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Piraten und das Frankfurter Kollegium - eine Nabelschau

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Dec 17th, 2012
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  1. Piraten und das Frankfurter Kollegium - eine Nabelschau
  2. =========================================================
  3.  
  4. Inhalt:
  5. 1. Vergleich der Entwicklung zwischen Usenet und Piratenpartei
  6. 2. Vergleich Piraten/Grüne
  7. 3. Frankfurter Kollegium
  8. 4. Fussnoten
  9. +---------------------------------------------------------
  10.  
  11.  
  12. Gabe es die Piratenpartei nicht, so müsste man sie erfinden, denn sie ist für Soziologen und Politologen gleichermaßen ein treffliches Beobachtungsfeld bezüglich Kommunikation und Interaktion sich entwickelnder netzaffiner Gemeinschaften mit schwach ausgebildeten formellen Regeln.
  13.  
  14.  
  15. 1. Vergleich der Entwicklung zwischen Usenet und Piratenpartei
  16. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
  17.  
  18. Die Entwicklung der Piratenbewegung gleicht in vielerlei Hinsicht der des Netzes, speziell der des Usenets. Die Gemeinsamkeiten liegen u.v.a. in
  19.  
  20. + einem strukturellem Aufbau, in welchem sich Machtstrukturen in hohem Umfang einerseits auf
  21. technischer Ebene und andererseits auf informelle Weise bilden.
  22.  
  23. + vehemente Kontroversen zwischen Fundamentalisten und anderen Gruppierungen
  24.  
  25. + der Gemengelage unterschiedlichster kultureller Prägungen, weltanschaulicher Ansichten, politischer
  26. Überzeugungen, unterschiedlichen Bildungsständen
  27.  
  28. + einem Grundkonsens bezüglich Teilhabe, freier Kommunikation und Menschenrechte
  29.  
  30. + einer prinzipiellen Abneigung gegen Obrigkeitsdenken
  31.  
  32. + prinzipbedingt fehlenden Mitteln, die mangelnde Diskussionskultur zumindest in den
  33. Hauptinformationskanälen wirkungsvoll regulieren zu können oder regulieren zu wollen, nebst der Folge
  34. einer daraus resultierenden hohen Frequenz von Flames, Shitstorms, "Gates" oder Trollereien.
  35.  
  36. + einem exponentiellen Wachstum an Mitgliedern, dem interne Organsiationsstrukturen nicht gewachsen
  37. waren und derzeit auch noch nicht gewachsen sind.
  38.  
  39. + einem hohen Bedarf freiwilligen Engagements und an Arbeitsleistung, bei zugleich sehr geringen
  40. finanziellen Spielräumen
  41.  
  42. Als das Usenet mit der Einführung von TCP/IP und vor allem mit der Entwicklung von Linux seitens ARPA in unter Streichung der Fördermittels des amerikanischen Verteidigungsministeriums in die Selbstständigkeit entlassen worden war und ebenso die Macht der Backbone-Server, scherzhaft auch CABAL genannt, gebrochen worden war, zeichnete sich sehr schnell ab, dass Mittel und Wege gefunden werden mussten, die Diskussionskultur, schlicht den Umgang miteinander, zu verbessern.
  43.  
  44. Ein Flame jagte den anderen, Cancel- und Controlwars [1] waren an der Tagesordnung und sie führten letztlich zur ersten großen Spaltung des Usenets, u.a. in die Big-7 Hierarchie[2] und der alt-Hierarchie.
  45. Weitere Abspaltungen folgten in schöner Regelmäßigkeit.
  46.  
  47. Sehr bald wurden "Einnordungsstationen" in Form von FAQ-Gruppen für Usenet-Einsteiger (z.B. news.admin.newsusers.questions) eingerichtet, erste Netiquetten oder die "10 Computergebote" machten die Runde, Newbies wurden von alten Hasen ziemlich rigoros auf die Einhaltung von Spielregeln hingewiesen.
  48. Wer nicht nicht spurte, wurde "geplonked", sprich im eigenen Newsclient weggefiltert, usw.
  49.  
  50. Es machte sich aber bald die Erkenntnis breit, dass man andere Weltsichten oder gar Trolle aus den verschiedensten Gründen damit nicht besonders gut aus der Welt schaffen konnte.
