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"No-Go-Areas": Alex, Ötzi und der Libanesen-Jäger

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May 8th, 2017
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  1. "No-Go-Areas": Alex, Ötzi und der Libanesen-Jäger
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  3. Als Angela Merkel von "No-go-Areas" in Nordrhein-Westfalen sprach, meinte sie Viertel wie die Dortmunder Nordstadt: 60.000 Menschen, 41.500 Migranten, 24 Prozent Arbeitslosenquote. Hört sich nicht gut an. Aber was ist die Wirklichkeit hinter den Zahlen?
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  5. Von Nadine Ahr und Moritz Aisslinger
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  7. An einem sonnigen Freitagmittag unternimmt die Stadt Dortmund den nächsten Versuch, Recht und Ordnung ins Elend zu bringen. Der Oberbürgermeister ist gekommen, der Bezirksbürgermeister, Lokalpolitiker, die Presse. Ein Kamerateam hält den feierlichen Moment fest: Nach zweijähriger Planungs- und Umbauzeit eröffnet in einer ehemaligen Apotheke im Dortmunder Stadtteil Nordstadt eine Zweigstelle des Ordnungsamtes.
  8.  
  9. Man wolle, kündigt der SPD-Oberbürgermeister Ullrich Sierau an, das in Verruf geratene Viertel zur "Achse des Guten" umwandeln. Es gäbe ja ohnehin schon eine Reihe positiver Aspekte. "Das Ordnungsamt ist ein weiterer spannender Teil davon." Die Leiterin des Ordnungsamtes strahlt, ihre Mitarbeiter, in polizeiähnlicher Uniform und tadelloser Haltung, nicken ernst, die Reporter notieren die wohlklingenden Sätze in ihre Blöcke.
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  11. Während drinnen der Oberbürgermeister vom Potenzial des Viertels schwärmt, von den schönen Altbauten, den traumhaften Parks, steht draußen auf der Mallinckrodtstraße, direkt vor der Tür der Behörde, ein junger Mann, das Gesicht von der Kapuze seines Pullovers verdunkelt, und fragt: "Koka? Shore? Pillen?" Jedem, der nach potenziellem Kunden aussieht, bietet er an, was er bei sich hat, Kokain, Heroin, Ecstasy-Tabletten. Ein dürres Mädchen holt einen 10-Euro-Schein aus der Hosentasche. Der Mann nickt. Keine Worte, nur Gesten, rasch und vertraut. Er nimmt den Schein, steckt ein abgepacktes Beutelchen zwischen ihre Finger. Fertig.
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  13. Die Straße ist laut und viel befahren, auf dem Bürgersteig Menschen und Müll. Zwei Dutzend Männer unterhalten sich vor dem Café Europa in fremden Sprachen, auf dem Boden die Schalen von Sonnenblumenkernen. Im Wettbüro gegenüber fliehen Zocker vor der Langeweile des Wochenendes in den Traum vom großen Geld. Ein Junge mit Schulranzen über den Schultern biegt in einen Innenhof, aus dem ein seichter Windstoß den Geruch von Urin trägt. Irgendwo schreit eine Frau.
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  15. Knapp 60.000 Menschen wohnen in der Nordstadt, davon 41.500 Migranten. Die Stadtverwaltung spricht von einer "vielfältigen Bevölkerungsmischung", verbitterte Anwohner von "Kanaken-Ghetto". Es gab mal die Idee, einen Teil der Universität in das Viertel zu integrieren. Stattdessen entschied man sich für ein Jobcenter. Denn kaum jemand hier besucht Vorlesungen, dafür knapp 14.000 Menschen einen Jobvermittler. Die Arbeitslosenquote liegt mit 24 Prozent doppelt so hoch wie im Dortmunder Durchschnitt. Jedes zweite Kind in der Nordstadt lebt von Sozialleistungen.
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  17. Schon bevor im Februar zwei Polizisten von einer Horde Männern mit Baseballschlägern verprügelt wurden und ein Unbekannter auf ein arabisches Café schoss, hatten die Behörden eine "Ermittlungskommission Nordstadt" gegründet und drei Staatsanwälte für das Viertel abgestellt. Als Angela Merkel jüngst auf dem CDU-Landesparteitag in Münster von "No-go-Areas in manchen Stadtteilen" Nordrhein-Westfalens sprach, meinte sie Gegenden wie diese.
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  19. Selbst die meisten Dortmunder wissen nicht, dass es in ihrer Stadt, 15 Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, Straßen gibt, in denen 15-jährige Jungs mit Männern ins Gebüsch gehen, um sich auch mal Nikes leisten zu können. Und Treppenhäuser, in denen Mütter mit ihren Babys über Junkies steigen.
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  21. In diesen Straßen bilden Armutszuwanderer aus Osteuropa, Flüchtlinge aus Afrika und abgehängte Deutsche eine Notgemeinschaft, für die es im sozialdemokratischen Traum vom solidarischen Leben keinen Platz mehr zu geben scheint. Manche haben seit Monaten kein fließendes Wasser und keinen Strom, andere seit Jahren keine Hoffnung. Begleitet man sie für ein paar Wochen, vergisst man schnell, dass Deutschland noch immer eines der reichsten Länder der Welt ist.
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  23. Mallinckrodtstraße 55
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  25. Als Alex aufwacht, schlafen seine jüngeren Geschwister noch. Stephan, sein Bruder, mit dem er sich das Bett teilt, liegt mit dem Gesicht zu der Wand, in der die Ratten wohnen. Am Fenster atmet, kaum hörbar, seine Schwester Natasha. Still packt Alex seinen Schulranzen und die Badetasche, heute ist Schwimmunterricht.
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  27. Unter herabbaumelnden Stromkabeln hindurch schlurft er ins Wohnzimmer, ein schmaler zwölfjähriger Junge mit hängenden Schultern. Er setzt sich aufs Bett der Eltern, in dem das Baby schläft. Zu sechst teilen sie sich zwei Zimmer.
