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Aug 12th, 2015
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  1. Hadayatullah Hübsch
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  3. Tristan oder Die Traurigkeit der Gewalt
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  6. aus: Von out bis cool: Jugend und Jugendkultur in Hessen : ein Lesebuch
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  9. Die Straßen hier sind so eng, daß ein Auto, wenn Gegenverkehr kommt, auf den Bürgersteig fahren muß, um den anderen passieren zu lassen. Alemannenweg, Cheruskerweg, Teutonenweg, Chattenweg sind ihre Namen, durchschnitten von der Busstrecke, die Engelsruhe heißt. Hier leben in kleinen, zweigeschossigen Wohnblocks, die nach dem 2. Weltkrieg schnell und billig hochgezogen wurden, Menschen aus vielen Nationen ziemlich dicht beieinander, Türken, Marokkaner, Italiener, Jugoslawen, Deutsche - zwischen Kleinbürgertum und Asozialität. Der Anteil rechtsradikaler Wähler ist im Vergleich zu anderen Stadtteilen Frankfurts sehr hoch. Mittelpunkt des öffentlichen Lebens ist der Kiosk von Franz. So wird er immer noch genannt, obwohl Franz schon vor ein paar Jahren an Krebs gestorben ist. Schon frühmorgens versammeln sich hier Arbeitslose und Rentner zu Flaschenbier, Flachmännern und Zigaretten. Im Sommer ist auf demkleinen Vorplatz am Büdchen eine Tischtennisplatte aufgebaut, das verschafft Bewegung, irgendwie ist so ein Bierbauch ja auch unappetitlich. Und während auf ein paar wackeligen Klappstühlen die einen sitzen und dem Akkordeonspieler lauschen, der wieder mal La Paloma anstimmt, wechseln die anderen ein paar Bälle, bis zur Zigarettenpause und dem nächsten Schluck.
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  11. An die fensterlose Hauswand schräg gegenüber hat schon vor langer Zeit jemand mit riesigen Buchstaben den Spitznamen des jüngsten Sohnes eines Italieners gepinselt, der hier seine 11 Kinder großgezogen hat. Und weil der Graffitikünstler es nicht besser wußte, steht nun statt »Ratte« nur »Rate« am schmutzigen Putz. Aber irgendwie ist das auch richtig, denn die Leute leben hier auf Raten. Groß Geld verdient keiner. Arbeiter sind sie, manche leben auf Sozialhilfe oder Stütze. Einmal hat die »Ratte« das Straßenschild verhängt, mit einem Pappschild, auf dem in ungelenker Schrift »In the Ghetto« zu lesen war. Der Fahrplan an der Bushaltestelle ist, kaum aufgehängt, schon wieder verschwunden. Es ist ein Spaß, den die Halbwüchsigen sich leisten. Alle paar Wochen fackeln sie auch den Plastikkorb ab, der an dem Busschild hängt. Was sollen sie auch sonst schon tun. Wenn es dunkel geworden ist, hängen sie an der Telefonzelle rum, die vor dem Kiosk steht. Natürlich ist sie oft unbenutzbar, weil wieder mal jemand den Hörer abgerissen hat. Das ist aber nicht so schlimm, denn die Cleveren unter den 16jährigen haben Handy, schließlich sind sie Unternehmer: Sie sind Kleindealer, die sich den Stoff zum Kiffen aus jenen Stadtteilen besorgen, die dem ihren benachbart heftiger zugeht. Da sind Jugendbanden am Werk, entwurzelte Türken, Marokkaner und Deutsche, die sich, bunt gemischt, schon mal eine Straßenschlacht liefern. Kiffen ist der Hit. Die Polizei kümmert sich kaum drum. Die ist hinter den connections her, will den Kopf der Schleuserbande und gibt sich nicht mit den 15jährigen ab, die sich beim Gangster-Rap in eine andere Welt versetzen und in Kellern rumhängen, die ihnen die Eltern überlassen haben, damit sie ihnen nicht über den Weg laufen. Hier können sie sich die Horror-, Kung-Fu-, Action- und Gewaltfilme reinziehen, die sie sich über ältere Freunde aus den umliegenden Videotheken ausleihen. Mädchen spielen dabei kaum eine Rolle. Man bleibt unter sich und geizt nicht mit krassen Worten. Neger, fette Sau, Zigeuner sind die beliebtesten Schimpfworte, mit denen sie sich eindecken. Die Eltern haben die Nase von allem voll. Einfache Arbeiter, Gelegenheitsmalocher, die froh sind, in Ruhe gelassen zu werden, ihren Kasten Bier zu trinken und die Zeitung zu lesen, wie Bild hier genannt wird. Manche Väter dealen selbst, wird gemunkelt. Aber Heroin ist »out«, man hat zuviel gehört und gesehen von den Junkies, wenn auch der eine oder andere schon mal eine Nase »horse« geschnieft hat. Aber man will ja auch Auto fahren, das geht schlecht, wenn man total zu ist. Und außerdem ist es aufregend, in den Supermärkten oder im nahe gelegenen Main-Taunus-Einkaufszentrum klauen zu gehen. W. ist einer von ihnen. 