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bradbury

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Oct 11th, 2011
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  1. Ray Bradbury
  2.  
  3. Geh' nicht zu Fuß durch stille Straßen
  4.  
  5.  
  6.  
  7. An einem nebligen Novemberabend um acht Uhr in die Stille der Stadt hinauszugehen, den Fuß auf den buckligen Beton zu setzen, über grasbewachsene Risse hinwegzutreten und, die Hände in den Taschen, dahinzuwandern durch all das Schweigen, das Mr. Leonard Meads Lieblingsbeschäftigung. Dann stand er an der Ecke einer Straßenkreuzung und spähte die langen mondbeschienen Alleen in vier Richtungen hinunter; er war allein auf dieser Welt des Jahres 2052 oder so gut wie allein, und wenn er sich dann endgültig für einen Pfad entschieden hatte, schritt er weiter und schickte in der frostigen Luft Atemwolken vor sich her wie Zigarrenrauch.
  8.  
  9. Manchmal ging er stundenlang und meilenweit und kehrte erst um Mitternacht nach Hause zurück. Auf seinem Weg sah er die Hütten und Wohnungen mit ihren dunklen Fenstern, und es war beinahe, als ginge er über einen Friedhof und als flackerte hinter den Fenstern der schwache Schimmer von Leuchtkäfern. Graue Gespenster scheinen sich plötzlich auf den Innenwänden der Räume zu zeigen, wo ein Vorhang noch nicht vor der Nacht verschlossen war, oder man hörte Flüstern und Gemurmel, wo ein Fenster in einem der grabähnlichen Gebäude noch offen stand.
  10.  
  11. Dann blieb Mr. Leonard Mead stehen, reckte den Kopf, lauschte, schaute und ging weiter, und seine Füße schritten geräuschlos über den holprigen Weg. Denn er war schon seit langer Zeit klugerweise zu den Schleichern übergewechselt, wenn er durch die Nacht schlenderte, weil die Hunde in immer neuen Gruppen seinen Weg mit ihrem Gebell begleiteten, sobald er harte Sohlen trug, und es konnten Lichter angeknipst werden und Gesichter erscheinen, und die ganze Straße konnte durch eine vorbeigehende Gestalt aufgeschreckt werden – durch ihn selbst am frühen Novemberabend.
  12.  
  13. An diesem besonderen Abend nun begann er seine Wanderung in westlicher Richtung, zum fernen Meer hin. In der Luft lag ein kräftiger kristallener Frost; er schnitt in die Nase und ließ die Lungen auflodern wie einen Weihnachtsbaum im Innern; man spürte richtig, wie das kalte Licht aufglänzte und erlosch, alle Zweige mit unsichtbarem Schnee erfüllt. Er lauschte befriedigt dem leisen Tritt seiner weichen Schuhe im Herbstlaub und pfiff zwischen den Zähnen einen kalten unhörbaren Pfiff, hob dann und wann so nebenbei ein Blatt auf, untersuchte das Nervenmuster im spärlichen Lampenlicht und roch im Weitergehen den rostigen Geruch.
  14.  
  15. „Hallo, ihr da drinnen“, flüsterte er jedem Haus zu beiden Seiten zu, während er vorbeischritt. „Was gibt’s heute Abend auf Kanal vier, Kanal sieben, Kanal neun? Wo jagen die Cowboys heran, und seh ich dort auf dem nächsten Hügel nicht die Kavallerie der Vereinigten Staaten zu Hilfe kommen?“
  16.  
  17. Die Straße war ruhig, lang und leer, und nur sein Schatten bewegte sich wie der Schatten eines Habichts draußen auf dem Land. Wenn er die Augen schloß und ganz still stand, wie erstarrt, konnte er sich vorstellen, er stehe mitten in der flachen, winterlichen, windlosen Wüste Arizonas – kein Haus im Umkreis von tausend Meilen und nur ausgetrocknete Flußbecken rund umher – die Straßen.
  18.  
