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- JUTTA DITFURTH
- WORUM ES GEHT
- FLUGSCHRIFT
- 1 WORUM ES GEHT
- 2 WAS IST
- 3 WAS DROHT
- 4 WAS TUN
- ANHANG
- JUTTA DITFURTH WORUM ES GEHT
- ZU DIESEM BUCH
- Es gärt. Die Krise nimmt nur ihren nächsten Anlauf. Millionen Menschen haben Angst
- vor der Zukunft. Angst und Armut lassen bürgerliche Konsense bröckeln. Rassismus und
- Naturzerstörung wachsen. Wir erleben den Beginn einer Totalveränderung. Ein »Weiter
- so!« ist unmöglich.
- Klug und mit Bedacht legt Jutta Ditfurth die Interessen der Beteiligten offen. Ohne
- jeden Alarmismus stellt sie klar, worum es in Wirklichkeit geht. Sie sagt, was uns droht
- und was wir tun können, und zeigt Wege für einen radikalen Humanismus. Eine
- unverzichtbare Orientierungshilfe für alle, die zum Kern der Debatte vordringen wollen.
- ZUR AUTORIN
- Jutta Ditfurth ist Soziologin, Publizistin und politische Aktivistin der
- außerparlamentarischen Linken. Sie vertritt die Wählervereinigung ÖkoLinX-ARL im
- Frankfurter Römer. Ihre Bücher finden Sie auf S. 48.
- 1 WORUM ES GEHT
- Frei und glücklich zu sein ist der Sinn deiner Existenz. Du bist ein wunderbares,
- komplexes Produkt der Evolution mit schier unglaublichen Möglichkeiten. Du hast eine
- biologische und eine soziale Seite. Ohne Sauerstoff, Wasser und Nahrung kannst du nicht
- den dümmsten Gedanken fassen. Ohne andere Menschen überlebst du nicht, ohne dich
- mit ihnen auseinanderzusetzen wirst du nicht klüger. Vom ersten Moment deines Lebens
- an bist du ein gesellschaftliches Wesen.
- Der Sinn des Lebens ist es, dass alle Menschen die gleiche Freiheit haben, ihre
- sozialen, sinnlichen, intellektuellen, künstlerischen, handwerklichen und technischen
- Fähigkeiten zu entfalten. Die Vorbedingung wirklicher Freiheit ist, dass die Menschen die
- gleichen materiellen Möglichkeiten haben, um sich in ihrer individuellen
- Unterschiedlichkeit frei zu entwickeln. Dass sie sozial gleich sein müssen, um wirklich
- frei sein zu können.
- Angeblich herrscht in dieser Gesellschaft ja Gleichheit. Aber was nützt dir diese
- formale bürgerliche Freiheit, wenn du kein Geld für eine gute Wohnung hast und keins,
- um zu lernen und zu studieren? Was bringt dir das angeblich formal gleiche Recht vor
- Gericht, wenn du den besseren Anwalt oder die nächste Instanz nicht bezahlen kannst?
- Worin besteht der Wert einer gleichen Wahlstimme, wenn dir das Geld für den Zahnarzt
- fehlt und du Lebensmittel von der Tafel annehmen musst?
- Gesellschaftliche Verhältnisse herzustellen, in denen der Mensch frei und sozial gleich
- ist, ist Zweck und Ziel emanzipatorischer linker Politik. Dem sind im Kapitalismus
- erstickend enge Grenzen gesetzt. Du begegnest Leuten, die viel von Freiheit reden und
- sogar behaupten, dass du als Bürger und Bürgerin deines Landes »frei« bist. Aber wessen
- Freiheit meinen sie? Und was für eine Art von Freiheit? Freiheit wovon und wozu? Deine
- Konsumfreiheit als zahlungskräftiger Kunde? Die Freiheit, deine Arbeitskraft, wenn
- überhaupt, zu einem Preis zu verkaufen, der nicht einmal ein einfaches, würdiges Leben
- finanziert?
- Der freie Strom von Geld, Waren, Waffen und Billigarbeitskräften über die
- Staatsgrenzen für den maximalen Profit diverser Kapitalfraktionen ist der
- Gründungszweck der Europäischen Union (EU). Zum Alltag der EU gehören Ungleichheit
- und Unfreiheit der Menschen, die – auf ein besseres Leben gehofft habend – sich in den
- Nato-Stacheldrähten europäischer Grenzen verfangen oder im Mittelmeer versinken.
- Es herrscht Krieg zwischen »Eliten« und Masse, zwischen den Herrschenden und der
- Mehrheit der Bevölkerungen. Mancherorts ist der Krieg offen erklärt. Anderenorts findet
- er hinter dem Rücken von Menschen statt, die nicht genau wissen, worunter sie leiden,
- und noch weniger wissen vom Leben der anderen. Aber wenn du nicht begreifst – und
- dazu gehören Empathie, Wissbegier und Kopfarbeit, die Arbeit an Begriffen –, wie die
- Gesellschaft funktioniert, wie kannst du sie dann zum Besseren verändern?
