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Offener Brief an die Piratenpartei

a guest
Apr 17th, 2012
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  1. Liebe Piraten,
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  3. In letzter Zeit gibt es viele Diskussionen um Äußerungen einzelner eurer Mitglieder. Die Massenmedien stürzen sich darauf, und benutzen es für allerlei ideologische Projektionen wie’s eben so Brauch ist auf deren Narrenschiff.
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  5. Und hier steht ihr nun also an der Grenze zur Selbstzensur.
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  7. Plötzlich müssen wir sehen, das „Rede- und Meinungsfreiheit“ in unserer Gesellschaft in unterschiedlichen Konzentrationen vorkommt. Was man im Internet frei sagen kann, das ist in den Print-und TV-Medienwelten skandalös. Mitglieder, die eine andere Meinung vertreten, werden so zu Problemmitgliedern. Und jetzt lest das bitte nicht und denkt: Aha, ein Rechter. Schwachsinn. Ich bin Diskordianer mit Leidenschaft.
  8.  
  9. Im Endeffekt beginnt also hier die ganze unmoralische, unaufrichtige und heuchlerische Scheiße, die im Umgang mit Massenmedien unvermeidlich ist, ich sag es einfach mal so klar. Die Piraten sind eine Bewegung, die ihren Ursprung im Netz hat und die nun durch den politischen Erfolg in einen Spagat gezwungen ist zwischen den Interwebz und den Massenmedien des 20. Jahrhunderts, die ihr den jüngsten Erfolg letztlich verschafften.
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  11. Und plötzlich werdet ihr, Kinder des Internets, konfrontiert mit einer Flut neuer Mitglieder die in diesem Medium womöglich gar nicht so verhaftet sind. Plötzlich haben wir Newfags und Oldfags, es beginnen Reibereien , manche werden womöglich aus Gründen der Pateiräson nicht offen ausgetragen.
  12. Dabei müsst ihr euch eurer historischen Relevanz bewusst werden als erste Partei des 21. Jahrhunderts, des Informationszeitalters, als erste Partei, die ihren Blick in die Zukunft richtet hin zu den unendlichen Möglichkeiten der Demokratisierung, die durch die weltweite Vernetzung möglich werden. Die Piratenparteien sind eine internationale Internet-Bewegung, die eigentlich nur Teil ist einer großen, kulturellen Flut, dem Shitstorm unseres Jahrhunderts, der sich aus dem Internet in die Offline-Welt ergießt.
  13.  
  14. Und was rückt da nicht alles ins Spotlight des Möglichen. Ein Europa, demokratisch von der Basis her vereint und nicht zwangsbeglückt von einem demokratie- und bürgerfernen Verwaltungsapparat in Brüssel. Transparente demokratische Prozesse, Bürgerbeteiligung an Projekten des Staates, Mithilfe und Mitsprache; eine wirkliche Chance.
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  16. Es ist darum wichtig zu erkennen, dass sich eure Gemeinschaft in einer kritischen Phase eurer Entdeckungsfahrt befindet. Ihr habt die rauen Wetter, die Stürme und Karventsmänner bisher alle überstanden, man sollte sicher gehen, dass sich nicht schon Brüche und Risse einnisteten im Mast.
  17. Ist nicht die oberste Direktive der Piratenpartei die „Freiheit des Ausdrucks“ also Meinungsfreiheit? Man empört sich in der „öffentlichen“ Debatte über Piraten mit rechten oder gar rechtsextremistischen Ansichten. Das ist ganz offensichtlich unbequem.
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  19. Zwei Fragen sind hier interessant. Erstens: Wie entsteht dieser Radikalismus - und zweitens: warum wechseln Rechte in die Piratenpartei?
