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- Das Magazin 50/2012 — Auf der Jagd nach den Vorhäuten
- Haut ab
- Bis zum Jahr 2015 sollen im Kampf gegen HIV
- 20 Millionen Männer im südlichen Afrika
- beschnitten werden. Die Jagd hat begonnen.
- Text Fabian Dietrich
- Bilder Urban Zintel
- Am Morgen strömen sie aus, mit Zetteln, Blöcken, Telefonen bewaffnet, springen aus dem Jeep, durchforsten Städte und Dörfer, suchen die Märkte ab, auf denen man Haufen mit europäischen Altkleidern verkauft, und kehren am Nachmittag mit Namenslisten in die Zentrale zurück. Thomas Clusha ist der Erste, den es an diesem Tag in Solwezi erwischt, einem Minenarbeiterkaff, das sich nahe der Grenze zwischen Sambia und dem Kongo in den Staub hineinfrisst. Ein Mann um die 30, Typ Gigolo, freches Grinsen, er trägt ein offenes Hemd, das mit Abzeichen irgendeiner Fantasiearmee dekoriert ist, dazu Jeans und spitze Lederschuhe. Man hört stampfende Musik, die aus einem Mangowäldchen kommt, in dem ein paar Fahrzeugwracks aufgebockt sind. Ein kleines Kind, das ein noch kleineres Kind auf dem Rücken trägt, tapst vorbei. Über den Häuserdächern die Sonne, sie brennt, gleichgültig und gnadenlos. Thomas Clusha lungert an einem Kiosk aus Wellblech und Lehm herum, als plötzlich die Vorhautjägerin vor ihm steht. «Hey Brother, hey Papa, hey Boss, hast du schon mal was von Beschneidung gehört?»
- Mabvuto Manda, 24 Jahre alt, eine kleine Frau, in deren Gesicht zwei Halbmonde aus blaumetallicfarbenem Lidschatten schimmern, ist ausgebildet in Kommunikation und Marketing. Sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift MC, was die Abkürzung für Male Circumcision ist. Auf einem Ärmel prangt das Logo des amerikanischen Entwicklungshilfedienstes USAID. Eine Plastikkarte, die sie um den Hals gehängt hat, weist sie als Mitarbeiterin einer Gesundheitsorganisation namens Society for Family Health aus. In einer Mischung aus Englisch und der Stammessprache Bemba redet sie auf Thomas Clusha ein. Warum zur Hölle soll ich einen Teil meines Körpers abschneiden? Na klar: Alle fragen sie das. Routiniert feuert Mabvuto Manda ihre Argumente ab. Erstens: Weil es hygienischer ist. Zweitens: Weil deine Freundin sich dann womöglich nicht so leicht humane Papillomviren einfängt, die Gebärmutterhalskrebs verursachen können. Aber vor allem drittens: Weil sich die Ansteckungsgefahr von HIV bei Beschnittenen verringert, und zwar um bis zu 60 Prozent!
- Es begann in den Dreissigerjahren in Kamerun, als irgendwer Hunger hatte und einen Schimpansen ass, der ein Virus in sich trug. So erzählt man sich die Geschichte von Aids, aber bislang ist diese Theorie noch nicht vollständig belegt. Anders als in den USA und in Europa, wo HIV sich zunächst unter Schwulen und Drogensüchtigen ausbreitete, übertrug es sich in Afrika vor allem durch Sex zwischen Mann und Frau. Über die Fernstrassen des Kontinents reiste das Virus in Lastwagenfahrern, Soldaten und Händlern von Staat zu Staat und von Körper zu Körper. Sein Nährboden: ignorante Politiker, schlechte Gesundheitsversorgung, Unwissenheit, Armut und Promiskuität. Weil die Menschen, die es befiel, bis auf die Knochen abmagerten, gab man der neuen Krankheit den Namen Slim Disease. Im Jahr 1984 registrierte man in Sambia offiziell den ersten Fall. Drei Jahre später traf es den Sohn des Präsidenten. In den Neunzigerjahren war die Epidemie nicht mehr zu übersehen: Die Menschen starben auf der Strasse und in den Busstationen, weil die Krankenhäuser voll waren und niemand wusste, was man tun soll. Hunderttausende Säuglinge kamen infiziert auf die Welt.
