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- Hier spricht Jan Böhmermann
- Wir müssen alle Gräben im Land zuschütten. Und dafür einen neuen aufreißen: zwischen den Menschen von heute und morgen – und denen von gestern.
- Jan Böhmermann ist Satiriker. In diesem Beitrag holt er zum Rundumschlag aus.
- Wer in unserer schrecklich kompliziert gewordenen Welt zuverlässig Menschen von gestern erkennen und sie dabei gleich auch noch spaßeshalber an die Grenzen ihrer intellektuellen, politischen und moralischen Kapazität bringen möchte, muss ihnen nur in einem möglichst unverfänglichen Stehgespräch angelegentlich eines möglichst beliebigen Get-togethers mit möglichst arglosem Gesichtsausdruck "Wärmepumpe" ins Ohr flüstern oder – noch besser! – eine einfache Frage stellen wie Was unternehmen wir denn jetzt gegen Russland?.
- Und dann erst mal zurücklehnen und kommen lassen.
- Es folgt bei Menschen von gestern ein schweres Durchatmen, ein sorgenvoller Gesichtsausdruck, ein leichtes Stammeln und dann ein – je nach Gegenüber – mehr oder weniger komplexes rhetorisches Ausweichmanöver, um sich nur ja nicht tatsächlich an die Beantwortung dieser Fragen heranwagen zu müssen. Was unternehmen wir denn jetzt gegen Russland? Ja, nun, äääh, man habe das alles ja nicht kommen sehen können, flunkern Menschen von gestern übersprungsartig. In mikroskopischer Detailtiefe können sie mit verständnisvollen Augen und bestens belesen über die – seufz! – vielschichtigen, jahrhundertealten geopolitischen Herausforderungen des "Riesenreichs" referieren, beschwören den – schön wär's! – Weltfrieden und erzählen aus dem Nichts von ihrer Zivildienstzeit oder selbstexplorieren anderweitig lauthals ihren, jaja, tief sitzenden Pazifismus.
- Ach, wenn doch nur Frieden auf Erden wäre! – Ja, ist aber nicht!
- Manchmal, wenn es spät wird oder die Weißweinschorle besonders erfrischend perlt, kann man Zeug*in werden, wie Menschen von gestern beim Versuch der Beantwortung solch schweinehundsgemeiner Fragen in sich zusammenfallen und sich ihre Hilflosigkeit in einem Schwall rührender Ehrlichkeit in unsere schrecklich kompliziert gewordene Welt ergießt: "Wärmepumpen sind ja schön und gut, aber … äh … also früher war das mit Russland ja viel einfacher. Weil früher wussten wir: Russland ist Kommunismus. Da konnten wir natürlich einfacher dagegen sein, weil wir waren ja Kapitalismus. Aber Russland ist ja jetzt auch so eine Art Kapitalismus! Klar, Menschenrechte und Völkerrecht und die arme Ukraine und so, aber es hat doch jahrelang alles einigermaßen gut funktioniert. Außerdem habe ich bei der Europawahl doch extra DIE PARTEI gewählt …"
- Wenn sie uns solche seltenen Einblicke in ihr inneres Sackgassengeflecht gewähren, erkennen wir sie als das, was sie sind: Menschen von gestern, die gedankenstochernd an zerbrochenen Erklärmodellen kleben und vergeblich versuchen, sich und anderen aus ihren überkommenen Annahmen der Welt, aus vermeintlichen Gewissheiten und wenigen Gegenwartspuzzleteilen, die sie noch in ihren unbeholfenen Händen halten, ein vollständiges Bild des großen Ganzen zusammenzusetzen. Das kann natürlich nicht funktionieren und ist mordsgefährlich.
- Menschen von gestern – so lieb wir sie auch haben – sind die gegenwärtig größte Bedrohung für unsere Welt, unser friedliches Zusammenleben und unsere Zukunft. Menschen von gestern – raus!
- Selbstverständlich wissen wir in Westdeutschland seit 79 Jahren (in Ostdeutschland seit 35 Jahren), dass die systematische Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsteile keine gesellschaftlichen Probleme löst und dadurch ab-so-lut gar nichts besser wird. Alle Flüchtlinge abschieben? Linksextreme in Folterkeller sperren? Thüringer*innen mit Eiswasser übergießen? Die Scheißgrünen klatschen, bis der Meeresspiegel wieder sinkt? Klingt verlockend, bringt aber natürlich alles nix. Fünf Minuten Doomscrolling vorm Schlafengehen reichen aus für die traurige Einsicht, dass Menschen – obwohl es wirklich ab-so-lut nichts bringt – ohne Freund-Feind-Denken und Sündenbock nicht zu politischer Beweglichkeit und echtem Fortschritt fähig sind. So sind Menschen eben – unverbesserlich und ein bisschen doof. Lasst uns darum pragmatisch handeln.