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  21. Dies sind nur persönliche Gedanken von mir, aber ich denke, dass Extremismus durch Ignoranz entsteht. Und zwar nicht unbedingt durch die Ignoranz derer, die sich Radikalisieren. Ganz Plump könnte man sagen, wenn etwas verboten ist, entwickelt mit absoluter Sicherheit irgendjemand einen Fetisch dafür. Wenn wir eine bestimmte Meinung aus dem öffentlichen Diskurs für Jahrzehnte aussperren, dieses ganze Themengebiet aufgrund der deutschen Nazi-Vergangenheit zum verminten Gelände erklären, dann ist es nur natürlich, dass sich Menschen, die sich diese Meinung gefasst haben, radikalisieren, weil sie ausgeschlossen werden von dem Prozess der öffentlichen Meinungsbildung.
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  23. Zur zweiten Frage: rechtsorientierte Menschen könnten natürlich Mitglieder bei den Piraten werden, um
  24. diese freiheitsliebende Partei zu infiltrieren und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Vielleicht haben wir es aber auch mit ganz normalen Leuten zu tun, die sich von der Forderung der Piraten zu ehrlicher Debatte und Meinungsfreiheit angezogen fühlen.
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  26. Nun kann man sich fragen: warum muss das jetzt auf dem Rücken der Piraten ausgetragen werden, diese lange fällige Auseinandersetzung mit politischen Ansichten, die in Deutschland unterdrückt werden. Beschneidung der Meinungsfreiheit mit guten Gründen bleibt eben doch Zensur, und Menschen, die ihre Meinung zensiert finden, werden naturgemäß eine Partei wählen, die als einzige den Kampf gegen institutionelle Zensur zu einer Top-Priorität erklärt hat.
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  28. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir erkennen dass die Anklage, es bestünde eine Zensurkultur im Sinne der „Political Correctness“, zutrifft. Und dass es tatsächlich Aufgabe der Piraten wäre, da aufzuräumen. Leider ist es völlig unmöglich das zu tun ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Genau darum macht das ja auch niemand.
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  30. Ich weiß keine Lösung für dieses Dilemma. Ich möchte nur dass ihr ernsthaft hinterfragt, inwieweit ihr euch dem Druck der von den Massenmedien produzierten „öffentlichen Meinung“ beugen müsst. Euer Klientel sind Menschen, die diesen Informationsquellen kritisch gegenüber stehen und selbst aktiv recherchieren und sich informieren. Braucht ihr die Massenmedien?
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  32. Und, hab ihr eine Schuld gegenüber den Massenmedien? Ich bin sicher dass ihr unter euch einig seid, dass ihr euch nicht zur Medienhure machen lassen müsst, nur weil die Qualitätsjournalisten in den Redaktionen Deutschlands, immer wieder durch analytische Brillanz bestechend, euch in der Sonntagfrage auf 12% geschwurbelt haben. Es bleibt abzuwarten, ob sie euch damit wirklich einen Gefallen getan haben. Wie also umgehen mit der Presse?
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  34. Und: wie umgehen mit den anderen Parteien? Wichtige Fragen. Wollt ihr euch wirklich hineinziehen lassen in dieses parteipolitische Kasperlestheater? Ist nicht der gottverdammte Aufwand, den diese papierbasierte Bürokratie macht, schon ein genügend lästiger Klotz am Bein?
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  36. Die Grünen haben den Tanz schon gelernt. Sie tanzen brav. Sie beziehen Position gegen euch, sie feuern Breitseiten. Man möchte sagen: äh hallo, wir sind doch auf derselben Seite? Aber die Grünen sehen sich in einer Position in der sie mit euch um die gleiche Zielgruppe konkurrieren. Die Hatz um Stimmen bringt einen gesunden kapitalistischen Geist ins Parlament, wobei Kontostand durch Wählergunst ersetzt wird. Könnt ihr es euch wirklich leisten, auf dieses Spiel zu scheißen? Der einzig gangbare Weg in diesem Dilemma scheint mir zu sein, in parteipolitischen Diskussionen immer die Metaebene einzunehmen, also die Teilnahme am Spiel zu verweigern und stattdessen den Spielverlauf zu kommentieren.
