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Der zwolfte Spieler

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Jan 3rd, 2025
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  1. Kapitel 1 – Zurück nach Hause
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  3. „Das kann ja wohl nicht wahr sein! Sie können nicht mal ’nen Tisch richtig hinstellen!“
  4. Da stand ich, während die Alte sich aufregte über irgendwas, worüber sich kein normaler Mensch Gedanken machen würde. Sie machte ’ne Szene, weil der Tisch fünf Zentimeter daneben stand, als sie wollte. Echt top. Anstatt dankbar zu sein, dass ein paar kräftige Typen ihren bleischweren Kram in den fünften Stock ohne Aufzug geschleppt haben, geht’s ihr um den Millimeter-Kram.
  5. „Und Sie sind undankbar!“, zischte ich, schob den blöden Tisch ein Stück rüber und fragte mit dem breitesten Grinsen, das ich hinkriegen konnte: „Besser?“
  6.  
  7. Dabei hätte ich das hier alles gar nicht machen müssen. Ich hätte ’n berühmter Fußballer sein können. Mich, Mattias Heiberg, aus der kleinen Bergstadt Parodista, hatte der königliche Club Detchia ausgesucht, das größte Team im Land. Aber ich musste ja mit 17 so’n Vollidiot sein. Anstatt zu trainieren oder in die Schule zu gehen, hing ich lieber in Clubs und Bars rum. Am Ende hab ich betrunken nen Unfall gebaut und dann auch noch irgendeinen Typen verprügelt. Ich landete im Knast, und Detchia hat mich natürlich rausgeschmissen.
  8.  
  9. Acht Jahre später bin ich zurück in diesem Kaff, in meiner Heimatstadt. Hab immerhin noch die Lehre abgeschlossen, damit ich irgendeinen Schulabschluss hab. Jetzt arbeite ich als Umzugshelfer und krieg Vorträge darüber, dass ich keine fünf verdammten Zentimeter messen kann.
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  11. Das war aber nicht der einzige Reinfall heute. Meine Freundin hat mit mir per SMS Schluss gemacht. Danach haben mir die Bullen noch ’ne Strafe fürs Simsen am Steuer aufgebrummt. Und dann hab ich beim Einparken den Firmenwagen zerkratzt. Läuft.
  12.  
  13. Aber wenigstens eins könnte heute gut laufen. Mein alter Jugendtrainer, Hansi Lübke, hat mich aus der Kreisklasse in sein halbprofesionellen Team in der dritten Liga geholt, zum Union Parodista. Für mich ist er wie ’n zweiter Vater, und ich hab das Gefühl, dass ich bei ihm die Chance hab, ins Profifußball zurückzukommen. Heute steh ich zum ersten Mal in der Startelf. Kein Wunder, dass ich mich wie ein kleines Kind freu und keine Sekunde zu spät zum Training kommen will. Ich rannte die Treppe runter wie ein Shinkansen, und –
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  15. „Verdammt, guck doch, wo du hinläufst!“ fauchte ich, als ich in etwas reinrannte. Oder eher in jemanden.
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  17. Da war dieses Mädel, ’ne blasse Blondine, bestimmt einen Kopf kleiner als ich, die ich überhaupt nicht gesehen hab. Sie fiel hin wie ’ne Bowlingkugel, und ihre Bücher kullerten die Treppe runter.
  18.  
  19. Als ob ich heute nicht schon genug Stress hätte. Ich wollte ihr schon sagen, sie soll selbst aufpassen und abhauen. Ich hab erwartet, dass sie mich auch anpampt und mir erklärt, was für ’n Versager ich bin. Aber nix. Sie sammelte einfach still ihre Bücher auf und guckte mich nicht mal richtig an. Ich glaub, sie hat sich sogar entschuldigt.
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  21. Das hab ich nicht kommen sehen. Irgendwas in mir hat mich dazu gebracht, mich zu bücken und ihr zu helfen, die blöden Bücher einzusammeln.
  22. „Danke“, murmelte sie leise. Kein bisschen Vorwurf in der Stimme. Ruhig, leise – und irgendwie traurig.
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  24. „Ja, schon gut“, knurrte ich und ging weg, genauso wie sie. Was war das denn? Ich hab erwartet, dass sie sauer ist, aber sie hat kaum was gesagt.
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  26. ...
  27.  
  28. ...
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  30. Ich stand auf dem Platz, mein Herz hämmerte, und als ich die Fans meinen Namen rufen hörte, dachte ich: Heute zeig ich’s allen, die an mir zweifeln.
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  32. Am Anfang lief’s richtig gut. Ich hab ein paar gefährliche Angriffe abgewehrt. Wie es sich für einen Innenverteidiger gehört. Aber je länger das Spiel ging, desto schlechter lief’s. Die Gegner haben rausgefunden, wie sie an mir vorbeikommen. Am Ende haben wir ein Tor kassiert. Klar, das gehört im Fußball dazu, aber für mich war’s wie ’ne persönliche Niederlage. Also hab ich mir gesagt, ich muss härter durchgreifen. Um jeden Preis.
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  34. Das war ein Fehler. Bei einer Aktion hab ich den Stürmer der Gegner gesehen, wie er auf unser Tor zulief. Ich hatte Zeit. Aber ich hab nicht nachgedacht. Ich bin einfach mit Vollgas in ihn reingerutscht, nur damit ich das Gefühl hatte, Kontrolle zu haben. Ich sah, wie er auf den Boden flog, und dann sah ich den Schiri zur roten Karte greifen. Well done, man.
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  36. „Was machst du da, du Vollidiot?!“ brüllte unser Torwart, als ich vom Platz ging. Aber das war gar nichts im Vergleich zu dem, was in der Kabine auf mich wartete.
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  38. „Du hast’s schon wieder verkackt, Heiberg! Wegen dir mussten wir die ganze zweite Halbzeit mit zehn Mann spielen!“ – „Hör endlich auf, dich wie ’n Dummkopf zu benehmen, du denkst doch nur an dich!“
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  40. Solche Sprüche und noch mehr hab ich mir anhören dürfen, kaum dass ich durch die Tür war. Ich hatte keinen Bock auf Ausreden, also hab ich’s ihnen genauso zurückgegeben und sie dahin geschickt, wo die Sonne nicht scheint.
  41.  
  42. „Jetzt reicht’s!“ Der Trainer brüllte und brachte alle zum Schweigen. Er schaute mich an, offensichtlich enttäuscht.
  43. „Matti, geh eine Runde spazieren. Du brauchst einen klaren Kopf. Und dann komm zurück.“
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  45. Ich drehte mich um und ging, ohne ein Wort zu sagen. Da gab’s auch nix mehr zu sagen.
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  47. Ich streifte durch die leeren Stadiongänge, voller Wut. Dann trat ich gegen einen Mülleimer. Ich konnte mich einfach nicht beruhigen. Immer wieder liefen die Szenen aus dem Spiel in meinem Kopf ab. Ich weiß nicht, wie lange ich so rumgelaufen bin.
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  49. Dann hörte ich Schreie. Ich blieb stehen und horchte, woher sie kamen. Es klang aus einem der abgelegenen Räume, wo sonst keiner hingeht. Ich ging näher und spähte rein.
  50.  
  51. Da war sie. Das Mädchen von der Treppe. Mit einem Wischmopp in der Hand. Offensichtlich arbeitet sie hier als Putzfrau. Und vor ihr stand ein wütender Typ.
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  53. „Du bist ja völlig unfähig!“ fauchte er sie an. „Nicht mal sauber machen kannst du! Hast du den umgekippten Mülleimer nicht gesehen? Du bist ’ne totale Null!“ Dann riss er ihr den Mopp aus der Hand und stieß sie damit um. Sie fiel hin wie ’ne Stoffpuppe, und in mir kochte es. Dieser Typ hat ein Mädchen geschubst – und dann auch noch für was, was sie nicht mal gemacht hat. Den Mülleimer hab schließlich ich umgetreten. Mir wurde schlecht davon.
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  55. „Was zum Teufel machst du da? Bist du bescheuert?“ knurrte ich und trat in den Raum.
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  57. Der Typ drehte sich um, aber als er sah, dass ich auf ihn zuging, machte er plötzlich einen Rückzieher. „Das geht dich nix an, Kumpel“, meinte er, aber seine Stimme klang unsicher. Ich ging noch einen Schritt auf ihn zu, und bevor ich was sagen konnte, drehte er sich um und verschwand schnell.
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  59. Das Mädchen lag immer noch auf dem Boden, aber sie fing an, sich aufzurichten. Ich sah, wie geschockt sie war, ihre Hände zitterten. Langsam ging ich zu ihr hin und sprach sie an: „Alles okay bei dir?“
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  61. Ich dachte, sie würde was sagen, sich vielleicht bedanken. Aber stattdessen rannte sie einfach weg.
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  63. Da stand ich, wie vom Donner gerührt. Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, warum ich mich überhaupt eingemischt hab.
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  65. Aber dann wurde mir was klar. So wütend bin ich auch. Aber als ich das aus der anderen Perspektive gesehen hab, was Wut anrichtet, war das wie ein Schlag ins Gesicht. Das bin ich. So seh ich aus, wenn ich ausraste. Wie ein Verrückter. Und das ist einfach nur erschreckend.
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  67. „Das war wie ein Spiegelbild“, sagte ich später zum Trainer, als er mich fragte, was ich über meinen Aussetzer heute denke. „Als ich diesen Irren mit dem Mopp gesehen hab, wie er das Mädchen angeschrien und geschlagen hat, wurde mir klar, dass die Leute mich genauso sehen müssen, wenn ich austicke.“
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  69. Der Trainer nickte. „Matti, du bist auf dem richtigen Weg“, sagte er ruhig. „Geh nach Hause, ruh dich aus. Morgen wird’s besser.“
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  71. Ich nickte und machte mich auf den Weg nach Hause. Nach allem, was heute passiert war, nahm ich schließlich die Einladung meiner Mutter zum Abendessen an. Keine Ahnung, warum, vielleicht wollte ich einfach nicht allein sein.
  72.  
  73. Ich saß am Tisch und schluckte meinen Frust runter. „Warum geht immer alles schief? Bin ich echt so ein Versager?“ platzte es irgendwann aus mir heraus.
  74.  
  75. Meine Mutter und mein Vater hörten einfach nur zu, während ich von allem erzählte, was heute passiert war.
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  77. „Weißt du, Matti“, fing meine Mutter ruhig an, „es war einfach ein schlechter Tag, das passiert. Du bist kein Versager. In dir steckt mehr Gutes, als du denkst. Dass du dich heute für das Mädchen eingesetzt hast, war nicht ohne Grund.“
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  79. Mein Vater nickte. „Du machst Fehler, das stimmt. Aber ich sehe, dass du dich verbesserst. Du bist nicht mehr der Junge von vor acht Jahren.“
  80.  
  81. Ich aß auf, und als ich vom Tisch aufstand, wurde mir klar, dass es mit mir gar nicht so schlecht steht, wie ich gedacht hab.
  82.  
  83. **Kapitel 2**
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  85. Der heutige Training war echt die Hölle. Nach der ganzen Aktion redeten die Jungs kaum noch mit mir. Und als ob das nicht schon genug wäre, lief der Ball ständig dahin, wo er nicht sollte. Alles lief einfach den Bach runter.
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  87. Kurz vorm Ende vom Training nickte mir der Trainer zu. „Matti, komm mal ins Büro.“
  88. Ich seufzte. Das war's. Jetzt sagt er mir, dass ich raus bin.
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  90. Um ihm zuvorzukommen, fing ich gleich an zu reden, als ich die Tür hinter mir schloss: „Machen Sie’s nicht kompliziert, Coach. Ja, ich bin ein Idiot, ja, ich hab verkackt. Also, danke für nix, ich bin weg.“
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  92. Hansi schaute mich nur einen Moment an, dann sagte er ruhig und gelassen: „Matti, ich will dich nicht rausschmeißen. Ja, du hast Mist gebaut. Aber ich weiß, dass du mehr drauf hast.“
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  94. Diese Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich stand nur da, wie vom Blitz getroffen.
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  96. „Matti, ich kenn dich, seit du ein Kind bist. Du hast Talent und irgendwo da drinnen auch ein gutes Herz. Du musst nur aufhören, immer nur an dich selbst zu denken,“ fuhr Hansi fort. „Du kämpfst nicht nur für dich, sondern für das Team und für die Stadt. Das weißt du, sonst hättest du der Putzfrau gestern nicht geholfen.“
  97.  
  98. Ich atmete tief durch und schaute zur Seite. Damit hatte ich echt nicht gerechnet. Hansi sprach weiter, in seinem ruhigen Ton: „Ich will, dass du mit dem Team zum nächsten Auswärtsspiel fährst. Du kannst nicht spielen, aber ich will, dass du dabei bist, den Verein und die Leute besser kennenlernst. Union ist nicht nur Fußball, es geht vor allem um die Menschen. Das will ich dir zeigen. Damit du verstehst, für wen du eigentlich spielst.“
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  100. „Ja, klar, Trainer,“ murmelte ich. Immer noch ein bisschen geschockt, aber ich bedankte mich schließlich bei ihm.
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  104. Ein paar Tage später saß ich im Bus auf dem Weg zum Auswärtsspiel. Die Jungs quatschten untereinander, und ich… ich saß allein und starrte aus dem Fenster. War mir egal. Ich brauchte eh ein bisschen Ruhe, um meine Gedanken zu sortieren.
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  106. Plötzlich setzte sich Taro, unser Kapitän, neben mich. Ein Japaner, der Respekt nicht nur auf dem Platz, sondern auch in der Stadt hatte.
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  108. „Matti, sorry, dass wir dich beim Training ignoriert haben.“
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  110. Ich war baff. Der Kapitän entschuldigte sich bei mir? „Du entschuldigst dich bei mir?“ fragte ich ungläubig.
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  112. Er nickte. „Wir waren unfair. Klar, du hast dich wie ein Idiot verhalten, aber jeder macht Fehler. Wichtig ist, dass man daraus lernt.“ Er machte eine kurze Pause und fügte hinzu: „Union ist nicht nur ein Fußballverein. Das wirst du noch merken.“
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  114. Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander, dann fingen wir an zu reden. Taro erzählte mir, wie es war, als er zum ersten Mal zum Club kam – ein neues Land, eine neue Sprache, keine Freunde. „Aber Union hat mich aufgenommen. Ich bekam eine Chance und fand hier ein Zuhause. Für die Leute hier bedeutet der Verein so viel,“ erklärte er.
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  116. Ich hörte ihm zu und fing an zu verstehen, dass Union für Taro und die anderen viel mehr war als nur ein Sportverein.
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  118. Das hat mich getroffen. Ich hatte das nie so gesehen. Für mich ging es immer nur ums Spiel, um Leistung, um mich. Aber Taro brachte mich zum Nachdenken.
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  120. Als wir am Stadion ankamen, stellte Taro mich ein paar Fans vor, die zu jedem Spiel mitfuhren. Besonders beeindruckte mich Jürgen, ein freundlicher älterer Herr. „Weißt du, ich hab kurz vor der Rente meinen Job verloren,“ erzählte er mir. „Ich war am Boden, wusste nicht, was ich machen sollte. Aber die Leute von Union haben mir geholfen. Ich hab erst ehrenamtlich gearbeitet, dann haben sie mich als Platzwart eingestellt, und heute… bin ich hier. Es gibt immer Leute, die dich unterstützen.“
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  122. Ich war überrascht, wie viel der Verein für sie bedeutete. Jeder hatte seine Geschichte, und Union war immer ein Teil davon. Nicht nur auf dem Platz, sondern auch daneben. Plötzlich fühlte ich mich… komisch. Vielleicht ein bisschen schuldig. Für mich ging es immer nur ums Gewinnen und um mich. Aber hier ging es um viel mehr.
