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Ein Brei der Meinungen (Spiegel 36/2011, S. 150/151)

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Sep 4th, 2011
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  1. Spiegel Nr. 36/2011 5.9.11, Seite 150/151
  2.  
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  4. TV-SENDUNGEN
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  6. Ein Brei der Meinungen
  7.  
  8. Es gibt mehr Polit-Talks im Fernsehen als je zuvor. Vom Ersatzparlament früherer Tage sind die heutigen Diskussionsrunden aber weit entfernt.
  9.  
  10. Wolfgang Herles nimmt einen Kaffee und etwas Leichtes zum Frühstück im Café Einstein von Berlin. Die vielen Datteln haben etwas angesetzt. Herles kommt gerade von einem langen Dreh aus der arabischen Welt zurück, er arbeitet an einer großen Dokumentation, und Datteln haben sehr viele Kalorien.
  11.  
  12. Herles war früher auch mal Talkmaster beim ZDF, drei Jahre lang. Und er hat einen Roman geschrieben, „Die Tiefe der Talkshow“. Es war auch therapeutisches Schreiben.
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  14. Herles sagt, er könne sich noch an jede große Reportage erinnern, an jede Dokumentation, die er gemacht habe. „Aber an keine einzige Talkshow.“
  15.  
  16. Die beiden Kontrahenten seines tragikomischen Talkshow-Romans heißen Tobel und Klamm, beides sind süddeutsche Synonyme für Schluchten, Abgründe. Und die tun sich auch in dem Buch auf, ein irrwitziger Plot von Sex, Suff, Intrigen und Paranoia.
  17.  
  18. „Beide Figuren bin ich“, sagt Herles, „was da drinsteht, habe ich mehr oder weniger so erlebt.“ Vor einigen Jahren hat Herles einmal bei einer Tagung von Talkern aus seinem Buch gelesen. Keiner hat gelacht – und hinterher habe auch keiner mit ihm geredet, sagt er.
  19.  
  20. Herles hat klare Ansichten über den Amüsierbetrieb der Talkshow. Die Quote sei „das Evangelium“, die Sendungen verkommen zu Freakshows mit grellen Durchgeknallten oder Promis. „Da muss sich dann Moritz Bleibtreu zur RAF äußern“, seufzt Herles. Gedanken auszuformulieren sei „nicht vorgesehen“. Zwei Fragen gebe es, die einem Talkmaster immer im Kopf herumgingen: Erstens: „Wie kriege ich es hin, dass es knallt?“ Zweitens: „Wie schaffe ich es, den, der gerade redet, zu unterbrechen?“
  21.  
  22. Für Herles hat das Gebaren in den Talkshows Folgen, die über die Sendezeit der Sendungen hinausgehen: „Das, was wir über das politische Geschäft beklagen, hängt mit der Veränderung der Diskussionskultur zusammen, und daran hat die Talkshow einen unseligen Anteil.“
  23.  
  24. Einige Wochen lang war Ruhe, aber nun quatschen sie wieder – mehr als je zuvor. Die Sommerpause ist zu Ende, in der vergangenen Woche begann Anne Will auf ihrem neuen, ungeliebten Sendeplatz am Mittwochabend um 22.45 Uhr. Die neue Saison wird bereichert um einen weiteren Kontrahenten, der die ohnehin eifersüchtigen Talker nervös macht, schon bevor er seine erste Frage gestellt hat. Am historischen 11. September übernimmt Günther Jauch von Will den Termin der Termine, Sonntag nach dem „Tatort“ in der ARD.
  25.  
  26. Bisher hat die Vermehrung der Worte funktioniert. Doch vielen dämmert: Wir talken uns zu Tode, fünf Abende, fünf Köpfe, allein bei der ARD, und neben den Polit-Talkern drängen auch noch Unterhaltungs-Talker wie Markus Lanz oder Johannes B. Kerner ins ernste Fach. Am Ende könnte einer oder eine auf der Strecke bleiben.
  27.  
  28. Da lohnt es sich, noch einmal die klassische Medienkritik von Neil Postman zur Hand zu nehmen. „Wir amüsieren uns zu Tode“, befand der amerikanische Medienwissenschaftler vor 25 Jahren und kritisierte die politische Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Wie das „Guck-guck-Spiel der Kinder“ ruhe die Fernsehwelt abgeschlossen in sich. Dagegen sei auch gar nichts einzuwenden, aber: „Luftschlösser bauen wir alle, problematisch wird es erst, wenn wir versuchen, darin zu wohnen.“
  29.  
  30. Was von Postman vor einem Vierteljahrhundert aufgeschrieben wurde, liest sich wie die aktuelle Studie der Otto Brenner Stiftung, die die Inszenierungen der Politik unter der Überschrift „... und unseren täglichen Talk gib uns heute“ gründlich aufarbeitet.
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  32. Diese „Simulation von Politik“ in den Talkshows kritisierte unlängst Bundestagspräsident Norbert Lammert (SPIEGEL 12/2011). Wie Herles bemängelte er, dass die Talk-Kultur einen ganz bestimmten Politikertypus herausbildet: den Schwätzer – und nicht unbedingt den Denker und Entscheider.
  33.  
  34. Schon im April klagte der Philosoph Jürgen Habermas in der „Süddeutschen Zeitung“ über den politischen Flurschaden der permanenten Quasselei: „Die munteren Moderator(inn)en der zahlreichen Talkshows richten mit ihrem immer gleichen Personal einen Meinungsbrei an, der dem letzten Zuschauer die Hoffnung nimmt, es könne bei politischen Themen noch Gründe geben, die zählen.“
  35.  