- Dieser Krieg heißt Kapitalismus. Er herrscht weltweit. Er ist die Krise unseres Lebens.
- Der Kapitalismus ist nicht erst dann unser Problem, wenn er selbst eine Krise hat, er ist
- es schon in seinem menschenzerstörenden und naturplündernden Normalzustand.
- Wohlhabende und Reiche sind nicht Teil dieses »uns«. Oft haben sie die Krise ja
- mitzuverantworten, und viele ihrer Kaste macht sie noch reicher und mächtiger.
- Das über seinen terroristischen Normalzustand hinausgehende zusätzliche Dilemma
- des Kapitalismus ist seine Krisenhaftigkeit. In unregelmäßigen Abständen überfällt ihn
- eine Überproduktionskrise. Das ist eine Gesetzmäßigkeit. Diese Krisen sind mühsam zu
- durchschauen. Wenn die Schulbildung schlechter wird und die Propaganda raffinierter,
- also in Zeiten wie der unseren, fällt es noch mehr Leuten schwer, die sich verändernde
- soziale Realität zu begreifen. Sie finden keine passenden Worte, keine eigene Sprache,
- während die Verursacher ihrer Lage mit voller Medienmacht die falschen Begriffe in alle
- Köpfe hämmern.
- Die Erscheinungsformen des Kapitalismus sind verwirrend vielfältig. Es gibt ruhigere
- historische Phasen. Ihre Voraussetzung sind nationale Sondersituationen und dass die
- Bevölkerung des Landes die in andere Teile der Welt ausgelagerten Verbrechen des
- Kapitals übersieht und verdrängt. Das Leid anderer wegzuschieben ist auch in
- Deutschland eine eingeübte Kulturtechnik. Vor 1945 übersahen viele nichtjüdische
- Deutsche das »Verschwinden« ihrer Nachbarn. Heute verteidigen Enkel ihre Großeltern,
- erneuern alte Rechtfertigungen, obwohl sie den Massenmord an den Juden keineswegs
- bestreiten. Es hört nicht auf. Aufklärung stößt vielerorts an ihre härteste Grenze: das
- Interesse der Mitglieder einer Klasse, einer sozialen Schicht, ihre Privilegien mit allen
- Mitteln zu verteidigen.
- Der Kapitalismus ist höchst begabt darin, seine Erscheinungsformen zu ändern, um
- sein Wesen über die Jahrhunderte zu retten. Manchmal, unter besonderen Umständen,
- gehört dazu auch der offene Faschismus wie in Deutschland nach der
- Weltwirtschaftskrise von 1929. »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch
- vom Faschismus schweigen«, schrieb Max Horkheimer 1939 über diesen
- Zusammenhang.1
- Die Verteidiger der herrschenden Verhältnisse sagen heute gern, dass es »uns« noch
- nie so gut gegangen sei. Wer ist »uns«? Soll es wirklich um die Emanzipation und die
- soziale Befreiung aller Menschen gehen, existiert kein nationales »wir«. Mit »uns«
- meinen diese Epigonen meistens sich selbst und ihre Klasse, Profiteure und Fußvolk der
- herrschenden Verhältnisse. Von jeder politischen Generation schließen sich ihnen
- diejenigen an, die aufgegeben haben, für Veränderungen zu kämpfen – sofern sie je
- anfingen –, und nur noch um die Verteidigung ihrer Interessen und der ihrer Familien
- kreisen. Vielleicht haben sie sich heute verspekuliert und trauern deshalb der
- Nachkriegsphase des Kapitalismus vor 1989 nach, verklären ihn zur »sozialen
- Marktwirtschaft« oder als »rheinischen Kapitalismus«. Reformistische Philosophen und
- Organisationen geißeln, wenn sie von den anschließenden zwanzig Jahren sprechen, den
- »Turbokapitalismus« und »Casinokapitalismus«, als sei der nicht, was er ist: eine
- Variation des nun auch in seinem Zentrum enthemmteren Kapitalismus, der nun auch
- hier seine Waffen zeigt, welche die Menschen woanders längst am eigenen Leib gespürt
- haben, ohne dass dies in Deutschland eine Mehrheit interessiert hätte. Es ist
- überraschend, wie wenig die Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus analytisch
- durchdrungen und wie sehr sie unterschätzt wird.
- Die Protagonisten des falschen »uns« versimpeln seit Jahren Kolonialismus und
- Imperialismus zum angeblich neuen Phänomen der »Globalisierung«, als ob der
- Kapitalismus nicht von Anfang an raubplündernd und mordend um die Welt gezogen ist,
- weil Rohstoffe, billiges Menschenmaterial und Absatzmärkte lockten. Er marschierte bis
- an den Scheitel bewaffnet los, sobald das Kapital vorhanden und die notwendige
- Nachrichtentechnik sowie Transportwege entwickelt waren.