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  126. Am Donnerstag Nachmittag war ich gerade auf dem Heimweg nach der Arbeit und dem Training, als mein Handy klingelte. Mein Bruder. „Was gibt’s?“ fragte ich genervt.
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  128. „Matti, kannst du heute Katie abholen?“
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  130. Katie ist meine vierjährige, hyperaktive Nichte. Ihr könnt euch denken, dass ich nach so einem Tag echt keine Lust hatte, mich um sie zu kümmern. „Warum ich?“
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  132. „Monika und ich können nicht. Arbeit. Nur heute, bitte,“ sagte er flehend.
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  134. Ich verdrehte die Augen. „Na gut. Aber nur heute.“
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  136. „Danke, Bruder,“ antwortete er erleichtert. Ich wusste, dass ich ihm das schuldete. Nachdem er mir geholfen hatte, als ich aus dem Knast kam… na ja, ich konnte ihn nicht hängen lassen.
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  138. Ein paar Minuten später war ich im Union Kids Center, oder wie sie es nennen. So was wie ein Mix aus Hort und Kita, wo die Betreuer sich um die Kinder kümmern, wenn die Eltern keine Zeit haben.
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  140. Katie sah mich sofort, als ich reinkam, und schrie begeistert: „Matti!“ Sie rannte zu mir und klammerte sich an meine Beine.
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  142. „Ja, ja, ich bin hier,“ grinste ich und wuschelte ihr durch die Haare. „Na, Katie? Was hast du heute gemacht?“
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  144. „Elina hat mit mir gespielt!“ rief sie begeistert. „Sie hat mir eine Geschichte vorgelesen, und ihre Stimme ist magisch. Sie ist so nett, Matti!“
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  146. Wer ist Elina? fragte ich mich, aber Katie zog mich schon am Arm, um sie mir zu zeigen. Und da stand sie – die Putzfrau, die ich aus Versehen auf der Treppe umgerannt hatte und die später von diesem Idioten angegriffen wurde. Sie war es, die sich hier um die Kinder kümmerte.
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  148. Katie strahlte und rief: „Eli, das ist mein Onkel Matti! Er ist Fußballer!“
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  150. Ich stand da, ein bisschen unsicher. Elina blickte auf und sah mich an. „Sind Sie hier wegen Katie?“
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  152. „Ja, ich hol meine Nichte Katie Heiberg ab,“ sagte ich und versuchte, nicht so rau zu klingen. „Übrigens, nenn mich Matti. Hier duzen wir uns.“
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  154. „Oh… okay… Matti,“ antwortete sie und schien immer noch ein bisschen nervös zu sein. Das überraschte mich. Hier duzen sich alle jungen Leute. Aber sie sprach mit mir, als wäre ich ihr Vorgesetzter. Es wirkte, als hätte sie Angst vor mir, und ich wusste nicht, warum.
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  156. Ich versuchte, mit ihr zu reden, weil ich wissen wollte, was das letzte Woche für ein Vorfall war. Aber sie antwortete nur kurz, und ich hatte das Gefühl, dass sie sich am liebsten verstecken würde. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und fragte: „Hey… diese Sache im Stadion… dieser Typ, der dich angegriffen hat… was war das?“
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  158. Sie schwieg einen Moment. Es war offensichtlich, dass sie nicht darüber reden wollte. Dann zuckte sie nur mit den Schultern. „Mach dir keine Sorgen, Matti. Es ist vorbei.“
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  160. Ich verstand das nicht. Wie konnte so was „einfach vorbei“ sein? Wer weiß, was der Typ ihr hätte antun können, wenn ich nicht da gewesen wäre. Aber ich kannte sie nicht gut genug, um ein Urteil zu fällen.
  161.  
  162. Ich beobachtete, wie die Kinder nacheinander zu ihr kamen und durcheinander redeten. Ich hätte erwartet, dass sie sie ermahnt oder die Geduld verliert, aber sie reagierte auf jeden mit einem Lächeln und Ruhe. Wenn sie nicht mit den Kindern beschäftigt war, las sie ein Buch oder schrieb etwas.
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  164. Ich fragte mich, wie sie das machte. Um sie herum war alles chaotisch und laut, aber sie blieb ruhig, als wäre sie aus einer anderen Welt. Trotz dem, was dieser Kerl ihr damals angetan hatte, wirkte sie ausgeglichen und ungebrochen. Und ich… Ich flippte immer aus, wenn etwas nicht lief. Wie schafft sie es, so ruhig zu bleiben?
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  166. Ich brachte Katie nach Hause, aber die Gedanken an Elina ließen mich nicht los. Es fühlte sich an, als wäre da etwas an ihr, das ich nicht begreifen konnte. Ihre Ruhe irritierte und faszinierte mich zugleich.
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  168. Kapitel 3
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  170. Am Mittwochabend war ich bei meinen Eltern zum Abendessen. Auch mein Bruder Erik, seine Frau Monika und Katie waren da. Meine Eltern haben ein Zweifamilienhaus, und mein Bruder wohnt oben.
  171. „Matti! Matti! Kommst du morgen zu mir?" Katie hat mich mit ihren großen Augen angeguckt, und ich wusste, dass sie keine Ruhe gibt, bis ich antworte.
  172. „Katie, sorry, morgen geht's echt nicht," hab ich gesagt. Donnerstage sind bei mir immer hardcore – nach der Arbeit und dem Training könnte ich den ganzen Freitag durchschlafen, wenn's ginge.
  173. „Bitte, bitte! Ich kauf dir ein Eis!" Katie setzte noch einen drauf, und ich musste fast lachen. Ein Eis als Bestechung – echt jetzt? Aber als ich ihren hoffnungsvollen Blick sah, wusste ich, dass ich nicht nein sagen kann.
  174. „Na gut. Morgen um fünf," hab ich geseufzt.
  175. Katie fing an, vor Freude rumzuhüpfen, und ich hab gemerkt, dass ich mir gerade noch was auf meinen eh schon langen Tag gepackt hab.
  176. Am nächsten Tag hat mich der Coach noch vor dem Training abgefangen. „Matti, ich hab 'ne wichtige Aufgabe für dich."
  177. Ich musste innerlich grinsen. Was jetzt wieder?
  178. „Die letzten Spiele haben wir im Mittelfeld total versagt. Wir brauchen jemanden, der die Angriffe der Gegner früh stört. Sechser, defensives Mittelfeld. Wir brauchen einen robusten Spieler, und du bist unser Bulldozer," hat der Coach erklärt und mir auf die Schulter geklopft. „Keine Sorge, du bist nicht allein. Taro deckt dich ab, er wird ein bisschen weiter vorne spielen, weil er kreativer ist. Du räumst hinten auf und spielst die Bälle nach vorne. Kein Druck, du musst nicht stürmen – Hauptsache, du stoppst die Gegner."
  179. Sechser. Defensives Mittelfeld. Hab ich noch nicht oft gespielt, aber... vielleicht hat er recht. Kraft und Ausdauer hab ich. Aber ehrlich gesagt: Ich hatte eh schon genug damit zu tun, beim normalen Training mitzuhalten, und jetzt noch was Neues? Mir kam der Gedanke – was, wenn ich das nicht packe? Meine Form ist nicht die beste, ich bin ständig unzufrieden und gestresst, und jetzt soll ich was ganz Neues machen?
  180. „Keine Panik, Matti, du schaffst das," hat der Coach gesagt, als ob er genau wüsste, was mir durch den Kopf geht, und mir auf den Rücken geklopft. „Komm, lass uns trainieren."
  181. Als wir angefangen haben, hab ich mich echt bemüht, aber die Sechser-Position war schwerer, als ich dachte. Es ging nicht nur um Kraft – ich musste das Spiel lesen, wissen, wann ich reingehen und wohin ich den Ball spielen soll. Die erste Stunde war ich total lost, aber dann hab ich langsam reingefunden. Der Coach hatte recht – neben Taros Kreativität war es einfacher für mich, mich nur auf die Zweikämpfe zu konzentrieren.
  182. Am Ende vom Training waren meine Beine kurz vorm Explodieren. Nach dem letzten Pfiff bin ich total fertig vom Platz getorkelt. Ich hab mich nur noch in meinem Bett gesehen. Und dann – fiel mir ein, dass ich Katie versprochen hatte, sie im Kids Center abzuholen. Super. Hyperaktive Nichte nach so einem Training – genau das, was ich jetzt brauch.
  183. Als ich ankam, war Katie draußen auf dem Spielplatz und hat mit den anderen Kids rumgetobt. „Matti!" hat sie geschrien, als sie mich gesehen hat. Ich hab ihr zugewunken, aber meine Aufmerksamkeit ging bald woanders hin – zu Elina, dem Mädchen, das sich um Katie und die anderen Kinder kümmert.
  184. Während Katie ihre Sachen geholt hat, hab ich gesehen, wie Elina mit einer kleinen Gruppe von Kindern auf einer Bank saß und ihnen Malen beibrachte. Sie hat alle angelächelt und geduldig ihre Fragen beantwortet. Neben ihr lagen ein paar Bücher. Ich musste daran denken, dass sie auch Bücher dabeihatte, als ich sie neulich auf der Treppe umgerannt hab. Ich hasse Bücher, also konnte ich mir echt nicht vorstellen, was sie daran so toll findet.
  185. „Was liest du da?" hab ich gefragt, als ich zu ihr hingegangen bin.
  186. Elina hat hochgeschaut und wirkte überrascht, dass ich sie überhaupt anspreche. „Ich lern für's Abi," hat sie leise gesagt und dabei auf ihr Buch geblickt.
  187. „Abi? Respekt," hab ich gesagt und genickt. „Ich hab die Schule grad so gepackt. Und das ohne Bücher," hab ich auf ihre Stapel gezeigt. „So 'ne Streberin wie du schafft das doch mit links, oder?"
  188. „Streberin?" Sie hat ein bisschen nervös gelächelt. „Naja... ich lern viel, aber es ist schwer. Ich bin froh, wenn ich's überhaupt schaffe."
  189. „Komm schon, das meinst du doch nicht ernst. Wenn du deine Bücher sogar mit zur Arbeit nimmst, dann packst du das."
  190. Sie war einen Moment still, als ob sie überlegt, ob sie was sagen soll. „Ich... ich weiß nicht. Bei den Prüfungen hab ich immer das Gefühl, dass ich gar nichts weiß. Und bei mündlichen Sachen... das ist noch schlimmer. Ich bin dann total verloren," hat sie zugegeben und nervös an ihrem Buch rumgespielt.
  191. Ich war kurz ruhig. Das Mädchen mit den Brillen und Büchern sah aus wie die perfekte Schülerin. Wie kann es sein, dass sie sich so wenig zutraut? Echt verrückt... ich, der nie gelernt hat, hab die Schule irgendwie geschafft. Und sie, die sich so reinhängt, hat Angst, dass sie's nicht hinkriegt?
  192. „Zeig mal, was ihr da für Fragen habt," hab ich gesagt und mich neben sie auf die Bank gesetzt. „Wenn du schon lernst, dann checkst du das bestimmt."
  193. Sie hat kurz gezögert, aber dann hat sie langsam angefangen, über Literatur zu reden. Erst war sie unsicher, aber je mehr sie erzählt hat, desto klarer wurde, dass sie echt Plan davon hat. Sogar ich fand's irgendwann interessant – und das will was heißen.
  194. „Siehst du, du kannst das doch," hab ich sie aufgemuntert. „Wenn du mir das erklären kannst, dann schaffst du das auch vor deinem Lehrer."
  195. Elina hat mich nur angeguckt, als ob sie nicht glauben kann, dass ich ihr sowas sage. Für einen Moment war da ein Funken Selbstbewusstsein in ihren Augen, aber dann war er wieder weg.
  196. Katie war inzwischen fertig und hat mich an der Hand gezogen. „Matti, Eis!" hat sie begeistert gerufen.
  197. Ich hab gelacht und bin aufgestanden, aber auf dem Weg konnte ich nicht aufhören, an Elina zu denken. Sie hat ihre eigenen Probleme, ist immer müde und unsicher, aber trotzdem kriegt sie es hin, freundlich zu sein und jedem zu helfen. Sie ist zu allen nett, obwohl sie allen Grund hätte, sich zu beschweren. Und ich? Ich reg mich über alles auf, wenn mal was nicht läuft. Warum ist das so? Wenn sie das kann – warum nicht ich?
  198. Kapitel 4 - Der Mitbewohner
  199. Freitagabend. Endlich Wochenende, und ich hab' Pause vom Möbel schleppen. Ich freu mich auf'n bisschen Ruhe daheim. Naja, *Ruhe* is' relativ. Weißt du, ich hab' nämlich 'nen Mitbewohner. Er heißt Michael und is' 'ne totale Chaosbombe. Immer am Witze reißen. Also es ist schwer ihm nicht zu merken, weil es gibt nicht so viele Schwarzen in Parodista. Wenn du Eddie Murphy kennst, dann weißt du, was ich meine. Aber er is' mein bester Kumpel. Als ich nach Parodista zurückkam, hatte ich echt keinen Bock, wieder bei meinen Eltern einzuziehen. Aber alleine hätte ich's nich gestemmt. Also haben wir uns zusammen 'ne ganz coole Wohnung genommen.
  200. Ich komm' rein. Michael is' schon da. Aber was echt komisch is': Es is' ruhig. Normalerweise läuft Reggae oder Hip-Hop.
  201. „Alter, heut' is' so 'ne Affenhitze. Und ich hab' tierisch Durst," murmel ich vor mich hin.
  202. „Kumpel, ich hol' dir 'nen kaltes Glas Wasser. Leg deine Tasche ab und komm' in die Küche," ruft Michael rüber.
  203. Ich geh' in die Küche, und tatsächlich: Da steht 'n Glas Wasser. Ich nehm' 'nen Schluck, aber...
  204. „Alter, die Scheiße is' salzig!"
  205. Michael lacht sich kaputt. Ich hätte checken können, dass er was plant – sein fettes Grinsen hat ihn verraten. Schon wieder hat er mich drangekriegt.
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  207. **Freitagabend war FIFA-Zeit.**
  208. „Wetten wir? Wenn ich gewinne, räumst du auf. Wenn du gewinnst, bestell' ich Abendessen," schlag' ich Michael vor.
  209. „Deal," grinst er breit.
  210. **Das FIFA-Match**
  211. Klassiker. Michael hat mich voll auseinandergenommen, ist mit seinen Spielern an meinen vorbei gedribbelt, als wär das 'ne Tanzfläche. „Was soll das? Das is' FIFA, kein Ballett!" schrei ich, nachdem ich das dritte Tor kassiert hab'.
  212. „Bleib locker, Mann. Taktik!" feixt er und haut mir den nächsten Ball rein.
  213. Aber ich hab' mich nich' unterkriegen lassen. In der zweiten Halbzeit hab' ich richtig Gas gegeben. Von 0:3 hab' ich auf 3:3 ausgeglichen.
