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Nov 29th, 2015
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  1. Elend
  2.  
  3. Ein dröhnendes Geräusch erfüllt meinen Raum. Ein Licht geht an. Neben mir vibriert mein Wecker über den Tisch und errinert mich vehement daran, wie viel Zeit es ist.
  4. Widerwillig und irritiert rücke ich mich auf, um mich mühevoll aus dem Bett zu wenden und das verdammte Ding ruhig zu stellen. Das Dröhnen hört auf. Endlich.
  5. Automatisiert stehe ich auf, bewege mich zu meinem Waschbecken und lasse kurz kaltes Wasser über mein Gesicht laufen.
  6. Vor mir sind meine alte Zahnbürste, eine Tube, und mein eigenes Gesicht im Spiegel. Bin ich das wirklich? Ich sollte mal zum Friseur.
  7. Ich greife routiniert nach meiner Zahnbürste und meine Uhr stellt sich ein, mir zu sagen, wie viel Zeit vergangen ist.
  8. Wie jeden Morgen also.
  9. Doch irgendetwas ist heute nicht richtig. Ich sehe mich selbst an während ich noch konzentriert den letzten Dreck aus meinen Zähnen bekomme, sodass mein falsches Lächeln jeden Tag wieder frisch aussieht.
  10. Doch heute... passt es einfach nicht ganz. Gerade eben noch hatte ich diesen seltsamen, abscheulichen Traum, doch ich kann mich noch nicht einmal errinern wer drin vorkam.
  11. Ich war gefangen, es war ganz eng um mich... als wäre ich in einem Gurkenglas eingeschlossen... und trotzdem fühlte es sich ganz normal an. Doch während ich bewegunslos dort drin war, schimmerte etwas durch. War es ein Mensch? Ich habe auf jeden Fall ein Gesicht gesehen. Es war irgendwie besorgt, und es hat mich beobachtet... als wäre ich ein Fehler in einem System. Was... was ein schrecklicher Traum. Aber es war ja nur ein Traum, egal wie echt sich es anfühlte.
  12.  
  13. Nun genug, es wartet ja wieder Arbeit. Während mein Kaffee sich zubereitet, öffne ich mein Fenster, um ein weiteres Mal den wabern, dichten Geruch von fettigem Fast-Food und Maschinenöl in mein Zimmer zu lassen. Es ist der gewohnte Geruch, den ich jeden Morgen empfange.
  14. Nun... "Durchlüften" kann ich das nicht nennen, aber entweder ich ersticke, oder ich lasse mich überhäufen mit den Gerüchen der Metropole. Welcher Ort ist eigentlich noch nicht zur Metropole geworden? Darf man dann überhaupt etwas noch Metropole nennen? Aber ich denke zu viel nach.
  15. Das Lärmen des Verkehrs und sinnloser Small-Talk von irgendwelchen Passanten deuten an, dass ein weiterer Werktag vor mir steht.
  16. Werbe-Slogans und beiläufige Begrüßungen zeichnen die Kulisse des Morgens.
  17. Tausend gezwungene Emotionen überlaufen die gequälten Gesichter der Passanten. Jeder hat eine Frau, ein Kind, einen Hund, und einen Nachbarn. Ausser so Spinnern wie mir. Ein geregelter Ablauf. Aus dem 314ten Stock bietet sich mir diese Aussicht jeden Tag. So langsam wird mir alles zu viel und ich schließe wieder das Fenster, um langsam an meinem Kaffee zu nippen, ohne die Zeit aus den Augen zu lassen.
  18.  
  19. Ich weiß noch, als ich vor 20 Jahren an die Zukunft dachte, sah ich in meinem Kopf Leute mit schicken Anzügen und Aktienkoffern auf fliegenden Skateboards, Pizzas die sich selber zubereiten, und das demokratischste System was ich mir nur vorstellen kann. Jeder bekommt was er möchte und jeder wird akzeptiert! Was ich mir dabei gedacht habe? Naja, da war ich halt noch zu jung. Ich habe noch nicht einmal verstanden, was Denokratie überhaupt bedeutet. Ein naives kleines Kind, das daran glaubte, es kann ja nur besser werden.