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  29. Die Mutter schmiert Pausenbrote, auf RTL 2 läuft Privatdetektive im Einsatz.Der Vater, angestellt bei den Entsorgungswerken als Straßenreiniger, sitzt am Tisch und nippt am Kaffee. Er trägt Jogginghose und Unterhemd, Schweiß perlt ihm über die Stirn. Seit dem Winter lässt sich die Heizung nicht mehr regulieren. Dem Mann, der jeden Monat an die Tür klopft, um 600 Euro Miete zu kassieren, ist das egal. Genau wie die Ratten, die sich durch die Wände nagen und durch die Wohnung huschen. Der Vater kommt kaum nach, die Löcher zuzugipsen.
  30.  
  31. Alex schaut aus dem Fenster auf einen stillen Montagmorgen in der Mallinckrodtstraße. Er mag die seltene Ruhe dort unten. "Wenn ich nachts runtergucke", sagt er, "ist es immer laut, immer Schlägerei." Das Haus, in dem Alex mit seiner Familie wohnt, beherbergt rund 200 Menschen, alle Roma, die in den vergangenen Jahren aus Rumänien nach Dortmund kamen.
  32.  
  33. Ein Ort für Menschen, die vom kleinen Wohlstand träumten
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  35. Der Vater tritt mit Alex hinaus ins Treppenhaus. Jeden Morgen um halb sieben bringt er seinen Sohn sicher nach unten. Das Treppenhaus ist kein Ort für Kinder. Auf den Stufen schlafen morgens oft die Zombies, so nennt Alex die Drogensüchtigen. Vor ein paar Wochen griffen sich zwei von ihnen ein 13-jähriges Mädchen aus der Nachbarwohnung. Sie zerrten es hinter die Mülltonnen im Hof und vergewaltigten es. Nun wartet das Mädchen auf das Ergebnis des HIV-Tests.
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  37. Der Vater legt den Arm um Alex. Wortlos gehen sie durch das Dämmerlicht die Stufen hinunter, Licht gibt es keines. Im dritten Stock umkurven sie eine Urinlache. Keine Zombies da heute, nur ihre Spuren, Fetzen von Alufolie, auf der sie das Heroin erhitzen. Die Haustür steht offen, wie immer, sie lässt sich nicht abschließen.
  38.  
  39. Vor dem Café Europa, gleich nebenan, steht ein Dutzend Männer. Herumtreiber, Junkies, die Frühschicht der Dealer. Weiter vorn, am Nordmarkt, steigen Arbeiter in Autos, um durch den frühen Morgen auf die Baustellen des Ruhrgebiets zu fahren.
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  41. Die Nordstadt als Heimstätte der Arbeiter: So war das mehr als hundert Jahre lang. Es begann mit der Industrialisierung, mit dem Bau der Eisenbahnlinie 1843, die Dortmund noch heute teilt. Die vermögenden Bürger leben unterhalb der Bahnlinie im Süden, die ärmeren im Norden.
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  43. Ende des 19. Jahrhunderts brauchte die Stadt Wohnraum für all jene, diein der Westfalenhütte arbeiteten. So entstand die Nordstadt, die heute über den größten zusammenhängenden Altbaubestand Nordrhein-Westfalens verfügt. Gebäude mit verzierten Fassaden, gebaut vom Großbürgertum, vermietet an die Arbeiter, die nicht selten Zuwanderer waren. Polen und Niederländer im Kaiserreich, Türken in den Jahren des Wirtschaftswunders. Die Nordstadt, das war ein Ort für Menschen, die vom kleinen Wohlstand träumten.
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  45. Dann starben die Stahlwerke und die Zechen.
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  47. Wer anderswo Arbeit fand, zog aus. Wer einzog, lebte nicht vom Bergbau, sondern von Sozialleistungen. Manchmal auch von Einbrüchen oder vom Drogenhandel. Nach der EU-Osterweiterung im Jahr 2007 kamen Tausende Rumänen und Bulgaren, meist Roma-Großfamilien, ins Viertel. Dubiose Hausverwalter quartierten sie in verkommenen Wohnungen ein, für die sich keine anderen Mieter fanden. Die Nordstadt, das ist jetzt ein Ort für Menschen, die niemand haben will.
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  49. Alex winkt seinem Vater zum Abschied, dann läuft er über die Mallinckrodtstraße zur U-Bahn-Station. Die Türen schließen sich, die Wagen fahren an, fort aus der Nordstadt. Vor eineinhalb Jahren kam Alex mit seiner Familie nach Dortmund. Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass sie von 70 Euro Wochenlohn als einfache Arbeiter keine vier Kinder ernähren können. In seinem Heimatdorf, eine Stunde von Bukarest entfernt, verabschiedete sich Alex von den Großeltern, den Freunden, den Lehrern. Gerade erst hatte er bei der landesweiten Mathematik-Olympiade den zweiten Platz belegt.
  50.  
  51. Als Alex nach 20 Minuten Fahrt an die Oberfläche steigt, hört er Vögel zwitschern, sieht er frisch gestrichene Einfamilienhäuser, geht über gepflegte Bürgersteige zum Bus. "So habe ich mir Deutschland vorgestellt", sagt er. Der Bus fährt durch Hörde, den reichen Süden der Stadt, in dem die Fußballprofis von Borussia Dortmund ihre Villen bewohnen. Alex’ Mitschüler, mit denen er hier in die fünfte Klasse des Goethe-Gymnasiums geht, waren noch nie bei ihm zu Hause. Er wagt es nicht, sie einzuladen.
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  53. Münsterstraße 20
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  55. An einem Samstagvormittag steht Volkan Baran, 38, mal wieder auf der Straße. Um ihn herum drei Parteifreunde, alle in roten Regenjacken mit dem Logo der SPD. Straßenwahlkampf. Volkan Baran ist einer der vier Dortmunder SPD-Kandidaten für die Landtagswahl am 14. Mai.