  214. „Unentschieden! Heißt, ich muss kein Abendessen kaufen!" freu ich mich.
  215. „Vergiss es! Das war nicht der Deal! Verlängerung!" kontert Michael.
  216. In der Verlängerung hat er mir noch zwei Dinger reingehauen.
  217. „Haha! Pizza geht auf dich!" jubelt Michael und lässt sich auf'm Sofa nieder.
  218. ---
  219. **Samstag – Spieltag**
  220. Samstag. Matchday, oder wie man in Parodista sagt: *Heemspieltag*. Du musst hier kein Fan sein, um das mitzukriegen. Der Marktplatz war voll mit unseren Fans in blau-weiß gestreiften Trikots, die überall in den Straßen gesungen haben. Heute hatten wir 'n Heimspiel gegen SV Holzweiler, 'ne Truppe, die für ihre harten Fouls bekannt is'. Jeder wusste: Das wird nich' leicht.
  221. „Das wird heute 'n Kampf," warnte uns der Trainer in der Kabine. „Holzweiler spielt dreckig, aber wir haben Köpfchen. Bleibt geduldig, die machen schon ihre Fehler."
  222. Als wir auf den Platz liefen, tobte das Stadion. Die Kurve zeigte ein riesiges Tifo, blau-weiße Pyros stiegen in die Luft, die Atmosphäre war einfach unglaublich. Durch den Felsenstadion schallte „Das Stadion brennt". Hier is' echt Feuer drin.
  223. **Anpfiff!**
  224. **Erste Halbzeit**
  225. Auf dem Platz war's alles andere als einfach. Holzweiler hat dreckig gespielt und uns ein paar Mal ordentlich umgehauen. Ihr Kapitän – 'n richtiger Schrank – hat mich umgenietet wie 'n Lastwagen. „Pass auf, Matti!" schrie der Trainer von der Seitenlinie, als ich mich vom Boden aufgerappelt hab.
  226. Unsere Fans haben aber nicht aufgehört, uns anzufeuern. „Union! Union!" schallte es durch die Tribünen. Das hat mir neuen Schub gegeben.
  227. **Zweite Halbzeit**
  228. In der zweiten Hälfte haben wir die Taktik geändert. Taro hatte mehr Raum und in der 65. Minute hat er ihre Abwehr durchbrochen. Er hat mir 'nen perfekten Pass zugespielt, und ich musste nur noch einschieben. Tor!
  229. Das Stadion ist explodiert. Die Fans sind ausgerastet, und ich hab' richtig gespürt, wie ihre Energie uns weitergezogen hat. Wir haben besser gespielt, und Holzweiler hat sich nur noch hinten reingestellt. Aber wir haben weiter Druck gemacht. Am Ende: Ein verdienter 1:0-Sieg. Unsere Ultras haben gefeiert, und ich hatte das Gefühl, wir haben echt was gerissen.
  230. ---
  231. **Das dritte Mal, dass ich Katie aus dem Union Kids Center abgeholt hab'.**
  232. Diesmal hat mich keiner gebeten – weder Erik noch Katie. Ich bin einfach so gegangen. Ehrlich gesagt, ich war gern bei Katie. Aber ich wollte sie sehen. Elina. Warum, wusste ich selbst nicht genau. Irgendwas an ihr hat mich angezogen. Vielleicht ihre Ruhe. Vielleicht, wie sie immer so über den Dingen zu stehen schien. Oder einfach, weil die Welt weniger chaotisch wirkte, wenn ich mit ihr geredet hab'.
  233. Als ich ins Center kam, hab' ich sie gleich gesehen. Sie stand an 'nem Tisch, umringt von Kindern, die aufgeregt irgendwas tuschelten. Auf dem Tisch war 'ne Box mit Keksen und Süßigkeiten. Sie hat jedem Kind ein Stück gegeben, dabei immer gelächelt. Die Kinder haben sie vergöttert. Ich hab' gemerkt, dass sie jedem Kind in die Augen gesehen hat, bevor sie was überreicht hat. So 'ne kleine Geste, aber voll stark.
  234. Ich bin näher ran und hab' gefragt, ob heute ein besonderer Anlass wär. Eine der Betreuerinnen hat mir zwischen Tür und Angel gesagt: „Das ist unsere Eli. Sie kauft oft einfach so was für die Kinder."
  235. Ich war baff. „Echt jetzt?" hab' ich gefragt und schnell zu Elina rübergeschaut. Sie hat sich immer noch um die Kinder gekümmert, als wär das, was sie gemacht hat, nichts Besonderes.
  236. „Ja," hat die Kollegin genickt und sich ein bisschen zu mir rübergelehnt, wie um mir was anzuvertrauen. „Sie prahlt nicht damit, aber sie versucht immer, den Kindern 'ne Freude zu machen. Sie denkt, das gehört einfach zu ihrem Job."
  237. Ich hab's nicht kapiert. Warum macht man sowas? Warum gibt man sein eigenes Geld aus, wenn man's nicht muss? Als sie mit dem Verteilen fertig war, bin ich zu ihr gegangen.
  238. „Elina," hab' ich vorsichtig gesagt. „Hast du die ganzen Süßigkeiten gekauft?"
  239. Sie nickte. „Ja."
  240. „Aber... warum?" fragte ich. Ich konnte's echt nicht begreifen. „Du musst das doch nicht machen. Niemand würde dir einen Vorwurf machen, wenn du's nicht tust."
  241. Sie hat mich angeschaut, als hätt' ich was völlig Verrücktes gesagt. „Es macht mehr Freude zu geben als zu nehmen," hat sie einfach geantwortet.
  242. Dieser Satz hat mich umgehauen. Da war so 'ne Überzeugung drin, dass ich erstmal nichts sagen konnte. „Woher hast du das?" hab' ich schließlich gefragt.
  243. „Das hat mir meine Mutter beigebracht," antwortete sie leise lächelnd. „Und das sind nicht mal ihre Worte. Das hat Jesus gesagt."
  244. Jesus. Das war das erste Mal, dass ich sowas von jemandem gehört hab', der das ernst gemeint hat. Nicht ironisch, nicht aus Spaß. Elina meinte es ernst. Und als ich sie ansah, wurde mir klar: Sie lebt wirklich so.
  245. „Und warum machst du das immer noch?" hab' ich gefragt, weil ich's immer noch nicht verstanden hab'.
  246. „Weil es funktioniert," hat sie geantwortet und auf die Kinder gezeigt, die jetzt glücklich spielten und lachten. „Schau sie dir an. Das ist das größte Glück, das man erleben kann."
  247. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich stand da und spürte, wie sich in mir irgendwas bewegte. Vielleicht war's nur 'n kleiner Funke, aber er hatte Kraft. Elina hat mich wieder zum Nachdenken gebracht – über Dinge, die ich mir sonst nie eingestanden hab'. Als ich's auf mich wirken ließ, hab' ich gemerkt: Elina hat recht. Es hat sich wirklich gelohnt, die strahlenden Gesichter der Kinder zu sehen.
  248.  
  249. Kapitel 5 - Überraschungsei und noch was mehr
  250. Ich saß total fertig in der Umkleide nach dem Training, als sich Coach Hansi neben mich hockte.
  251. „Matti", fing er an und schlug ein Bein übers andere, „ich muss was mit dir besprechen."
  252. „Was jetzt schon wieder?", brummte ich. Ich hatte echt keinen Bock auf noch so 'ne Moralpredigt.
  253. „Union will ein neues Programm für Straßenkinder starten. So 'ne Art Fußballgruppe, damit die nicht auf dumme Ideen kommen. Wir suchen jemanden, der sie trainiert. Was meinst du?"
  254. Ich starrte ihn erst mal nur an. „Warum ausgerechnet ich?"
  255. „Weil du Talent hast. Und ich glaube, das könnte dir helfen. Mehr, als du denkst."
  256. Normalerweise hätte ich ihn sofort abblitzen lassen. Noch vor einem Jahr hätte ich so was nie ernst genommen. Aber die letzten Tage ... irgendwas war anders. Vielleicht diese Sprüche von Elina über Geben und Nehmen. Vielleicht auch einfach, weil ich keine Lust mehr hatte, immer nur meine eigenen Probleme zu wälzen.
  257. „Okay", sagte ich schließlich. „Ich probier's."
  258. Hansi grinste. „Das hör ich gern." Und das war's. Ich, Matti, der immer nur an sich dachte, würde jetzt Straßenkids trainieren.
  259. Auf dem Weg, Katie vom Kids Center abzuholen, kam mir Elinas Satz wieder in den Kopf: *Geben ist seliger als Nehmen.* Ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Eigentlich war ich immer eher der Typ, der dachte: Was du hast, behalt für dich. Aber irgendwie ... da war was dran.
  260. Mir kam die Idee, nicht nur Katie, sondern auch Elina eine kleine Freude zu machen. Total bescheuert, aber egal. An der Ecke kaufte ich zwei Überraschungseier. Eins für Katie, eins für Elina. Keine Ahnung, warum, aber irgendwas sagte mir, ich soll das zweite mitnehmen.
  261. Im Center war Katie noch mit den anderen Kids beschäftigt, also hatte ich kurz Zeit, mit Elina zu quatschen.
  262. „Moi", fing ich an, leicht unsicher.
  263. Sie schaute auf und lächelte mit dieser ruhigen Art. „Moi Matti. Wie geht's dir? Willst du was trinken? Wasser? Tee?"
  264. „Nee, danke. Sonst alles okay. Arbeit, Training ... läuft", zuckte ich mit den Schultern. „Und bei dir? Alles klar?"
  265. „Gut", antwortete sie schnell, wechselte aber sofort das Thema: „Katie ist gleich fertig." Sie ging in die Küche und holte sich ihre Brotzeit. Aber kaum saß sie, rief ihre Kollegin nach ihr. Elina sofort wieder aufgesprungen, mit einem Lächeln. Dann kam noch ein Kind angerannt, wollte, dass sie ihm die Schnürsenkel bindet, und sie kniete sich runter und half ihm. Sie rannte durchs Center wie aufgezogen. Einfach weiter, als hätte sie unendlich Energie.
  266. Aber die hatte sie nicht. Ich sah, wie ihre Hände zitterten, wahrscheinlich unterzuckert.
  267. „Elina!", rief ich, als sie mit Armen voller Plüschtiere an mir vorbeiging. Es überraschte mich, wie bereitwillig sie sich zu mir umdrehte – als würde sie erwarten, dass ich sie um Hilfe bitte.
  268. „Ja?", fragte sie mit so einem ruhigen Ton, dass es mich fast wieder wütend machte.
  269. „Wolltest du nicht was essen?", fragte ich, deutete Richtung Küche und zog eine Augenbraue hoch.
  270. „Das ist nicht so wichtig", winkte sie ab, als wäre es wirklich egal. „Jetzt sind die Kinder dran."
  271. „Und was ist mit dir?", fragte ich schärfer. „Ist es nicht wichtig, dass du zitterst und keine Kraft mehr hast?"
  272. „Ich bin nicht wichtig", sagte sie leise, aber so sicher, dass mir davon schlecht wurde.
  273. Bevor ich noch was sagen konnte, war sie weg.
  274. Katie kam schließlich angerannt und warf sich mir um den Hals. „Onkel Matti!", quietschte sie und strahlte über das ganze Gesicht.
  275. „Ich hab was für dich", sagte ich und drückte ihr das Ei in die Hand.
  276. „Ein Überraschungsei! Matti, du bist der Beste!", schrie sie und rannte los, um es auszupacken.
  277. Katie war völlig aus dem Häuschen. Dann gab ich das zweite Ei Elina, die gerade wieder aufgetaucht war. „Das hier ist für dich."
  278. „Ich ...", begann sie, aber drehte sich sofort zu Katie. „Katie, willst du noch eins? Du kannst es haben."
  279. Das brachte mich echt auf die Palme. „Nein!", schnappte ich, sodass sie stehen blieb und mich ansah. „Das Ei ist für dich. Nicht für Katie. Für dich."
  280. „Aber die Kinder brauchen mehr Grund zur Freude –"
  281. „Kein Aber!", unterbrach ich sie. „Weißt du was? Du gehst mir echt auf die Nerven. Du denkst überhaupt nicht an dich. Als wärst du irgendein verdammter Roboter, der sich nur um andere kümmert. Aber das bist du nicht! Du bist Elina, und du hast deine Grenzen. Deine Hände zittern schon! Du bist genauso ein Mensch wie alle anderen. Du hast doch sicher auch Wünsche und Bedürfnisse. Du hast das Recht, dich mal zu freuen und in Ruhe was zu essen!"
  282. Sie starrte mich an, als hätte ich ihr gerade gesagt, sie wäre der schlechteste Mensch der Welt. Ich wollte sie echt nicht verletzen. Aber als sie die Schultern hängen ließ und auf den Boden starrte, wusste ich, dass ich wohl zu weit gegangen war.
  283. „Sorry", murmelte ich schnell. „Es macht mich einfach fertig, dass du so tust, als wärst du nichts wert. Als wärst du nur ein Roboter, den man austauscht, wenn er kaputt ist. Dabei bist du ... verdammt, Elina, du bist großartig. Die Kids lieben dich. Und ich bewundere dich dafür, wie ruhig und positiv du immer bist. Aber du selbst lässt dir keine Freude zu. Als ob du denkst, dass du es nicht verdienst."
  284. Ihr Blick huschte zur Seite, ihre Augen wanderten zum Boden. Sie schwieg so lange, dass ich dachte, sie hört mir überhaupt nicht zu.
  285. „Matti", sagte sie schließlich leise, „danke. Aber ... ich will einfach nicht egoistisch sein."
  286. „Egoistisch?", wiederholte ich ungläubig. „Elina, das hat doch nichts mit Egoismus zu tun. Jeder hat das Recht, sich mal was zu gönnen. Auch du. Das verdienst du."
  287. Ich sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Schnell blinzelte sie und richtete sich auf. „Ich ... ich versuch's", flüsterte sie und lächelte schwach.
  288. Aber es wirkte nicht, als würde sie das wirklich glauben. Ich ließ sie stehen, damit sie drüber nachdenken konnte, und ging zu Katie, die total begeistert von ihrem Spielzeug war. Trotzdem nagte es an mir. Vielleicht hätte ich das anders sagen sollen. Ruhiger.
  289. Kurz bevor ich mit Katie gehen wollte, hörte ich hinter mir eine Stimme.
  290. „Matti?", kam es von der Seite. Ich blieb stehen und drehte mich um. Natürlich war es Elina.
  291. „Was gibt's?", fragte ich, vielleicht ein bisschen zu schnell.
  292. „Danke für das Ei", sagte sie und lächelte zaghaft. „Ich verspreche, ich esse es."
  293. „Ja, das will ich sehen", antwortete ich und versuchte, die Stimmung aufzulockern. Dann kam mir noch eine Idee: „Und hey, wenn du mal Lust auf mehr hast, sag Bescheid. Ich bring dir 'ne ganze Packung mit."