- Die Vorhautjägerinnen
- Das südliche Afrika ist bis heute der Teil der Welt, in dem HIV am heftigsten wütet. Jeder Siebte in Sambia trägt das Virus in sich, in manchen Vierteln der Hauptstadt Lusaka soll es sogar einer von vier Menschen sein. Bis zu 1 Million Aidswaisen leben in einem Staat, der lediglich 12 Millionen Einwohner hat. Im Mutter-Teresa-Hospiz, wo die Kranken im Endstadium dürr und zerbrechlich durch die Gänge schleichen, sagt eine Angestellte, man brauche dringend Morphium. HIV-Medikamente wären kein Problem mehr, aber die nehmen die Schmerzen nicht weg. Mittlerweile werden antiretrovirale Therapien aus dem Ausland bezahlt, sie zögern den Tod hinaus und verhindern, dass eine Mutter die Infektion an ihr Kind weitergibt. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Sambia ist von 37 auf 43 Jahre gestiegen. Die Neuinfektionen sind leicht zurückgegangen, doch bislang hat nichts die Ausbreitung der Krankheit wirklich gestoppt. Noch immer stecken sich jeden Tag in Sambia etwa 200 Menschen an. Das sind 2,5 Mal mehr als in der gesamten EU.
- «Was kostet mich das?», fragt Thomas Clusha nach einer Weile. Es ist der letzte in einer Kette von immer schwächer werdenden Einwänden. «Nichts», sagt die Vorhautjägerin. Kurz darauf hat sie einen Termin mit ihm ausgemacht. Sie schreibt den ersten Eintrag in ihren Block, Thomas Clusha, Telefonnummer 09634161222, schlendert weiter, schwarz gekleidet von Kopf bis Fuss, aus der Ferne wie ein Schatten, peilt an einem anderen Kiosk den nächsten Mann an.
- An manchen Tagen registriert sie 50 Leute auf der Strasse, auch Mütter, die ihre Söhne beschneiden lassen wollen, sind dabei. Wenn einer nicht in der Klinik erscheint, dann telefonieren ihre Kollegen ihm so lange hinterher, bis er kommt oder eine definitive Absage erteilt. Sie arbeitet unermüdlich, und dennoch sagt jeder, dass Sambia sein Ziel verfehlt.
- Es reicht einfach nicht. 216 112 Männer hatten – Stand März 2012 – ihre Vorhäute geopfert, man kann sich einen Berg von abgeschnittenem Fleisch vorstellen, aber leider ist das nicht genug.
- Bis zum Jahr 2015 soll Sambia 2 Millionen Männer beschnitten haben. So will es die WHO, so wollen es die USA, und die lokale Regierung hat zugesagt. Für vierzehn Staaten südlich der Sahara hat man den Plan erstellt, insgesamt 20 Millionen Männer zu operieren. Bis auf Kenia liegen alle Länder weit im Zeitplan zurück.
- Kürzlich verkündete der amerikanische Botschafter, es gehe alles nicht schnell genug. Die Vereinigten Staaten, der grösste Förderer der Operation, würden ab sofort das Geld für die Beschneidungen in Sambia verdreifachen. 17 Millionen Dollar im Jahr, das sind 30 Dollar Zuschuss für jede noch bis zur Zielquote fehlende Vorhaut.
- Habt ihr schon oder müsst ihr noch? Bis jetzt haben sich in Sambia rund 220 000 Männer beschneiden lassen, man kann sich einen Berg von abgeschnittenem Fleisch vorstellen. Aber es ist zu wenig.
- Die Vorhaut, lateinisch praeputium, ist ein zweifach gefaltetes Gebilde aus Haut, Schleimhaut und Muskelzellen, das in voller Ausdehnung so gross wie eine Postkarte ist. Sie bewahrt die Eichel des Mannes vor Austrocknung und Verletzungen. Nach innen hin bedeckt sie eine Schicht, in der viele Abwehrzellen sitzen. Obwohl sie eigentlich vor Infektionen schützen sollen, sind sie besonders anfällig für Angriffe von HIV, das sich im Immunsystem einnistet und vom Körper nicht mehr bekämpft werden kann.