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  57. Eigentlich kann er sich die Mühe sparen. Seit Jahrzehnten gewinnt die SPD alle Wahlen in Dortmund, auch Barans Vorgängerin im Wahlkreis, die aus Altersgründen nicht mehr antritt, siegte überlegen. Herbert Wehner nannte die Stadt einst die "Herzkammer der Sozialdemokratie". Das Dortmunder Herz, es würde wohl auch ohne Wahlkampf schlagen.
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  59. Doch Baran ist es wichtig, Präsenz zu zeigen. Er wohnt seit 13 Jahren in der Nordstadt und brachte alle Voraussetzungen mit, um nicht SPD-Flyer, sondern Koks-Tütchen durchs Viertel zu tragen. Mit 16 verließ er die Schule, begann, unter Tage zu arbeiten, und wurde, als die Zechen schlossen, arbeitslos. Eine Weile hing er herum. Dann wurde er: Türsteher, Kundenwerber, Klischee-Türke. "So richtig mit Pferdeschwanz, Bomberjacke und Goldkette", sagt er. Ein Aushilfsjob als pädagogischer Mitarbeiter brachte ihn auf die soziale Schiene. Baran vermittelte Lehrstellen an Heranwachsende. Mittlerweile arbeitet er in der Personalabteilung der Stadtwerke.
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  61. Volkan Baran verkörpert eine Biografie, die sich Sozialdemokraten einst für die Menschen aus diesem Viertel erträumten: Ausländer, Aufsteiger, integriert, politisch involviert. Um solche Lebensläufe zu fördern, richteten Lokalpolitiker so viele soziale Projekte in der Nordstadt ein, dass die Stadt auf Nachfrage der ZEIT nicht beantworten kann, wie viele es sind. Manchmal rufen sich die Menschen in der Nordstadt zur Unterhaltung diesen Spruch zu: "Springste aus’m Fenster, fällste auf’n Sozialarbeiter."
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  63. Aufsteiger werden zu Aussteigern, zurück bleibt die Nordstadt
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  65. Es gibt eine Studie der Soziologen Sebastian Kurtenbach und Aladin El-Mafaalani, die sich gefragt hatten, warum es trotz dieses Engagements nicht aufwärtsgeht mit dem Viertel. Das Ergebnis: Die Investitionen, wie beispielsweise in Hausaufgabenbetreuung, Jugendarbeit und Musikprojekte, lohnen sich. Aber nur für den Einzelnen. Dem Stadtteil helfen sie nicht. Denn die Geförderten ziehen fort, sobald es ihnen besser geht. So werden Aufsteiger zu Aussteigern. Zurück bleibt die Nordstadt.
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  67. Mallinckrodtstraße 1 bis 130
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  69. Die Straße, in der Alex, der Roma-Junge, wohnt, ist die Straße, die man nimmt, wenn man auf die Autobahn will oder von der Autobahn kommt. Zweispurig auf beiden Seiten, unterteilt von Grünstreifen und Parkmöglichkeiten in der Mitte. Diese Straße, auf der die Terroristen des NSU im Jahr 2006 den Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık erschossen, ist inzwischen unterteilt wie ein gut sortierter Supermarkt.
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  71. An der Ecke zur Münsterstraße stehen die Nordafrikaner, bei ihnen gibt es Haschisch für fünf und Gras für zehn Euro. 200 Meter weiter, vor dem Ghetto-Netto, wie die Einheimischen den Discounter nennen, bekommt man Benzodiazepine, Beruhigungstabletten, für einen Euro das Stück. Auf der Höhe des Nordmarktes, gleich vor dem neuen Ordnungsamt, stehen die Dealer des "Gemischtwarenladens": Bis 14 Uhr verkaufen sie weiche Drogen, nachmittags und abends auch Crystal Meth und Heroin für vier bis sieben Euro pro Rausch. Außerdem schlechtes Koks. Wer gutes will, muss die Mallinckrodtstraße einen Kilometer weiterfahren, bis zum Borsigplatz. Wo einst der Fußballklub Borussia Dortmund gegründet wurde, ist heute das Territorium der Libanesen. Dort gibt es das bessere Kokain, für 30 Euro und mehr pro Gramm.
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  73. Nordmarkt
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  75. Einer der traumhaften Parks, von denen der Oberbürgermeister bei der Eröffnung des Ordnungsamtes sprach, ist der Nordmarkt. In der Abenddämmerung sitzt dort Ötzi auf einer Bank und sagt: "Scheiß-Park." Der 56-Jährige hat in Sachen Nordmarkt womöglich mehr Kompetenz als der Oberbürgermeister, denn er ist hier jeden Tag. Ötzi heißt eigentlich Christian, der Nachname spielt keine Rolle, hier kennen ihn eh alle nur unter seinem Spitznamen. Den bekam er wegen der weißen Strickmütze, die seine Glatze bedeckt, und weil er auch sonst aussieht wie der Schlagersänger DJ Ötzi.
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  77. Sein bester Freund Dierk, 50, pflichtet ihm bei: "Die Hölle hier." Aus der Hölle trug Dierk einige Narben davon, die drei größten am Bauch. Vor vier Jahren hatte er Ärger mit einem Polen, es ging um eine Frau. Der Pole stach ihm mit einem Teppichmesser in den Bauch. Die ersten beiden Stiche habe er nicht gespürt, sagt Dierk, "die Klingen sind ja so dünn." Beim dritten konnte er nicht mehr. Kreislaufzusammenbruch. Notarzt. Intensivstation. Als er wieder fit war, ging er als Erstes zum Nordmarkt. Er wusste nicht, wohin sonst.