  294. Sie lachte. Zum ersten Mal an diesem Tag. Ein echtes Lachen. Vielleicht hab ich doch nicht alles verbockt.
  295. Abends saß ich auf der Couch, und in meinem Kopf war immer noch Elina. Michael kam von der Arbeit, ließ sich ins Sessel fallen und schaute mich direkt an. „Was is’, Alter? Siehst aus, als hätt’ dich jemand aus der Liga geschmissen.“
  296. „Nix,“ brummte ich. Aber dann platzte es aus mir raus: „Es geht um Elina. Sie kümmert sich ständig um alle anderen, aber um sich selbst gar nicht. Heute hab ich ihr ein Überraschungsei geschenkt, und sie hat geschaut, als würd’ sie das gar nicht verdienen.“
  297. Michael grinste: „Warum geht dir das so nah? Wegen ihr, oder weil sie dich an dich selbst erinnert?“
  298. Ich schwieg kurz. „Vielleicht beides,“ gab ich zu. „Aber ich versteh’s einfach nicht.“
  299. Michael zuckte mit den Schultern. „Vielleicht musst du sie gar nicht verstehen. Red einfach mit ihr. Vielleicht checkst du dann mehr.“
  300. Ich nickte langsam. „Du hast recht. Ich versuch’s.“
  301. Michael grinste breit: „Die Frau hat echt ’nen Einfluss auf dich.“
  302.  
  303. Kapitel 6
  304. *Matti's Sicht*
  305. „Mehr Glück steckt im Geben," hörte ich Elinas Stimme in meinem Kopf, während ich zum Training lief. Seit Tagen ging mir das nicht mehr aus dem Kopf. Michael hatte recht – mein ganzes Leben lang ging's immer nur um mich. Und dann ist da sie – rennt ständig für andere rum, obwohl sie selbst kaum auf den Beinen steht. Vielleicht sollte ich echt mal aufhören, der Idiot zu sein, der denkt, die Welt dreht sich nur um ihn.
  306. Als ich auf den Platz kam, sah ich ein paar jüngere Jungs, die mit den Toren kämpften. Zwei von ihnen versuchten, eins hochzuheben, und der dritte lief nur hilflos drumherum, weil ihm die Kraft fehlte. Normalerweise ignorierten wir das alle – mich eingeschlossen. „Ist doch nicht mein Job", dachte ich mir sonst immer. Aber heute stand ich da und schaute zu.
  307. Plötzlich war's mir klar: Nee, Matti, heute machste das anders.
  308. Ich ging direkt zu ihnen. „Hey, lasst mal kurz los", rief ich. Die Jungs schauten überrascht hoch. „Ich helf euch."
  309. „Echt jetzt?" fragte einer von ihnen ungläubig, als würde er erwarten, dass ich ihn verarsche.
  310. „Ja, echt. Wir wollen hier ja nicht den ganzen Tag rumstehen, oder?" Ich packte ein Ende des Tores und hob es hoch. Schwer war's schon, aber machbar. Die Jungs grinsten und packten mit an. Als wir das Ding an seinen Platz brachten, bedankten sie sich, und ich lächelte ein bisschen unbeholfen zurück.
  311. Vielleicht war das keine große Sache, aber für mich war's ein Schritt. Mehr Glück steckt im Geben, wiederholte ich in meinem Kopf, als ich zu den anderen auf den Platz ging.
  312. ---
  313. *Elinas Sicht*
  314. Am Abend saß ich auf meinem Bett und starrte auf das Kinder-Überraschungsei. Irgendwie dachte ich immer noch, ich sollte es Katie geben. Sie würde sich über die Schokolade freuen. Aber irgendwas in mir wehrte sich. „Du bist kein Roboter, Eli. Du verdienst auch mal was für dich selbst", hörte ich Mattis Worte in meinem Kopf.
  315. Am Ende packte ich das Ei aus. Ein bisschen hatte ich ein schlechtes Gewissen, aber sobald ich die Schokolade probierte, änderte sich etwas. Sie war süß, zart – sie erinnerte mich daran, wie es früher war, als ich klein war. Ich schloss die Augen, und plötzlich sah ich Mama und Papa, wie sie mich anlächelten. Wir saßen am Küchentisch, ich zeigte ihnen meine Zeichnungen, und sie lobten mich. „Unsere kleine Prinzessin", sagte Mama und strich mir über die Haare.
  316. So war ich früher – glücklich, voller Träume, voller Freude. Aber jetzt? Jetzt wusste ich kaum noch, wie es sich anfühlt, mal an was anderes zu denken als an andere. Aber vielleicht kann ich das ändern, dachte ich, als ich die kleine Plastik-Kapsel im Ei öffnete.
  317. Drin war eine süße kleine Eule mit großen Augen. Ich hielt sie in der Hand und musste lächeln. Sie war schön. Zart. Sie erinnerte mich daran, dass ich auch das Recht habe, ich selbst zu sein. Ich stellte sie auf den Nachttisch neben meinem Bett, damit sie mich an diesen Moment erinnert.
  318. Und dann entschied ich mich: Auch ich darf mich mal gut fühlen. Am nächsten Morgen wusch ich mir die Haare und ließ sie offen, obwohl ich sie sonst immer zu einem Zopf oder Dutt zusammenbinde, damit sie nicht stören. Dann wühlte ich in meinen Klamotten und fand einen Pulli, den mir mal jemand geschenkt hatte. Sah eigentlich ganz hübsch aus. Ich muss nicht immer nur graue Maus sein, dachte ich, und zum ersten Mal seit Langem lächelte ich mich selbst im Spiegel an.
  319. ---
  320. *Matti's Sicht*
  321. Als ich an dem Tag ins **Union Kids Center** kam, sah ich sie sofort. Sie stand am Tisch, verteilte den Kindern Stifte, und ich hatte das Gefühl, eine völlig andere Elina zu sehen. Ihre Haare waren offen, fielen ihr weich ums Gesicht, und der Pulli, den sie trug, stand ihr überraschend gut. Keine Ahnung, warum mich das so aus der Bahn warf. Vielleicht, weil sie sonst immer was Weites trug, als wollte sie sich verstecken. Aber jetzt? Keine Ahnung, was sie dazu gebracht hatte, sich mal ein bisschen zu zeigen, aber verdammt ... sie sah gut aus.
  322. Ich hielt inne. Was mache ich hier? Ich komm her, um meine Nichte abzuholen, und statt dessen starre ich Elina an, als hätte ich noch nie ein Mädchen gesehen? Aber irgendwas war anders an ihr. Etwas Zartes, fast Märchenhaftes.
  323. „Moi", sagte ich, als sie näher kam. Sie lächelte mich an, so schüchtern wie immer, und das haute mich jedes Mal ein bisschen um.
  324. „Moi", antwortete sie leise.
  325. Eine Weile schaute ich sie einfach nur an, weil ich nicht anders konnte. Wann hatte sie sich so verändert? Ich bemerkte, dass sie etwas in der Hand hielt – sah aus wie eine kleine Eule. Sie drehte sie nervös zwischen den Fingern und wirkte ziemlich unsicher.
  326. „Süße Eule. Also hast du das Ei doch behalten?" fragte ich und nickte zu ihrer Hand.
  327. Sie wurde rot und schaute weg. „Ja ... eigentlich schon", gab sie leise zu.
  328. Ich grinste. „Hab ich dir doch gesagt, dass du auch mal was für dich selbst haben darfst."
  329. Sie hob den Kopf, und für einen Moment wirkte sie ernst, als würde sie nach den richtigen Worten suchen. „Vielleicht hattest du recht", sagte sie schließlich. „Es hat mir geholfen, ein bisschen nachzudenken. Diese Eule ... erinnert mich daran, dass es okay ist, auch mal an sich selbst zu denken."
  330. Ich sah, wie ihre nervösen Hände das Spielzeug festhielten, und spürte ein warmes Gefühl in mir. Ihre Veränderung war klein, aber gleichzeitig riesig.
  331. „Weißt du, ich hab's auch mal probiert, das mit deinem Tipp", warf ich ein.
  332. Sie hob die Augenbrauen. „Was meinst du?"
  333. „Das mit dem ‚mehr Glück im Geben'", sagte ich und kratzte mich am Hinterkopf. „Hab beim Training den Jungs geholfen, die Tore zu tragen. Die waren echt am Struggeln. Und ... hat mir irgendwie echt Spaß gemacht."
  334. Sie lächelte, ein bisschen unsicher, aber sie sah zufrieden aus. „Das ist schön", sagte sie.
  335. Wir standen da noch kurz, und ich hatte das Gefühl, dass sie nicht mehr nur das Mädchen aus dem Kids Center war, das auf meine Nichte aufpasst. Sie war mittlerweile eine richtig gute Freundin von mir. Wer hätte das noch vor ein paar Wochen gedacht?
  336. Katie war inzwischen fertig, und ich machte mich mit ihr auf den Heimweg.
  337. Noch einmal schaute ich auf die kleine Eule in Elinas Hand. „Mach's gut, Eule", sagte ich mit einem leichten Lächeln.
  338. Elina lachte. „Mach's gut, Matti."
  339. Und ab dem Tag ging sie mir nicht mehr aus dem Kopf.
  340.  
  341. Kapitel 7
  342. Heute stand mein erstes Training mit den Jungs von der Straße an. Trainer Hansi hatte mir klar gesagt, ich solle keine Wunder erwarten. Die Kids hätten ihre Probleme, und Fußball sei für sie eher eine Flucht. Aber ich dachte mir: Kriege ich schon hin. Wenn ich Spiele meistere, schaffe ich das hier doch auch, oder?
  343. Tja, von wegen. Nach zehn Minuten war mir klar: Das hier war ein komplett anderes Spiel. Die Jungs machten, was sie wollten. Sie rannten nicht, hörten nicht zu, stichelten sich gegenseitig. Einer spuckte sogar einen anderen an.
  344. „Hey!" rief ich. „Hier wird gearbeitet! Ihr könnt nicht einfach machen, was ihr wollt!"
  345. Aber die Jungs ließ das kalt. Sie lachten mich aus, als wäre ich ein Clown. Ich spürte, wie ich innerlich hochkochte. Nach einer Stunde hielt ich es nicht mehr aus und schickte sie einfach nach Hause. „Schluss, haut ab. Ihr verarscht mich doch, oder? So hat das keinen Sinn!"
  346. Ich war sauer. Richtig sauer. Und gleichzeitig wusste ich, dass ich versagt hatte. Nicht die Jungs, ich.
  347. Als ich Hansi davon erzählte, wusste er nicht, was er sagen sollte. Begeistert war er jedenfalls nicht. Aber verdammt, was hätte ich machen sollen?
  348. Mir fiel nur eine Person ein, die mir helfen konnte, ruhig zu bleiben: Eli.
  349. Also ging ich zu ihr. Ich wusste einfach, dass sie ein Händchen dafür hat, sich von frechen Gören nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie saß am Tisch im Kids Center, sortierte Papiere und machte Notizen.
  350. „Eli," begann ich, und sie schaute auf. „Kannst du mir einen Rat geben?"
  351. Sie nickte und legte ihren Stift weg. „Ich? Du willst einen Rat von mir? Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Richtige dafür bin—"
  352. „Ach komm, Eli. Du weißt genau, dass du gut darin bist. Also, pass auf. Diese Jungs von der Straße. Heute habe ich sie zum ersten Mal trainiert," begann ich und setzte mich ihr gegenüber. „Und es war komplett für'n Arsch. Sie haben nicht zugehört, gemacht, was sie wollten. Am Ende habe ich sie rausgeschmissen. Und jetzt habe ich keinen Plan, wie ich das besser machen soll."
  353. Sie schaute mich einen Moment lang nachdenklich an, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und sagte dann: „Hast du versucht, sie zu verstehen?"
  354. „Wie bitte?" fragte ich verwirrt.
  355. „Sie sind nicht wie du, Matti. Sie hatten nicht dein Leben. Jeder von ihnen hat seine Probleme. Sie brauchen Zeit, um dir zu vertrauen. Um dir überhaupt zuzuhören," erklärte sie ruhig.
  356. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und dachte nach. „Also, was soll ich machen? Einfach dastehen und warten, bis sie mich mögen?"
  357. „Nein. Aber du könntest damit anfangen, sie kennenzulernen. Nicht als Spieler, sondern als Menschen. Schau mal, was passiert," sagte sie schlicht und lächelte mich auf diese ruhige Weise an, die mich immer irgendwie runterbrachte.
  358. Ich nickte, auch wenn ich mir nicht sicher war. Aber wenn jemand wusste, wie man mit Menschen umgeht, dann sie.
  359.  
  360. Kapitel 8
  361. Es war früher Samstagmorgen, und das Team machte sich auf eine lange Auswärtsfahrt. Ein Pokalspiel weit weg von zuhause. Genau die Art von Fahrt, die ich normalerweise hasse – stundenlang in einem Bus sitzen, die Beine tun weh, während man versucht, eine halbwegs bequeme Position zu finden, und das alles für ein Spiel, das in alle Richtungen ausgehen kann. Aber diesmal war es anders, weil es der Pokal war, und bei Union nahmen das alle ernst. Auch ich, denn das war meine Chance, weiterzukommen und irgendwann gegen Teams aus der ersten Liga zu spielen. Dort, wo ich wieder hinwill.
  362. Ich packte meine Tasche und machte mich auf den Weg zum Stadion, wo wir uns treffen sollten. Kaum stand ich an der Bushaltestelle, vibrierte mein Handy. Natürlich – meine Mutter.
  363. „Matti, vergiss nicht genug Wasser mitzunehmen, damit du hydriert bleibst! Und pass bitte auf dich auf, dass du dich nicht verletzt. Du weißt, wie sehr ich mir Sorgen mache!"
  364. Ich antwortete schnell, irgendwas wie: „Ja, Mama, hab alles dabei, keine Sorge." Aber kaum hatte ich das abgeschickt, kam schon die nächste Nachricht: „Und vergiss dein Ladegerät nicht, dein Handy ist doch immer leer. Hast du die Bandagen für dein Knie eingepackt?"
  365. Ich seufzte tief und kratzte mich am Kopf. Warum auch ja immer muss sie mich immer an alles erinnern? Ich bin ein erwachsener Mann, verdammt. Es ist nur ein Spiel. Aber Mama ließ nicht locker. Als ich in den Bus stieg und meine Nachrichten checkte, waren noch ein paar weitere gekommen. „Sag Bescheid, wenn du angekommen bist." und „Matti, ruf mich an, wenn du Zeit hast. Wir haben dich lieb!"
  366. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und Frustration. Es ist schön, dass sich jemand um mich kümmert, aber warum so intensiv? Es war, als hätte sie immer noch das Gefühl, dass ich der kleine Junge bin, der nicht auf sich aufpassen kann. Telefon hab ich in die Tasche gesteckt und versucht, nicht mehr dran zu denken.
  367. Die Auswärtsfahrt hat sich am Ende echt gelohnt. Wir haben hart gespielt, sind auf dem Platz zusammengewachsen wie eine Einheit, und obwohl es ein schwerer Kampf war, haben wir es geschafft, den Gegner zu schlagen und 2:1 zu gewinnen. Es war so ein Spiel, bei dem man einfach alles geben musste – jeder Zweikampf, jeder Sprint, jeder Ball musste sitzen. Als der Schiri abpfiff und wir gewonnen hatten, sprang die ganze Bank auf und schrie vor Freude. Es fühlte sich an, als hätten wir die Weltmeisterschaft gewonnen.
