Advertisement
Guest User

Unter Strom

a guest
Feb 17th, 2020
142
0
Never
Not a member of Pastebin yet? Sign Up, it unlocks many cool features!
text 9.04 KB | None | 0 0
  1. HafenCity: Unter Strom
  2. Die HafenCity ist eine der besten Lagen Hamburgs. Hier fahren aber auch besonders viele Züge entlang. Das führt zu ungeahnten Problemen.
  3. Von Marc Widmann
  4. 16. Februar 2020, 22:07 Uhr 3 Kommentare
  5. Exklusiv für Abonnenten
  6. Vorne der Lohsepark, hinten die Bahntrasse zum Hauptbahnhof. Dazwischen sollen gebaut werden: der neue Sitz von Gruner+Jahr, ein Gebäude mit 200 Wohnungen und ein Schulcampus für 1.400 Schüler © Bodo Marks/​dpa
  7. Unter Strom – Seite 1
  8.  
  9. Das eindrucksvolle Wohnhaus war längst geplant: 120 geförderte Wohnungen sollten entstehen, dazu 80 frei finanzierte – in bester Lage, direkt neben dem künftigen Verlagssitz von Gruner+Jahr in der Hamburger HafenCity. Der Investor wollte zügig mit dem Bau beginnen, alles schien geklärt. Doch dann geriet das Projekt plötzlich ins Stocken.
  10.  
  11. "Wir haben von der Stadt im Oktober die Information bekommen, dass es ein Vorsorgeabstandsproblem gibt" sagt Jens Nietner, der Geschäftsführer des Immobilienentwicklers HIH. "Das Thema Magnetfelder hat uns alle überrascht."
  12.  
  13. Das Baufeld liegt zwischen dem nagelneuen Lohsepark – und einer stark befahrenen Bahntrasse. Mehr als 400 Züge fahren dort jeden Tag nach Norden zum Hamburger Hauptbahnhof oder nach Süden zu den Elbbrücken. Diese Züge brauchen Strom und das ist ein Problem: Denn wo viel Strom fließt, entstehen Magnetfelder. Und diese Felder stehen laut wissenschaftlichen Studien im Verdacht, für junge Menschen gesundheitlich bedenklich zu sein. Die WHO hat sie als "möglicherweise krebserregend" eingestuft.
  14.  
  15. Der Stadt Hamburg ist das erst sehr spät aufgefallen, nach dem Hinweis einer Bürgerinitiative. Seither gibt es Unruhe in den Behörden, bei den Anwohnern, bei den Investoren.
  16. "Wir wollen jedes Risiko vermeiden"
  17.  
  18. An der Bahntrasse sollen nicht nur die neue Gruner+Jahr-Zentrale und das Wohnhaus des Entwicklers HIH entstehen – auch ein neuer Schulcampus für bis zu 1.400 Kinder ist hier geplant, mitsamt einer Kita. Nun zweifelt nicht nur eine Bürgerinitiative an, dass der Standort dafür geeignet sei.
  19.  
  20. Leider ist das Thema Magnetfelder wissenschaftlich nur oberflächlich erforscht. Vieles ist unklar. Zum Beispiel, wie die Magnetfelder zu Krebs führen, falls sie es überhaupt tun. Aber in Studien wurde nun mal ein zweifacher Anstieg von Leukämie bei Kindern festgestellt, wenn diese dauerhaft einem niederfrequenten Magnetfeld von mehr als 0,3 bis 0,4 Mikrotesla ausgesetzt waren. Es geht statistisch betrachtet nur um eine Handvoll zusätzlicher Krankheitsfälle pro Jahr in ganz Deutschland. Doch selbst einen solch geringen Verdacht kann man als Hamburger Behörde schwer ignorieren. Vor allem, wenn es um Kinder geht.
  21.  