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  79. Ötzi zog vor 20 Jahren in die Nordstadt. Seine deutschen Freunde arbeiteten damals am Hafen oder mit ihm im Bergbau. Als die Zechen schlossen, gingen die Freunde fort. Ötzi blieb, woanders fand er keine günstige Wohnung. Mittlerweile kann er kaum noch einen Namen auf den Klingelschildern im Viertel korrekt aussprechen. Ötzi war deshalb lange Mitglied in der Partei Die Rechte. Er hat noch immer Kontakt zu den Kameraden, aber aus der Partei ist er ausgetreten. "Da muss man ja ständig auf die Demos mit, und ich hab’s nicht mehr so mit der Luft", sagt Ötzi und kramt zum Beweis sein Asthmaspray hervor.
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  81. Statt bei Demos läuft er nun täglich, Punkt sechs Uhr abends, am Nordmarkt auf. Er lässt sich auf eine Parkbank fallen, neben ihm hocken eine Handvoll Trinkbekanntschaften.
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  83. Eine Gruppe Jugendliche, 14, 15 Jahre alt, schlendern vorbei, einer fragt: "Habt ihr Rivos?" – "Nee", sagt Ötzi, "müsst ihr zu den Türken gehen." Mit seiner warmen Bierflasche in der Hand zeigt er an den Rand des Parks, wo junge Männer stehen, die Rivotril verkaufen, ein Mittel gegen Krampfanfälle, das die Jugendlichen als Droge einwerfen.
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  85. Die Reviere auf dem Nordmarkt sind abgesteckt. "Beim Spielplatz", sagt Ötzi "sind die Buntröcke." So nennt er die Roma-Familien aus Bulgarien und Rumänien. "Auf der anderen Seite sind die Türken und dort am Rand die Schwatten", womit er Afrikaner meint. Das Gebiet der Deutschen um Ötzi ist auf zwei Parkbänke geschrumpft, sieben Männer und Frauen sind sie. Sie hängen am Alkohol, an Tabletten, an harten Drogen.
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  87. Für sie, die abhängigen Abgehängten, ist Ötzi ein Herbergsvater. Jeder will ihm was erzählen. Obi, Mitte dreißig, Bomberjacke, kahl geschoren, berichtet in wütender Vorfreude, wie er die Probleme der Nordstadt lösen würde: "Die sollen mir einen Tag frei geben vom Gesetz, und ich würde hier mit Pumpgun und Pistole die Straßen von den Molukken säubern." Seine Bekannte Melanie nickt und bereitet sich eine Pfeife Crack zu. Ein Polizeiwagen rollt am Nordmarkt vorbei. "Da sind die Bullen", sagt Ötzi. "Ja, ja", sagt Melanie und raucht weiter
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  89. Stollenstraße/Ecke Nordmarkt
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  91. Rund um den Nordmarkt ist das Jagdgebiet des Libanesen-Jägers. So nennt er sich selbst. Er ist groß, breitschultrig, trägt Glatze und rollt gerade langsam die Stollenstraße entlang. Parkt. Blickt zur Gaststätte gegenüber. Greift zum Handy. "Du, im Stolleneck ist gerade nicht viel los." Pause. "Was nun? Café Deluxe? O Nosso? Malibu?"
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  93. Der Libanesen-Jäger heißt Markus Wick, 46 Jahre alt. Er ist Polizeihauptkommissar und leitet den Schwerpunktdienst Nordstadt. 16 Polizeibeamte unterstehen ihm, sie sollen gegen Drogendealer vorgehen, Cafés kontrollieren, das Quartier entkriminalisieren, so weit das möglich ist. Das Wort "No-go-Area" lässt Wick nicht gelten. "Wir gehen da ja rein", sagt er. Tag für Tag. Klar, es sei ein schwieriges Pflaster. Menschen aus 150 Nationen, viele arm, viele kriminell, das sei schon ein Moloch, sagt Wick.
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  95. Die Wahlbeteiligung liegt bei 25,3 Prozent
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  97. Wer macht am meisten Ärger? Die Libanesen? "Die sind im Bereich des Drogenhandels auffällig", sagt Wick. Die Roma? "Kaum. Überwiegend Eigentumsdelikte, ein wenig Müll, nichts Wildes." Die Deutschen? Wick zögert, überlegt, dann antwortet er, dass Deutsche sicherlich auch Straftaten begingen. "Aber mir kommen sie nicht so häufig unter."
  98.  
  99. Zurzeit, sagt Wick, sind es vor allem die Nordafrikaner, die ihm Kopfzerbrechen bereiten. Mehr als 600 von ihnen haben seine Leute in den vergangenen zwei Jahren kontrolliert. Fast jeder hat mindestens einen Eintrag im Polizeiregister. Viele sind gar nicht in der Nordstadt gemeldet. "Diese Männer kommen gezielt, um kriminell zu sein. Und hier finden sie perfekte Strukturen", sagt Wick.
  100.  
  101. In Dutzenden Schrotthäusern können sie ohne offiziellen Mietvertrag wohnen, an jeder Ecke gibt es eine Filiale von Western Union, um Geld ins Ausland zu überweisen. In den Elektroramsch-Läden können sie die Ware, die sie nicht nur hier, sondern auch in den wohlhabenderen Vierteln Dortmunds klauen, verticken, und statt von normalem Gewerbe ist das Viertel geprägt von Shisha-Bars, Wettbüros und Internetcafés, die alle irgendwie mit im Geschäft hängen.
  102.  
  103. Wick fährt weiter, zeigt auf ein Café. In manchen Straßen der Nordstadt gebe es nur ein solches "Drecksnest", in anderen drei oder vier. "Die machen ihre Geschäfte nebenbei", sagt er. Ein bisschen Hehlerei, ein bisschen Drogenhandel, manchmal Menschenhandel. "Negative Infrastruktur", sagt Markus Wick.
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  105. Münsterstraße 20
  106.  