  20.  
  21. Doch das, was gerade vor mir steht, das ist die Zukunft. Das Jahr ist 2035. Die zweite Epoche der Industrialisierung. Eine weitere Welle von Maschinen, die uns doch das Leben noch leichter, noch einfacher, noch faluer machen sollen.
  22. Maschinen sind nämlich nicht mit den Fehlern behaftet, die ein jeder Mensch mit sich bringt.
  23. Menschen werden auf einmal mit Worten zugeschmissen wie "ineffizient" und "fehlerhaft".
  24. Und fällst du aus dem Muster, wirst du aussortiert. Zurückgesendet. Du bist defekt.
  25. Jedem droht das nun, doch die Bürgerschaft macht einfach mit. Ist doch einfacher so.
  26.  
  27. Ich weiß noch, wie ich mit 15 dachte, mein größtes Problem wäre es, in die Gesellschaft zu finden.
  28. Und jetzt bedeutet Gesellschaft, sich in deiner regulierten 5-Minuten Pause zwischen Arbeitsschichten mit irgendwem zu unterhalten, der dagegen ankämpft, fehlerhaft zu sein. Wie ich.
  29. Denn irgendwann wird eine Maschine entwickelt, die besser ist als ich. Und wenn die kommt, bin ich weg vom Fenster.
  30. Ein weiteres Gesichtsloses Mitglied des Staats.
  31.  
  32. Doch was ist besser, seine Arbeit und damit sein Obdach und Identität zu verlieren, oder in einem Leben zu stecken, das sich wie eine Warteschleife anfühlt? Ein Leben aus ein paar Deadlines, dem nächsten Wochenende und heißer Luft dazwischen?
  33. Irgendwann bleibt von mir nur noch eine Hülle übrig, eine kalte Projektion ohne jegliche Persönlichkeit, die nur zum funktionieren da ist.
  34. Was ist denn dann der Unterschied von mir als Mensch zu einer der Maschinen, die jeden Tag aufs neue optimiert und angepasst werden?
  35. Denn in diesem Leben bin ich jetzt drin und ich komme so bald nicht raus. Da sollte ich wohl die Möglichkeit nutzen um zu funktionieren und mich anzupassen.
  36. Ansonsten ende ich noch wie diese Junkies... der Teil der gesellschaft, die es nicht geschafft haben, zu funktionieren. Die ihre ID verloren haben.
  37. Zugedröhnt mit digitalen Strömen liegen sie in den dunklen Ecken der Straßen, die keiner sehen möchte. Vernetzt und verkabelt bewegen sie sich dann geistlich in Welten, die perfekter sind als die Realität, in der jeder von uns feststeckt. Für sie ist Realität dann das, was ein Programm ihnen vorschreibt. Und sie nennen es Freiheit.
  38. Doch bin ich besser als diese Menschen? Keiner von uns hier ist doch wirklich frei. Oder perfekt.
  39.  
  40. Fehlerhaftigkeit, Unfreiheit, und der sinkende Wert von Menschen. All diese Probleme scheinen niemanden hier zu kümmern. Alles, was ich im Fernsehen sehe, sind Ablenkungen davon, was wirklich wichtig ist.
  41. Es gibt zwar keinen Krieg mehr, doch den Krieg mit sich selbst hat bereits jeder vergessen.
  42. Doch als ich wieder an mein Fenster trete, sehe ich die Lösung all meiner Probleme.
  43. Ein einziger Schritt. Ein Stück Mut. Entschlossenheit.
  44. Und die Gebundenheit an diese Welt verschwindet mit einem Schlag.
  45. Dann stecke ich nicht mehr fest in einer Welt, in der ich nichts mehr Wert sein werde.
  46. Dann hält mich nichts mehr hier.
  47. Ich bin mir nicht sicher was kommt, aber was kann schlechter sein als mein Leben?
  48. Ich habe genug. Schon oft habe ich hierüber überlegt, und es steigt mir zu Kopf. Ich kann das nicht mehr.
  49.  