  36. Aktive Politiker haben die Konsequenzen gezogen. Viele gehen gar nicht mehr hin. Die meistgesehenen Talkshow-Gäste des vergangenen Jahres waren Hans-Olaf Henkel, Stuttgart-21-Schlichter Heiner Geißler und der unvermeidliche Arnulf Baring. Die Ewigen-Besten-Liste von Sabine Christiansen umfasste einst noch Guido Westerwelle, Angela Merkel, Hans Eichel, Oskar Lafontaine oder Friedrich Merz. Lauter klingende Namen. Bei Christiansens Nachfolgern sitzen heute Leute wie der FDP-Abgeordnete Otto Fricke und allenfalls noch Gregor Gysi.
  37.  
  38. Die Redaktionen sagen, sie wollten die Spitzenpolitiker gar nicht mehr. Kann sein.
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  40. Wichtiger aber ist: Die Spitzenpolitiker wollen selbst nicht mehr. Unionsfraktionschef Volker Kauder klagte kürzlich über die Talkshows, „in denen die wirklich komplexen Themen kaum noch erklärt werden und die leider nur noch auf das Entfachen von Streit angelegt sind“.
  41.  
  42. CSU-Verkehrsminister Peter Ramsauer, eigentlich der politischen Keilerei nicht abhold, geht ebenfalls nicht mehr hin. Durch die „Vermassung“ der Talkshows hätten sie ihren Stellenwert und ihre Kultur eingebüßt. „Früher waren Talkshows für mich ein Ort, politische Entscheidungen zu erläutern. Heute scheitert das schon daran, dass auch bei komplexen Fragen, oder gerade da, der Moderator nach 20 Sekunden dazwischengeht.“
  43.  
  44. Mit seiner gefürchtet scharfen Zunge spottet SPD-Spitzenmann Peer Steinbrück über die Quasselbuden im Fernsehen, die wegen ihrer kompletten Folgenlosigkeit beim Publikum den Eindruck
  45. „einer weitgehenden politischen Ohnmacht“ erzeugten. Steinbrück ist deshalb in diesen Runden inzwischen nicht mehr zu sehen, es sei denn, er hat gerade ein Buch zu vermarkten.
  46.  
  47. Es gibt Politiker, die nach wie vor gern in Talkshows gehen. Aber es werden weniger. Über Politik soll paradoxerweise dennoch geredet werden, aber lieber mit Schauspielern und Sternchen.
  48.  
  49. Lars Kühn war lange befasst mit der Talkshow-Beschickung. Als Sprecher der SPD hat er in sieben Jahren für vier Parteivorsitzende gearbeitet. Den Auftritt der SPD in den Talks zu organisieren gehörte zu seinen Aufgaben: Wer geht wann wohin und spricht zu welchem Thema? In seinen Augen hat sich Grundlegendes geändert.
  50.  
  51. Früher, sagt er, „da konnte man schon was bewegen“. „Sabine Christiansen“ am Sonntag sei ein politisch relevanter Ort gewesen, dafür hätten sich die Politiker gezielt Botschaften zurechtgelegt, Franz Müntefering von der SPD genauso wie Guido Westerwelle von der FDP. „Da ist hinterher drüber geredet worden, und da ist drüber geschrieben worden“, sagt Kühn. Am Montag sei die Sendung im Präsidium und Vorstand der SPD regelmäßig Thema gewesen. Aber heute: „Diese Konkurrenz, das ist der Killer.“
  52.  
  53. Früher war es so: Man konnte die Sendung von Sabine Christiansen mögen oder hassen. Aber kein Politiker oder politischer Korrespondent konnte sie ignorieren.
  54.  
  55. Auf dem Sideboard von Sabine Christiansen in ihrem Büro in Berlin-Charlottenburg stehen drei goldene Bambis in zwei Größen, noch ein paar andere Tiere und weitere Trophäen. Christiansen ist selten da, meistens jettet sie in der Welt umher. Ihre Firma produziert eine Reihe über Vorstandschefs von großen Unternehmen, das heißt: Shanghai, Dubai, New York.
  56.  
  57. Vor einigen Monaten räumte sie in einem Interview ein, dass sie kaum noch Talkshows schaue. Heute will sie das nicht so gemeint haben, wie es klingt. Sie verbringe eben die meiste Zeit in Paris.
  58. Aber kürzlich ist ihr am Münchner Flughafen doch etwas Lustiges passiert. Ein Mann sei auf sie zugestürzt und habe ihr vorgeschwärmt von einer Frage, die sie US-Präsident George W. Bush in einer Sendung gestellt habe.
  59.  
  60. Das Gespräch mit Bush ist mehr als fünf Jahre her. „Wenn ich heute jemanden, der alle Talkshows von Sonntag bis Freitag gesehen hat, frage: In welcher saß Gregor Gysi?, dann kann Ihnen das keiner mehr sagen“, sagt Christiansen.
  61.  
  62. Das sei der Unterschied: Alles fließe ineinander, ein Bilderbrei, ein Meinungsbrei, ein Stimmenbrei. Und die Parteien hätten ihre klaren Kanten verloren, die CDU ist grün, die Grünen sind bürgerlich, alles verschwimme auch dort.
  63.  
  64. „Wir haben“, sagt Christiansen, „zu viel vom Gleichen.“ Demnächst haben wir davon noch mehr.
  65.  
  66. CHRISTOPH SCHWENNICKE
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