  107. Volkan Baran ist noch immer auf Wahlkampftour. Mit seinen Genossen geht er die Straße entlang, da torkeln zwei betrunkene Jungs auf sie zu. Der eine ruft erstaunt: "Die SPD? Wat macht die denn hier?", dann fragt er den anderen: "Guck ma’, im Mai is’ Wahl. Gehste hin?" Der andere rülpst. "Nö."
  108.  
  109. Nö, sagten auch 23.893 andere Nordstädter, als zuletzt gewählt wurde, Kommunalwahl 2014. Die Wahlbeteiligung lag bei 25,3 Prozent. In keinem Bezirk Dortmunds interessieren sich so wenige Menschen für Politik, und vielleicht ist das ein Grund, weshalb sich die Politik so wenig für die Nordstadt interessiert. Einen anderen Politiker, sagt Baran, habe er im Viertel seit Ewigkeiten nicht gesehen. Auf den Wochenmärkten sucht man vergebens nach Wahlkampfständen, keine Partei hat ein Büro in der Nordstadt. Volkan Baran benutzt einen türkischen Feinkostladen als Parteizentrale.
  110.  
  111. Er drückt den beiden Betrunkenen je ein SPD-Feuerzeug in die Hand, rät ihnen, "keinen Scheiß zu bauen", und geht mit seiner kleinen Gruppe weiter. Baran verteilt Flyer, schenkt Kindern Gummibärchen, hält Schwätzchen, klopft Schultern, man kennt sich, man mag sich. Eine Parteifreundin will einen alten Mann mit Krückstock von den Vorzügen der Sozialdemokratie überzeugen. Dieser antwortet, man müsse sich doch bloß umschauen, dann sehe man, was die Sozis anrichteten. Die SPD-Frau lässt den alten Mann stehen und geht weiter.
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  113. Mallinckrodtstraße 55
  114.  
  115. Nach der Schule sitzt Alex vor einem uralten Fernseher und spielt Fußball auf der Playstation. FC Barcelona gegen Bayern München. Er hätte mehr Lust, selbst zu kicken, draußen, mit den anderen Jungs. Das hat ihm seine Mutter verboten. Sie hat Angst, wenn er nachmittags noch auf die Straße geht. "Zu gefährlich", sagt sie.
  116.  
  117. Münsterstraße 54
  118.  
  119. Volkan Baran hat sich vorgearbeitet bis zum Kirchplatz, langsam gehen ihm die Flyer aus, und seine Genossen verlieren die Lust. Er will aber noch nicht aufhören, will noch mehr Wähler erreichen. Baran arbeitet oft bis spät in die Nacht, obwohl er Politik bislang nur als Ehrenamt betreibt. Manchmal fragt er sich, warum er das macht. Warum er sich den Stress antut, die endlosen Termine. Warum er sich für einen weiteren Supermarkt im Viertel einsetzt. Warum er die drei Dortmunder Türken betreut, die an Silvester bei dem Terroranschlag auf einen Istanbuler Nachtclub schwer verletzt wurden. "Weil es sonst niemand machen würde", sagt Baran. "Ohne das Engagement einzelner Personen ginge hier alles komplett vor die Hunde."
  120.  
  121. Heroldstraße 13 a
  122.  
  123. Ansgar Schocke bittet Gott um Beistand. Der Pfarrer der katholischen Gemeinde Heilige Dreikönige sitzt nach dem Sonntagsgottesdienst in seinem Büro im Gemeindehaus. Wenn er aus den türhohen Fenstern schaut, fällt sein Blick auf einen Garten mit einer Wiese, einer kleinen Laube, Blumen, die blühen. Eine Oase. Würde man nicht immer wieder das Martinshorn hören, sagt Schocke, würde man nicht merken, wo man ist. Seine Gemeinde besteht aus den sechs katholischen Kirchen, die es in der Nordstadt gibt, neben drei evangelischen und rund 70 Moscheevereinen.
  124.  
  125. Zweimal in der Woche öffnet Pfarrer Schocke für ein paar Stunden seine Kirchen. Lieber würde er die Türen ständig offenstehen lassen, denn eine verschlossene Kirche, sagt er, das sei ein Widerspruch in sich. Aber es geht nicht anders. Weil sonst Dealer ihre Drogen zwischen den Kirchenbänken verkaufen würden. Und Junkies sich im Beichtstuhl den nächsten Schuss setzen könnten. Und weil es Menschen gebe, die ihm hinter den Altar kacken würden. Wenn Pfarrer Schocke seine Pforten öffnet, kommen ihm jedes Mal zwei Gemeindemitglieder zu Hilfe, als Aufpasser – damit genau das nicht passiert.
  126.  
  127. Stollenstraße/Ecke Nordmarkt
  128.  
  129. "Café Malibu?", fragt Markus Wick in sein Telefon. "Alles klar." Er gibt Gas. Rechts, links, wieder links. Wick stoppt. Vor ihm parkt bereits der Einsatzwagen mit den Kollegen. Gemeinsam betreten sie das Café Malibu. In schummrigem Licht daddelt ein Jugendlicher am Spielautomaten. Fünf Männer sitzen in roten Kunstledersesseln an runden Tischen, keiner spricht ein Wort.
  130.  
  131. Späher warnen vor Polizisten und Zivilfahndern
  132.  
  133. Es folgt das Übliche: Wick und seine Kollegen kontrollieren die Ausweise, tasten die Männer ab. Und blicken in gelangweilte Gesichter. Es ist wie ein Spiel, das die Ermittler fast immer verlieren. Die Dealer und Hehler haben Späher, die rechtzeitig warnen, wenn Polizisten anrücken, selbst die Zivilfahnder kennen sie schon.
  134.  