  19. „Wie spät ist es jetzt?“ fragte er die Häuser und blickte auf seine Armbanduhr. „Acht Uhr dreißig! Zeit für ein Dutzend erlesener Morde? Ein Quiz? Eine Revue? Einen Schauspieler, der von der Bühne fällt?“
  20.  
  21. Kam da nicht leises Gelächter aus einem mondweißen Haus? Er zögerte, ging aber weiter, als er nichts mehr vernahm. Er stolperte über eine ganz besonders unebene Stelle des Gehsteigs. Der Zement verschwand unter Blumen und Gras. Innerhalb von zehn Jahren seiner Spaziergänge bei Nacht oder bei Tag auf Tausenden von Meilen war er niemals einem anderen Spaziergänger begegnet, nicht einem in der ganzen Zeit.
  22.  
  23. Er kam an eine stille, kleeblattförmige Kreuzung, an der zwei Hauptverbindungsstraßen durch die Stadt führten. Tagsüber brauste hier der Strom der Autos, die Tankstellen waren geöffnet, es herrschte Insektensummen, ein unaufhörliches Jonglieren um einen kleinen Vorteil im Gewimmel, wie Mistkäfer, ein dünner Weihrauchfaden drang aus den Auspuffen, alles an ferne Ziele heimwärts getrieben. Aber jetzt waren diese Landstraßen wie Bäche in der Trockenzeit, Stein und Bett und Mondglanz. Er schlug eine Seitenstraße ein, um im Bogen nach Hause zurückzukehren. Als er nur noch einen Block von seinem Ziel entfernt war, kam der einsame Wagen plötzlich um eine Ecke und richtete seinen grellen weißen Lichtkegel auf ihn. Er stand wie im Traum, fast wie eine Nachtmotte, betäubt durch den Lichtschein und dann von ihm angezogen. Eine metallische Stimme rief ihn an: „Bleiben Sie stehen! Bleiben Sie, wo Sie sind! Rühren sie sich nicht!“
  24.  
  25. Er hielt inne.
  26. „Hände hoch!“
  27. „Aber…“, sagte er.
  28. „Hände hoch! Oder wir schießen!“
  29. Die Polizei natürlich, aber was für ein seltenes, unglaubliches Ereignis: Die Dreimillionenstadt hatte doch nur noch ein Polizeiauto, nicht wahr? Vor einem Jahr, im Wahljahr 2051, hatte man die Polizeistreitkräfte von drei Wagen auf einen herabgesetzt; die Verbrechen nahmen ab, man brauchte die Polizei jetzt nicht mehr, bis auf diesen einzigen einsamen Wagen, der unentwegt durch die verlassenen Straßen fuhr.
  30. „Ihr Name?“ fragte der Polizeiwagen in metallischem Flüsterton. Den Mann drinnen konnte er wegen des hellen Lichts in seinen Augen nicht sehen.
  31. „Leonard Mead“, sagte er.
  32. „Lauter!“
  33. „Leonard Mead!“
  34. „Geschäftszweig oder Beruf?“
  35. „Sie könnten mich wohl einen Schriftsteller nennen.“
  36. „Also keinen Beruf“, sagte der Polizeiwagen, als spräche er mit sich selbst. Das Licht hielt ihn fest wie ein Museumsstück mit durch die Brust gespießter Nadel.
  37. „So könnten Sie auch sagen“, antwortete Mr. Mead. Er hatte seit Jahren nichts geschrieben. Zeitschriften und Bücher verkauften sich nicht mehr. Jetzt geschieht alles nachts in den gruftähnlichen Häusern, dachte er und spann seine Gedanken fort. In den vom Licht der Fernsehapparate schwach beleuchteten Grüften, in denen die Leute wie Tote saßen; graues oder buntes Licht berührte ihre Gesichter, ohne sie jedoch wirklich zu berühren.
  38. „Kein Beruf“, sagte die Phonographenstimme zischend. „Was tun sie hier draußen?“
  39. „Ich gehe spazieren“, antwortete Leonard Mead.
  40. „Spazieren?“
  41. „Ich gehe nur spazieren“, sagte er schlicht, aber er fühlte, wie sein Gesicht kalt wurde.