- Angenommen also, es führte tatsächlich kein Weg daran vorbei, einer Bevölkerungsgruppe in unserem Land die Schuld für all unsere Probleme in die Schuhe zu schieben. Dann müssten wir uns auf neue, pragmatische, zukunftsfähige Ausgrenzungskategorien verständigen, die natürlich im Einklang mit Grundgesetz und Menschenwürde stehen sollten. Wir müssten wirksame Kategorien erfinden, die Menschen ausschließlich nach ihrem Denken und Handeln beschreiben und nicht – wie bislang – nach feststehenden und unveränderlichen Parametern wie Herkunft oder Hautfarbe. Denn selbst unverbesserliche und ein bisschen doofe Menschen sind in der Lage, ihr Denken und Handeln selbst zu steuern und durch zum Beispiel Einsicht, Selbsterkenntnis, Reue oder Altersmilde zum Besseren zu verändern. Meint: Den Auszugrenzenden muss ein Heraustranszendieren aus ihrer Ausgrenzungskategorie möglich sein.
- Alright, nachdem die Grundbedingungen klar sind, beginnt auch schon der amüsante Teil: Menschen ausgrenzen! Wie das geht, wissen ja alle: Menschen von gestern sind schuld! Nehmt ihnen ihre Pässe weg! Menschen von gestern raus! Menschen von gestern: buuuuuh!
- Menschen von gestern sind überall
- Menschen von gestern ist – schon mal sehr hilfreich und produktiv! – keine besonders genaue Kategorie. Weder lässt sie sich näher parteipolitisch umreißen, noch altersmäßig, sozial oder geschlechtlich, weder nach Hautfarbe noch nach Herkunft. Menschen von gestern können links, rechts, jung, alt, männlich, weiblich oder irgendwas dazwischen und außerhalb sein, progressiv, konservativ, liberal, straight curious oder stock-bi – und genau darin liegen Charme und Stärke dieser innovativen gedanklichen Hilfskonstruktion. Menschen von gestern stehen nur in Abgrenzung zu den Kategorien Menschen von heute und den Menschen von morgen, die hier aus Platzgründen nicht näher behandelt werden können.
- Am Treffendsten lassen sich Menschen von gestern so beschreiben: Menschen von gestern sind jene, die verlernt (oder nie gelernt) haben, so zu denken und zu reden, dass sich aus ihren Gedanken und Worten wirksames Handeln ergeben kann. Statt Lösungen produzieren sie Gelaber, Gebete, Beschwörungsformeln, Meinungskolumnen, Sommerinterviews, Zaubersprüche. Sie flüchten sich in Projektionen, Selbstentschuldigungen, Ablenkungsdebatten, müllen die Drukos voll und belasten die Umwelt mit ganz, ganz viel fehlgerichteter Wut. Menschen von gestern sind überall! Wenn man sie einmal sieht, kann man sie nicht mehr unsehen.
- Unsere schrecklich kompliziert gewordene Welt ist die Lieblingsselbstschutzbehauptung der Menschen von gestern. So ein Quatsch, in Wahrheit hat ihnen bloß das Internet den Kopf verdreht. Sie denken, wie sie klicken. Sie verquirlen Gefühle, Fakten und Meinung. Sie kennen Millionen Quellen, aber keine Quellenkritik. In der verwirrten Welt der Menschen von gestern steht der vorbestrafte rechtsextreme Alpha-YouTuber auf Augenhöhe mit dem Editorial Board der New York Times. Und wie er in sie hineinströmt, strömt der fette Contentbrei wieder aus ihnen heraus: "Ach, all diese Probleme! Diese furchtbaren Herausforderungen! Oje, und dann jetzt auch noch Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen. Hitler war ja eigentlich links, wegen dem 'Sozialismus' in 'Nationalsozialismus'. Ich sage nicht Schokokuss. Wir waren ja im Januar mit der ganzen Familie gegen die AfD demonstrieren, aber CSD in Bautzen – muss das wirklich sein? Und die Ampel macht mal wieder gar nix! Ich bin ja nur noch bei Telegram! Sahra Wagenknecht schau ich ja immer gerne bei Lanz. Oh, Mist, bei der 'Zauber des Orients'-7-Nächte-Reise der 'Mein Schiff' im Dezember gibt es keine Außenkabinen mehr! Na ja, dann vielleicht doch mit der AidaNova nach Oslo, mal sehen. Wo kommen eigentlich plötzlich die ganzen Talahons her?"
- Wer ernsthaft – gar wider besseres Wissen – sein Denken und Handeln an den diffusen Ängsten von Menschen von gestern und ihren vernebelten Wirklichkeitsannahmen ausrichtet, ist nicht ganz bei Trost.
- Wer seine Meinungsmacherei und sein publizistisches Geschäft noch auf Menschen von gestern stützt, ihnen nach dem Mund redet und schreibt – so zynisch beziehungsweise blöd sind in der Medienbranche ja immer noch einige –, mag sich vielleicht noch ein Weilchen relevant vorkommen, kann vielleicht ein paar publizistisch-politische low hanging fruits abgreifen, eine Handvoll Menschen von gestern im Fernsehrat ruhig stellen oder (noch) ein wenig Kohle verdienen, aber lange wird das nicht mehr gut gehen. Menschen von gestern sind ein Auslaufmodell und Medien von gestern werden mit ihnen untergehen. Stell dir vor, Frank Gotthardt bezahlt dir 'nen Kulturkampf, aber keiner kämpft mehr mit! Hihihi! Und auch die Axel Springer SE steht ja am Ende bei den Menschen von morgen, auf der richtigen Seite der Geschichte: in der Rudi-Dutschke-Straße.
