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Piraten - "Menno, ich will aber eine SMV"-Kritik

a guest
May 13th, 2013
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  1. "Menno, ich will aber eine SMV!"
  2. =================================
  3.  
  4. Vom 10. bis 13. Mai hielt die Piratenpartei ihren 11. Bundesparteitag in Neumarkt ab.
  5. An der Frage zur "Ständigen Mitgliederversammlung" (SMV) bildeten sich breite Pro- bzw Contra-Fronten.
  6. Kurz, alle möchten zwar einen adäquaten Ersatz für einen Parteitag, aber in wichtigen Details scheiden sich die Geister.
  7.  
  8. Eine SMV soll den Parteitag als zusätzliches Parteiorgan erweitern, damit fortlaufend Beschlüsse gefasst werden können. Sie soll hierbei eine allgemeine und leichter als bisher zugängliche Partizipation von Mitgliedern an Entscheidungsprozessen *online* ermöglichen, um u.a.:
  9.  
  10. + zeitnahe bindende Beschlüsse fassen zu können
  11. + (Partei)Kosten für zusätzliche Parteitage einsparen zu können
  12. + individuelle Kosten der Teilnehmer für Anfahrt, Kost und Logis einsparen zu können
  13. + zeitliche Restriktionen vermeiden zu können
  14. + generell mehr räumliche und zeitliche Unabhängigkeit erreichen zu können
  15. + Inklusion von Teilnehmern zu ermöglichen, die aus allen möglichen sonstigen Gründen nicht körperlich an üblichen Parteitagen teilnehmen können
  16. + zu inhaltlich besseren Ergebnissen kommen zu können
  17. + beispielgebend für eine weitergehende Implementierung basisdemokratischer Elemente im politischen Bereich zu sein, z.B. Bürgerabstimmungen zu kommunalen Fragen, Volksabstimmungen etc.
  18.  
  19. Es gibt also viele gute Gründe, sich über für Onlineparteitage Gedanken zu machen, gleich, ob diese nun als ständig tagendes oder periodisches Onlinegremium angelegt sind.
  20.  
  21. Bei dieser Diskussion geht es allerdings um mehr als nur um Auseinandersetzungen zwischen einer "Aluhutfraktion", die Datenschutz fordert und Anhängern plebiszitärer Mitbestimmungsmöglichkeiten, denen es vorrangig um allgemeine Teilhabe geht. Tatsächlich geht es darum, wie man eine solche Teilhabe in Form von Abstimmungen/Wahlen organisieren will und welche Wahlrechts- und Datenschutzgrundsätze dabei gelten sollen.
  22.  
  23. Wahlen/Abstimmungen können organisatorisch (d.h. ohne rechtliche Würdigung) grundsätzlich sowohl geheim als auch namentlich (nicht geheim) ausgestaltet werden.
  24. Für geheime Abstimmungen spricht, dass sich der Wähler frei entscheiden kann, ohne sich irgendeinem Druck von außen aussetzen zu müssen. Für öffentliche Abstimmungen spricht, dass ein freier Bürger auch zu seiner Meinung/Wahl stehen kann (und auch soll) und solche offenen Verfahren grundsätzlich sehr viel einfacher zu handhaben sind.
  25.  
  26. Diese beiden konträren Positionen wurden im übrigen auch bei den Diskussionen im Parlamentarischen Rat im Rahmen der Formulierung des Grundgesetzes zu den Wahlgrundsätzen vertreten. Letztlich wurde nach erbitterten Diskussionen besonders unter dem Eindruck der NS-Vergangenheit zugunsten geheimer Wahlen entschieden.
  27.  
  28. Dieser Konflikt zwischen offener und geheimer Wahl/Abstimmung setzte sich übrigens auch im Usenet fort (z.B bei Abstimmungen über Einrichtung und Löschung irgendwelcher NGs oder Wahl der Besetzung der dana-Moderation als Selbstverwaltungsorgan der de-Hierarchie) und wurde dort zugunsten offener Abstimmungen ("ein Netizen soll zu seiner Meinung stehen", aber auch aus Gründen des Wahlcomputerdilemmas) entschieden.
  29.  