  51. Daher wurden mit der Zeit technische Regeln, z.B. RFCs, ausgearbeitet, die zumindest die technische Ebene und die technische Integrität des Netzes schützen sollten.
  52. Bestimmte Grundsätze wurden auch in vielen Anwenderprogramme so eingearbeitet, dass zumindest die Masse der stark steigenden Zahl der (z.T. immer unbedarfter werdenden) Anwender damit die Möglichkeit genommen wurde, "Unsinn zu treiben". Das Netz wurde durch eine technisch versierte Kaste oligarchisiert und wenn man so will, auch entdemokratisiert.
  53.  
  54. Das Kastensystem [2] lässt sich wie folgt einteilen:
  55. + die Priesterkaste, die die reine Lehre in die Heiligen Bücher des Usenets fortschreibt. Sie waren und
  56. sind zumeist in den obersten Gremien der Selbstverwaltung zu finden
  57. + die Kriegerkaste, die hemmungslos und mit allen Mitteln versucht (hatte), jeden wegzubeißen, der gegen
  58. die Regeln war/ist. Sie waren/sind die Schoßhündchen der Priesterkaste
  59. + die Grundbesitzerkaste, auch "Regulars", "Netcops" oder "Hausmeister" genannt, die innerhalb einer
  60. Newsgroup für Ordnung sorg(t)en
  61. + die Pächterkaste, sie waren/sind die nützlichen Idioten der Regulars. Leute ohne Ahnung, Hirn und
  62. Verstand, aber willig, lautstark und bissig, Waderlbeißer halt.
  63. + die Unberührbaren, das sind normalen User, die lediglich diskutieren woll(t)en.
  64.  
  65. Über allem standen die allmächtigen Admins. Sie waren Gott und wer Gott verärgerte, der hatte schlechte Karten, denn sein Zugang wurde ganz einfach gesperrt.
  66.  
  67. Nun zu den Piraten:
  68. +------------------
  69. Bei Piraten werden Flausch-Cons abgehalten, um das Kommunikationsverhalten zu verbessern, was BTW ebenso erfolglos sein wird, wie die Einnordungsstationen im Usenet. Die Sozialisierten verhalten sich ohnehin einigermaßen gesittet und die Trolle, die Dissozialen oder gar "U-Boote" (Leute, die die Partei unterwandern wollen) wird man damit nicht los -- ebenso nicht die im übrigen (zumindest innerhalb einer gewissen Spannbreite) durchaus erwünschte Meinungsdiversität.
  70.  
  71. Regulatorien (und somit auch Macht) werden daher immer mehr auf die technische und verwaltungstechnische Ebenen verlagert. Letztlich bestimmt, wer Zugriff auf die technische Infrastruktur der Partei besitzt!
  72. Wie im Usenet hat sich ein Kastenwesen gebildet, wobei auch hier die "Administratoren" das Rückgrat bilden.
  73.  
  74. Auseinandersetzungen, da es sowohl um Macht (Hoheit über politische "Wahrheiten", Pressezugang, Aufmerksamkeitsökonomie etc. und persönliche Ämter- und Mandatsambitionen) als auch um Geld geht, sind innerhalb der Partei wohl noch verbissener als im Usenet.
  75. Sie sind auch intransparenter, da -- entgegen offizieller Redeart -- die Bildung von Informationsknoten für die eigene politische Zukunft besonders wichtig sind.
  76. Die Dichotomie zwischen der offiziellen transparenten Entscheidungsfindung mittels Diskussion und Abstimmung auf allen Ebenen (u.a mit Tools wie LQFB), -- inklusive der Dokumentation --, und den inoffiziellen, informellen Gruppenbildungen mittels Mumble, Telefon, Hinterzimmern und den Klüngeleien im Vorfeld von und während Parteitagen ist hierbei frappierend.
  77.  
  78. So nimmt es nicht Wunder, dass das gegenseitige Misstrauen gegenüber Parteikollegen ebenso exponentiell zugenommen hat wie das dazu parallel verlaufene und bisher unverkraftete Wachstum der Piratenpartei.
  79.  
  80.  