- Das Momentum ist da, die Gelegenheit günstig, the time is now, hier nimmt gerade eine bahnbrechende Idee Gestalt an! Nicht mehr links gegen rechts, Deutsche gegen Ausländer, Ost gegen West, Mann gegen Frau, Cum-Ex-Verbrecher gegen Bürgergeldschmarotzer, Wüst gegen Merz, jung gegen alt, oben gegen unten – nein! Alle gegen Menschen von gestern! Mit ihrer Ausgrenzung ließe sich endlich jene langersehnte breite Koalition schmieden, die Deutschland braucht, um wirklich raus der Scheiße zu kommen. Durch ihre erfolgreiche Bekämpfung können wir zusammen neuen Raum schaffen, um den Herausforderungen der Gegenwart wirksam zu begegnen. Schütten wir die unzähligen alten Gräben zu und heben gemeinsam einen einzigen, neuen aus: wir hier und da drüben die Menschen von gestern!
- Unsere Welt ist nicht schrecklich kompliziert geworden, sie war es immer schon. Alles war und ist immer bedrohlich, neu, unbekannt, riskant, Furcht einflößend und hoffnungsvoll zugleich. Darüber haben Menschen von gestern leider ihre Übersicht und die einzige wahre, ewig gültige Gewissheit verloren: Einander ist alles, was wir haben. Wenn jetzt jene, die sich diese Überzeugung bewahrt haben – wir Menschen von heute und Menschen von morgen joyful zusammenarbeiten, könnte es klappen: Menschen von heute verschaffen Menschen von morgen eine Stimme, bringen sie auf die relevanten Bühnen, heben sie auf die höchsten Sockel, lassen sie vor die Mikrofone und Kameras und übereignen ihnen die Leitartikel. Und Menschen von morgen revanchieren sich, indem sie klügere, inklusivere Erzählungen für unsere Gegenwart und Zukunft finden. Neue, bessere Erzählungen, die Gemeinschaft beschreiben und Hoffnung auf eine freundliche Zukunft einschließen.
- Gemeinsam gegen Menschen von gestern! So könnte es klappen! Entmachten wir sie (natürlich in freundschaftlicher Verbundenheit zu ihnen und zutiefst dankbar für alles, was sie geleistet haben)! Nicht mit Gewalt, nein, wir müssen grausamer sein: Wir müssen sie so oft und wo immer es geht an die Grenzen ihrer intellektuellen, politischen und moralischen Kapazität bringen, bis sie uns entweder eines Tages auf unserer Seite des Grabens als Besiegte die Hand zur Versöhnung reichen oder sich selbst zerreißen wie Rumpelstilzchen! Schrecken wir nicht davor zurück, gemeinsam und mit aller Kraft Menschen von gestern immer und immer wieder jene eiskalten Selbstverständlichkeiten entgegenzuschmettern, vor denen sie sich am allermeisten fürchten! Am besten, wenn sie am wenigsten damit rechnen:
- • Der Verbrennungsmotor ist am Ende, Elektromobilität ist die Zukunft, China baut viel bessere E-Autos als Deutschland und daran wird sich in den nächsten zehn Jahren nichts ändern.
- • Inklusive Sprache ist eine prima Idee.
- • Das Bündnis Sahra Wagenknecht ist in erster Linie nicht eine linkspopulistische, demokratische oder gar linke Bewegung, sondern eine autokratische.
- • Öffentliches Parken von Kfz ist viel zu billig, Bußgelder für Verkehrsverstöße sind viel zu niedrig.
- • 120 km/h auf der Autobahn ist schnell genug.
- • Google vergesellschaften, Meta regulieren, X zur Verantwortung ziehen!
- • Wer aus dem Gefühl der Abgehängtheit freiwillig Menschen von gestern wählt, darf sich nicht wundern, wenn das Gefühl der Abgehängtheit danach noch stärker wird. Es wird ganz, ganz finster werden für Sachsen, Thüringen und Brandenburg.
- • Kraftwärmemaschinen statt Wärmekraftmaschinen! Wärmepumpen sind spitze! Ihnen gehört die Zukunft!
- • Es gibt mehr als zwei Geschlechter, unendlich viel mehr Geschlechtsidentitäten, und allen Menschen stehen, unabhängig von Geschlechtsidentität oder sexueller Orientierung (die etwas vollkommen anderes ist!), dieselben Rechte zu.
- • Es heißt Schokokuss.
- • Wer Alice Schwarzer hinterherläuft, hat keinen besonders anstrengenden und langen Weg mehr vor sich.
- • Russland muss besiegt werden.
- • Wir brauchen eine Vermögenssteuer und eine signifikante Erhöhung der Erbschaftssteuer.
- • Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen. Und private Seenotrettung auch nicht.
- • Einander ist alles, was wir haben.
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