16, für sein Alter sehr kräftig. Er hat schon fast alles mitgemacht. Alte Frauen überfallen, rumgesoffen und sich seit Jahren schon an die tägliche Ration Zigaretten gewöhnt. Er spielt gern Macho, läuft O-beinig und schwerfällig auf den Straßen rum und tut groß. Sein Vater hat ihn, als er noch klein war, häufig geschlagen. Das gibt er nun weiter. Warum soll es anderen besser ergehn als ihm. Er ist Türke, aber vom Islam weiß er nichts. Religion hat nichts zu bedeuten. Angesagt ist die Macht. » Unterliederbach - Die Macht« kritzelt er auf die Trafohäuschen. Er macht anderen angst, und er weiß warum. So hat er es in den Videos gesehen. Wer nicht nur das Maul aufreißt, sondern auch hart zuschlagen kann, ist der King. Das war auch das Motto von Tristan. Sein Vater ist Arbeiter und, wenn er nach Hause kam, zu müde, um sich noch dem Sohn zu widmen. Daß er Schokolade mitbringt, ist alles, was er für ihn tun konnte. Seine Mutter indes war ständig in Sorge um ihren einzigen. Der war schlecht in der Volksschule, und sie konnte ihm nicht helfen, weil sie es auch nicht besser wußte. Ständig klingelte sie bei den Nachbarn und bat fast heulend um Hilfe. Irgendwann war ihr alles zuviel. Sie ist nach Sachsenhausen gefahren, in ein Hochhaus gestiegen und hat sich zu Tode gestürzt. Was genau sie in den Selbstmord getrieben hat, darüber schweigt man sich aus. Der Vater ist dann fortgezogen, in ein Kaff ein paar Kilometer außerhalb der Stadtgrenze. Aber Tristan hat es immer wieder in seine alte Gegend gezogen. Hier lungerte er rum und lauerte den kleinen Jungs auf, die er bei der leisesten Provokation verprügelte, so daß sie es nicht mehr wagten, alleine aus dem Haus zu gehen, und sei es nur, um den Mülleimer auszuleeren. Mit den anderen Gleichaltrigen in der Gegend verband ihn alles, was verboten war. Klauen, Kiffen, Saufen, Rauchen, Omas kaschen. Manchmal saß er einsam am Rinnstein und grübelte vor sich hin. Seine Freunde versorgten ihn mit Drogen, er hatte immer Geld in der Tasche, keiner weiß woher. In den umliegenden Stadtteilen kannte er sich gut aus. Er wußte, wo Haschisch gehandelt wird und wo es Hehlerware gibt. Aber immer wieder zog es ihn zurück zu seinem alten Haus. Dann hatte es ihn erwischt. In der Nähe vom Bahnhof Höchst, der in der Nähe seiner alten Wohnung liegt, wurde er ermordet aufgefunden. Bestialisch ermordet. Die Polizei gab zunächst keine Einzelheiten bekannt. Und die Zeitungen schrieben von dem unschuldigen Kleinen, der aus unbegreiflichen Gründen ums Leben gekommen war. Als die Nachricht im Viertel die Runde machte, war von kleinen Jungs ein Seufzer der Erleichterung zu hören: »Jetzt habe ich keine Angst mehr«, hieß es. Polizei kämmte die Wohnblocks durch und fragte, ob jemand Genaueres wüßte, mit wem Tristan zusammengewesen war. Aber Genaueres weiß man hier nicht. Vor allem nicht, wenn die Polizei danach forscht. Also blieb das Bild eines sanft aussehenden blonden Knaben in Tageszeitungen und auf Fahndungsplakaten alles, was von ihm bekannt war. Keiner schrieb, wie es wirklich um ihn bestellt war. Er sei gut zu seiner Großmutter gewesen, ein lustiger Junge, dessen Mutter traurigerweise schon früh gestorben war. Unfaßbar. So ein lieber Junge. Die Halbwüchsigen im Viertel wußten es besser. Sie lachten über die Märchen, die die Reporter verbreiteten. Langsam sickerte dann die Wahrheit über Tristan in die geschockte Öffentlichkeit. Daß seine Mutter nicht einfach so gestorben war, sondern sich umgebracht hatte. (Warum, interessierte indes keinen.) Daß er trotz seiner jungen Jahre ein Kleinkrimineller gewesen war. Daß er Furcht und Schrecken verbreitete, wohin er kam. (Woher das kam, das interessierte keinen.) Daß die Jugendlichen im Viertel ihren Lebenssinn im Kiffen, Abhängen, Video- Glotzen und Klauen sahen, schrieb keiner. Nur aus dem lieben Tristan