  81. 2. Vergleich Piraten/Grüne
  82. ===========================
  83. 1982 hatten auch die Grünen ähnliche Probleme, obgleich sie mit sagenhaften 8% in den Bundestag gewählt worden waren. Der Unterschied zwischen den Grünen und Piraten liegt nun darin, dass die Spannbreite der politischen Ansichten bei den Piraten deutlich größer ist und die Grünen aufgrund eines anderen Parteiengesetzes deutlich mehr in der Parteienkasse hatten, was den Organsisationaufbau zu unterstützen geholfen hatte.
  84.  
  85. Lagen die Hauptströmungen bei den Grünen im Feminismus, im radikalökologischen Fundamentalismus, im Ökosozialismus und im Reformismus, so kommen bei den Piraten u.v.a. noch Laizismus, Skeptizismus, Liberalismus jeglicher Coleur, bis hin zu konservativen Positionen einer CSU am rechten Rand hinzu -- von dem Rudel Rechtsradikaler und anderer Gruppierungen, die immer wieder als U-Boote die Partei zu unterwandern suchen, ganz zu schweigen.
  86.  
  87. In jedem dieser und vieler hier nicht genannten Lager finden selbst innerhalb einer bestimmten politischen Strömung z.T. erbitterte Diskussionen über den richtigen Weg statt.
  88. Es ist daher kein Wunder, dass Entscheidungsfindungen in der Piratenpartei so schwierig sind und jede getroffenen Entscheidung entsprechend viele Gegener nach zieht.
  89.  
  90. Ein Nicht-Konsenssystem sorgt für weitere Spannungen, denn eine JA/Nein-Abstimmung ist und bleibt letztlich eine Kampfabstimmung, aus der die eine Seite als Verlierer und die andere Seite als Gewinner hervorgeht. Verschärft wird dies noch durch Delegationssysteme in Tools wie LQFB, in denen zwar die Vernetzung mehr oder weniger transparent dargestellt wird, jedoch de facto eine Verschiebung zu Superdelegierten stattgefunden hat, die jegliche Abstimmung letztlich nach ihrem Willen entscheiden können.
  91.  
  92. Insgesamt findet ein gnadenloser und auch mit unfairen Mitteln (Verleumdung, Mobbing, ja sogar Gewaltandrohung) geführter Kampf um die Meinungshoheit statt. Männer und Frauen geben sich hierbei nicht viel. Sensiblere Gemüter ziehen sich hierbei frustriert zurück. Gewinner ist, wer sich innerhalb der Partei, aber auch außerhalb (z.B mit Medienvertretern) besser vernetzen kann, wer skrupelloser vorgeht, wer mehr Zeit und Geld einbringen kann, wer mehr politische Erfahrung und Beredtsamkeit mitbringt (z.B viele ehemalige Grüne/Linke) und letztlich, wer besser das Blaue vom Himmel erzählen kann.
  93. Wie allgemein in der Gesellschaft sind die Boten schlechter Nachrichten allgemein unbeliebt und werden nach allen Regeln der Kunst ins politische Abseits gestellt.
  94.  
  95. Man sagt zwar besonders dem "LV Hollywood" (=Landesverband Berlin) Hinterzimmerpolitik im Vorfeld offizieller Entscheidungsfindungen nach, jedoch geben sich meiner Kenntnis nach andere LVs hier nichts.
  96. Im Ergebnis führt dies letztlich zu einer Art darwinistischer Selektion:
  97. Die typischen Nerds, die zu Beginn das Sagen hatten, werden mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt weil man ihnen kommunikative Fähigkeiten im Hinblick auf ein Amt oder ein Mandat zunehmend weniger zutraut. Zum Zuge kommen letztlich immer mehr Nicht-IT'ler, Juristen, Schausteller, Rhetoriker und Schwätzer, kurzum kommunikativ starke Persönlichkeiten, die "schon immer mit dem Herzen Pirat gewesen sind". Aus dieser Erkenntnis heraus, so scheint es mir, werden dann auch solche Leute gerne vorgeschickt -- eine Hand wäscht schließlich die andere...
  98.  
  99. Es wundert nun nicht, dass in dieser Gemengelage wuselnder und sich ständig wandelnder Zweckbündnisse der Wunsch nach Struktur, Ordnung und geregelten Vorgehensweisen aufkommt.
  100.  
  101.  
  102. 3. Frankfurter Kollegium
  103. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
  104.  
