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Jun 23rd, 2019
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  1. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.2018, Nr. 170, S. 11
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  3. Antisemitismus ohne Grauzonen
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  5. Die Berliner Studie zum Antisemitismus im Netz leistet Großes. Bei der Unterscheidung von Judenhass und legitimer Israel-Kritik verrennt sie sich aber im Positivismus.
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  7. Das Internet ist grenzenlos, auch was den Judenhass angeht. Das ist eine Kernaussage der Studie "Antisemitismus 2.0", die die Sprachwissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel kürzlich in der Technischen Universität Berlin vorstellte (F.A.Z. vom 19. Juli). Sie und ihr Team haben Zehntausende von Kommentaren, in denen es um das Judentum oder Israel geht, untersucht, um die quantitative Ausbreitung des Antisemitismus und seine unterschiedlichen Formen und Ausprägungen zu bestimmen. Die Texte stammen aus den sozialen Netzwerken, aus Ratgeberportalen und Diskussionsforen sowie den Kommentarbereichen der Online-Medien. Automatisch sendende Programme wie Twitter-Bots wurden ausgeschlossen. Bei einem Teil der Texte erstreckt sich der Untersuchungszeitraum über zehn Jahre.
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  9. Die Bedeutung der Studie liegt nicht nur in ihrem Umfang, sondern auch in der Authentizität der Daten. Erstmals wurden auf breiter Grundlage Meinungen und Emotionen erhoben, die ungefiltert zum Ausdruck kommen. Das ist ein Vorzug gegenüber Umfragen zu antisemitischen Einstellungen, bei denen die Forschungssituation und die Vorsicht der Befragten die Ergebnisse verzerren können. Für die Gewinnung der Textdaten durchsuchte zunächst ein Crawler - ein spezialisiertes Suchprogramm - das Internet nach den Stichworten "Israel", "Juden", "Nahost" und "Antisemit". Von den 265 000 Kommentaren, die so zusammenkamen, ließen sich 60 550 einer Reihe von Themenschwerpunkten zuordnen. Dazu gehören beispielsweise Stellungnahmen des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Auseinandersetzungen um "Kollegah", eine Debatte um Beschneidungen, Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern oder die NS-Vergangenheit. Die so entstandenen Textsammlungen bilden die Datenbasis der Studie. Ein Drittel der in diesen Korpora zusammengestellten 60 550 Kommentare wurde von den Berliner Wissenschaftlern als antisemitisch eingestuft.
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  11. Um außerdem herauszufinden, wie sich der Netz-Antisemitismus im zeitlichen Verlauf entwickelt hat, untersuchte das Team in einer Längsschnittstudie die Leser-Kommentare in den Online-Bereichen verschiedener Qualitätsmedien, zu denen neben dieser Zeitung "Welt", "Süddeutsche Zeitung", "taz", "Spiegel", "Focus" und "Tagesspiegel" gehörten. Der Anteil der Zuschriften, die die Forscher als antisemitisch klassifizierten, stieg bei dieser gemeinhin als seriös geltenden Leserschaft von 7,5 Prozent im Jahr 2007 auf 30 Prozent zehn Jahre später. Diesen Angaben lässt sich nicht entnehmen, ob auch die Zahl der Antisemiten in Deutschland in diesem Zeitraum gestiegen ist.
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  13. Deutlich wird aber, dass bei Themen, die sich auf Juden oder Israel beziehen, nicht nur die absolute Menge, sondern auch der prozentuale Anteil antisemitischer Kommentare gewachsen ist. Die Ausweitung des Internets und die sich selbst verstärkende Eigendynamik seiner Kommunikation des Nachahmens, Überbietens und Provozierens hat viele Schleusen geöffnet. Antisemitische Botschaften sind längst nicht mehr auf extremistische Zirkel beschränkt, sie sickern auch in harmlose Ratgeber-Portale, Diskussionsforen und Fan-Websites ein. Den Hass, der dabei oft zum Ausdruck kommt, führen etliche Beispiele der Studie drastisch vor Augen.
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  15. Die als antisemitisch klassifizierten Texte wurden von den Forschern in einem weiteren Schritt stichprobenartig auf ihre kommunikativen, sprachlichen und inhaltlichen Merkmale hin durchleuchtet. Dabei wurde jede als antisemitisch bewertete Äußerung einer von drei Unterkategorien zugeordnet: Der "klassische Antisemitismus" umfasst das historisch überlieferte Stereotypen-Repertoire des "Ewigen Juden", der, von Geldgier und Rachsucht geprägt, überall ein Fremder bleibt und obskuren Riten bis hin zu Blutkulten anhängt. Beim "israelbezogenen Antisemitismus" kommt die Judenfeindschaft getarnt als Kritik am "Mörderstaat" Israel daher, und der "Post-Holocaust-Antisemitismus" zeichnet sich zum Beispiel dadurch aus, dass Überdruss an der Erinnerungskultur artikuliert oder Juden die Instrumentalisierung des Holocaust vorgeworfen wird.
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  17. Die Auszählung der so kategorisierten Äußerungen ergab, dass der klassische Antisemitismus mit 46,61 Prozent dominiert. Israelbezogene Stereotype machen 27,64 Prozent und Post-Holocaust-Stereotype 25,75 Prozent der Äußerungen aus. In den meisten Texten kommen diese Antisemitismus-Arten in unterschiedlichen Kombinationen vor. Den politischen Standort der anonymen Verfasser auszumachen erwies sich oft als schwierig. Selbstauskünfte, Wortwahl und Argumentationsmuster lieferten immerhin Indizien: Neben Kommentaren, die einen links- oder rechtsextremen oder einen muslimischen Hintergrund verraten, ist auch die politische Mitte stark vertreten. Deren Angehörige, so Monika Schwarz-Friesel, hüllten ihre Antisemitismen oft in ein politisch-korrektes Gewand und machten sie damit salonfähig. Über alle ideologischen Lager hinweg bildet der Studie zufolge der klassische Antisemitismus das mentale Trägergerüst, mit dem andere Stereotype verknüpft werden. Besonders häufig sei die Kombination mit antiisraelischen Klischees. Die Forscher konstatieren geradezu eine "Israelisierung des aktuellen Antisemitismus" auf allen Ebenen der Gesellschaft.
