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Die Lust am Schrecken Text

a guest
Jan 23rd, 2017
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  1. Text 1: Die Lust am Schrecken
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  3. Warum lesen wir Krimis, schauen wir GruselFilme? Warum sind wir fasziniert von Unfällen und Katastrophen? irgendetwas an der eigenen Angst scheint uns Lust zu bereiten jedenfalls dann, wenn mir nicht unmittelbar bedroht sind
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  5. Von Thomas Saum-Aldehoff
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  7. Unmittelbar unter dem Brustbein bohren sich die gewaltigen Scheren des Hirschkäfers in meinen Bauch. Die Schmerzen sind schlimmer als alles, was ich bisher erlebt habe. Die Wirbel in meinem Hals knirschen hörbar, als ich den Kopf noch höher heiße. Der Skarabäus spreizt sich mit seinen sechs stachligen Beinen ein, um zuerst die schwarzen, sichelförmigen Scheren und dann den Kopf in das weiche Fleisch zu stoßen. Nach fünf Sekunden ist der große Käfer verschwunden, und die Haut schließt sich über dem Loch wie Wasser, das von einem schwarzen Stein durchschlagen wird. Herr im Himmel, nein! Gütiger Gott, das darf nicht sein!, schallt es lautlos
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  9. in meinem Kopf. Was halten Sie von dieser Art Lektüre? Zu starker Tobak? Ein bisschen albern? Oder: Angenehm gruselig, mehr davon! Auch wenn die Stelle aus Dan Simmons’ Schauerroman Drood ästhetisch vielleicht nicht jeden überzeugt: Die meisten werden wohl zustimmen, dass von Szenen wie dieser ein Grauen ausgeht, das nicht nur abstößt, sondern gleichzeitig etwas Bannendes und beinahe Behagliches ausstrahlt.
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  11. irgendetwas scheint uns an Tod und Schrecken, Unheil und Bedrohung zu faszinieren wie kaum sonst etwas im Leben. [...]
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  13. in Literatur, Theater und Kino, ‚von Shakespeare über Poe bis Hitchcock und Lynch, ist das Grauen ein steter Begleiter. Horrorgeschichten mit Ungeheuem und Vampiren, Krimis mit wahlweise skrupellosen oder irren Serientätern, Fantasymärchen mit grausamen Hexen und Zauberern sorgen verlässlich für stolzen Absatz im Buchhandel und Besucherzahlen im Kino. Wer über solche Ausgeburten der Fantasie nur milde lächelt und sich stattdessen lieber einen lehrreichen Dokumentarfilm von Guido Knopp anschaut, muss deshalb nicht frei sein von der Faszination am Entsetzen, findet Marcus Roth, Psychologieprofessor an der Universität Duisburg-Essen. „Schauen Sie sich doch mal diese Dokumentationen an: Hitlers Helfer, Hitlers Frauen, demnächst vielleicht auch noch Hitlers Friseur. Der lnformationswert solcher Sendungen geht gegen null. Da stellt sich der Verdacht ein: Wer hier einschaltet, will genau wie bei einem Horrorfilm an dem Grauen partizipieren, das von Figuren wie Hitler ausgeht“
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  15. Warum lassen wir uns so gerne schrecken? Warum versetzen wir uns freiwillig in emotionalen Stress, statt uns einen beruhigenden Film mit putzigen Zootieren anzuschauen? Die meistgehandelte psychologische Erklärung für dieses Paradox lautet: Wir haben oft gar nicht das
  16. Bedürfnis, beruhigt zu werden. im Gegenteil: Wir suchen nach Stimulation. Furchteinflößende Situationen sorgen 50 im Körper für eine physiologische? Mobilmachung Der Herzschlag beschleunigt und die Pupillen erweitern sich, Schweiß bricht aus, Hirn und Muskeln werden mit Blut und Sauerstoff überschwemmt. Das alles empfinden wir, sofern es in Maßen geschieht, als anregend. Menschen streben ein ihnen angenehmes psychophysio» logisches3 Erregungsniveau, ein optimales arousal, an. Zu wenig Erregung empfinden wir als fad, zu viel davon macht uns Angst. Ein bisschen Angst wird hingegen meist als reizvoll empfunden. Dosierter Schrecken gar 60 uns einen Kick. Dieses Bedürfnis nach dem Adrenalinschub ist von Typ zu Typ unterschiedlich ausgeprägt. Manche Menschen brauchen sehr viel arousal, um sich in ihrer Haut richtig wohlzufühlen. Sie sind sensation seeker, das heißt, sie suchen aktiv nach Situationen. die ihnen diesen Kick verschaffen, und sie sind bereit, dafür auch Risiken und Gefahren auf sich zu nehmen. Sie rasen mit dem Sportwagen über die