- Gott und das Virus
- Seit über zwanzig Jahren diskutierten Wissenschaftler darüber, ob es einen Zusammenhang zwischen Infektionsraten und Vorhäuten gibt. Drei parallel in Kenia, Südafrika und Uganda durchgeführte Studien mit 11 000 Teilnehmern erbrachten im Jahr 2006 das Ergebnis, dass die Anzahl der Neuinfektionen bei HIV-negativen Männern durch Beschneidung um 51 bis 60 Prozent sank (das gilt allerdings nicht für Analverkehr, der viel gefährlicher ist, weil das Virus über Risse in der Haut direkt ins Blut gelangt). Seit Jahrzehnten verteilt man Kondome, doch nach wie vor benutzen sie nur 30 Prozent der Männer in Sambia. Man ermahnt die Menschen, keine Affären zu haben, doch noch immer stecken sich die meisten beim eigenen Ehepartner an. Ein Heilmittel für HIV ist nicht in Sicht. Man mag es Pragmatismus nennen oder Verzweiflung: Im Jahr 2007 nahm die Weltgesundheitsorganisation die Entfernung der Vorhaut in den offiziellen Katalog der Präventionsmethoden auf. Julia Samuelson, die bei der WHO zuständig ist für das Thema, erklärt das so: «Die Beschneidung ist für uns keine Alternative zu anderen Massnahmen, sondern eine Ergänzung. Der Vorteil ist, dass es ein einmaliger Eingriff ist, der einen Mann sein Leben lang schützt, wohingegen er bei jedem Sex ein neues Kondom verwenden muss. Selbst wenn es ein oder zwei Jahre länger dauern sollte, die geplanten 80 Prozent der männlichen Bevölkerung zu beschneiden, die Auswirkungen werden gewaltig sein.»
- Bevor sie den Grossangriff auf das Virus begannen, rechneten Gesundheitsökonomen und Mathematiker die Sache gründlich durch. Anzahl der Beschneidungen, die eine weitere Neuinfektion in Sambia verhindern: acht. Kosteneinsparung im Gesundheitswesen durch 478 000 weniger HIV-Infizierte bis zum Jahr 2025: 2,4 Milliarden Dollar. Zeitaufwand einer Operation nach der Methode des Dorsal Slit: 21:45 Minuten. Durchschnittlicher Preis: 105 Dollar. Wenn man die Studien und Arbeitspapiere zum Thema durchliest, bekommt man den Eindruck, Aids sei bereits so gut wie besiegt.
- Noch immer warnen in Sambia Plakate am Strassenrand davor, kleine Mädchen zu vergewaltigen, weil sich das Gerücht hält, man könne HIV durch Sex mit einer Jungfrau heilen. Medizinmänner erwecken Tote zum Leben und bieten Wunderpulver feil. «Hard Man» und «Sperm Booster» steigern die Potenz. «Lemon Crystal» heilt Krebs und Hepatitis. Natürlich haben sie auch ein Mittel gegen HIV, aber das, erklärt eine Händlerin, die einen Verkaufsstand in der Innenstadt von Lusaka betreibt, sei gerade ausverkauft. Christliche Freikirchen erobern das Land, die schlimmsten Prediger, sagt man, kämen aus Nigeria. Sie fordern die Kranken auf, ihre Medikamente abzusetzen, sowieso müsse sich niemand mehr gegen das Virus schützen, wenn er nur auf die Kraft Gottes vertraue, die alle Dämonen aus dem Körper vertreibt. Die Sozialarbeiterin Pretty Chanda ist im neunten Monat schwanger, trotzdem nimmt sie den beschwerlichen Weg zum Gottesdienst noch jeden Sonntag in Kauf.
- 25 Kilometer ausserhalb von Lusaka hat ein Mann, den sie hier alle nur den Propheten nennen, am Fuss eines kargen Hügels sein Lager aufgeschlagen. Seine Anhänger haben Decken und Teppiche auf der Erde ausgelegt, einen Verschlag aus trockenen Blättern und Ästen errichtet, Lautsprecher installiert und ein paar Zelte hingestellt. Hunderte versammeln sich in einem Halbkreis, beten, brabbeln, tanzen, singen und schreien sich in Trance. Stundenlang. Hinter einem Stein, etwas entfernt von der Menge, kauert regungslos eine Frau. «Es ist mir egal, ob sie es HIV oder HIB nennen», brüllt ein Prediger. «Wie auch immer sie es nennen – Gott bringt euch weiter. Alle Krankheiten werden vernichtet!» Tausendfache Halleluja- und Amen-Rufe schallen über das verdorrte Land.