  50. Ich kneife meine Augen zusammen.
  51. Ich gehe einen Schritt nach vorne.
  52. Ich hebe einen weiteren Fuß über das Fenster und breite meine Arme aus.
  53. Ich lasse los.
  54. Rauschen erfüllt meine Sinne, alles um mich herum schwirrt und fliegt an mir vorbei.
  55. Straßenlichter. Gesichter. Werbeplakate und Fast-food Stände.
  56. Die verzerrten Geräusche des Verkehrs und die zischenden Geräder der Maschinen.
  57.  
  58. Ich denke ein letztes Mal an diese verkommene Welt, um sie für immer aus meinen Gedanken zu verbannen... und das Rauschen hört auf. Ein Aufschlag. Leute um mich herum schreien...
  59. Und alles ist endlich zu Ende.
  60.  
  61. --
  62.  
  63. Bin ich ausgebrochen? Ist es das, was ich mir erhlofft hatte? Es ist doch vorbei, oder?
  64. Doch ich kann meinen Körper noch spüren. Mein Herz schlägt noch und ich kann denken. Ich höre noch, auch wenn ich nicht weiß, was es ist.
  65. Langsam öffne ich wieder meine Augen, und ein gleißendes Licht versengt meine Netzhaut.
  66. Ich bin mir nicht sicher, ob ich zu viel auf einmal fühle oder ob ich noch nie echt gefühlt habe.
  67. Und auf einmal erfüllt mich etwas sehr bekanntes...
  68. Das war es.
  69. Davon habe ich geträumt.
  70. Wieder befindet sich um mich herum nur Glas. Ich bin gefangen. Wie in dem Traum von...gestern? Letzte Woche? Wann war das? Aber ich bin mir sicher, dass es passiert ist.
  71. Ich sehe auf, obwohl alles noch sehr verschwommen ist. Meine Augen gewöhnen sich erst sehr langsam an echtes Licht.
  72. Um mich herum sind nur weich-gezeichnete Figuren, alles verschwimmt und wabert, doch ist es klarer als alles, was ich je gesehen habe.
  73. Und da ist dieses Gesicht. Diesmal sehe ich alles klar und deutlich. Ein Mann mit weißem Anzug mit einem Ausdruck, das nur eines bedeuten kann. Etwas außergewöhnliches ist passiert.
  74. Schockiert, und trotzdem tatenlos starre ich in das Gesicht, und es sieht beobachtend zurück.
  75. Sein Mund bewegt sich und ich höre eine Stimme, doch es passt nicht zusammen. Irgendwas stimmt nicht...
  76. "Na, erkennst du mich wieder?", tönt es.
  77. Besorgnis zeichnet sich ab in dem Gesicht des Mannes.
  78. Trotzd der Kopfschmerzen, die mich plagen, versuche ich, etwas zu antworten, doch... ich kann es nicht. Mein Gehirn denkt nach und mein Mund formt Worte, doch ohne Geräusch.
  79. "Es ist alles in Ordnung, sie können nicht mit mir kommunizieren. Beruhigen sie sich."
  80. Der Mann mustert mich interessiert und seine Augenbrauen fahren zusammen.
  81. Plötzlich wendet er sich entschlossen weg. Entfernt sind noch seine Schritte da.
  82. Ich sehe mich mit großen Augen um, um zu verstehen wo ich bin. Wer bin ich? Ist das hier ein Traum? War das gerade eben ein Traum?
  83. Die Stimme ist wieder da.
  84. "Patient 314 ist aufgewacht" ruft der Mann im weißen Anzug in der Ferne. Seine Worte hallen wider.
  85. ...Patient? Bin ich das? Alles dreht sich. Ich habe so viele Fragen zu stellen, doch es formuliert sich einfach nichts in meinem Kopf.
  86. Der Mann ist wieder da und das besorgte Gesicht wendet sich wieder mir zu.
  87. Er geht plötzlich hinter mich, und ich bemerke, dass ich mich nicht umdrehen kann. Es schmerzt.
  88. Dann höre ich plötzlich ein Klicken und ich kann mich wieder normal bewegen. Der Schmerz weicht von mir. Das Glas vor mir fährt auseinander und ich kann klarer sehen, denken und hören, wie noch nie. Ich schnappe nach Luft. Es ist echte Luft.