  30. Das Thema geheime/offene Abstimmungen zeigt durchaus einen tiefgehenden Konflikt unterschiedlicher gesellschaftlicher Anschauung auf. Tatsächlich geht der Trend in Richtung Post-Privacy-Gesellschaft, da immer mehr private Daten öffentlich gemacht und/oder zusammengeführt werden -- oftmals auch vom Bürger selbst befördert.
  31. Privatheit von Daten und die informationelle Selbstbestimmung ist heute immer schwerer zu realisieren, wenn nicht gar unmöglich. De facto haben wir heute schon in vielen Lebensbereichen den gläsernen Bürger. In Ländern wie Schweden sind sogar die Einkommensverhältnisse in Form des Steuerbescheides des einzelnen Bürgers für jeden öffentlich zugänglich.
  32.  
  33. An den "Gläsernen Bürger" könnte man sich in einem freiheitlichen System ggf noch gewöhnen, dem gegenüber stehen jedoch intrasparente Organisationen, eine intransparente Wirtschaft, intransparente Behörden, schlicht ein intransparenter Staat und intransparente politische Entscheidungen!
  34. Einseitig verteilte Information kann dadurch ausgenutzt werden und erzeugt regelmäßig ein Machtgefälle. Der gläserner Bürger ist in ansonsten intransparenten Systemen einem Datengebrauch/-missbrauch hilflos ausgeliefert. Insbesondere wenn freiheitliche Systeme instabil werden (siehe Ungarn), droht aufgrund der Verfügbarkeit persönlicher Daten in modernen IT-Systemen den Bürgern, insbesondere Randgruppen oder "unerwünschten" Bevölkerungskreisen/Personen/Ethnien/Religionszugehörigkeiten etc., erhebliche Gefahr durch staatliche Verfolgung.
  35. Die aufkommende Feindlichkeit gegenüber Bürger jüdischen Glaubens in Ungarn mag hier ein Vorgeschmack sein.
  36.  
  37. Auch wenn das politische Gefüge Deutschlands stabil erscheint, so sind dennoch die fortlaufenden Bemühungen des Staates, aber auch der EU, erkennbar, immer mehr Daten über die Bürger zu sammeln. Und kaum jemand mag vorhersagen, wie stabil ein politisches System, z.B im Fall einer schweren Wirtschaftskrise, bleibt.
  38. Offenbar trauen Politker ihrem eigenen Volk eben nicht, sonst hätten sie nicht für ein Gesetz gestimmt, in welchem grundgesetzwidrig der Einsatz von Streitkräften gegen das eigene Volk beschlossen worden ist. Auch wenn das BVerG dieses in Teilen wieder einkassiert hatte, so blieben wesentliche Bestandteile bestehen, die meines Erachtens immer noch vehement gegen den Geist des Grundgesetzes verstoßen.
  39.  
  40. Eine offene, d.h. nicht geheime, elektronische politische Abstimmung/Wahl hat zur Folge, dass über den Bürger ein politisches Profil erstellt werden kann, das jederzeit, überall und von allen gegen den Bürger eingesetzt werden kann.
  41. Die Gefahr einer Gesinnungsgesellschaft ist groß, in welcher gesellschaftlicher Druck und Konformität wichtiger als die eigene Meinung wird, gleich ob man sich hierbei auf Jobsuche befindet, irgendwelche Geschäfte abschließen möchte, z.B. der Wohnungssuche, des Abschlusses eines Versicherungsvertrages oder der Eröffnung eines Bankkontos usw...
  42.  
  43. Aus diesem und anderen Gründen unterliegen in Deutschland bestimmte persönliche Daten gem Bundesdatenschutzgesetz $3, Abs 9 einem besonderen Datenschutz:
  44. "Besondere Arten personenbezogener Daten sind Angaben über die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit, Gesundheit oder Sexualleben."
  45.  
  46. Für politische Parteien heißt dieses, dass selbst Daten, wie z.B. Vor- und Zuname, die üblicherweise und bis auf die Ausnahmeregelungen im BDSG nicht zu besonders geschützten Daten gehören, als besonders geschützte Daten geführt werden müssen. (Ausnahmen gelten hier nur für Funktionspersonal, z.B. Vorstände, die namensmäßig gem. Vereinsrecht bzw Parteiengesetz veröffentlicht werden müssen.)