- Kurz nach Mittag steigt endlich der Prophet zu den Betenden herab. Eskortiert von sechs Leibwächtern und Sekretären tritt er vor die Menge und wird mit Jubel begrüsst. Er trägt einen Anzug aus grünem, quecksilbrig glänzendem Material, hat eingefallene Schultern, ein Gesicht wie ein Lausbub und überhaupt kein Charisma. «Erinnert euch, ich habe den knappen Wahlsieg Obamas vorhergesagt», ruft der Prophet ihnen zu. «Und Obama hat gewonnen! Halleluja!» Dann fordert er die Gläubigen auf, ihm doch gesegnete Visitenkarten, gesegnete Aufkleber und gesegnetes Leitungswasser abzukaufen, Preis umgerechnet 10 Dollar, davon werde man garantiert erfolgreich und gesund.
- Ist doch nur ein Stück Haut
- Einmal pro Woche moderiert der Aktivist Dr. Manasseh Phiri aus dem zehnten Stock eines Büroturms im Zentrum von Lusaka seine Radiosendung «Talking Aids». Von hier oben blickt man hinab auf einen chaotischen Busbahnhof, Menschen, die sich zu achtzehnt beladen mit Zwiebelsäcken und Gepäck in einen Minibus stopfen. Während im Hintergrund Afrojazz-Melodien aus den Lautsprechern plätschern, gehen die ersten Textnachrichten bei ihm ein. Wütende Beschwerden, aber auch Zustimmung und Bewunderung. Das Thema der Sendung ist an diesem Tag Homosexualität und HIV, in Sambia spricht kaum einer so offen über dieses Tabu wie Manasseh Phiri. Es gibt noch immer ein Gesetz, das Sex zwischen Männern mit vierzehn Jahren Gefängnis bestraft. Als er seine Moderation beendet hat und die nächste CD anspielt, erklärt Phiri, warum er die Kampagne der Weltgesundheitsorganisation unterstützt: «Ich stimme dem ehemaligen Präsidenten Botswanas zu, er hat mal gesagt: Selbst wenn es am Ende gar nicht so effektiv sein sollte, was haben wir denn zu verlieren ausser unseren Vorhäuten? Um die Epidemie einzudämmen, müssen wir eine Menge Beschneidungen organisieren. Wir werden die Auswirkungen nicht morgen sehen. Vielleicht in fünf, zehn, fünfzehn Jahren. Es wird funktionieren, die Studien sind eindeutig.» Vor ein paar Monaten reiste er ins Nachbarland Zimbabwe, um einen Selbstversuch zu machen. Er liess sich eine in Israel entwickelte Plastikgerätschaft an den Penis montieren und beschnitt sich damit. Er war einfach neugierig, sagt er. Derzeit werden zwei solcher Apparate, genannt PrePex und Shang Ring, von der Weltgesundheitsorganisation getestet, 2013 könnten sie einsatzbereit sein. Der Nachteil dieser Erfindungen ist, dass sie extrem scharfe Kanten haben und aussehen wie Folterwerkzeuge. Der Vorteil ist, dass die Plastikringe wenig kosten und es möglich machen, selbst in den entlegensten Gegenden ohne Strom Männer zu beschneiden. Man braucht im Prinzip nicht einmal medizinisches Fachpersonal dafür – in einem armen Land wie Sambia, in dem es bei der letzten Zählung gerade mal 646 Ärzte gab, ist das ideal.
- Auf seinem Telefon zeigt Phiri Aufnahmen. Bild 1: seine Vorhaut, eingeklemmt zwischen zwei ineinanderliegenden Ringen. Bild 2: Nach einer Woche ist das obere Gewebe dunkel und abgestorben und wird ohne Narkose entfernt. «In der ersten Nacht hatte ich Schmerzen», sagt Phiri, «aber danach hat es überhaupt nicht weh getan.» Viele glauben, dass nur so die Zielquoten in den vierzehn Staaten noch zu schaffen sind. 18 Millionen Afrikaner fehlen ja noch – eine ungeheure Zahl.