Autobahn oder mit den Skiern den Steilhang hinab oder stürzen sich wie Felix Baumgartner von einer Klippe oder einem Höhen. ballon. Der US-Psychologe Marvin Zuckerman hat das Konzept des sensation seeking in den 1960er Jahren entwickelt. Zu den Wissenschaftlern, die es seither systematisch erforscht haben, zählt auch Marcus Roth. Dabei machten er und seine Mitforscher allerdings eine Entdeckung, die Zuckermans Ursprungsidee von den gefahrenbesessenen Draufgängern (versus ängstllchen Stubenhockem) relativiert. Sie stellten fest, dass es nicht unbedingt Gefahren für Leib und Leben bedarf, um sich ein komfortables Maß an arousal zu verschaffen. „Menschen unterscheiden sich darin, welche Wege der Stimulation sie für sich bevorzugen“, sagt Roth. Die einen springen am Bungeeseil von der Brücke, die anderen gehen ins Fußballstadlon, wieder andere bevorzugen exotische Lie85 besspiele, und für manche ist ein Naturschauspiel wie der Sonnenaufgang am Grand Canyon anregend genug. Irgendwie sind wir alle sensation seeker, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedlichem Wege. in zwei repräsentativen Studien an Befragten zwischen 16 und 79 Jahren stellten Roth und seine Kollegen fest, dass das Bedürfnis nach Stimulation sich mit fortschreitendem Alter andere Ausdrucksmöglichkeiten sucht: Pubertierende sind eher leichtsinnige Draufgänger. „Ältere Menschen“, so Roth, „suchen sich ungefährliche Kicks, ohne Risikobelastung.“
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  18. Im Rausch der eigenen Emotionen
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  20. Es ist also nicht zwangsläufig die Gefahr, die uns zum Beispiel beim Horrorfilmgucken einen Kick gibt. Doch was ist es sonst? Es sind die Emotionen, meint Roth. „Nehmen Sie ein Fußballspiel: Die Zuschauer strömen doch nicht ins Stadion, um sich an der Geschicklichkeit der Ballkünstler zu berauschen, sondern sie finden Gefallen an der wechselnden Spannung des Spielverlaufs, am Auf und Ab der eigenen Emotionen.“ Ähnliches geschehe bei Leuten, die im Kaufhaus ohne materielle Not lange Finger machen; Der Reiz beim Stehlen sei ja nicht die „haptische“ Herausforderung“, sondern die Angst, erwischt zu werden. Roth nennt das „Emotionsinstrumentalisierung“: Man nutzt seine Gefühle, um sich lustvolles arousal zu verschaffen. [...] „Vielieicht brauchen wir die Angst und andere starke Emotionen, um uns zu spüren“, vermutet Marcus Roth. „Deshalb ist für die meisten Menschen Liebeskummer “leichter zu ertragen, als gar nichts zu fühlen.“ Er hat beobachtet, dass Studenten geradezu euphorisch davon erzählen, wie aufgeregt sie vor ihrer Prüfung waren und welche Heidenangst sie hatten doch so richtig genießen können sie diese Erregung erst im Nachhinein, wenn’s überstanden ist. Das scheint ein Grundgesetz unserer Liebesaffäre mit der Angst zu sein: Willkommen ist sie nur, wenn man weiß, dass sie bald wieder vorbei sein wird. Das Angenehme am sensation seeking, so
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  22. Marvin Zuckerman, ist das Wechselbad der Gefühle: Der
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  24. extremen Erregung folgt tiefe Entspannung. Schon der Psychoanalytiker Michael Balint hatte diesen
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  26. Gedanken in seinem Konzept der Angstlust beschrieben!
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  28. Man setzt sich einer furchteinflößenden Gefahr aus -und fühlt sich dann umso geborgener, wenn sie vorüber und alles wieder gut ist. Balint wäre ein schlechter Freucliar‘wer,5 wenn er nicht einen frühkindlichen Ursprung für diese Mischung aus Angst und antizipierter6 Lust ausgemacht hätte, nämlich die Situation: Mama geht weg und lässt mich allein aber dann kommt sie zurück, und die Wiedersehensfreude ist groß. [...] Nach dieser Theorie empfindet man beim Anschauen eines Horrorfilms oder beim Lesen eines Krimis Lust an der Angst. Man hatja auch genug Muße, lustvoll seiner Angst nachzuspüren, denn schließlich ist es nicht die eigene Haut, um die man fürchten muss, sondern die des armen gebeutelten Protagonisten. Marcus Roth sieht darin das Prinzip beim Konsum solcher Geschichten: „ich möchte diese Angst erleben, aber ich möchte sie nicht unmittelbar an mir erleben.“ [...]
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