  105. In der Gründung des Frankfurter Kollegiums hat sich nun dieser Wunsch nach Ordnung manifestiert.
  106. Ich will nicht abstreiten, dass auch edle Motive wie effekiveres Arbeiten, wie immer dies auch aussehen mag, eine Rolle bei Gründung gespielt haben mag.
  107.  
  108. Allerdings sehe ich persönlich die Gründung des Frankfurter Kollegiums sowohl vom Zeitpunkt her, als auch in der Art und Weise, wie sie erfolgt ist, als strategisches Manöver an.
  109. Der hohe Anteil an Listenkandidaten, Vorstandschaften aus mehreren Landesverbänden, sowie ehemaliger Vorstände, spricht hier Bände.
  110.  
  111. Man war sich innerhalb des Kollegiums meiner Ansicht sehr wohl bewusst, dass diese Ansammlung in besonderem Maße die Aufmerkamkeit der Presse erregen wird. Und wer immer auch die besten Pressekontakte besitzt, hat die Meinungshoheit über die Partei, gleich wie sehr das Kollegium auch beteuern mag, dass es zu den Entscheidungen der Basis außerhalb des Kollegiums stehen wird.
  112.  
  113. Wie die Erfahrung aus LQFB gezeigt hat, zieht Prominenz nicht nur die Aufmerksamkeit der Presse auf sich, sondern auch die von den Parteimitgliedern. Wie groß der Zulauf zu dem nun auch formell festgetackerten Flügel sein wird, wird im wesentliche davon abhängen, wie geschickt das Kollegium kommunikativ agiert. Da ein überproportionaler Anteil an Vorständen im Kollegium tätig ist und wie oben angeführt, vorwiegend starke kommunikative Personen in solche Positionen gewählt werden, kann das Potential als sehr hoch eingeschätzt werden.
  114. Gesetzt den Fall einer positiven Medienberichterstattung, die sich so viele brave und fleißige Piraten so sehr von Herzen wünschen, ist abzusehen, dass sich das bisherige durchaus sehr konträre Meinungsbild zu Gunsten des Kollegiums drehen wird. Letztlich möchte auch jeder zu den Gewinnern gehören!
  115.  
  116. Allerdings spielt das Frankfurter Kollegium Russisches Roulette, denn ein zementierter Status als formeller Flügel kann durchaus die Partei auch formell spalten. Zumindest jedoch könnten sich Gegenkräfte möglicherweise zu ähnlichen formellen Flügelbildungen hinreißen lassen.
  117. Als unausweichliche Folge wird es dann wie bei den Grünen zu Ausgründungen in Form andere Parteien kommen, wenn sich keine verbindende Elemente finden lassen, die solche Konstrukte dann notdürftig zusammenhalten. Das Potential für solche Abspaltungen halte ich für recht hoch.
  118.  
  119. Ein Hauptproblem wird das Frankfurter Kollegium jedoch nicht lösen können, auch wenn es nur handverlesenen Beitrittskandidaten aufzunehmen gedenkt: Es zeigt keine Wege auf, wie Meinungspluralismus auf demokratischem Wege unter einen Hut gebracht werden können.
  120. De facto hat sich eine Elite gebildet, die auch als Elite handelt. Zwar mögen die Hierarchieebenen im Kollegium kurz sein, aber es wird nur dann durchgehalten werden können, wenn die Gruppe klein und überschaubar bleibt, da ansonsten diesselben Probleme wie in der übrigen Piratenpartei die Folge sein werden.
  121. Im Vergleich zum Usenet hat sich das Kollegium nicht nur der Technokratieoligarchie, denen alle Vorstände angehören, sondern zusätzlich der Kommunikationsoligarchie bemächtigt, was langfristig -- trotz aller guten Vorsätze -- nichts Gutes für die Zukunft erahnen lässt.
  122.  
  123. Fussnoten:
  124. ==========
  125. [1] Controls sind Steuernachrichten im Usenet, die es erlauben z.B eigene oder fremde Nachrichten zu löschen, neue Newsgroups einzurichten oder zu löschen, den Status von Newsgroups zu ändern, z.B moderiert in unmoderiert und vice versa.
  126. [2] Eine Parodie bezüglich des Kastensystems mir:
  127. <https://groups.google.com/group/de.admin.news.regeln/msg/c1d25b8e998e3836?hl=de&dmode=source>
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