- Das Gesundheitsministerium von Sambia ragt wie ein grauweisser Monolith zwischen den flachen Häusern der Hauptstadt auf, ein Springbrunnen mit zwei fröhlich badenden Delfinfiguren begrüsst die Ankommenden. Dr. Daniel Makawa, der nationale Beschneidungskoordinator, hat ein enges, mit Papieren, Aktenordnern und Computern vollgestopftes Zimmer im Erdgeschoss des Gebäudes, von dessen Existenz am Empfang allerdings niemand zu wissen scheint. Makawa teilt sich das Büro mit einer Beraterin der Clinton-Stiftung, obwohl er im Gesundheitsministerium arbeitet, wird seine Stelle mit Geld aus den USA bezahlt.
- Die Nachricht vom deutschen Gerichtsurteil, das die religiöse Beschneidung von Kindern kürzlich als Körperverletzung einstufte, ist natürlich auch hier angekommen. In einem Land, in dem das Überleben Hunderttausender von Vorhäuten abhängen soll, kann das niemand so richtig nachvollziehen.
- Gefragt, ob Sambia unter Druck gesetzt wird, um die Beschneidungsquoten zu erfüllen, lacht Makawa und sagt dann irgendwas von guter Partnerschaft. Darüber, dass es langsamer vorangeht, als gedacht, redet man im Ministerium natürlich nicht gern. Der nationale Koordinator erklärt, dass es einen überarbeiteten Plan gibt und eine Aufholphase und ambitionierte Ziele, dass man im kommenden Jahr 270 000 Vorhäute abschneiden will. «Oh Mann, du redest wie ein Dokument!», stöhnt seine ausländische Beraterin. «Erzähl doch mal, wie viele Freunde und Kollegen du schon verloren hast!» Dr. Daniel Makawa senkt seine Stimme und sagt: «Früher bist du in ein Krankenhaus gegangen, und drei Viertel der Menschen hatten Aids. Es war einfach nur traurig. Seit wir Medikamente haben, ist es besser geworden, aber unsere Rate ist immer noch zweistellig. Wenn du jemanden beschneidest, dann ist er zumindest immer ein bisschen geschützt. Wir haben es mit Männern zu tun, die gesund sind. Die bekommt man nicht so leicht dazu, ins Krankenhaus zu gehen. Es braucht eben Zeit und Geduld, wenn man das Denken der Leute verändern will.»
- In vierzehn Staaten südlich der Sahara stellt man sich dieselbe Frage: Wie kann man Millionen Männer dazu bringen, auf ihre Vorhäute zu verzichten, freiwillig? Die Werbeagenturen Afrikas wetteifern darin, wer die besten Slogans entwirft: «Sei ein Gewinner, lass dich noch heute beschneiden! Verdopple deinen Schutz – Kondome und Beschneidung! Bist du ein verantwortungsvoller Mann?»
- «Hey Brother, hey Papa, hey Boss, hast du schon mal was von Beschneidung gehört?» Mabvuto Manda, 24, Vorhautjägerin in Solwezi, Sambia.
- Kaum einer glaubt, dass man die Massen mit Anzeigen und Plakaten zu einer schmerzhaften Operation überreden kann. Ohne die traditionellen afrikanischen Gesellschaftsstrukturen erzeugt man keinen Trend. Die alten Sprachen und Rituale haben die Kolonialherrschaft, die Diktatur und die Demokratie überlebt. Noch immer ist die Zugehörigkeit zu einem Stamm prägend für die eigene Identität. Offiziell sind in Sambia 73 Ethnien anerkannt, bei einigen ist es seit jeher Sitte, Jugendliche zu beschneiden, um sie zu Männern zu machen (Medizinmänner erledigen das mit einer Rasierklinge, dann schickt man den Nachwuchs wochenlang zur Erziehung und Selbstbehauptung in den Busch), bei den meisten wird es jedoch nicht praktiziert.