  135. Auf die Frage, was er sich wünschen würde, antwortet Wick: "Mit mehreren Hundertschaften alle verdächtigen Wohnungen rund um den Borsigplatz umkrempeln." Aber über diese Hundertschaften verfügt er nicht. Rund 5.000 Stellen kann die Polizei derzeit in Nordrhein-Westfalen nicht besetzen. Das Land muss sparen.
  136.  
  137. Wick würde auch gerne jeden Tag die rund vierzig Dealer, die in der Münsterstraße Drogen verkaufen, für ein paar Stunden einsperren, dann würden sie die Nordstadt vielleicht verlassen. Weiterziehen, irgendwohin, wo sie den Stoff bequemer verkaufen können. Doch mehr als ein paar Gramm der jeweiligen Droge haben die Dealer selten bei sich. Niemand kann ihnen nachweisen, dass sie den Stoff verkaufen und nicht selbst konsumieren wollen – was nicht strafbar ist.
  138.  
  139. Selbst wenn Wick also jemanden mit Drogen erwischt, kann er meist nur einen Platzverweis aussprechen. So wie jetzt im Café Malibu.
  140.  
  141. Ein Mann, laut Aufenthaltsdokument Syrer, hat Gras und Haschisch dabei, vier Gramm etwa. Zu wenig, um ihn mitzunehmen. Die Personalien werden auf- und die Drogen mitgenommen. Und nun? "Nichts weiter", antwortet Wick resigniert, als er wieder im Auto sitzt und zum Polizeirevier fährt.
  142.  
  143. Zurück am Schreibtisch schaut der Leiter der Wache vorbei. "Na, wie war’s?" Wick zuckt mit den Schultern. Etwa vier Gramm Gras, ein Platzverweis und eine halbe Stunde Schreibarbeit, das ist das Ergebnis dieses Einsatzes.
  144.  
  145. Ein Blick in zwei Arbeitsprotokolle der Polizei aus den vergangenen Wochen: Am Karfreitag forderte die Polizei einen Wettbürobetreiber auf, seinen Laden an diesem Feiertag zu schließen. Er war einsichtig. Die Kundschaft nicht. "Was geht uns das an? Das ist schließlich nicht unser Feiertag!", pöbelten die Gäste, so steht es im Protokoll.
  146.  
  147. Am Ostersamstag wurden Polizisten zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen zwei Männern gerufen. Die Beamten wurden angeschrien und beleidigt. Einer der Männer rief: "Ihr Bullenschweine, ihr habt kein Recht, euch einzumischen!"
  148.  
  149. Man kann Markus Wick recht geben. Definiert man den Begriff No-go-Area als Gebiet, in das die Polizei sich nicht mehr traut, trifft das für die Nordstadt nicht zu. Die Nordstadt ist keine No-go-Area. Die Nordstadt ist eine Non-Government-Area.
  150.  
  151. Münsterstraße 72
  152.  
  153. Gegenüber dem Café Malibu steht Jochen Noll auf dem Gehweg vor dem Radsportladen Noll, 1923 von seinem Großvater gegründet. Noll und seine Brüder führen den Laden fort, er ist eine Institution in Dortmund. Die Kunden kommen aus der ganzen Stadt. Jedenfalls war das früher so. "Manche wollen nicht mehr her", sagt Noll. Zu oft kam es vor, dass ein Käufer sein gerade neu erworbenes Rad vor dem Laden in den Kofferraum seines Autos bugsierte – und währenddessen jemand vorn die Beifahrertür öffnete und klaute, was er kriegen konnte, Tasche, Portemonnaie, Handy.
  154.  
  155. Radsport Noll ist ein Überbleibsel des deutschen Einzelhandels in der Nordstadt. Jochen Noll lässt den Zeigefinger die Straße entlangwandern. Er deutet auf den Marokko-Shop ein paar Häuser weiter. "Da war vorher ein Getränkehandel drin." Im Reisebüro an der Ecke, erzählt er, hätten Arbeiter und Handwerker früher ihren Sommerurlaub am Mittelmeer gebucht. Jetzt kann man dort orientalischen Krimskrams kaufen. Wo heute eine Boutique Hidschabs verkauft, seien früher Radios repariert worden. In der Shisha-Bar nebenan habe man mal "echt gut italienisch essen können". Und das Malibu-Café? Klar: "Ist berühmt-berüchtigt für Drogenhandel und Prostitution."
  156.  
  157. So geht es weiter, von Haus zu Haus die Straße entlang. Nolls Verbündete ziehen sich zurück, so sieht er das. Die Eisdiele in der Nähe macht seit vergangenem Sommer schon um acht Uhr abends zu statt um elf. Nach Einbruch der Dunkelheit trauten sich keine Kunden mehr her. Auch die Bekleidungskette Zeeman schließt früher, weil das Unternehmen seinen Mitarbeitern nicht zumuten will, im Dunkeln das Geschäft zu verlassen.
  158.  
  159. "Seit dem Prostitutionsverbot sind die Frauen Freiwild"
  160.  
  161. Nolls Finger bleibt an einer Fassade hängen. Wehmütig schaut er zu den Fenstern im oberen Stock. Bis vor zwei Jahren habe dort ein Bekannter gewohnt. Doch als die Polizei immer wieder Teile der Wohnung anmietete, um von dort aus Kriminelle zu überwachen, und der Bekannte so noch mehr von der Gewalt im Viertel mitbekam, sei er ausgezogen. Wieder ein vertrautes Gesicht weniger.
  162.  
  163. Auch Jochen Noll überlegt zu gehen, seine Räder anderswo zu verkaufen, obwohl er weiß, wie wichtig ein Traditionsgeschäft wie seines für ein Viertel wie dieses ist. Doch er spürt keinen Rückhalt von der Stadtverwaltung. Im Gegenteil. Als er ohne Genehmigung Fahrräder vor seinen Laden stellte, kam sofort das Ordnungsamt und verbot ihm die Nutzung öffentlicher Flächen zu Geschäftszwecken. "Und nebenan", sagt Noll, "vertickten währenddessen die Dealer ihre Drogen. Die durften die öffentlichen Flächen für ihre Geschäftszwecke nutzen."