  22. "Wir wollen jedes Risiko vermeiden", sagt Matthias Kock, Staatsrat in der Behörde für Stadtentwicklung. Also gibt es seit dem vergangenen Jahr erhöhte Betriebsamkeit. Neben Kocks Behörde diskutieren auch die Gesundheits- und die Umweltbehörde mit: Wie umgehen mit den Magnetfeldern? Welcher Sicherheitsabstand zur Bahntrasse ist nötig?
  23.  
  24. Zwei Gutachten bei einer Münchner Fachfirma wurden in Auftrag gegeben. Die Fachleute erhielten von der Bahn die Stromdaten der Schienentrasse von einem normalen Donnerstag im Juni 2019. Daraus errechneten sie ein Computermodell des Magnetfelds. Ergebnis: "In einem Streifen von etwa 60 Metern entlang der Gleisanlagen" werde der von der Umweltbehörde empfohlene Vorsorgewert von 0,1 Mikrotesla im Tagesdurchschnitt überschritten.
  25.  
  26. 60 Meter Sicherheitsabstand zu den Gleisen? Das hätte bedeutet, dass weder die Schule noch zahlreiche längst geplante Wohnungen in der östlichen HafenCity gebaut werden können. Es wäre eine mittlere städtebauliche Katastrophe gewesen. Die für Ende September geplante Sitzung der Kommission für Stadtentwicklung wurde abgesagt. Auf ihr hätten die Politiker eigentlich über den Bebauungsplanentwurf des Areals abstimmen sollen. Auch der Ersatztermin im Oktober wurde bald darauf gestrichen – diesmal, ohne einen neuen Ersatztermin zu nennen.
  27. Leicht erhöhte Leukämiegefahr bei Kindern
  28.  
  29. Die drei beteiligten Behörden für Stadtentwicklung, Gesundheit und Umwelt wechselten in den Krisenmodus und stiegen nun tiefer ins Thema ein. Sie schauten sich die wissenschaftlichen Studien an und stellten fest, dass die leicht erhöhte Leukämiegefahr bei Kindern erst ab einer Stärke des Magnetfelds von 0,3 Mikrotesla beobachtet wurde. "So sind wir auf einen Vorsorgewert von 0,3 Mikrotesla gekommen", sagt Staatsrat Kock, "damit sind wir zusammen mit Bremen ganz vorne." Der gesetzliche Grenzwert liege tausendfach höher.
  30.  
  31. Die Behörden kalkulierten neu: 0,1 Mikrotesla gebe es überall in Städten als sogenannte Hintergrundbelastung - die zusätzliche Belastung durch die Bahnoberleitungen dürfe also höchstens 0,2 Mikrotesla betragen. Diese neue Annahme ergab: ein Vorsorgeabstand von 45 Metern war nötig. Näher an den Gleisen sollen in der HafenCity künftig "keine Nutzungen mit längerfristigem Aufenthalt von Kindern" mehr genehmigt werden, heißt es in Dokumenten der Stadt. Zum Beispiel Schulen, Kitas und Wohnungen.
  32. Was, wenn der Zugverkehr noch zunimmt?
  33.  
  34. Für den Immobilienmanager Jens Nietner bedeutet das, dass er die 200 Wohnungen zwischen Lohsepark und der Bahntrasse nicht bauen kann. Der Abstand zu den Gleisen war zu gering. "Jetzt wird es dort stattdessen Büros geben", sagt er. "Wir planen gerade um, das Gebäude wird in seiner Grundstruktur bleiben, allerdings mit geänderten Zugängen und Außenmaßen." Er hofft, dass die Stadt ihm einen Teil der jetzt zusätzlich entstehenden Planungskosten erstattet, die Gespräche darüber laufen noch. In diesem Jahr will Nietner noch anfangen zu bauen – auch die Firmenzentrale von Gruner+Jahr, die gleich nebenan im Norden entsteht, ebenfalls direkt an der Bahnstrecke.
  35.  
