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Sep 26th, 2018
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  1. Im toten Winkel
  2.  
  3. Das Dorf schwieg. Das tat es seit jeher. Das Dorf wusste, wann es so weit war. Das Dorf kannte die beiden Tage im Jahr, an denen es die schweren Eichentüren zu versperren hatte. Türen, für die man den Schlüssel zuweilen verlegte, denn niemand sperrte in diesem Dorf seine Türen ab. Doch an diesen Tagen wurden die Schlüssel zweimal im Schloss umgedreht, es wurden schwere Truhen vor Türen geschoben, und in so manchem Haus verstärkten gar Bretter die Barrikade. An diesen Tagen brüllte das Vieh im Stall frühmorgens vor Hunger. Nichts regte sich in den Häusern. Nur die Bauern mahlten mit den Zähnen und ballten die Fäuste. An diesen Tagen flatterten Hühner über den Zaun. Niemand fing sie ein. An diesen Tagen wollte die Sonne durch die geschlossenen Fensterläden dringen. Keiner ließ sie in die Stuben.
  4.  
  5. Die Kinder im Dorf wussten nicht, wann die beiden Tage kamen und waren mit dem Schweigen nicht vertraut. Sie fanden Wege, das Schweigen zu sabotieren, wenn die Bauern auch noch so sorgfältig Riegel vorschoben, Fenster vernagelten und Türen verbarrikadierten. Man hätte die Kinder anketten müssen wie Vieh, um sie zurückzuhalten. Sie knieten in zu dünnen, zu oft geflickten Nachthemden auf den Fensterbrettern, spähten durch die Ritzen und zogen ihre Mütter am Schürzenzipfel, insistierten, noch mit Schlafkörnern in den Augen, da führe eine lange, schwarze Kutsche vorbei, riesig, pechschwarz, und sie jage den Berg hinunter, grade dort sei sie um die Häuserwand gebogen, grade wo der letzte der sieben Bergbauernhöfe stand, „Mutter, solche Rösser hast du noch nie gesehen, Mutter, vier Rappen, finster und so, so wild, schau hin!“ Wenn sie dies kreischten, dann schauten die Mütter nicht hin. Dann packten die Mütter ihre Kinder, setzten sie auf die nächstbeste Bank, zeichneten eine apotropäische Geste an ihre Stirnen, rüttelten an der fest verschlossenen Tür und erklärten die Aufregung ihrer Brut im selben Atemzug für dummes, schlafwandlerisches Geschwätz. Schweigende Väter saßen auf Ofenbänken, lauschten dem Austausch finster, kratzten sich Läuse aus dem Bart und schnitzten an Holzfiguren, ohne diese oder irgendjemanden anzusehen.
  6.  
  7. Die Kinder beharrten darauf, sie hätten eine Kutsche gesehen, eine Kutsche, nichts weniger, aber wurden anstatt eine Erklärung zu erhalten nur in Arbeitskittel gesteckt, zum Kartoffelschälen geschickt oder in die Ecke, zum Spinnen. Die Kinder begehrten Antworten. Es gab keine. Man hieß sie, nicht zu schwätzen, man drohte ihnen mit der Rute, man keifte und man wies sie grob an, sich nützlich zu machen, schubste oder schlug sie. Die Kinder gaben keine Ruhe. Man log, man nahm den Namen der Götter dafür in den Mund und ließ sich zu Ammenmärchen hinreißen, behauptete, diese zwei Tage seien Eluive gewidmet und alle Arbeit draußen müsse deswegen ruhen. Manche der Kinder vergaßen bis zum Abend, was dem Morgennebel im schummrigen Licht entsprungen war und glaubten schließlich selbst, sich den schwarzen Schemen eingebildet zu haben. Die Kleinen glaubten ihren Müttern. Die Großen resignierten.
  8.  
  9. Aber einmal, einmal war doch eines dabei, in dem das mütterliche Gezeterkorn nicht mehr aufkeimte, sei es, weil es zu alt war, um an Märchen zu glauben, sei es, weil es Rügen und Drohungen nicht ernst nahm und Schläge aushielt, wie man Schnupfen aushält. Es war ein naseweises, sonderbares Kind von 12 Jahren, das keine Geheimnisse ertrug, das sich aus dem Haus gestohlen hatte, die Kutsche abpasste, am Dorfrand wartete, während man sich in der trügerischen Annahme wog, es melke die Geißen im gleichsam verriegelten Stall.
  10. Es hockte während der hereinstürzenden Herbstnacht, die in den Bergen unangekündigt über die Wipfel wellte, hinter einer Tanne und gierte darauf, einen zweiten Blick auf das finstere, ungezügelte Ungetüm zu werfen, die glänzende Equipage, die Silberverzierungen an den Türen. Wäre das Glück ihm hold gewesen, hätte der Kutscher die Pferde nicht gezügelt, das Kind nicht bemerkt. Er hätte die Peitsche knallen und die kräftigen Tiere laufen lassen. Die riesigen Rösser wären ungebremst den Berg hinaufgaloppiert, mit schäumenden Mäulern und rollenden Augen. Das Glück war ihm nicht gewogen. Sein heller Kittel blitzte durch die Zweige, Hufe gruben sich in die harte Erde, den Pferden wurde Einhalt geboten und der Kutscher nahm seinen Dreispitz ab, strich mit seiner Pranke das fettige Haar aus der Stirne und bleckte die tabakfleckigen Zähne. Der Kutscher war bleich unter einem schlecht rasierten Bart. Stumpfe, kleine Augen, rund wie Murmeln, fixierten das Kind in seinem geerbten Flickenkittel. Die Stimme, heiser und ratschend, rostige Nägel auf einer Küchenreibe:
  11.  
  12. „Wer bist?“
  13.  
  14. Das Kind starrte. Der Vorhang am schwarz eingefassten Kutschenfenster hatte sich bewegt. Die schwarze Spitze zitterte nach. Das Kind hätte ins Unterholz tauchen können. Stattdessen stand es auf und gab zurück:
  15.  
  16. „Kovacs.“
  17.  
  18. „Was willst?“
  19.  
  20. „Wissen, wer da drin ist.“
  21.  
  22. „So schau nach.“
  23.  
  24. Der Kutscher setzte seinen Hut wieder auf. Es war kalt geworden. Dampf stieg von den erhitzten Pferdeleibern auf. Das Kind wollte zittern und verbat es sich. Es schüttelte heftig den dunklen Kopf.
  25.  
  26. „Angst?“
  27.  
  28. Ein keckerndes Lachen, ganz wie ein Geißbock, als er zum Fenster wies. Der Vorhang blieb still und ungerührt. Das Kind schwieg ihn an. Der Mann auf dem Kutschbock schmatzte, erhob sich und streckte die Hand aus.
  29.  
  30. „Komm.“
  31.  
  32. „Wohin?“
  33.  
  34. Der Mann griff nach dem Kind und hob es mühelos zu sich. Er setzte ihm den Dreispitz auf.
  35.  
  36. „Fort.“
  37.  
  38. Das Dorf hielt eine Mutter davon ab, in die Nacht hinauszulaufen. Das Dorf zahlte seinen Tribut. Das Dorf schwieg.
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