- Sechs Wochen ohne Sex
- Häuptling Mumena, der Anführer der Kaonde, vertritt die Interessen seines Volkes in der zweiten Kammer des Parlaments, dem House of Chiefs, er installiert Richter, die auf lokaler Ebene Konflikte lösen, vor allem aber ist er ein Bewahrer von Bräuchen und Kultur. «Früher sahen wir herab auf diejenigen, die sich beschnitten, die Stämme der Luvale und der Lunda zum Beispiel, die unsere Nachbarn sind. Für uns war das einfach nur primitiv, eine Sache, die Männern unnötige Schmerzen bereitet, mehr nicht. Ich schätze, wir waren alle ein bisschen ignorant», sagt er. Seine Königliche Hoheit, Thronerbe in der elften Generation, Gebieter über ein Reich von 100 Kilometer Länge und 80 Kilometer Breite im Nordwesten Sambias, Wappentier Löwe, hat es im In- und Ausland zu Berühmtheit gebracht. Im vergangenen Jahr liess der Häuptling der Kaonde sich auf Anraten seines Sohnes Benjamin höchstpersönlich beschneiden und fordert nun in Werbespots die Bevölkerung auf, es ihm gleichzutun. «Hallo, ich bin Chief Mumena! Ich habe eine sehr, sehr wichtige Nachricht für Sie. Die Nachricht ist, dass das Gesundheitsministerium von Sambia den August 2012 zum Beschneidungsmonat erklärt hat. Für weitere Informationen wählen Sie die Nummer 990. Lassen Sie sich noch heute beschneiden!»
- "In einer halben Stunde ist alles vorbei. Ein kleiner Schnitt
- für einen Menschen, ein grosser Schnitt für die Menschheit."
- Selten sieht man ihn ohne Melone oder Borsalino-Hut auf dem Kopf, unter seinem rosa Faltenrock gucken Cowboystiefel hervor, das Zepter, das er in der Hand hält, ist eine Kombination aus Tierhaaren und Elfenbein. Der Häuptling wurde zur letzten Welt-Aids-Konferenz nach Washington eingeladen, Bill Gates, dessen Stiftung Milliarden für die Bekämpfung des Virus ausgibt, hat ihn in Sambia getroffen und sich bei ihm bedankt, die lokalen Zeitungen schreiben, er hätte ein kulturelles Feuer entfacht.
- Chief Mumena erzählt, er sei geschockt gewesen, als sein 18-jähriger Sohn im Februar 2011 zu ihm kam und sagte: Papa, ich möchte mich beschneiden lassen. Er habe geglaubt, Benjamin wolle die Gebräuche eines anderen Stammes übernehmen. Perplex rief Chief Mumena Manasseh Phiri an und liess sich erklären, was es mit der Operation auf sich hat. Als er die Studien gelesen hatte, traf der Häuptling eine Entscheidung. Er reiste mit seiner Frau in die Hauptstadt und machte den ersten HIV-Test seines Lebens. Negativ. Dann legte er sich auf den Operationstisch und liess es geschehen.
- Wenn er mit seinem zitronengelben VW-Käfer durch sein Dorf knattert, knien die Menschen am Strassenrand nieder und begrüssen ihn nach Sitte der Kaonde: Sie klatschen sanft und fast lautlos in die Hand. Sogar in der fernen Hauptstadt Lusaka zucken die Portiers der Hotels vor Ehrfurcht zusammen, sobald er mit seinem Leibwächter an ihnen vorübergeht. Und so ein Mann lässt sich beschneiden? Egal wen man fragt: Alle sind der Meinung, dass Chief Mumena die Nachfrage steigern wird.
- Seine Vorgänger auf dem Thron, steif aussehende Männer in dunklen Anzügen, die von alten Schwarzweissaufnahmen aus auf seinen Schreibtisch niederblicken, hätten wahrscheinlich einfach einen Befehl ausgesprochen, aber so einfach geht das nicht mehr. Es gibt Menschenrechte, Freiheitsrechte, vielleicht ist es auch einfach nicht Chief Mumenas Stil.