  47.  
  48. Es bedeutet weiterhin, dass auf Daten von Mitgliedern nur dann zugegriffen werden darf, wenn der zugreifende Personenkreis eine Verschwiegensheitsvereinbarung (regelmäßig mit einer Datenschutzbelehrung verbunden) unterschrieben hat. Der Zugriff ist hierbei auf die unmittelbar notwendigen Daten, die zur Erfüllung einer Auftragsbearbeitung/Funktionsbearbeitung notwendig sind, zu beschränken.
  49.  
  50. Herr Lauer hat auf dem Parteitag nun sinngemäß damit argumentiert, dass eine Abstimmung im Rahmen einer SMV durchaus nicht geheim zu erfolgen bräuchte, weil dann die §§ 11,27-32 BDSG Geltung fänden.
  51. Diese Argumentation ist in vielerlei Hinsicht rechtlich angreifbar, da sich eine Partei eben nicht auf Datennutzung von Abstimmdaten berufen kann, welche offensichtlich nur dadurch entstehen, weil im Zuge einer SMV Abstimmungsmodi zum Tragen kommen, die gegen das BDSG verstoßen.
  52.  
  53. Allein schon das bisherige Prozedere der LQFB-Nutzung steht datenschutzrechtlich auf sehr wackligen Beinen, da an sich die Piratenpartei über Mechanismen dafür Sorge tragen müsste, dass prinzipiell bei Abstimmungen im LQFB-System keine Profilerstellung bzw Identifizierung einer einzelnen Person möglich ist.
  54.  
  55. Das dem bei weitem nicht so ist, zeigen die Auswertungen [1], die jeder per Datenbankdump erstellen kann. Ein bisschen Kenntnis der internen Vorgänge innerhalb der Piratenpartei vorausgesetzt, können so z.B. die Superdelegierten letztlich identifiziert werden, aber nicht nur diese.
  56. In die Falle vermeintlichen Datenschutzes tappsen besonders schnell diejenigen, die sich im guten Glauben mit tatsächlichem Vor- und Zunamen im LQFB-System angemeldet haben oder deren Pseudonym nicht wirklich trägt. Und davon gibt es letztlich sehr viele Piraten. Bei den allermeisten Piraten, die unter Pseudonym fahren, weiß man bereits nach kurzer Zeit die tatsächliche Identität -- wohlgemerkt, ich rede hier von "Basisgurken" und nicht von Funktionsträgern.
  57.  
  58. Die Designschwächen des LQFB-System für die Verwendung in politischen Systemen führen letztendlich zur Aushöhlung des BDSG und letztlich jetzt schon zu Kompromatsammlungen, die dann bei passender Gelegenheit informell unters Volk gestreut werden.
  59.  
  60. Aufgrund des offenen Kommunikationssystems der Piraten sind weiterhin alle Aktivitäten von Mitgliedern nachvollziehbar: jede Arbeitssitzung wird aufgenommen, protokolliert, gestreamt und/oder in Pads und Wikis ins Netz geblasen. Selbst für erfahrene Netizens, die unter Pseudonym segeln, ist es schwer, dafür selbst und in eigener Regie Sorge zu tragen, dass sie ihre Pseudonymität aufrechterhalten können.
  61. Wie wichtig das allerdings ist, zeigten mir Gespräche mit IT'lern, die keinen Job bekommen hatten, weil ihre Zugehörigkeit zu den Piraten via Profiling erschlossen werden konnte und ihnen somit Arbeitsmöglichkeiten in sicherheitsrelevanten Bereichen nicht zugetraut worden ist.
  62. Oder man stelle sich einen Bundesvorsitzenden vor, der zugleich als Beamter im Verteidigungsministerium seinen Job tut und in einer SMV höchst öffentlich für die Abschaffung der Bundeswehr stimmen würde. Wäre dieser Fall tatsächlich so undenkbar? Und wäre es weiterhin undenkbar, dass ein solcher mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr schnell "weggelobt" werden würde?
  63.  