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  19. Das gleißende Licht, das "Antisemitismus 2.0" auf die Diskurslandschaft des Internets wirft, stellt eine beeindruckende Forschungsleistung dar. Doch die Studie wirft auch Fragen auf. Sie betreffen vor allem die Trennschärfe des Antisemitismusbegriffs. So wird nicht recht klar, wie sich antisemitische von nichtantisemitischer Israel-Kritik zuverlässig abgrenzen lässt. Zwar führt die Studie eindeutige Beispiele auf, in denen maßlose Beschuldigungen, NS-Vergleiche und eine generelle Gleichsetzung von Israel mit "den Juden" keinen Zweifel an den wahren Motiven der Verfasser lassen. Doch diese offen zutage liegenden Fälle liefern keine Handhabe für die Unterscheidung legitimer Israel-Kritik von Texten, in denen nach Ansicht der Forscher der Antisemitismus unauffällig und untergründig daherkommt.
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  21. In der Pressekonferenz, in der die Studie vorgestellt wurde, nannte Schwarz-Friesel als Beispiel einen journalistischen Artikel, in dem politische Aktionen Israels mit dem Motiv der Rache erklärt werden. Dadurch werde, vielleicht sogar unabsichtlich, das alte Stereotyp des "rachsüchtigen Juden" aktiviert. Nun kann es aber sachliche Gründe für die Meinung geben, Aktionen einer Regierung, welchen Landes auch immer, seien vom Wunsch nach Rache bestimmt. Oder wird eine Zuschreibung, die bei Putin oder Trump akzeptabel wäre, bei Netanjahu automatisch zum antisemitischen Stereotyp?
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  23. Skepsis entsteht auch, wenn die Meinung, es gebe eine Tabuisierung der Kritik an jüdischen oder israelischen Einrichtungen, verbunden mit einer Furcht vor dem Stigma des Antisemitismus, bereits als Indikator für bewussten oder unbewussten Antisemitismus gewertet wird. Das weckt die Vermutung, dass in manchen Fällen die Grenze zwischen der Feststellung und der Unterstellung von Antisemitismus verschwimmt. Die Frage, ob es neben vielen klaren Befunden nicht auch Grauzonen der Interpretation gibt, die eine eindeutige Zuordnung verhindern, wurde von Monika Schwarz-Friesel im Gespräch mit dieser Zeitung nachdrücklich verneint.
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  25. In der Studie führt sie Kritik am subjektiven Charakter von Ergebnissen der Antisemitismusforschung auch als mögliches Indiz für Antisemitismus auf. Eine klare Klassifikation sei immer möglich, sagte die Linguistin und verwies neben der eigenen Expertise auf die Intersubjektivität der Untersuchungsergebnisse. Um diese Intersubjektivität zu gewährleisten, ist es bei sprach- und sozialwissenschaftlichen Inhaltsanalysen üblich, mehrere "Kodierer" einzusetzen, die die vorher festgelegten Kategorien unabhängig voneinander auf die zu untersuchenden Texte anwenden. Stimmen ihre Ergebnisse überein, gilt das als Beleg für die empirische Stichhaltigkeit. Oft werden dafür Laien engagiert, um so zu gewährleisten, dass die Kodierung von Wörtern und Sätzen das allgemeine Sprachverständnis spiegelt.
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  27. Das allerdings war im Berliner Projekt anders. Hier wurden die Kodierungen von zwei Mitarbeitern des Projekts vorgenommen, die sich an seinem theoretischen Rahmen orientierten. Das hatte den Vorteil, dass sie über einen geschärften Blick für die sprachlichen Nuancen und Abgründe ihrer Untersuchungsobjekte verfügten. Es bedeutete aber auch, dass sie sich in vorgegebenen Deutungsmustern bewegten. Das dürfte die Intersubjektivität der Ergebnisse begrenzen und ihren hermeneutischen Charakter sowie die damit verbundenen Risiken verstärken: Je stärker Wörter und Sätze als Indikatoren für etwas gewertet werden, das zwar nicht gesagt, aber unter der Oberfläche eigentlich gemeint sei, desto unsicherer ist, ob die interpretatorische Tiefenbohrung dieses Gemeinte wirklich trifft.
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  29. Schwarz-Friesel kritisiert, dass die Justiz bei einschlägigen Prozessen den Begriff der Judenfeindschaft zu eng fasse, statt sich an den Erkenntnissen der linguistischen Antisemitismusforschung zu orientieren. Doch die juristische Reserve könnte auch damit zu tun haben, dass die Urteilsfindung eines Richters auf Beweise angewiesen ist und nicht einer Hermeneutik des Verdachts folgen kann und sei sie auch gut begründet. Den grundlegenden Wert der Berliner Antisemitismus-Studie mindern diese Bedenken nicht, denn sie betreffen nur eine - vielleicht schmale - Grauzone. Deren Existenz anzuerkennen und zu diskutieren, ob oder wie sie sich ausleuchten lässt, wäre allerdings wichtig, um mehr Klarheit zu schaffen im Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit, den Antisemitismus zu bekämpfen, und der Meinungsfreiheit.
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  31. WOLFGANG KRISCHKE
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  33. Quelle: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/berliner-studie-zu-antisemitismus-im-internet-15706084.html
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