  164.  
  165. Nordmarkt
  166.  
  167. Ötzi öffnet sein drittes Pils und macht sich Sorgen. "Morgen beginnt die Kirmes, und die Asylanten, die da hingehen, kommen auf dem Weg an meiner Wohnung vorbei", sagt er. Um die Wohnung hat er keine Angst, aber um seinen alten Mercedes E-Klasse, der unten auf der Straße steht. Deshalb will er heute nicht so viel trinken. Er will den Wagen noch umparken. "Irgendwo in einer Seitenstraße verstecken, wo ihn die Molukken nicht finden."
  168.  
  169. Sein Benz ist ihm wichtig, auch wenn der Wagen kaum noch fährt. Er ist ein letztes Relikt einer Zeit, in der sich Ötzi nicht auf eine Parkbank verziehen musste, sondern breitbeinig durch sein Viertel stolzierte. Wenn er damals aus dem Bergwerk hervorgekrochen war, arbeitete er in einer Extraschicht als Zuhälter. Fünf Frauen habe er "beschützt", sagt Ötzi, und dafür einen Teil ihres Lohns kassiert. "In den achtziger und neunziger Jahren hat man richtig gut verdient damit, aber mit den Ausländern aus dem Osten fielen die Preise, denn die schickten ihre Frauen schon für ’ne Packung Zigaretten anschaffen." Als die Prostitution immer weiter ausartete und die Straßen irgendwann gesäumt waren von Hunderten Mädchen, die ihre Körper verkauften, richtete die Stadt im Jahr 2011 einen Sperrbezirk ein.
  170.  
  171. Mit dem Prostitutions-Verbot beendete Ötzi seine Karriere als Zuhälter, viele der Frauen aber machten weiter. Genau das sei das Problem, glaubt Ötzi: "Vorher hatten die Frauen Schutz, heute sind sie Freiwild." Zwar heißt es vonseiten der Stadt, man habe die Prostitution im Griff. Laut aktueller Dortmunder Kriminalstatistik aber sind die sogenannten Straftaten im Zusammenhang mit Prostitutionsausübung allein im vergangenen Jahr um 55 Prozent gestiegen.
  172.  
  173. Nach Angaben der Polizei gibt es derzeit nur 20 bis 30 Prostituierte in der Nordstadt. Die Mitternachtsmission, eine Beratungsstelle für Prostituierte, spricht von 100. Ötzi lacht bei solchen Zahlen: "500, mindestens!"
  174.  
  175. "Guck mal, die da zum Beispiel", ruft Ötzi und zeigt auf eine junge, abgemagerte Frau, die mit einem Mann durch den Park läuft. "Das ist die Britta. Die ist 22. Die geht jetzt für’n Zehner mit dem Typen ins Gebüsch und macht alles, was der will. Danach holt sie sich von dem Geld ’nen Schuss Schore." Und genau so passiert es.
  176.  
  177. Westhoffstraße 22
  178.  
  179. Die Straße ist abgesperrt, an einem Flachbau in ergrautem Orange hängen Schilder mit türkischen und deutschen Wörtern: Seçim, "Wahl". Dutzende Menschen strömen hinein. Es ist Sonntag, Abstimmung über das türkische Verfassungsreferendum.
  180.  
  181. Ordner schleusen die Wahlberechtigten in die Kabinen. Die Stimmung ist angespannt, ein Mann am Einlass fordert die Leute in der Schlange auf, nicht zu drängeln.
  182.  
  183. Als Wochen später alle Stimmen ausgezählt sind, melden dieRuhrNachrichten: "75,9 Prozent stimmen in Dortmund für Erdoğan. So viele, wie in keinem anderen Stimmbezirk in Deutschland." Volkan Baran, SPD-Politiker mit deutscher Staatsbürgerschaft, die türkische besaß er nie, wird das Wahlergebnis "enttäuschend" nennen.
  184.  
  185. Fritz-Reuter-Straße 17
  186.  
  187. In einem begrünten Hinterhof haben sich ein paar Nachbarn auf einen Plausch und ein Gläschen Sekt zusammengefunden. Ein Ehepaar, das hier seit mehr als vierzig Jahren lebt, eine Rentnerin, die hier geboren ist, ein junger Mann aus Kamerun, nach Dortmund gekommen, um zu studieren. Die Alten reden über früher. Damals. Weißte noch? Kennste noch? Sie floskeln darüber, wie es war und nie wieder wird. Gut eben.
  188.  
  189. Der Student hört schweigend zu. Auch er hat mal in der Nordstadt gewohnt. Anders als die Alten ist er nicht geblieben, sondern in ein anderes Viertel gezogen. Zwischen dem ersten und zweiten Glas Sekt sagt er: "Ich verstehe wirklich nicht, warum man hier wohnen will. Ich habe das Gefühl, dass es in der Nordstadt keine Gesetze gibt. Die Menschen machen, was sie wollen, außerdem ist es dreckig und stinkt."
  190.  
  191. Dann sagt er noch: "In Kamerun ist das zwar auch nicht besser, aber das hier ist doch Deutschland!"
  192.  
  193. Friedensplatz 1
  194.  