- Der regionale Leiter der Society for Family Health betritt das Büro im Palast des Häuptlings, kniet nieder, klatscht lautlos und trägt ihm eine Bitte vor. Im Dezember müsse er 1200 Männer beschneiden lassen, das sei die Quote. Die Regierung habe zwar gesagt, 670 wären auch noch okay, aber selbst das werde schwer. Ob Chief Mumena nicht in einer Fernsehsendung auftreten könne, um ein paar Leute zu mobilisieren? «Mhm», sagt der. «Kein Problem.»
- «Mein Schwanz ist zerstört»
- Siancheka Nzila, 33 Jahre alt, Lehrer für Geschichte, hat wochenlang mit sich gerungen, jetzt ist es so weit. Er betritt ein braun getünchtes Haus in Lusaka, auf dem steht: Gratis Beschneidungen. «Meine Frau hat mich genötigt, hierher zu kommen», sagt er. «Vor den Schmerzen habe ich keine Angst, aber sechs Wochen ohne Sex, Mann, das wird richtig schlimm.» Er macht einen HIV-Schnelltest, der negativ ausfällt. Dann führt man ihn in einen Warteraum, wo er sich einen grünen OP-Kittel überstreift. Siancheka Nzila nimmt neben vier anderen Männern Platz, die genauso unruhig sind wie er. Das Telefon klingelt, seine Freundin ruft an. Bist du schon drin? «Ja.» Hast du Angst? «Auf jeden Fall, ich hab Schiss.»
- Seine Königliche Hoheit, Thronerbe in der elften Generation, Gebieter über ein Reich von 100 Kilometer Länge und 80 Kilometer Breite: Häuptling Mumena, Anführer der Kaonde, Freund von Bill Gates, beschnitten seit Februar 2011.
- Eine halbe Stunde später holen sie ihn ab. «Moment», sagt Siancheka Nzila und verschwindet auf der Toilette, ein letztes Mal pinkeln und dabei die Vorhaut spüren. «Er ist nervös», flüstert die Krankenschwester Matilda Mafusha. Im Operationsraum riecht es nach Mullbinden und Ethanol. Siancheka Nzila kommt zurück und legt sich auf die Pritsche.
- «Wie heisst du?»
- «Siancheka.»
- «Aha.»
- «Ich bin ein echter Tonga!»
- «Alles okay?»
- «Ja.»
- «Wirklich?»
- «Naja, ich fühle mich wie eine Ziege, die geschlachtet wird.»
- «Du bist ein starker Tonga-Junge, also zuck ja nicht zusammen, wenn ich dir die Injektion gebe, ja?»
- «Okay. Wie lange hält die Narkose?»
- «40 Minuten.»
- «Nur? Ehrlich gesagt, wären mir 17 Stunden lieber.»
- Isaac Sakala und Matilda Mafusha, die beide keine Ärzte sind, aber als Operateure ausgebildet wurden, desinfizieren den Penis, spritzen das Lidocain, warten, bis es wirkt. «Mein Freund da unten ist mir sehr, sehr wichtig», warnt Siancheka Nzila. Leises Schaben und klirren des Bestecks. Ein moosiger Geruch steigt auf, frisches Blut gemischt mit Jodflüssigkeit. Der eine hält den Schaft, der andere durchtrennt das Gewebe mit Schere und Skalpell, eingespielte Bewegungen, an manchen Tagen beschneiden sie wie am Fliessband, zehn Männer nacheinander sind kein Problem. Siancheka Nzila hebt den Kopf und lacht wie irre, als er das Massaker zwischen seinen Beinen sieht: die Haut eingeschnitten, die Eichel frei gelegt, das Laken fleckig vom Blut. «Jahahahah! Ihr habt meinen Schwanz zerstört!» «Willst du deine Vorhaut noch mal sehen?», fragt Isaac. «Oh Gott, nein!» Nach etwas mehr als einer halben Stunde haben sie den tauben Penis genäht und in Watte und Mullbinden verpackt, das Fleisch liegt im «Biohazard»-Müll, der Patient richtet sich auf. Dann zieht er seine Kleider an und taumelt hinaus durch die Tür.
- Isaac und Matilda putzen den Operationstisch und rufen den Nächsten herein. •
- Fabian Dietrich schreibt regelmässig für «Das Magazin».
- Der Fotograf Urban Zintel lebt in Berlin.
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