wurde plötzlich eine Bestie in Kindergestalt. Bei einem Prozeß, den Tristans Vater angestrengt hatte, weil jemand mal Tristan eine Ohrfeige gegeben hatte, dämmerte es einigen, daß Tristan ein lausiger Einzelgänger war. Weiß Gott, warum er so verwahrloste. Warum er schlug. Und warum er geschlagen wurde. Die Zeitung brachte es dann an den Tag, daß Tristan eben kein Lockenkopf gewesen war, den mir nichts, dir nichts jemand aus unverständlichen Motiven auf tierische Art erstochen, erwürgt, malträtiert Aber eben ein Einzelgänger. Unser Bub tut so etwas nicht. Tristan, der Abscheuliche. Daß er seine Raubzüge, seine Bedröhnungen anderen abgeschaut hatte und ins Extrem trieb, wurde also nicht Gegenstand der öffentlichen Debatte. Ein Einzelfall , hieß es weiterhin. Schicksal. Die Mutter. Und was alle im Viertel wußten, daß die 16jährigen im Viertel an den Wochenenden bis nachts um drei auf den Straßen umhertigerten, sich zuballerten und dann zum Einschlafen noch ein Horrorvideo anschauten, daß sich kein Streetworker und kaum ein Sozialarbeiter um die Verwahrlosten kümmert, daß die Lehrer mit all dem nichts zu tun haben, daß Nazi- Parolen die Runde machen, wurde geflissentlich nicht zur Kenntnis genommen. Solange es hier nicht Straßenschlachten gab und sich die Kleinkriminalität in Grenzen hielt und die Dealerei über ein paar Gramm nicht hinausging, konnte es ruhig so bleiben. Bis dann die Zeitung eine große Geschichte brachte. Die Wahrheit über Tristan, die schon beim Prozeßbericht leise angeklungen war, wurde jetzt schonungslos ausgebreitet. Offensichtlich wußte sich die Polizei keinen anderen Ausweg mehr, um dem grausamen Mörder doch noch auf die Spur zu kommen. Tristan, so war es nun zu lesen, war ein schlimmer Knochen. In Hehler- und Dealer-Kreise verwickelt. Sein Mörder mußte ihn gut gekannt haben. Daß er ihn so grauenhaft zurichtete, regelrecht abschlachtete, weise auf einen Einzelgänger hin.
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  13. Über das Motiv gab es aber noch nicht einmal Vermutungen. Wie jemand dazu kommen konnte, so unmenschlich auszurasten und den Jungen so abscheulich zuzurichten, entzieht sich der Kenntnis der Psychologen. Vermutlich ein Einzelgänger, der Computerspiele liebt und sich in Spielhallen rumtreibt. Ein Einzelgänger wie Tristan. Daß es in diesem Viertel von Einzelgängern nur so wimmelt, auch wenn sie sich zusammenrotten, hat keiner je beobachtet. Und es gibt ja fürwahr schlimmere Viertel. Das wissen auch die 16jährigen hier. Hier ist alles noch beschaulich und überschaubar. Kiffen, Videos, Rumhängen, Gangster-Rap. Das ist normal. Schließlich gibt es hier keine Banden. Alles nur Einzelgänger. Einzelgänger wie Tristan. Oder wie die Tristane sonst noch heißen. In lauen Sommernächten sitzen die Erwachsenen in ihren Kleingärten. »Angie« von den Rolling Stones läuft. Und das Bier wird nicht alle. Die Kinder stören nur dabei. Sie sollen doch tun und lassen, was sie wollen. Und ihre Freiheit genießen. Und sich mit den Pennern anfreunden, das ist doch nur menschlich. Und ein Bier hat noch keinem geschadet. Von Zigaretten ganz zu schweigen. Und Kiffen gehört doch auch irgendwie dazu, zum Leben. Oder zum Tod. Der Mörder von Tristan ist noch frei.
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  15. Aber die Jugendlichen furchten sich nicht vor ihm. Wenn wir zu dritt oder zu viert sind, kann uns keiner, sagen sie. Kiffen macht stark. Und außerdem sind wir »Die Macht«. Und in den Filmen ist es ja auch so, daß der Mann, der rot sieht, siegt. Und schließlich sind wir keine Neger. Wir sind doch keine Ausländer. Unsere Eltern vielleicht, aber wir doch nicht. Und an der Litfaßsäule, die neben dem Telefonhäuschen steht, sagt der Spruch vom Kommerzradio, wo's lang geht. »Eure Eltern werden kotzen«, verheißt das Plakat. Oder sie springen vom Hochhaus. Oder sie prügeln uns. Oder sie lassen uns in Ruhe, was sollen sie sonst schon tun. Was könnten sie uns auch schon beibringen! Die Videos können das besser. Da ist ein Mann noch ein Mann. Eben »Die Macht«. Und Tristan war ein armes Schwein. Einfach zu kraß.
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