  195. In einem Besprechungszimmer des Rathauses, knapp zwei Kilometer vom Nordmarkt entfernt, sitzt der Oberbürgermeister Ullrich Sierau und verliert jede Freundlichkeit. Er ist hier, um mit der ZEIT über die Nordstadt zu reden, aber kaum erwähnt man die Probleme des Viertels, fängt er an zu beben. Die EU-Osterweiterung habe die Stadt zum "Opfer einer völlig verfehlten Eingliederungspolitik" gemacht, sagt Sierau. Die Bundesregierung habe Beschlüsse gefasst und "einen Scheiß darauf gegeben, ob das funktioniert oder nicht". Sierau schimpft auf die Kanzlerin, auf ihren Innenminister Thomas de Maizière, auf die EU. Alles Dilettanten. Politiker, die von der Universität direkt in die Bundespolitik wechselten. "Die haben von Tuten und Blasen keine Ahnung, machen aber Gesetze, die für uns relevant sind." Sie trügen die Verantwortung für die Armutszuwanderung, die Schrottimmobilien, die Verrohung des Viertels, sagt Sierau.
  196.  
  197. Die wohl schwierigste Aufgabe, die eine Stadt haben kann
  198.  
  199. Und was ist mit den Straßendealern, den libanesischen Clans, den Cafés, die in Wahrheit Drogenumschlagplätze sind? Das sei Sache von Polizei und Justiz. "Ich bin nicht schuld", sagt Sierau.
  200.  
  201. Fühlt er sich als Oberbürgermeister dann überhaupt verantwortlich für die Probleme der Nordstadt? Sierau schaut erst entgeistert, dann empört. "Die Frage ist eine Zumutung!", schreit er durchs Besprechungszimmer. Man könne ja gerne mit ihm den Job tauschen. "Damit Sie mir zeigen können, wie es richtig geht."
  202.  
  203. Vielleicht würde es genügen, wenn ihm das sein Parteifreund Volkan Baran zeigen würde. Der nämlich hat politische Lösungen für die Nordstadt im Kopf: "Man müsste eine Schnellbuslinie zwischen dem Viertel und der Uni einrichten, damit die Gegend attraktiver für Studenten wird", sagt Baran.
  204.  
  205. Man müsste moderne Apartments statt sozialen Wohnungsbau fördern, damit Besserverdiener ins Viertel ziehen und die Gesellschaft durchmischt wird. Man müsste die Menschen wieder in Beschäftigung bringen, um sie von der Straße zu holen. Man müsste Parteibüros installieren als Anlaufstellen und Orte der politischen Willensbildung.
  206.  
  207. Man müsste so viel.
  208.  
  209. Es ist die wohl schwierigste Aufgabe, die eine Stadt haben kann: ein Viertel, das am Boden liegt, wieder aufrichten.
  210.  
  211. Was also könnte man tun?
  212.  
  213. Rudolph Giuliani, in den neunziger Jahren Bürgermeister von New York, räumte mit seiner Null-Toleranz-Strategie die Stadt auf: mehr Polizei, härtere Strafen. Jedes noch so kleine Vergehen wurde geahndet. Er hatte Erfolg. Die Kriminalität ging zurück, allerdings um den Preis, dass man heute in New York kaum eine Zigarette ungesühnt fallen lassen kann.
  214.  
  215. Ein anderer Ansatz, vielleicht vielversprechender, ist derzeit im Liverpooler Stadtteil Granby zu beobachten. Über Jahre verfiel das alte Arbeiterviertel und mit ihm die Menschen, die dort wohnten. Bis sich eine Gruppe junger Architekten in einen Wagen setzte, nach Granby fuhr, von Tür zu Tür ging und mit den Bewohnern redete. Sie fragten, hörten zu. Dann planten sie gemeinsam die Erneuerung des Viertels.
  216.  
  217. Die Menschen in Granby gründeten eine Genossenschaft, um an öffentliche und private Gelder zu gelangen, sie erhielten umgerechnet mehr als eine Million Euro. Sie bauten Werkstätten, in denen Jugendliche Handwerksberufe erlernen konnten. Die dort gezimmerten Möbel verkauften sie und generierten damit zusätzliche Einnahmen, die direkt in die Sanierung des Viertels flossen.
  218.  
  219. Mittlerweile sind aus Bruchbuden wertvolle Immobilien geworden, statt Krimineller kommen Investoren. Granby wurde vom Ghetto zur Touristenattraktion.
  220.  
  221. Ullrich Sierau, der Oberbürgermeister von Dortmund, mag kein detailliertes Konzept für die Nordstadt haben. Aber der Wandel, sagt er, sei im Gange. "Wir haben bereits mehrere Schrottimmobilien gekauft, die wir jetzt renovieren wollen."
  222.  
  223. Sierau hat eine Vision für die Nordstadt. Auch sie ist inspiriert von der Veränderung in England. Am Ende des Gesprächs fragt er: "Kennen Sie Notting Hill?" Dieser Stadtteil von London sei nach dem Zweiten Weltkrieg völlig heruntergekommen gewesen, niemand habe dort wohnen wollen.
  224.  
  225. Und heute? Eines der teuersten Viertel im absurd teuren London. "So wird das auch hier sein", verkündet Ullrich Sierau. Die Nordstadt werde zum Notting Hill Dortmunds.
  226.  
  227. Mallinckrodtstraße 55
  228.  
  229. Die Roma-Jungs aus dem Haus, in dem Alex wohnt, haben ein Spiel. Sie spielen es, sobald es dämmert, während Alex, der nicht mehr nach draußen darf, in der Wohnung sitzt. Im Hof, wo die Mülltonnen stehen, aufgereiht, fünf Stück hintereinander, tritt ein Junge gegen eine Tonne. Eine Ratte springt heraus, rennt über den Asphalt. Ein zweiter Junge macht "Pssst", läuft hinter ihr her, treibt sie weiter ans Ende des Hofes. Dort steht der dritte, in der Hand eine Eisenstange. Holt aus. Trifft. Grölen. Lachen. Zehn Minuten spielen sie dieses Spiel: Rattenklatschen. Sechsmal tritt ein Junge gegen die Tonnen, sechsmal scheucht einer, sechsmal holt einer aus. Sechs Ratten sind tot. In zehn Minuten. Notting Hill ist in diesem Moment sehr weit von der Nordstadt entfernt.
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