  36. Bei Gruner+Jahr haben Mitarbeiter eine "AG Bahntrasse" gegründet und selbst zu recherchieren begonnen. "Einige Mitarbeiter, darunter Wissenschaftsredakteure von Stern und Geo, haben sich ein detailliertes Bild von magnetischen Feldern an Bahntrassen gemacht und ihre Erkenntnisse mit allen Kollegen geteilt", sagt eine Sprecherin. Der Verlag ließ im Januar sogar 24 Stunden lang Messgeräte aufstellen, um die tatsächliche Stärke der Magnetfelder zu dokumentieren. Er geht davon aus, dass es für seine Mitarbeiter keine Gefahr gibt. Auch deshalb, weil in dem Verlagshaus schließlich nur Erwachsene arbeiten werden und keine Kinder.
  37. Die Stadt plant eine Vorzeigeschule
  38.  
  39. Doch auch der künftige Schulcampus Lohsepark soll nah an den Gleisen liegen. Hamburg plant hier eine gewaltige Vorzeigeschule: Bis zu 1.400 Schüler in je acht Parallelklassen, eine Stadtteilschule und ein Gymnasium unter einem Dach, dazu noch eine Kita. Aus der noblen HafenCity sollen die Schüler hierher genauso strömen wie aus dem sozial weniger begüterten Rothenburgsort. In beiden Stadtteilen fehlt schon lange eine weiterführende Schule, die Zeit drängt.
  40.  
  41. Die Initiative Schulcampus Lohsepark von Anwohnern hegt jedoch große Zweifel daran, dass der Standort geeignet ist. Das Schulgebäude soll teilweise nur 43,5 Meter von der Bahntrasse entfernt gebaut werden, also unterhalb des Vorsorgeabstands von 45 Metern. Zwar versichert die Stadt, dass in diesem Teil des Gebäudes keine Klassenzimmer geplant werden sollen. Aber was, wenn der Zugverkehr in den nächsten Jahren noch deutlich zunimmt, wie es Bahn und Politik planen?
  42.  
  43. Ebenso kritisch sehen die Anwohner den Lärm durch die Züge, die direkt neben dem geplanten Schulcampus laut quietschend in eine Kurve fahren. Der Schutzwert der Weltgesundheitsorganisation für Lärm auf Schulhöfen könne hier nicht eingehalten werden, heißt es in den Dokumenten der Stadt. Selbst der heraufgesetzter Wert werde nur "annähernd erreicht". Die Argumentation der Stadt: Da die Züge ja nicht ständig fahren, sei "in den Pausen zwischen einzelnen Zugdurchfahrten ein gutes Kommunikationsniveau zwischen Schülern beziehungsweise Lehrkräften sichergestellt".
  44.  
  45. Das überzeugt bislang weder die Anwohner, noch die Opposition. Mehrere Politiker von CDU bis Linkspartei haben angekündigt, an diesem Montagabend gegen den Bebauungsplanentwurf stimmen zu wollen, wenn sich die Kommission für Stadtentwicklung nach den zwei geplatzten Terminen erstmals wieder trifft. Gut möglich also, dass sich die Großprojekte in der HafenCity weiter verzögern werden. Die Kommissionsmitglieder können beschließen, das Thema an die Bürgerschaft zu überweisen. Die allerdings wird am 23. Februar neu gewählt und könnte sich erst weit danach mit der HafenCity beschäftigen.
  46.  
  47. Die neuen Erkenntnisse in Hamburgs Vorzeige-Stadtteil werden auch Auswirkungen auf andere Projekte haben. Auch im Holstenquartier und im zweiten Bauabschnitt der Neuen Mitte Altona sollen Wohnungen ziemlich nah an Bahngleisen gebaut werden. Bislang wurden die Magnetfelder in den Planungen nicht berücksichtigt.
  48.  
  49. Experten erwarten, dass die Stadt nun auch dort Vorsorgeabstände errechnen lassen dürfte, angepasst an den jeweiligen Zugverkehr. Schon deshalb, weil sich kein Politiker vorwerfen lassen will, es mit der Gesundheit von Kindern nicht so genau zu nehmen.
Advertisement
Add Comment
Please, Sign In to add comment
Advertisement