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  38. Grundsatzentscheidungen sind gefragt. Es muss ein Kurs gesetzt werden. Unendlich wichtig ist, dass ihr nicht vergesst, dass es eigentlich ein Lulzboat ist auf dem ihr segelt, und dass Politik kein serious business sein muss. Als Alt-Internetler und Diskordianer bin ich der festen Überzeugung, dass die große Göttin Eris mit euch ist, dass ihr eine Fackel der Hoffnung seid im Kampf gegen die Graugesichter. Kreatives Chaos ist das heilige Feuer, das es zu hüten gilt, das altes und verkrustetes aufbrechen und lösen kann, es ist das Wundermittel, das die Evolution ermöglicht oder ewige unendlich schlimme und grausige Zerstörung fnord.
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  40. Absurd, diese Forderung: Bewahrt euch den Wandel. Eure Dynamik ist gespeist aus dem Internet. Verlasst dieses Medium nicht. Ein Wechsel des Mediums ist immer verbunden mit einem Wechsel ganz fundamentaler Strukturen der Gemeinschaft. Als netzhistorisches Beispiel sei der Wechsel von Imageboard zu IRC genannt, wie ihn Anonymous vollzog.
  41. Die größte Gefahr, spricht das anonyme Orakel, der größter Feind jedoch, wackere Piraten, sind ohne Zweifel die Säcke von der East India Trading Company. Erkennbar ist das nicht nur durch ihre ständigen Angriffe auf Tortuga resp. Pirate Bay. Ihr könnt euch sicher sein dass sie, solange sie existieren, erbitterte Lobbyarbeit gegen euch leisten werden. Natürlich meine ich hier die Graugesichter der Copyright-Mafia.
  42.  
  43. Wir wissen es längst: Die ganze Kultur-Verwertungsindustrie ist überflüssig geworden. Was dort in Massen produziert wird ist kultureller Spam, der nachträglich alle Gedanken Adornos gegen die Kulturindustrie als zu mild erscheinen lässt. Nicht die Verlage oder Musiklabels, sondern der User soll entscheiden, von was er unterhalten werden will.
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  45. Die Unterhaltungsgiganten haben guten Grund, euch zu bekämpfen. Denn wir Konsumenten lernen langsam, dass es für gute Unterhaltung keineswegs ein Milliarden-Budget und über den ganzen Globus vernetzte, autoritäre Vertriebswege braucht. User unterhalten User. Und selbst der Begriff „user generated content“, der heute so hoch gehalten wird, ist Zeichen einer fundamentalen Fehlinterpretation. Mein Gott, diese ganzen „Stars“ sind selbst User, verdammt noch mal. Im Netz der Nicknames glaubt dir eh keiner, dass du dieser oder jener Star bist. Hier gehören sie einfach zur Netzcommunity wie jeder andere auch. All diese lizensierten Werke sind auch „user generated“, nur eben „syndicate distributed“. Wer etwas kreatives, was geiles macht, soll sie es uploaden, wenn es fame bekommt, sollen sie’s auf jener Plattform verkaufen, die die Musikindustrie seit Jahren vermieden hat zu erschaffen, - aus gutem Grund. Weil es sie selbst als Mittelsmann überflüssig machen würde. Die offensichtliche Ursache für diese erbitterte Feindschaft. Die Contentianer können gar nicht einlenken, weil es ihr komplettes etabliertes System negieren würde, das sie künstlich am Leben erhalten obwohl es längst obsolet geworden ist.
  46.  
  47. Uns vor Augen haltend wie es sein könnte - und welche fundamentalen Auswirkungen eine solche Demokratisierung der Kultur haben würde, vergisst man nicht, dass ihr den guten Kampf kämpft.
  48. Die viel gegeißelte „Umsonst-Mentalität“ des Internets, was ist sie wirklich? Sie ist der erste Schritt in eine Star-Trek-Gesellschaft, von der wir insgeheim alle wissen, dass wir sie gründen können, nun wo wir das Internet haben.
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  50. tl;dr: Verliert den Kurs nicht angesichts der ganzen Fährnisse die euch bevorstehen.
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  52. Gruß
  53. m4d5c13n7157@tormail.net
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