  368. Nach dem Spiel war die Stimmung in der Kabine ausgelassen. „Nächste Runde im Pokal, Jungs!" brüllte Taro, unser Kapitän, während wir uns alle lachten und gegenseitig auf die Schulter klopften. Solche Momente machen es einfach wert. Aber als ich auf mein Handy schaute, sah ich wieder eine Nachricht von meiner Mutter: „Wie lief's, Matti? Alles okay? Ist dir was passiert?"
  369. Diesmal hab ich gar nicht mehr geantwortet. Ich hab nur tief durchgeatmet. Egal, was ich schreiben würde, es käme sowieso die nächste Frage oder ein neuer Hinweis. Also hab ich das Handy wieder weggesteckt und versucht, mich lieber an der Freude über den Sieg festzuhalten.
  370. ---
  371. **Donnerstag.** Katie abzuholen war mittlerweile fast schon Routine. Ich freute mich aber darauf, mich wieder kurz mit Elina hinzusetzen. Immer mehr fing ich an, diese ruhigen Momente zu schätzen, in denen wir über alles reden konnten, ohne Druck oder falsche Fassaden. Sie war einfach die perfekte Zuhörerin – nie urteilend, nie unterbrechend. Und sie hatte immer diese Fähigkeit, etwas zu sagen, das dir half, Dinge aus einer neuen Perspektive zu sehen.
  372. Als ich beim Union Kids Center ankam, sah ich Elina auf einer Bank sitzen. Sie zeichnete etwas, während die Kinder um sie herum spielten. Ich setzte mich neben sie, und sie sah auf, lächelte und sagte ruhig: „Moi, Matti."
  373. „Moi, Eli," antwortete ich, und allein sie zu sehen, hob meine Laune. „Weißt du was? Heute muss ich mal meckern. Ich muss es einfach jemandem erzählen."
  374. „Nur zu," lächelte sie, klappte ihren Block zu und bereitete sich darauf vor, zuzuhören. „Ich hör dir zu."
  375. „Das mit meiner Mutter," fing ich an und schüttelte den Kopf. „Sie schreibt mir ständig, erinnert mich die ganze Zeit an Sachen. Während der Auswärtsfahrt wieder – pass auf dich auf, vergiss dies nicht, denk an das. Sie hat immer das Gefühl, mich beaufsichtigen zu müssen. Ich weiß echt nicht mehr, wie ich ihr klarmachen soll, dass ich das allein hinkriege. Es nervt mich einfach so sehr. Ich bin doch erwachsen, aber sie behandelt mich, als wäre ich noch ein Kind. Klar, ich versteh, dass sie sich Sorgen macht, aber es reicht einfach."
  376. Elina sah mich einen Moment lang an. Es schien, als suchte sie nach den richtigen Worten.
  377. Schließlich sagte sie: „Sei froh, dass dich jemand nervt. Entschuldige, ich muss kurz weg."
  378. Ich wartete auf Elina und dachte, sie sei nur kurz auf die Toilette gegangen. Aber die Zeit verging, und sie kam nicht zurück. Ich fragte die anderen Mädels im Kids Center, wohin sie gegangen sei, und eine meinte, sie habe Elina draußen gesehen. Scheiße, was ist los?
  379. Schließlich fand ich Elina draußen. Sie saß auf einer Bank und hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben. Sie weinte.
  380. „Eli? Was ist los?" fragte ich leise.
  381. Elina atmete tief ein, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Matti," sagte sie mit zitternder Stimme, „ich würde alles dafür geben, dass meine Eltern mich nerven könnten."
  382. Zuerst verstand ich nicht, aber dann dämmerte es mir. „Was... was meinst du?" fragte ich vorsichtig.
  383. „Als ich neun war," begann sie leise, „hab ich bei einem Unfall beide Eltern verloren. Seitdem lebe ich im Waisenhaus. Niemand hat sich so um mich gekümmert, niemand hat mir gesagt, pass auf dich auf, mach dies oder das. Ich musste immer alles alleine schaffen." Ihre Stimme brach, und noch mehr Tränen liefen ihr übers Gesicht.
  384. Ich saß da und spürte, wie mich ihre Worte trafen. Die ganze Zeit hatte ich mich über meine Eltern beschwert, wie sie mich nervten, wie sie mir auf die Nerven gingen. Und sie... sie hatte ihre Eltern verloren, als sie noch ein kleines Mädchen war. In dem Moment fühlte ich mich wie der größte Idiot der Welt. Ich konnte nicht fassen, wie egoistisch ich war, dass ich nicht gemerkt hatte, wie viel Glück ich eigentlich hatte.
  385. „Eli... ich... ich weiß nicht, was ich sagen soll," stammelte ich. Es tat mir alles so leid, aber Worte reichten nicht aus. „Ich wusste das nicht. Und... es tut mir leid, dass ich mich darüber beschwert habe."
  386. Elina versuchte zu lächeln, aber ihre Augen blieben traurig. „Schon okay, Matti," sagte sie leise. „Du konntest das ja nicht wissen. Ich hab nur gerade gemerkt, wie schön es wäre, wenn ich jemanden hätte, der mir auch schreibt und sagt, pass auf dich auf. Aber das werde ich nie mehr haben."
  387. Das brach mir das Herz. Dieser Gedanke, dass sie nie wieder Eltern haben würde, die sie unterstützen. Und plötzlich verstand ich, warum sie sich so wenig zutraute. Niemand war da, der sie lobte oder ihr sagte, wie toll sie war.
  388. Ich saß da wie ein Idiot. Ich hab keine Schwester, also hab ich keine Ahnung, wie man ein weinendes Mädchen tröstet. Aber ich wusste, dass ich irgendwas tun musste.
  389. „Kann ich dich umarmen?" fragte ich leise.
  390. Elina nickte, und ich nahm sie vorsichtig in den Arm. Sie war so klein und zerbrechlich, ich hatte Angst, sie noch mehr kaputt zu machen. Gleichzeitig bewunderte ich ihre Stärke. Niemand steht hinter ihr, aber sie schafft es trotzdem, eine Horde schreiender Kinder zu managen und Ratschläge zu geben, die sogar einen großen Kerl wie mich berühren.
  391. „Es tut mir leid, Eli. Und ich glaube, du bist viel stärker, als du selbst denkst," hab ich schließlich gesagt, als sie sich ein Stück aus meiner Umarmung gelöst hat.
  392. „Sag mal, wo und mit wem wohnst du eigentlich?", frag ich.
  393. „Im Waisenhaus."
  394. „Moment mal, du bist doch erwachsen, warum wohnst du noch im Waisenhaus?"
  395. „Weißt du, da sind vier jüngere Kinder, so zwischen vier und elf Jahren. Die haben niemanden, der ihnen erklärt, wie die Welt funktioniert, und der hinter ihnen steht. Also hab ich das übernommen, um ihnen zu geben, was ich selbst nie hatte. Ich will sie adoptieren, wenn ich mit der Schule fertig bin, und ihnen ein richtiges Zuhause geben."
  396. Boah, das haut rein. Mir fehlen die Worte. Ich umarme sie nochmal.
  397. „Wenn du Hilfe brauchst, sag mir Bescheid, okay?"
  398. „Danke, das bedeutet mir echt viel."
  399. ---
  400. Nachdem ich Katie nach Hause gebracht hatte, ging mir immer noch durch den Kopf, was Eli heute alles erzählt hat. Ich dachte ständig daran, wie ich mich über Dinge beschwert hab, für die andere alles geben würden. Plötzlich kam mir das einfach nur unfassbar egoistisch vor.
  401. Ich lag im Bett und dachte an sie. Ganz ehrlich, es hat mich echt überrascht, warum sie mir so wichtig ist. Ich meine, das wird schon alles passen, aber mir hat noch nie so viel am Wohl eines Mädchens gelegen. Nicht mal bei meinen Freundinnen. Was ist bloß los mit mir?
  402. Ich dachte auch an mich und meine Familie. Wie geil ist es bitte, dass ich eine Mama habe. Einen Papa. Einen Bruder. Die waren die ganze Zeit für mich da. Alter, ich hab's echt gut.
  403. Und dann hab ich abends etwas gemacht, was ich noch nie gemacht hab: Ich bin einfach mal zu meinen Eltern gefahren.
  404. „Matti, was machst du so spät hier?", fragt meine Mutter mit nem erstaunten Blick.
  405. Ich hab nichts gesagt, sondern sie einfach fest umarmt.
  406. „Matti, was ist los?"
  407. „Mama, ich hab dich echt lieb. Und Papa auch. Ich bin so froh, dass ich euch hab."
  408. „Ich dich auch, Matti", sagt sie leise. „Ich hab dich immer geliebt. Aber warum denkst du ausgerechnet jetzt daran?"
  409. Ich hatte nicht den Mut, ihr den wahren Grund zu sagen. „Keine Ahnung, ich hab einfach nachgedacht und mir klar gemacht, wie gut ich's eigentlich hab."
  410. Das, was ich von Eli erfahren hab, hat mir die Augen geöffnet. Und auch wenn ich nicht weiß, was aus uns beiden wird, wusste ich, dass ich dank ihr angefangen hab, die Dinge anders zu sehen.
  411.  
  412. Kapitel 9
  413. Der Job als Möbelpacker. Ich hab das immer als dreckige Plackerei gesehen, die mich halt irgendwie über Wasser hält. Ein paar Kartons ins Auto werfen, ein paar Stockwerke runterlaufen, ab und zu den Rücken verrenken, aber was soll's? Es zahlt die Miete, oder? Aber in letzter Zeit... fühlt sich das irgendwie anders an. Nicht, dass ich jetzt plötzlich ein Heiliger wär, oder so. Aber wenn du in eine Wohnung kommst, wo dich 'ne alte Dame mit so einem Blick empfängt, der dir sagt, dass ihr Hund gestorben ist, sie ihre Lieblingstasse vom Mann zerdeppert hat und das Leben einfach nicht mehr das ist, was es mal war... dann kannst du das nicht einfach ignorieren.
  414. Ich helf ihr mit dem Umzug, ein paar Straßen weiter. Klar, das ist mein Job, aber anstatt nur die Kartons in den Transporter zu schleudern, biete ich an, ihr das Bett aufzubauen. Oder die Bücher ins Regal zu stellen. Und das Komische? Es stört mich nicht. Vielleicht werd ich weich.
  415. Die Jungs bei der Arbeit haben das auch bemerkt. Wenzel, dieser Laberkopf, der immer redet, als wär er ein Komiker aus einem schlechten Film, hat direkt rausgehauen: „Ey, Matti, was is' los mit dir? Irgendwie bist du in letzter Zeit viel zu nett. Is' wer gestorben, oder was?" Aber nee, niemand ist gestorben. Vielleicht... vielleicht hab ich nur angefangen zu checken, dass das Leben um mich rum nicht nur aus Idioten besteht, die mir auf die Nerven gehen.
  416. ---
  417. Heute hab ich wieder Katie abgeholt. Sie saß am Tischchen, überall verstreut Buntstifte, und war völlig in ihre Zeichnung vertieft.
  418. „Hey, Prinzessin, kommst du?", hab ich von der Tür gerufen.
  419. Katie hat den Kopf gehoben, aber anstatt gleich aufzustehen, hat sie mir mit ihrem Bild gewunken. „Guck mal, Matty! Ich male 'ne Familie!"
  420. Ich bin näher rangegangen und hab draufgeschaut. Da waren wir alle. Katie, ihre Mama, Papa, Oma, Opa... sogar ich. Ich stand am Rand mit den Händen in den Taschen, echt 'ne coole Pose. Und in der Mitte war ein Mädchen, das ich nicht erkannt hab.
  421. „Hey, und wer ist das hier?", hab ich gefragt und auf die Figur gezeigt.
  422. „Das ist Eli", hat Katie gesagt, als wär ich komplett bescheuert. „Sie ist wie meine ältere Schwester! Freundin von mir hat eine und ich wollte auch eine haben. Und jetzt hatte ich Eli!“
  423. Ich hab mich zu Elina umgedreht. Sie stand neben mir und hat mit offenem Mund auf das Bild gestarrt. Dann hat sie sich die Hand vor den Mund gehalten, und plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen.
  424. „Warum weinst du, Eli?", hat Katie gefragt, ganz verwirrt. „Warum bist du traurig?"
  425. „Alles gut, Katie", hab ich schnell die Situation gerettet. „Sie weint nicht, weil sie traurig ist. Das sind Freudentränen. Ihr gefällt das."
  426. Katie hat die Stirn gerunzelt. Vielleicht hab ich's nicht gut genug erklärt, aber egal. Eli hat's kapiert. Sie hat angefangen zu lachen, während sie weiter geweint hat, und hat Katie über die Haare gestreichelt. Das offensichtlich meinte viel für ihr. Katie denkt über Elina wie seine Familie.
  427. ---
  428. Zuhause hat mich meine Mutter sofort abgefangen, als ich reinkam. „Matti, du solltest Elina zu uns einladen."
  429. „Was?" Ich hab den Kopf geschüttelt.
  430. „Ja, Katie redet ständig von ihr. Sie will ihr ihr Zimmer zeigen. Und ich bin neugierig, was das für ein Mädchen ist."
  431. „Maaam..." Ich hab geseufzt. Das hab ich schon mit Erik besprochen.
  432. „Kein 'Maam'. Lade sie ein. Wenn du sie nicht mögen würdest, würdest du nicht dauernd zu mir kommen und sagen, dass du mich lieb hast."
  433. Ich hab erstmal Luft geholt. Jo, so überrumpelt hat mich meine Mutter schon lange nicht mehr gesehen. Aber na gut, sie hat recht. Katie will, Mama will... Und ich? Vielleicht will ich's auch.
  434. „Okay", hab ich schließlich gesagt. „Ich lade sie ein."
  435. Und jetzt? Na super. Was wird das wohl werden?
  436.  
  437. Kapitel 10
  438. Als wir bei uns ankamen, sah Eli ziemlich nervös aus. Sie zupfte ständig an ihrem Rock herum und spielte mit den Trägern ihrer Tasche. Ich wollte sie ein bisschen beruhigen. „Keine Sorge. Meine Mom frisst dich, aber nur im übertragenen Sinne," meinte ich mit einem Grinsen.
  439. „Na, das beruhigt mich ja total," antwortete sie mit einem Hauch Ironie, aber ihre Mundwinkel zuckten leicht.
  440. Kaum waren wir drin, stand meine Mutter schon in der Küchentür. Mit einem Geschirrtuch in der Hand und einem breiten Lächeln sah sie aus wie eine Generalin, die genau weiß, was sie zu tun hat.
  441. „Elinka, endlich! Komm her zu mir, mein Mädchen!"
  442. Bevor Eli irgendwie reagieren konnte, hatte meine Mom sie schon umarmt. Fest, so als würde sie sie seit Jahren kennen. Eli erstarrte kurz, brachte dann aber ein unsicheres Lächeln zustande. „Guten Tag, Frau Heiberg."
  443. „Ach, hör auf mit ‚Frau Heiberg'! Sag einfach Brigi. Ich will mich doch nicht alt fühlen. Und du bist ja viel zu dünn, mein Kind. Du isst doch bestimmt nichts bei diesen Jungs, oder? Das müssen wir ändern."
  444. „Ich... äh..." Eli wusste offensichtlich nicht, was sie darauf sagen sollte.
  445. „Ach, egal, kommt an den Tisch, die Suppe wartet schon!" Mom führte sie wie einen Ehrengast ins Esszimmer und kümmerte sich ständig darum, dass sie sich wohlfühlt.