  89. Der Mann erscheint wieder vor mir. Alles fühlt sich echter an als eh und je. Energie durchströmt langsam, aber sicher meinen Körper, als wäre ich zum ersten Mal wirklich am Leben.
  90. "Hören sie zu, ich kann ihnen alles erklären. Wo sie sind, und was Realität ist. Bevor sie bereit sind, das zu erfahren, muss ich ihnen allerdings etwas erzählen."
  91. Der Mann in weiß setzt sich auf einen Stuhl vor mir und mustert mich mit einer Miene, die genau so ernst und besorgt ist, wie ich sie mir in dem Traum vorgestellt habe. Es ist derselbe. Doch bevor ich ihn darüber fragen kann, fängt er an, zu erzählen.
  92. "Seien sie erst einmal ruhig. Der Zustand, in dem sie sich gerade befanden, ist kein Traum gewesen. Es war auch nicht die Realität. Wir haben sie gerade einer Simulation unterzogen. Was sie gesehen haben, war kontrolliert über diesen Computer, den sie hinter mir sehen."
  93. Ich werfe vorsichtig einen Blick auf das Gebäude hinter dem Mann, und es lassen sich tausende blinkende Lichter, Kabel und Anzeigen erkennen.
  94. "Eine Zeit lang waren Sie nicht wirklich Sie, sondern sie lagen hier drin:" - der Mann zeigt auf das Glasgefäß, in dem ich gefangen war.
  95. "Wir haben mitbekommen, dass sie unter einer Krankheit leideten, die sie stark geistlich behindert hat, und haben sie dann in diese Simulation versetzt, um etwas auszuprobieren. Wir hatten fast nichts mehr unter Kontrolle, denn die Simulation enstand durch die Auswirkungen ihrer eigenen Krankheit. Wir wollten sehen, was los war mit ihrem Gehirn... und die Resultate sind erstaunlich."
  96. Errinerungen überfluten mich plötzlich. Ich weiß auf einmal, wie ich hier eingeliefert wurde, in diesem Raum, damit diese Leute untersuchen durften, woran ich litt. Ich wusste es ja selber nicht. Doch jetzt ist mir so einiges klar.
  97. "Ich... war ich also in meiner eigenen Vorstellung gefangen?"
  98. "Genau. Wir hätten alles anhalten können, aber ihre Krankheit hat Überhand genommen. Und sie haben die Simulation selbst beendet. Was sie da erlebt haben, war eine Repräsentation von ihrem geistigen Zustand. All das, was sie sich ausgemalt haben, war Teil ihres Problems mit sich selbst. Uns tut sehr Leid, was sie durchmachen mussten, aber es ist nun alles vorbei. Sie befinden sich in der echten Welt. Und, wie fühlen sie sich?"
  99. Mir ist nicht klar, was ich antworten sollte.
  100. Einerseits fühle ich mich wie neugeboren, doch die Welt, in der ich mich befand, lässt nicht von mir los.
  101. Ich habe mich selber besser kennengelernt, doch weiß ich nicht ob mir das so gefällt.
  102. Wenn alles, was ich erlebt habe, meine eigene Krankheit war, was tue ich dann gegen diese Krankheit?
  103. Doch als ich wieder an meine Krankheit verfalle, fällt mir etwas entscheidendes ein.
  104. All diese Scheusale, die ich mir ausgemalt habe... all das war bloße Vorstellung.
  105. All die Probleme, die mich jeden Tag gequält haben, sind nicht real.
  106. Vielleicht habe ich ja doch noch eine Chance in dieser Welt.
  107. Vielleicht werde ich ja doch nicht in eine Zukunft geraten, in der Menschen auf einen Schlag nichts Wert sind.
  108. Vielleicht sollte ich ja damit zurechtkommen, wer ich wirklich bin.
  109. Ich wende mich zu dem Doktor.
  110. "Ich weiß gar nicht, wie ich ihnen danken soll. Ich habe so einiges über mich selbst erfahren. Über mein eigenes Gehirn und meine Probleme mit dieser Welt. Ich werde dann wohl lernen zurechtzukommen mit der Welt, in der ich bin."
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