Frauen, die bei Lindemann landen, dort noch mit so klarem Bewusstsein ankommen, um jederzeit selbst die Kontrolle zurückgewinnen oder sich später richtig erinnern zu können. Oder ob der ganze Vorgang nicht von vorneherein so asymmetrisch, so manipulativ angelegt ist, dass man von Freiwil- ligkeit nicht mehr sprechen kann und dass sich im Nachhinein leicht Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Frauen säen lassen.
  58. Kann man, angesichts von gewährter Nähe eines sonst unnahbaren Stars, von inszeniertem Gruppendruck, von imposantem Gehabe eines Rockers, der angeblich schon mal einen Kühlschrank zertrümmert, von Frei- willigkeit reden? Was löst es aus, wenn jedes Nein das Ende einer Traumreise bedeuten könnte? Wenn die Er- wartung, jederzeit aussteigen zu können, von der Realität überrumpelt wird? Und was bedeutet es, dass Fans ihre Idole in der Regel ja für gute Menschen halten?
  59. „Die Band war ein großer Teil meines Lebens, deswegen wollte ich sie unbedingt kennenlernen“, sagt Kaya R., die am 22. August 2019 ein Rammstein-Konzert in ihrer Heimatstadt Wien besuchte. Auch sie hat, wenn ihre Schilderungen zutreffen, alle Stufen des Casting-Systems durchlaufen. Auch sie mit bitterem Ende.
  60. In ihrem Fall sei es wiederum Joe L. gewesen, der sie als Frau aus der ersten Reihe, blond, damals 21, ausge- wählt habe, um mit auf die Aftershowparty zu kommen. Dort habe sie mit den Bandmitgliedern, aber ohne Till Lindemann gefeiert, „es war sehr schön“, Gratis-Alkohol und gute Gespräche mit Bandmitgliedern in- klusive. Joe L. ließ Fragen von SZ und NDR unbeantwortet.
  61. Dann sei sie von Alena M. angesprochen worden, ob sie Lindemann treffen wolle. „Mir war schon bewusst, dass das alles eine sexuelle Komponente hat, aber ich bin nicht davon ausgegangen, dass irgendjemand etwas macht, was ich nicht will.“ Sie habe ihn treffen wollen, nicht als einzige, schon im Taxi seien sie mehrere ge- wesen und im Hotel dann noch mehr Frauen. Es habe auch im Hotel „viel Alkohol gegeben“, sie habe getrun- ken, ihre Erinnerungen seien lückenhaft geworden. Dass sie neben Lindemann gesessen habe, dass sie mit ihm und einem anderen Mann im Aufzug gewesen sei.
  62. Wie sie in ein Hotelzimmer gekommen sei, wisse sie nicht mehr: „Ich war nicht mehr bei Bewusstsein.“ Als sie wieder aufgewacht sei, sei „Till auf mir drauf “ gewesen. Ob er aufhören solle, habe er sie gefragt, als er ge- merkt habe, dass sie wach geworden sei. Und sie habe nicht einmal gewusst, womit er aufhören wollte. Er sei dann irgendwann gegangen.
  63. Bleibt die Frage: Warum hat sich bisher nur Shelby L. an die Polizei gewandt? Warum nicht Kaya R., warum nicht Cynthia A.?
  64. Die Gründe können vielschichtig sein. Zum einen ist da möglicherweise die Scham, sich auf eine Situation eingelassen zu haben, die schon Verwandte oder enge Freunde kaum verstehen können. „Mir ging es am nächsten Tag nicht schlecht und ich habe den Leuten erzählt, dass Till ganz nett war und ich Spaß hatte und alles gut war“, sagt Kaya R., die sogar zum zweiten Konzert in Wien gegangen ist, wieder in die erste Reihe,
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  66. wieder zu einer Aftershow-Party, der mit der Band. „Das war ein Schutzmechanismus, weil ich Spaß haben wollte, und ich habe mich deshalb selbst angelogen“, sagt sie.
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  68. Erst später, als sie Lindemanns Gedicht „Wenn du schläfst“ gelesen habe und ein Interview mit ihm, in dem der Musiker davon erzählt habe, dass man Frauen Alkohol geben müsse, wenn man mit ihnen schlafen wolle, sei sie „getriggert“ gewesen. Zu seinem Solokonzert sei sie nicht gegangen, obwohl sie Karten gehabt habe.
  69. „Ich konnte seine Stimme nicht mehr hören“.
  70. Dazu kommt die Angst vor der Auseinandersetzung. Wer wird einem glauben? Kann man gewinnen, als einzelner Fan, wenn auf der anderen Seite Rammstein stehen?
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  72. Und schließlich ist da die eigene Ungewissheit, was wirklich geschehen ist. Cynthia A., die junge Frau aus der Garderobe in Hannover, erzählt, sie habe später in der Discokugel getanzt, und bei der Aftershow-Party habe Lindemann sie vor allen geküsst. Und sie habe einen Bodyguard sogar gefragt, ob sie zur Party mit Linde- mann ins Hotel kommen könne. „Ich war mir damals gar nicht bewusst, dass das ein Übergriff war“, sagt sie, sie sei „voll verblendet“ gewesen, „weil ich mich in dem Moment so besonders gefühlt habe, wie ein Sucht- gefühl“.
  73. Auch Cynthia A sagt, sie sei später noch einmal zu einem Konzert gefahren, nach Köln. Nachdem sie Freun- dinnen erzählt hatte, was sie backstage erlebet habe, habe sie gar nicht mehr einschätzen können, „ob ich etwas Schlimmes gemacht habe oder mir etwas Schlimmes passiert ist“.
  74. Dann sei Corona gekommen, sie sei ein Jahr eingesperrt gewesen mit den Erinnerungen, habe sich als Mensch verändert, Alkohol getrunken, Drogen genommen. Irgendwann habe sie eine Therapie gemacht:
  75. „Das war richtig schwer, mich von dieser ganzen Geschichte abzugrenzen.“
  76. Flake, der Rammstein-Keyboarder, hat die Welt hinter der Bühne in seinem Buch „Heute hat die Welt Ge- burtstag“ so beschrieben: „Gerade in Amerika gilt der Backstage-Bereich als eine Art Paradies. No ass, No pass sagen die altgedienten Musiker. Damit meinen sie natürlich nur die Frauen. Männer haben hier sowieso eher nichts verloren.“
  77. Es sieht so aus, als habe Till Lindemann das angestammte Rammstein-Terrain, den Grenzbereich, verlassen.
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