  446. Wir saßen in der Essstube. Mein Vater tat (wie immer) so, als würde er Zeitung lesen, aber es war klar, dass er Eli unauffällig musterte. Mein Bruder Erik versuchte derweil Katie davon abzuhalten, Eli mit Fragen zu bombardieren – was natürlich gar nichts brachte.
  447. Die Suppe, eine Hühnerbrühe, war fantastisch. Eli, die sich erst vorsichtig herangetastet hatte, taute nach ein paar Löffeln sichtbar auf. „Das ist wirklich lecker," sagte sie. „Was ist da drin?"
  448. Meine Mom strahlte. „Ach, nichts Besonderes, nur ein paar frische Kräuter und ein bisschen Liebe. Ich freu mich, dass es dir schmeckt, Elinka."
  449. Man merkte, dass Eli die Aufmerksamkeit gut tat, aber gleichzeitig war sie etwas überfordert. Ihr ganzes Leben lang war sie es gewohnt, sich im Hintergrund zu halten.
  450. Nach dem Essen bat mich Mom, Dad in der Garage zu helfen. Mir war klar, dass sie mich nur loswerden wollte, damit sie mit Eli allein reden konnte.
  451. Als ich nach einer Weile zurückkam, hörte ich ihre Stimmen aus der Küche. Eli erzählte, wie sie oft Piroggen und Kuchen für die Kinder im Waisenhaus backt.
  452. „Das ist wunderbar, Elinka," sagte meine Mom begeistert. „Das solltest du öfter machen. Weißt du was? Ich frag mal die Jungs im Stadion. Wir haben da einen Kiosk, aber das Angebot ist schrecklich – immer dasselbe. Wenn du da deine Kuchen verkaufen würdest, das wäre großartig! Und du hättest endlich eine Arbeit, die dir Spaß macht."
  453. „Ich... weiß nicht," antwortete Eli zögernd. „Ich glaube, dafür bin ich nicht gut genug."
  454. „Unsinn!" Mom wischte ihren Einwand sofort weg. „Ich helfe dir, Elinka. Und du wirst sehen, es klappt."
  455. Eli versuchte noch etwas einzuwenden, aber Mom hatte schon entschieden. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzt, bringt sie niemand davon ab. Sie telefonierte gleich mit ein paar Bekannten, und die Sache war praktisch erledigt.
  456. Auf dem Heimweg war Eli still. Sie schien in Gedanken versunken zu sein.
  457. „Danke," sagte sie schließlich leise.
  458. „Wofür?" fragte ich.
  459. „Dafür, dass deine Mom mich aufgenommen hat, als würde ich zu euch gehören." Ihre Stimme klang fast ungläubig.
  460. Ich sah sie an und bemerkte, dass sich auf ihrem Gesicht ein kleiner, ehrlicher Lächeln abzeichnete. Und da wurde mir klar, dass dieses Abendessen vielleicht mehr bedeutet hatte, als ich ursprünglich gedacht hatte.
  461.  
  462.  
  463. Kapitel 11
  464.  
  465. Fußball ist schon eine verrückte Sache. In einem Moment fühlst du dich wie der König der Welt, und im nächsten gibt dir die Realität eine ordentliche Ohrfeige. Aber das heutige Spiel von Union war mehr als nur Fußball. Es war eine Show – unser Stadion hat gekocht vor Energie.
  466. Kaum trat ich aus dem Tunnel auf den Platz, knallte mir dieser vertraute Lärm ins Gesicht. Die Fans brüllten schon ihren ersten Schlachtruf, den ich in- und auswendig kannte:
  467. **„Union! Union! Immer weiter, wir sind hier, um zu gewinnen!"**
  468. Über den Köpfen wehten Fahnen wie wütende Drachen, hinter dem Tor ließ das Pyro die Tribünen in rotem Licht erstrahlen, und unser Maskottchen, der Pinguin – ja, nicht gerade das, was man bei einem harten Fußballclub erwarten würde – hüpfte herum und schwenkte einen riesigen Schal. Die Leute liebten ihn, genauso wie unsere Hymne. **„Das Stadion brennt"** sangen sie in perfekter Euphorie, und ich hatte jedes Mal Gänsehaut, wenn ich das hörte. Klar, wir sind dritte Liga, aber die Atmosphäre hier? Die könnte sich mancher Erstligist abschauen. Es war etwas, das uns alle verband – Spieler, Fans, Trainer, einfach jeden, der Union im Herzen trug.
  469. Als wir aufliefen, war die Luft aufgeladen. Der Druck der Fans auf den Gegner begann noch vor dem Anpfiff. Fahnen, Trommeln, Bengalos – das Chaos war nicht zu übersehen. Für einen Moment blendete ich alles um mich herum aus. Hier, in diesem Augenblick, gab es nur mich und das Spielfeld. Nichts anderes zählte.
  470. Das Spiel war hart, voller Zweikämpfe, aber wir hielten das Tempo. Unsere Fans verstummten keine Sekunde. Als ich den Ball am Fuß hatte und auf das Tor zulief, hörte ich meinen Namen: **„Matti! Matti!"** Das trieb mich an. Schuss, Ecke, Pass – alles lief wie am Schnürchen.
  471. Dann kam die Chance. Eine Flanke, ich stieg hoch und köpfte den Ball ins Netz. Bum. **Tooor!** Das Stadion explodierte. Es fühlte sich an, als würden mir die Ohren mit explodieren. Ich rannte zu unserem Block, wo schon die Schals durch die Luft flogen. Das war wieder so ein Moment, in dem mir klar wurde: Dieses Spiel, diese Atmosphäre – das ist mein Leben.
  472. ---
  473. ### Eli: Süße Premiere
  474. Während Matti auf dem Platz um Punkte kämpfte, hatte ich meine eigene Herausforderung. Mein erster Tag am Verkaufsstand mit Gebäck im Stadion. Brigi hatte gesagt, dass ich das hinkriege, aber ehrlich gesagt war ich nervös. Und zwar ziemlich.
  475. Morgens fing ich an zu backen. Ich ließ mich von dem inspirieren, was wir in Lettland machten – duftende Hefeteig-Piroggen mit Fleischfüllung, Zimtschnecken, die auf der Zunge zergingen, und mein persönlicher Favorit: **Sklandrausis**, kleine Kuchen mit Karotten- und Kartoffelfüllung. Es kam mir seltsam vor, so einfache Sachen anzubieten, aber Brigi war überzeugt, dass sie ein Erfolg würden.
  476. Am Stand versuchte ich, meine Nervosität hinter einem Lächeln zu verstecken. Die Fans strömten vorbei, manche blieben stehen und schauten neugierig auf meine Kuchen. „Was ist das?" fragten sie. Als ich ihnen erklärte, woher die Rezepte stammen, wirkten sie interessiert und wollten probieren. Und dann – zu meiner Überraschung – fingen sie an zu loben.
  477. „Diese Zimtschnecke ist der Hammer. Richtig saftig, Mädel."
  478. „Was, Karotten im Kuchen? Echt lecker!"
  479. Mit jedem weiteren Kunden wurde ich ruhiger. Sogar die härteren Fans, die erst skeptisch dreinschauten, kauften schließlich etwas. Ein Typ mit einem Union-Tattoo auf dem Arm nahm gleich fünf Sklandrausis und winkte mir zu: „Das hier musst du immer haben, das ist der Wahnsinn!"
  480. Ich war stolz. Mein Essen, das ich für so gewöhnlich gehalten hatte, wurde plötzlich Teil von etwas Größerem. Zu sehen, wie die Fans meine Backwaren mit auf die Tribüne nahmen, erfüllte mich. Vielleicht war es nicht wie ein Tor von Matti, aber für mich war es ein kleiner Sieg.
  481. ---
  482. ### Am Ende des Tages
  483. Als das Spiel vorbei war und ich Matti wiedertraf, waren wir beide erschöpft, aber zufrieden. Das Stadion roch noch nach verbranntem Pyro, und der Gesang der Fans hallte irgendwo in der Ferne nach.
  484. „Na, wie war dein erster Tag?" fragte Matti, während er sich die verschwitzte Stirn abwischte.
  485. „Anstrengend, aber es hat sich gelohnt," antwortete ich mit einem Lächeln.
  486. Er schaute mich an, dann auf die Schachtel mit den letzten Sklandrausis, die ich in der Hand hielt. „Gib mir einen. Den hab ich mir verdient."
  487. Ich reichte ihm einen Kuchen und sah zu, wie er hineinbiss. Er dachte einen Moment nach, dann nickte er. „Ja, schmeckt wie ein Tor in der Nachspielzeit. Richtig gut."
  488. Ich musste lachen. In dem Moment wurde mir klar, dass wir, obwohl wir aus zwei verschiedenen Welten kommen, beide unseren Platz in dieser kleinen Stadt voller Leidenschaft gefunden hatten.
  489.  
  490. Kapitel 12
  491.  
  492. Heute lief das Training mit den Jungs von der Straße besser als letztes Mal. Ich hab mir Mühe gegeben, ihre Namen zu merken, und hab sie ab und zu gelobt. Die Jungs wurden etwas lockerer, sogar einer von ihnen, der letztes Mal kaum ein Wort rausbekommen hat, hat heute gelächelt. Aber Markus? Das ist ein anderes Thema.
  493. Markus erinnert mich an mich selbst in seinem Alter – stur, trotzig, immer nach seinen eigenen Regeln. Und das nervt mich. Ich hab manchmal das Bedürfnis, ihn ordentlich zu schütteln, damit er checkt, dass er sich nur selbst im Weg steht. Aber ich weiß, dass das nicht geht. Eli hatte recht – ich kann die Jungs nicht dazu zwingen, mir zu vertrauen. Das muss ich mir erst verdienen.
  494. Nach dem Training hab ich alle gelobt und ihnen einen schönen Tag gewünscht. Markus? Der ist wie immer ohne ein Wort abgezogen, ohne mich auch nur anzuschauen. Ich blieb noch einen Moment auf dem Platz stehen und schaute ihm nach, innerlich eine Mischung aus Frust und Traurigkeit. „Das braucht Zeit", sagte ich mir. „Und wahrscheinlich mehr Geduld, als ich hab."
  495. ---
  496. Nach dem Training bin ich beim Kids Center vorbeigegangen, um Eli zu sehen. Sie saß draußen auf einer Bank und wartete, bis die Kinder ihre Spiele beendeten. Es war schon Herbst, die Temperaturen sanken schnell, und der kalte Wind war echt unangenehm. Trotzdem hatte sie nur einen dünnen Pulli an. Schon von Weitem sah ich, wie sie zitterte.
  497. „Eli!" rief ich. Sie hob den Kopf und lächelte mich an, aber es war dieses müde, unsichere Lächeln.
  498. Ich ging zu ihr und zog meine Kapuzenjacke aus. „Was machst du da? Warum hast du keine wärmeren Sachen an? Wo ist deine Jacke? Du frierst doch!"
  499. Sie blinzelte und zuckte mit den Schultern. „Die Jacke wurde mir geklaut. Aber ist nicht so schlimm, wir gehen ja gleich rein."
  500. Lüge. Das war klar. Aber ich wollte das jetzt nicht diskutieren. „Das ist keine Antwort", sagte ich ernst. „Hier. Zieh die an."
  501. „Matti, das ist echt nicht nötig", protestierte sie, aber ich hielt ihr schon meine Jacke hin. Sie stand da, so klein und verletzlich, und mir zog sich das Herz zusammen.
  502. „Bitte, Eli. Tu's für mich, wenn nicht für dich selbst. Ich will nicht, dass du krank wirst", sagte ich leise, aber bestimmt.
  503. Langsam nahm sie die Jacke und zog sie an. Die war ihr viel zu groß – die Ärmel hingen über ihre Finger, und die Kapuze rutschte ihr halb ins Gesicht. Sie sah irgendwie süß aus, fast ein bisschen komisch. Ich musste grinsen.
  504. Dabei fiel mir auf, dass ihre Brille schief saß. Ich richtete sie vorsichtig und schob ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „So, jetzt passt's."
  505. Sie lachte ein wenig und schaute verlegen zu Boden. „Danke, Matti."
  506. Es war etwas an der Art, wie sie in meiner Jacke aussah – klein, ein bisschen unsicher, aber trotzdem so entschlossen. Das hat mich irgendwie berührt und zum Lächeln gebracht. „Steht dir", murmelte ich und merkte, wie mir plötzlich die Ohren warm wurden.
  507. Als ihre Schicht vorbei war, fragte ich sie: „Soll ich dich irgendwohin begleiten?"
  508. Sie nickte. „Ich muss noch ein paar Sachen für die Kinder holen. Es ist nicht weit."
  509. Auf dem Weg unterhielten wir uns. Sie erzählte mir von den Kindern im Kids Center, wie es bei ihnen läuft, und ich erzählte ihr von den Jungs aus dem Training. Es war irgendwie angenehm. Keine Spannung, einfach ein ruhiges Gespräch.
  510. Als wir am Ziel ankamen, blieb sie stehen und drehte sich zu mir um. „Danke, dass du mitgekommen bist. Und für die Jacke auch."
  511. „Pass auf dich auf", sagte ich leise, lächelte sie an und umarmte sie zum Abschied. Sie war etwas überrascht, aber sie schien nichts dagegen zu haben.
  512. ---
  513. Kaum war ich zu Hause, fing Michael schon an. „Na, Romeo? Wie geht's deiner Julia?"
  514. Ich runzelte die Stirn und warf meine Tasche aufs Sofa. „Was redest du da?"
  515. „Redest du da", äffte er mich nach und grinste. „Ich hab euch gesehen. Dich und Eli. Das war ja fast schon eine Filmszene. Du gibst ihr deine Jacke, sie bedankt sich mit diesen großen Augen... da haben nur noch Kerzen und Mondschein gefehlt."
  516. „Halt die Klappe, Michael", knurrte ich und ließ mich auf die Couch fallen.
  517. „Hey, Mann, ich sag's nur, wie ich's sehe. Du willst sie offensichtlich beschützen. Und wenn ich mir anschaue, wie sie dich anschaut, würd ich sagen, sie hat auch nix dagegen." Er grinste und zeigte mit dem Finger auf mich. „Aber wenn du's ernst meinst, solltest du auch ernsthaft rangehen."
  518. Ich dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Michael hatte recht. Eli war nicht irgendwer. Sie war anders. Und ich wusste, wenn ich sie nicht verlieren will, muss ich's wirklich ernst meinen.
  519.  
  520. Kapitel 13
  521. Ein richtiger Scheißtag. Anders kann ich's nicht sagen. Morgens hat ein Kunde bei der Arbeit völlig ausgerastet, weil sein blödes Sofa größer war als die Tür und die Treppe zusammen. Als ob das meine Schuld wär, dass er sich so ein riesen Ding angeschafft hat, das nicht mal in den Aufzug passt. Mittagessen? Vergiss es. Training? Noch schlimmer. Der Coach hat uns den Berg rauf und runter gejagt, weil wir nächste Woche ein Pokalspiel auswärts haben.
  522. Ich hab überlegt, wo ich mich nach dem ganzen Mist verkriechen könnte. Nach Hause wollte ich nicht, weil Michael mich mit seinen dummen Sprüchen nur noch mehr genervt hätte. Am Ende war's klar – Eli und das Kids Center.