  64. Umso schwerer wiegt nun ein System, mit welchem via Klarnamen generell abgestimmt werden soll. Wie und auf welche Weise soll nun ein Datenschutz gem §3 BDSG für das Mitglied gewährleistet werden können? Wegen der Nachvollziehbarkeit der Abstimmungen müssen die Daten längere Zeit aufgehoben werden und was einmal im Netz steht, das steht zumeist auch sehr lange im Netz oder wird bei passenden Gelegenheiten wieder hervorgekramt. Gegen Screencopies nützt auch kein dämliches Javaskript...
  65. Selbst über irgendwelchen Bundeskistenmodelle[2] kann Datenschutz im Sinne des Gesetzes letztlich nicht garantiert werden. Die Stellungnahme des Bundesdatenschutzbeauftragten der Piratenpartei spricht dazu klare Worte [3]
  66.  
  67. Innerparteilich bedeuten namentliche Abstimmungen, dass ein Gegen-den-Strom-Schwimmen spätestens bei der Kandidatur um einen Posten abgewatscht wird. Nicht selten ist es gelinde gesagt schwierig, gegensätzliche Standpunkte sachlich zu diskutieren. Nicht wenige Piraten neigen zu einer Überidentifikation mit der Partei, woraus letztlich Intoleranz entsteht, die nur die eigene Wahrheit als die einzig richtige Wahrheit anerkennt.
  68. Als Folge davon werden Mitglieder an den medialen Pranger gestellt und ggf auch medial geschlachtet. Nicht jeder vermag diesem Gruppendruck standzuhalten und mit entsprechender Münze zurückzuzahlen. Die Transparenz frisst somit ihre Kinder und produziert einen Verein von Politkretins, bei denen dann nur mehr der politisch korrekte Kropf fehlen mag.
  69.  
  70. Aus diesen und vielen anderen Gründen muss zum einen die Möglichkeit der geheimen Abstimmung gewahrt bleiben und zum anderen eine jedermann einsehbare politische Profilbildung einer Person durch organsisatorische Massnahmen verhindert werden.
  71.  
  72. BTW, auch bei den Piraten zeigen Abstimmungen, die in einem zweiten Wahlgang auf Antrag in geheimer Abstimmung wiederholt worden sind, andere Ergebnisse als die zuvor offen durchgeführte Abstimmung. Warum nur, warum nur....?
  73. Allerdings verträgt sich eine geheime Abstimmung nicht mit elektronischen Stimmabgaben, näheres weiß der CCC trefflich zu berichten oder fragt ganz einfach mich;)
  74. Letztlich bleibt im Grunde nur mehr die Urnenwahl als Möglichkeit und eine solche ist mit dem bschlossenem SÄA003+X011 durchaus möglich.
  75.  
  76. Das eigentliche Problem (neben aller technischen und rechtlichen Dinge) einer SMV ist, wie eine Gruppe oder Gesellschaft zur informationellen Selbstbestimmung steht und welche Sicherungsmechanismen sie gegen eine Gesinnungsgesellschaft bis hin zu (staatlichem) Missbrauch (oder im Falle einer SMV eines Missbrauchs durch Parteimitglieder) treffen kann.
  77. Der Riss, der innerhalb der Piraten hindurchgeht, ist daher keine Frage irgendwelcher aluhutbehuteter Nörgler, sondern er betrifft die Frage, inwieweit eine Gesellschaft bereit für "Post Privacy" ist. Ich persönlich hege Zweifel, dass man "Post Privacy" auf die Menschheit loslassen kann. Dann lieber *Aluhut aufsetz*
  78.  
  79.  
  80. Stets zu Diensten
  81. Euer Happy
  82.  
  83.  
  84. Fussnoten:
  85. ==========
  86. [1] <http://streetdogg.wordpress.com/2012/11/11/spqp/>
  87. [2] Einige Links (unter vielen anderen) zur Bundeskiste
  88. <https://lqfb.piratenpartei.de/lf/initiative/show/3911.html>
  89. <http://www.machmaldieaugenauf.de/2012/10/31/bundeslade-bundeskiste/>
  90. <http://andipopp.wordpress.com/2012/10/12/warum-ich-gegen-die-bundeskiste-bin/#more-2280>
  91. [3] <http://wiki.piratenbrandenburg.de/images/d/df/Stellungnahme_Beschluss_078.pdf>
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