  42. „Spazieren. Nur spazieren. Spazieren?“
  43. „Ja.“
  44. „Wohin gehen Sie? Wozu?“
  45. „Ich gehe nur an die Luft. Ich gehe, um etwas zu sehen.“
  46. „Ihre Adresse!“
  47. „South Saint James Street Nummer elf.“
  48. „Sie haben doch Luft in Ihrem Haus, und Sie haben eine Klimaanlage, Mr. Mead?“
  49. „Ja.“
  50. „Und Sie haben in Ihrem Haus einen Bildschirm zum Sehen?“
  51. „Nein.“
  52. „Nein?“ Eine knisternde Stille trat ein, die in sich schon eine Anklage war.
  53. „Sind Sie verheiratet, Mr. Mead?“
  54. „Nein.“
  55. „Nicht verheiratet“, sagte die Polizistenstimme hinter dem grellen Strahl. Der Mond stand hoch und klar zwischen den Sternen, und die Häuser waren grau und still.
  56. „Mich wollte niemand“, sagte Leonard Mead lächelnd.
  57. „Reden Sie nur, wenn Sie gefragt werden!“
  58. Leonard Mead wartete in der kalten Nacht.
  59. „Sie gehen also nur spazieren, Mr. Mead?“
  60. „Ja.“
  61. „Aber sie haben noch nicht erklärt, warum.“
  62. „Doch. Wegen der Luft, und einfach, um spazieren zu gehen.“
  63. „Haben Sie das schon öfter getan?“
  64. „Seit Jahren jeden Abend.“
  65. Der Polizeiwagen stand mitten auf der Straße, und seine Radiokehle brummte schwach.
  66. „So, Mr. Mead”, sagte er.
  67. „Ist das alles?“ fragte dieser höflich.
  68. „Ja“, sagte die Stimme. „Hier schon.“ Man hörte ein Zischen, einen Knall. Die Hintertür des Polizeiwagens sprang weit auf.
  69. „Steigen Sie ein!“
  70. „Ich protestiere!“
  71. „Mr. Mead.“
  72. Er ging wie ein Mann, der plötzlich betrunken ist. Als er am Vorderfenster des Wagens vorbeikam, blickte er hinein. Wie er erwartet hatte, saß niemand im Vordersitz, es war überhaupt niemand im Wagen.
  73. „Steigen Sie ein.“
  74. Er legte die Hand an die Tür und spähte auf den Rücksitz – eine kleine Zelle, ein kleines schwarzes Gefängnis mit Gitterstäben. Es roch nach vernietetem Stahl. Es roch nach scharfen Antiseptika; es roch zu sauber und hart und metallisch. Es war nichts Weiches darin.
  75. „Wenn Sie eine Frau hätten, die Ihnen ein Alibi geben könnte“, sagte die eiserne Stimme. „Aber…“
  76. „Wohin bringen Sie mich?“
  77. Der Wagen zögerte, oder vielmehr man hörte ein leises Surren und Knacken, als fiele die Information irgendwo, eine Lochkarte nach der anderen, vor Elektronen-Augen herab. „Zum Psychiatrischen Forschungszentrum für regressive Tendenzen.“
  78. Er stieg ein. Die Tür schloß sich mit einem dumpfen Schlag. Der Polizeiwagen rollte durch die nächtlichen Straßen und sandte seine trüben Lichter voraus.
  79.  
  80. Einen Augenblick später kamen sie an einem Haus in einer Straße vorbei, an einem Haus in einer ganzen Stadt von dunklen Häusern, aber in diesem Haus brannten alle elektrischen Lichter; jedes Fenster war ein heller gelber Schein, viereckig und warm in der kühlen Dunkelheit.
  81.  
  82. „Das ist mein Haus“, sagte Leonard Mead. Niemand antwortete. Der Wagen fuhr durch das leere Flußbett der Straßen fort und verließ die leeren Straßen mit den Gehsteigen, und von da an war kein Laut, und nichts regte sich in der kühlen Novembernacht.
  83.  
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