  523. Im Kids Center war mehr los als sonst. Ich war an einem anderen Tag da als sonst, wenn ich Katie besuche, also hab ich ganz andere Eltern und Kinder getroffen. Schon an der Tür hab ich den Lärm gehört, aber zwischen all dem Krach hab ich etwas Besonderes wahrgenommen – Elis Stimme. Aber sie hat nicht Deutsch gesprochen. Die Sprache klang wie... Russisch?
  524. Ich hab reingeschaut und sie gesehen. Sie stand am Tisch und sprach mit einer Gruppe Kinder, die wie Kletten an ihr hingen. Selbst die Kleinsten sind nicht von ihrer Seite gewichen, als wäre sie ihre Mama. Neben ihr standen zwei Frauen, die ich noch nie gesehen hatte. Eli sprach auch mit denen in dieser Sprache, ruhig und gelassen, und sie schien sie zu beruhigen. Eine der Frauen hielt ein paar Papiere in der Hand.
  525. „Eli?", rief ich.
  526. Sie hob den Kopf und lächelte. „Matti! Was machst du hier?"
  527. „Ich wollte dich sehen", sagte ich und zuckte mit den Schultern. „Welche Sprache war das?"
  528. „Russisch", antwortete sie ohne zu zögern. „Und ein bisschen Ukrainisch. Das sind Frauen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind."
  529. „Echt?" Ich schaute die Frauen überrascht an. Auf den ersten Blick fiel nichts auf, aber als ich ihre müden Gesichter und wie fest sie ihre Kinder hielten sah, ergab alles plötzlich Sinn. „Wo hast du Russisch gelernt?"
  530. „Meine Mutter war eine russische Lettin", erklärte sie mit einem kleinen Lächeln. „Sie hat mit mir Russisch gesprochen. Mein Vater Lettisch. Also hab ich zwei Muttersprachen."
  531. „Zwei Muttersprachen?" Meine Augen wurden groß. „Und dazu noch Deutsch und Englisch? Das sind vier Sprachen! Und wenn du sagst, dass du auch ein bisschen Ukrainisch kannst, sind's sogar fünf!"
  532. Sie wurde rot und senkte den Blick. „Das ist nichts Besonderes", murmelte sie so leise, dass ich sie kaum verstand.
  533. Bevor ich ihr sagen konnte, wie beeindruckend das war, kam eine der Frauen zu uns, nahm ihr Kind von Elis Seite und bedankte sich: „Spasibo bol'shoje, vielen Dank." Sie sagte noch etwas, was ich nicht verstand. Als ich Eli fragte, was das war, schwieg sie, aber die Frau erklärte mir in gebrochenem Deutsch: „Elina... hat uns geholfen... Amt, Dolmetschen, Papiere..."
  534. Langsam fügte ich die Teile zusammen: Amt, Dolmetschen, Dokumente. Eli musste ihnen bei Behördengängen helfen.
  535. „Du bist mit ihnen aufs Amt gegangen? Eli, das ist der Hammer! Ich war froh, dass ich die Nerven hatte, meinen eigenen Arbeitsvertrag zu lesen, und du regelst eine ganze Menge Papiere und übersetzt für andere!"
  536. Sie schüttelte den Kopf und senkte die Augen. „Nein, sie haben was Großes geschafft. Aus einer Kriegsstadt zu fliehen, hunderte Kilometer mit kleinen Kindern zu reisen. Ich... ich hab ihnen nur mit Kleinigkeiten geholfen."
  537. Ich starrte sie an. Ich wusste nicht, ob sie einfach bescheiden oder verrückt war. Fremden Leuten bei Behördengängen in einer anderen Sprache zu helfen, war für mich alles andere als eine „Kleinigkeit". Doch als ich genauer hinsah, bemerkte ich Dinge, die mir vorher entgangen waren: dunkle Ringe unter ihren Augen, wie nervös sie mit ihren Fingern spielte. Ihre Haut war noch blasser als sonst, und ihr Blick war leer. Als würde langsam etwas aus ihr verschwinden.
  538. „Was ist los? Warum bist du so traurig?", fragte ich, leiser, als ich wollte.
  539. „Nichts", antwortete sie schnell. Sie lächelte, aber es war nur ein Hauch von dem Lächeln, das ich von ihr kannte. Sie hatte immer ein bisschen melancholisches Lächeln, aber das hier war nicht die Eli, die ich kannte, die, die mehr Freude daran hatte, anderen Glück zu geben.
  540. „Echt?" Ich versuchte es nochmal. „Wie geht's den Kindern im Waisenhaus? Ist da alles okay?" Mir kam in den Sinn, dass es mit dem Ort zu tun haben könnte, den sie Zuhause nannte.
  541. „Alles ist in Ordnung", sagte sie, aber ihr Blick schweifte zur Seite, als würde sie dort etwas suchen.
  542. „Eli?"
  543. „Ich muss zurück zu den Kindern", murmelte sie und drehte sich schnell um. Bevor ich etwas sagen konnte, war sie weg, verschwand zwischen den Kindern, als würde sie sich vor mir verstecken.
  544. Das Wochenende verbrachte ich damit, über sie nachzudenken. Immer wieder sah ich diese müden Augen und das leere Lächeln vor mir. Ich wusste nicht, was los war, aber eines war klar: Irgendwas stimmte nicht. Und dann sah ich sie an der Kasse im Supermarkt.
  545. Sie scannte die Waren wie ein Roboter. Kein Lächeln, kein Wort zu den Leuten. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment umkippen.
  546. „Eli, alles okay?", fragte ich, als ich mich vor sie stellte.
  547. „Ja, Arbeit", sagte sie knapp, ohne auch nur einen Blick auf mich zu werfen.
  548. „Die wievielte Nebenjob-Schicht ist das heute?", hielt ich nicht mehr aus.
  549. „Geschenke für die Kinder", murmelte sie hastig.
  550. Ich sah sie an. Irgendwas daran passte nicht. Klar, sie war immer die, die an andere dachte, aber das hier war anders. Wieso brauchte sie so viel Geld? Eli sagte kein weiteres Wort, und ich musste mich beherrschen, um sie nicht direkt an der Kasse auszufragen.
  551. Auf dem Heimweg ging mir das alles durch den Kopf. Wie genial sie eigentlich ist. Sie spricht fünf Sprachen, hilft Leuten, macht Sachen, für die die meisten weder Nerven noch Fähigkeiten hätten. Und was bekommt sie dafür? Ein paar lausige Nebenjobs, bei denen sie kaum bezahlt wird.
  552. Das ist doch nicht normal. Warum lebt jemand so kluges und fähiges wie... naja, fast wie eine Magd? Warum schuftet sie von früh bis spät und tut so, als wäre das okay?
  553. Mir wurde schwer ums Herz. Ich wäre längst durchgedreht. Aber sie? Sie erträgt das alles still. Warum, verdammt, fordert sie nicht mal etwas Besseres für sich selbst?
  554. Diese Frage blieb in meinem Kopf hängen, und ich konnte einfach keine Antwort darauf finden. Und das machte mich fertig. Wenn sie so nett und klug ist, warum tut sie so, als würde sie selbst keine Rolle spielen?
  555.  
  556. Kapitel 14
  557. Uns stand 'ne vierstündige Fahrt bevor, und zwar zu unserem Pokalspiel gegen den SV Hausenwill, 'ne Mannschaft aus der zweiten Liga. Die Stimmung im Bus war irgendwie komisch ruhig. Normalerweise erwartet von so 'nem Spiel keiner was – Union ist die letzten Jahre immer ziemlich früh im Pokal rausgeflogen. Seit 20 Jahren haben wir's nicht mehr ins Achtelfinale geschafft. Aber diesmal war's anders. In den letzten Wochen lief bei uns einfach alles.
  558. Am Anfang der Saison hatten wir Hansi Lübke, 'nen neuen Trainer bekommen. 'N bisschen schrullig, der Typ, aber genau das, was wir gebraucht haben. Er hat echt alles verändert. Früher war die Stimmung im Team eher angespannt, keiner hat dem anderen wirklich getraut. Aber Hansi hat uns beigebracht, dass wir keine Gruppe Einzelspieler sind, sondern 'n echtes Team. Und dass jeder von uns 'ne Rolle hat – auf'm Platz und auch daneben.
  559. Einmal hat er gesagt, wenn wir zu Null spielen, spendiert er uns allen Pizza. Wir haben das erst für 'nen blöden Witz gehalten, aber als wir wirklich 2:0 gewonnen haben, hat er uns überrascht. Er hat das ganze Team in 'ne Pizzeria eingeladen. Meinte, er hätte das bei Ranieri abgeschaut, der mit Leicester das Wunder geschafft hat. Und auch wenn wir nicht Leicester waren, hatten wir das Gefühl, dass wir vielleicht auch was Großes reißen könnten.
  560. Kurz vorm Abfahren hat Hansi uns auf'm Parkplatz noch seine typische Motivationsrede gehalten:
  561. „Jungs, alle denken, dass das heute 'n Spaziergang wird. Die glauben, wir sind bloß irgendwelche Hinterwäldler, die im großen Fußball nix verloren haben. Aber wie wär's, wenn wir ihnen zeigen, wie sehr die danebenliegen?"
  562. Seine Worte haben uns getroffen. Wir waren bereit. Das hier war nicht einfach nur ein Spiel. Das war unsere Chance, zu zeigen, dass Union und Parodista mehr sind als irgendwelche Punkte auf der Landkarte.
  563. Im Bus saß ich mit Michael und Brian. Die haben natürlich wieder ihre Faxen gemacht. Ich dagegen war mit meinen Gedanken ganz woanders. Früher ging's mir nur um mich, um meine Karriere, darum, wieder in die erste Liga zu kommen. Aber jetzt... ich dachte an die Jungs im Team, an meine Mom, an Erik, Moni und Katie... und an Elina. Dieses Mädchen konnte sogar dann lächeln, wenn alles komplett scheiße war. Und ich? Ich sitz hier und mach mir nen Kopf, weil ich keine Fußball-Superstar bin.
  564. „Hey, Matti!", rief Michael plötzlich. „Was ist los, Denker? Alter, du siehst aus wie diese Statue!" Er zeigt mir auf seinem Handy ein Bild von irgendeiner französischen Statue.
  565. „Vielleicht bin ich einfach endlich erwachsen geworden", meinte ich sarkastisch.
  566. Brian fing an zu lachen:
  567. „Ja, klar. Das glaubt dir doch keiner. Wetten, das hat mit 'ner Frau zu tun?"
  568. Michael nickte eifrig.
  569. „Brian, du hast's wahrscheinlich echt getroffen. Weißt du, wie er donnerstags nach'm Training immer seine Nichte aus'm Kids Center abholt? Der quatscht da ständig mit dem Mädchen, das auf die Kids aufpasst. Einmal hat er ihr sogar seinen Hoodie gegeben, damit sie nicht friert! Matti, oder willst du uns erzählen, dass es dir nur um Katie geht?"
  570. „Halt die Klappe", grummelte ich genervt. „Elina ist nicht meine..."
  571. Die Jungs fingen an zu lachen. Idioten. Die denken ernsthaft, dass ich mit Elina zusammen bin. Die haben sich schlappgelacht, aber ich hab mich nicht auf ihr Blödeln eingelassen. Die Wahrheit war, dass ich selbst nicht wusste, was ich von Elina halten soll. Aber eines wusste ich: Seit ich sie kenne, läuft's bei mir besser. Vielleicht war das kein Zufall.
  572. ---
  573. Das Stadion der Gegner war größer und lauter, als wir's gewohnt waren. Und auf dem Platz war's noch heftiger – das Tempo von denen war ne ganz andere Nummer. Aber die erste Halbzeit haben wir mit 'nem 0:0 irgendwie überstanden.
  574. In der Pause hat Hansi uns noch mal klargemacht, warum wir hier sind.
  575. „Wenn ihr heute verkackt, dann nicht, weil die besser sind, sondern weil ihr's zugelassen habt. Also zeigt jetzt, dass wir hierhergehören!"
  576. Die zweite Hälfte haben wir besser angefangen. Ich hab mich auf meine Aufgabe konzentriert: den Ball gewinnen und nach vorne spielen. Dann kam die 68. Minute. Schnelle Kombination, Schuss flach in die Ecke – 1:0 für uns!
  577. Ab da war das Spiel reines Chaos. Wir haben wie die Verrückten verteidigt, die haben gedrückt, wir gekämpft. Als der Schiri abgepfiffen hat, dachte ich, ich kann nie wieder aufstehen. Aber es hat sich gelohnt. Wir waren im Achtelfinale!
  578. ---
  579. Die Rückkehr nach Parodista war wie aus 'nem Film. Auf dem Marktplatz in der Altstadt haben die Fans auf uns gewartet. Die haben gejubelt, gesungen, Fahnen geschwenkt, sogar Pyro gab's. Ich hab gespürt, dass Union mehr ist als nur 'n Verein. Wir waren 'ne Familie.
  580. ---
  581. Am nächsten Tag bin ich ins Kids Center gegangen. Elina saß draußen auf 'ner Bank am Spielplatz und sah... verloren aus. Nach so einem Spiel sollte ich eigentlich überglücklich sein, aber bei ihrem Anblick hat's mir die Laune komplett verhagelt.
  582. „Eli!", rief ich. Sie versuchte zu lächeln, aber es war leer.
  583. „Was ist los?", fragte ich. „Du siehst aus, als hätte dich 'n Zug überfahren."
  584. „Alles okay, Matti", antwortete sie, aber ihre Stimme zitterte.
  585. „Sieht aber nicht so aus." Ich setzte mich neben sie. „Ich will mich nicht einmischen, aber... willst du drüber reden?"
  586. „Ich komm schon klar", flüsterte sie.
  587. „Ja, sicher", schnauzte ich. „Und wenn du zusammenklappst, was dann?"
  588. „Ich brauch keine Rettung", sagte sie plötzlich scharf. „Ich will keine Last für jemanden sein. Ich bin's gewohnt, alleine klarzukommen."
  589. Ihre Worte haben mich getroffen. Ich hab kurz nichts gesagt, dann den Kopf geschüttelt und bin aufgestanden.
  590. „Na gut. Wenn du's nicht sagen willst, ist das dein Ding. Aber wenn du dann Hilfe brauchst, komm nicht zu mir. Hab meine Zeit wohl umsonst mit dir verschwendet!"
  591. Ich hab gesehen, wie ihr Gesicht sich verzogen hat, aber ich war zu sauer, um anzuhalten. Mein Herz hat gepocht, als ich weggegangen bin. „Was zur Hölle ist mit ihr los?", dachte ich. „Warum ist sie so stur?" Aber irgendwo tief drin wusste ich, dass ich's vielleicht echt verkackt hab.
  592. Kapitel 15
  593. Donnerstag ist meistens so ein Tag, wo ich mir wünsche, der Tag hätte mehr Stunden. Erst die Arbeit, dann Training. Normalerweise nervt mich der Stress, aber heute war anders. Nach dem Pokalerfolg hab ich gehört, dass beim nächsten Spiel Scouts von Erstligisten da sein sollen. Ja, die erste Liga. Mein Ziel. Da, wo ich seit Jahren wieder hinwill. Lange hab ich das für unrealistisch gehalten, aber jetzt... jetzt spüre ich, dass es eine Chance gibt. Ironischerweise genau in dem Moment, wo es mir nicht mehr so wichtig war.
  594. Im Training hab ich mehr Gas gegeben als sonst. Jeder Sprint auf Anschlag, jeder Ballkontakt ernst genommen, als wär's das Finale der Champions League. Ich wollte diese Chance nicht vermasseln.
  595. Nach dem Training bin ich zu Hansi gegangen. Ich wollte's ihm erzählen, vielleicht ein bisschen Lob abstauben. Sowas wie: „Mach weiter so, Matti, du bist der Beste." Aber Hansi war... na ja, eben Hansi. Er hat nur genickt, als wär das, was ich gesagt hab, total selbstverständlich. „Das ist 'ne gute Nachricht," hat er gesagt. „Man sieht, dass du an dir gearbeitet hast."
  596. Klang fast wie ein Lob, aber dann ging's weiter: „Aber weißt du, Matti, Fußball – und das Leben generell – geht nicht nur darum, in die erste Liga zu kommen, Pokale zu gewinnen und berühmt zu sein. Es geht darum, was du hier hast," er hat sich auf die Brust geklopft. „Und darum, was du hier hast," er hat mit der Hand Richtung der anderen Jungs auf dem Platz gedeutet. „Du kannst 'nen Schrank voll Trophäen haben, aber wenn du keine Leute hast, die hinter dir stehen, dann fühlt sich die Freude leer an."
  597. Ich hab ihn nur angestarrt. Was soll das heißen? Dass ich zufrieden sein soll, wo ich bin? Mein ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, voranzukommen. Was soll ich hier haben? Im Felsenstadion? Das ist doch nur 'ne Zwischenstation... oder zumindest dachte ich das. „Ja, ja," hab ich gemurmelt. Die Worte gingen mir nicht aus dem Kopf, auch wenn ich sie noch nicht ganz verstanden hab.
  598. ---
  599. In der Kabine nach dem Training war die übliche Stimmung. Die Jungs haben Witze gerissen, einer hat Musik übers Handy laufen lassen. Ich saß gerade auf der Bank, als Timo gefragt hat: „Matti, gehst du heute wieder zu Katie und Elina? Wie immer?"
  600. Ich war kurz irritiert. „Nee, heute geht mein Bruder."
  601. „Was?" Timo, der gerade seine Jacke anzog, hat innegehalten und mich angestarrt. „Die letzten Wochen bist du doch ständig deine Nichte abholen gegangen, nur um 'ne Ausrede zu haben, sie zu sehen. Was ist los?"
  602. „Sie hat mich genervt," hab ich gemurmelt. „Sie sieht echt fertig aus, wie ein Zombie. Dazu hat sie noch 'nen Job im Supermarkt angenommen. Ich hab ihr angeboten, was zu regeln, ihr zu helfen, aber sie hat jedes Mal abgelehnt. Und als sie mir gestern gesagt hat, dass sie keinen Retter braucht, hat's mich aufgeregt. Ich hab ihr gesagt, dass sie, wenn sie die Heldin spielen will, alleine klarkommen soll."
  603. Die Kabine wurde still. Markus hat aufgehört, seine Schuhe zuzubinden, und Timo hat die Arme verschränkt. „Echt jetzt?" meinte Timo. „Einmal sagt dir ein Mädchen was, was du nicht hören willst, und du haust ab wie ein kleiner Junge?"
  604. „Was? Das ist unfair! Sie behandelt mich, als wär ich irgendein nerviges Insekt, wenn ich ihr helfen will."
  605. Markus hat geseufzt. „Matti, Eli ist stur, aber musst du genauso stur sein wie sie? Von dem, was ich gehört hab, warst du ein paar Mal echt unfreundlich zu ihr. Aber sie hat dir nie was Böses gesagt. Sie hat dich nie beleidigt, nie im Stich gelassen. Und jetzt hat sie einmal auf dich eingeredet, und du bist weg? Das findest du nicht ein bisschen heuchlerisch?"
  606. Taro hat sich zu uns gesetzt. „Sie hat dir vertraut, auch wenn's die letzten Wochen vielleicht nicht so aussah. Und du hintergehst sie? Sagst, dass du deine Zeit mit ihr verschwendest? Weißt du überhaupt, was solche Worte für sie bedeuten?"
  607. „Ich wollte nur..." Ich hab gestockt. Was eigentlich?
  608. Taro hat mich durchdringend angesehen. „Du wolltest ihr helfen. So wie sie dir geholfen hat. Seit du sie kennst, bist du ein besserer Mensch. Aber du warst nicht geduldig genug. Deshalb hast du gesagt, dass sie deine Zeit verschwendet. Aber das klang so, als wär sie dir egal."
  609. „Ich wollte sie nicht verletzen. Sie bedeutet mir was," hab ich gemurmelt.
  610. „Dann zeig's ihr," meinte Timo. „Statt vor Problemen wegzulaufen, sei ein Mann und entschuldige dich. Und bring ihr was mit, worüber sie sich freut. Und mach das jetzt, nicht morgen."
  611. ---
  612. Auf dem Heimweg hab ich überlegt, was das sein könnte. Als ich am Blumenladen vorbeiging, hat mich was gestoppt. In der Auslage standen Sonnenblumen. Plötzlich wusste ich's. Sonnenblumen sind schön und folgen immer der Sonne. Genau wie Eli. Sie war freundlich und positiv, auch wenn alles um sie herum mies war. Nur in den letzten Wochen... war sie nicht sie selbst.
  613. Bilder sind mir durch den Kopf geschossen. Wie ich sie zum ersten Mal auf der Treppe gesehen hab. Wie sie schüchtern gelächelt hat. Wie sie sich liebevoll um Katie und die anderen Kinder gekümmert hat, auch wenn sie genervt haben. Wie sie mir immer zugehört hat und etwas Kluges gesagt hat. Wie süß sie in meinem Hoodie aussah. Und wie sie mich immer zum Nachdenken gebracht hat, wer ich eigentlich bin.
  614. Mir wurde klar: Ich mag sie. Und ich will sie nicht verlieren. Sie muss wissen, dass sie mir wichtig ist. Und die Sonnenblume sollte der Anfang sein.
  615. ---
  616. Ich bin ins Kids Center gegangen. Aber Eli war nicht da.
  617. "Hey, wisst ihr, wo Eli ist?"
  618. "Die musste was erledigen. Die Kinder aus dem Waisenhaus hat sie hier gelassen. Die sind bei mir," meinte eine ihrer Kolleginnen.
  619. Mir kam die Idee, die Kinder zu fragen, was mit Eli los ist. Vielleicht sollte ich mich da raushalten, aber irgendwas sagt mir, dass es richtig ist.
  620. "Hey, Kids, kann ich euch was fragen?"
  621. Die Kinder saßen zusammen und schauten mich an.
  622. "Hat jemand von euch ne Ahnung, warum Eli in letzter Zeit so traurig ist? Sie sagt immer, alles ist okay, aber das stimmt nicht."
  623. Erst war es still. Dann meldete sich ein kleines Mädchen, vielleicht so alt wie Katie:
  624. "Der Herr Koller schreit sie die ganze Zeit an. Ich hab's gehört. Er hat gesagt, sie sei dumm und faul."
  625. "Herr Koller? Wer ist das?" fragte ich und rechnete mit nichts Gutem.
  626. "Der Leiter vom Waisenhaus," murmelte sie leise. "Er ist gemein."
  627. Gemein? Zu Eli? Warum? "Und was ist mit euch? Brüllt er euch auch an?"
  628. Die Kinder schauten sich gegenseitig an.
  629. "Uns schreit er nicht so oft an," meinte der älteste von ihnen, ein etwa zehnjähriger Junge. "Eli versteckt uns immer. Sie sagt, sie ist die Älteste und regelt das selbst. Aber als wir sein Auto kaputt gemacht haben, war es schlimm..." Er brach ab und zupfte an seinen Ärmeln.
  630. "Was für ein Auto?" fragte ich. "Was ist passiert?"
  631. Das Mädchen neben ihm flüsterte: "Eli hat uns verboten, darüber zu reden."
  632. Das hat mich stutzig gemacht. Irgendwas stimmt hier nicht.
  633. "Das ist jetzt egal," sagte ich eindringlich. "Ich muss wissen, was passiert ist. Ich will Eli helfen, aber dafür brauche ich alle Infos."
  634. Der Junge schluckte und fing an zu erzählen: "Wir haben draußen vor dem Haus mit dem Ball gespielt. Und dann haben wir sein Auto getroffen. So ein großes, schwarzes Ding. Wir haben die Scheibe kaputt gemacht und Kratzer reingehauen. Eli hat uns gesehen und reingeschickt. Sie meinte, sie regelt das schon. Sie hat gesagt, es wird alles gut. Aber seitdem ist sie die ganze Zeit traurig. Einmal hab ich sie weinen gehört."
  635. "Weinen? Und Herr Koller?"
  636. Der Junge seufzte. "Ich hab die beiden gehört. Er hat sie angeschrien, dass er Geld für die Reparatur will. Und dass, wenn sie nicht genug bringt, wir Kinder Ärger kriegen. Er meinte, er kennt Leute bei der Polizei, und dass ihr eh keiner glaubt. Danach hatte sie noch mehr Angst. Aber als ich sie gefragt hab, wollte sie nichts sagen."
  637. Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Koller... der Name kam mir bekannt vor. Aber woher?
  638. Ich zückte mein Handy und tippte seinen Namen ein. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis ich ein Foto fand – ein Artikel über Waisenhäuser und Politik. Das Gesicht kam mir bekannt vor. Ich schaute genauer hin.
  639. Natürlich. Der Typ von den Wahlplakaten. Und der gleiche, der Eli an dem Tag mit einem Wischmopp geschubst hatte, als ich sie zum ersten Mal traf.
  640. Plötzlich machte alles Sinn. Der Angriff mit dem Mopp, das Auto, die Erpressung, die Polizei... Eli hatte alles verschwiegen, weil sie Angst hatte, dass Koller seine Macht gegen die Kinder einsetzen würde. Deshalb ging sie nicht zur Polizei. Deshalb hatte sie mir nichts gesagt. Deshalb wollte sie nach dem Abi die Kinder adoptieren.
  641. Ich fing an, laut zu fluchen. Die Mitarbeiterinnen vom Kids Center ermahnten mich, aber das war mir egal.
  642. Meine Hände zitterten vor Wut, als ich Eriks Nummer wählte.
  643. "Hey, Bruder, bist du in der Nähe? Ich brauch dich."
  644. "Was ist los?"
  645. "Es geht um Eli. Sie steckt in Schwierigkeiten. Dieser Typ aus dem Waisenhaus erpresst sie und könnte ihr was antun. Wir müssen sie finden."
  646. "Ich bin unterwegs," antwortete Erik.
  647. Er war in ein paar Minuten da. Ich stieg ins Auto und erklärte ihm alles. Von den Kindern wusste ich, dass Eli sich Sorgen um sie machte, weil Koller Einfluss und Kontakte hatte. Und jetzt wurde mir klar, dass wir sie allein gelassen hatten, um diesem Mistkerl die Stirn zu bieten. Ich war wütend – auf mich selbst und auf ihn.
  648. "Koller hat sie schon mal angegriffen, weißt du?" sagte ich zu Erik.
  649. "Was?! Wann?"
  650. "Kannst du dich erinnern, als ich Eli das erste Mal getroffen hab? Im Stadion. Damals hat dieser Typ sie körperlich angegriffen. Ich war ein Idiot und hab nicht kapiert, dass mehr dahintersteckt. Ich dachte, er wäre irgendein besoffener Fan. Und jetzt könnte sie wirklich in Gefahr sein."
  651. "Wo denkst du, dass sie ist?" fragte Erik.
  652. "Das einzige, was mir einfällt, ist das Waisenhaus. Die Kinder sagten, sie wollte was regeln. Und wenn sie Angst hatte, dass er den Kindern was tut, dann ist sie bestimmt dorthin, um mit ihm zu reden."
  653. Erik nickte. "Okay. Aber Matti, wenn wir ihn finden, bleib ruhig. Wir wollen sie retten, nicht selbst im Knast landen."
  654. Wir fuhren zum Waisenhaus. Es war ein hässliches Gebäude am Stadtrand, mit schmutzigen Fenstern und bröckelndem Putz. Als wir ausstiegen, war es still. Bis auf einen Ton – gedämpftes Schreien.
  655. Wir folgten dem Geräusch. Die Hintertür stand einen Spalt offen. Dahinter hörte ich Kollers Stimme.
  656. "Ich hab dir EINMAL gesagt, bring das Geld!" schrie er.
  657. "Ich hab es versucht," antwortete Eli mit zitternder Stimme. "Wirklich... aber mehr konnte ich nicht auftreiben."
  658. "Das interessiert mich nicht! Meinst du, ich warte ewig? Wenn das nicht bezahlt wird, werden die Kinder bereuen, dass sie dich kennen!"
  659. Ich hörte, wie Koller langsam die Geduld verlor. Und dann – ein dumpfer Schlag. Es lief mir eiskalt den Rücken runter. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, riss ich die Tür auf und sah Koller, wie er über Eli stand. Sie lag am Boden. Ihre Brille war kaputt, lag ein paar Meter weiter, und sie hatte ein blaues Auge. Sie atmete schwer.
  660. „Was zum Teufel..." fing Koller an, aber bevor er den Satz beenden konnte, war ich schon bei ihm.
  661. Mein Schlag traf ihn mitten ins Gesicht und schickte ihn direkt zu Boden. Aber ich wollte nicht aufhören. Alles, was er Eli angetan hatte, schrie danach, ihm eine Lektion zu erteilen. Wieder und wieder.
  662. „Hör auf, Matti!" rief Erik, der mich von hinten packte und wegzog. „Sei nicht wie er! Hilf lieber Eli!"
  663. Ich kniete mich zu ihr hinunter. „Eli, hörst du mich? Er wird dir nichts mehr tun. Ich verspreche es."
  664. Sie versuchte etwas zu sagen, aber ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Pass... auf die Kinder... auf."
  665. „Nein, sag so etwas nicht. Du schaffst das!" Ich sah zu Erik auf. „Ruf einen Krankenwagen!"
  666. Eli schloss die Augen, und ihre Atmung wurde schwächer. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, sie zu verlieren. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis endlich der Krankenwagen und die Polizei ankamen.
  667. Die Polizisten fingen an, Koller zu verhören. Natürlich behauptete er, dass er nichts getan hätte. Er log, dass ich Eli zusammengeschlagen hätte, und dass er nur versucht hätte, sie zu beschützen, als ich ihn angegriffen hätte.
  668. Ich explodierte. „Er lügt! Sehen Sie sich doch Eli an! Lassen Sie mich zu ihr!"
  669. „Herr Heiberg, Sie müssen mitkommen und eine Aussage machen," erklärte einer der Polizisten mit kühler Stimme. Ich wollte mit Eli ins Krankenhaus fahren, aber mir blieb keine Wahl.
  670. „Wie geht es ihr?" fragte ich den Sanitäter, der sie versorgte.
  671. „Sie ist stabilisiert," antwortete er. „Mehr können Ihnen die Ärzte im Krankenhaus sagen."
  672. Ich sah zu, wie die Krankenwagenlichter in der Dunkelheit verschwanden, und schwor mir, dass ich so schnell wie möglich bei ihr sein würde.
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