- Der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise des Kapitalismus, auch sie Ergebnis einer
- Überproduktionskrise, heften die Verteidiger und Mitläufer der kapitalistischen
- Verhältnisse die Etiketten »Eurokrise«, »Bankenkrise«, »Finanzkrise« und
- »Staatsschuldenkrise« an. Das ist nützlich, um das kapitalistische System nicht als
- Ganzes infrage stellen zu müssen und allenfalls über unzulängliche und falsche, das
- System nicht gefährdende Lösungen zu reden. Denn wenn nur Banken und
- Finanzspekulanten »böse« sind, lässt sich ja vielleicht der Kapitalismus retten?
- Was muss vorausgehen, damit eine junge Arbeiterin oder ein junger Arbeiter sich
- wegen unerträglicher Arbeitsbedingungen selbst töten? Dreizehn Mitarbeiter des
- Elektronikkonzerns Foxconn in China haben sich im Jahr 2010 umgebracht. Die dreizehn
- Toten sind nur eine Nadelspitze der Eisbergkette von iSlavery. Unter der
- Meeresoberfläche kapitalistischer »Normalität« liegt die Welt millionenfach
- ausgebeuteter, bei der Arbeit verkrüppelter, durch Chemikalien vergifteter, an
- Arbeitsunfällen und -bedingungen psychisch und physisch zugrunde gegangener
- Menschen. Von denen, die nicht einmal eine solche Arbeit hatten und daran zugrunde
- gingen, nicht zu reden. Hinter ihnen stehen viele Ungezählte und Hunderte, die ihr Leben
- mühsam aufrechterhalten. Die dreizehn Toten starben an Arbeitsdruck,
- Mangelernährung, Überstunden, elenden Quartieren, mieser Gesundheitsversorgung und
- endlosen Demütigungen. Während sie in den Tod sprangen, hielten Konsumierende auch
- vor deutschen Apple-Stores jubelnd ihr neues iPhone oder iPad in die Luft und
- durchschritten stolz das Spalier schlecht bezahlter Angestellter, die erzwungen
- »freiwillig« Beifall klatschten.
- »Ich habe mich wegen meiner Arbeit bei France Télécom umgebracht«, schrieb ein
- Angestellter, bevor er sich tötete. Personalabbau, extreme Arbeitsverdichtung,
- Erniedrigungen und Überwachung, soziale Hierarchien, entgrenzte Arbeitszeiten und
- maßlose Leistungsanforderungen führten beim französischen Autokonzern Renault 2007
- zu einer Selbstmordserie von Mitarbeitern und zwischen 2008 und 2010 bei France
- Télécom zur Selbsttötung von 46 Menschen. Überraschend viele Selbstmörder waren
- »Kopfarbeiter«, fachlich besonders qualifiziert oder sogar in leitenden Positionen tätig.
- In deutschen Konzernen kommt es vor, dass sich Leiharbeiterinnen prostituieren, weil
- sie auf eine Festanstellung hoffen. Oft regiert der Alkohol, die Zerstörung nach innen,
- seelische Verkrüppelung und Gewalt gegen Nahestehende.
- In der Demokratischen Republik Kongo kriechen Kinder, giftige Gase einatmend, in
- ungesicherte Stollen, um Metalle der seltenen Erden herauszukratzen. Auch dank ihrer
- lungenkranken ausgemergelten Körper ist unsere digitale Kommunikation garantiert.2
- Denn die ist offensichtlich wirklich grenzenlos frei – von Empathie und Solidarität.
- Krieg, Ausbeutung, Naturzerstörung, Fremdbestimmung und Demütigung haben die
- Welt im Griff. Vielerorts »entfaltet« sich statt der individuellen Persönlichkeit eines
- Menschen nur das perspektivlose Elend. Und vielleicht die Magenhaut, wenn endlich
- einmal Nahrung die Speiseröhre hinunterrutscht, und sei es nur gebackener Brei aus
- Erde.
- In den satten bürgerlichen Milieus von kapitalistischen Zentren wie Deutschland
- bedeutet das Entfalten individueller Fähigkeiten nur allzu oft, Kinder zu brechen und sie
- für das kapitalistische Rattenrennen zu stählen. Ihr Selbstbewusstsein wird auf die
- falsche Art sozialer Anerkennung getrimmt. Ohne Leistung sind sie nichts wert. Für die
- Entsagung von wirklicher Freiheit und Glück werden sie mit Privilegien und
- Konsumgütern verwöhnt. Die Sensiblen leiden darunter, aber nur eine winzige
- Minderheit dieser elitären Kaste verlässt den goldenen Käfig – in den sie dann doch fast
- immer lebenslänglich zurückkann.
- Die Sehnsucht nach einem wirklich freien Leben unter Gleichen soll nicht blühen, das
- wäre eine gefährliche Sprengkraft. Oft ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen,
- emanzipatorische Werte lächerlich zu machen. Die große konterrevolutionäre Welle war
- sehr erfolgreich. Es gibt kluge junge Frauen, die sich in grandioser Fehleinschätzung ihrer
- gesellschaftlichen Lage vor fast nichts mehr fürchten, als für eine Feministin gehalten zu
- werden. Es gibt Eltern, die glauben wollen, antiautoritäre Erziehung sei rücksichtslose
- Regellosigkeit. In vielen Schulen finden wir nur morsche Reste alter 68er-Ideale. Manch
- »linker« Lehrer fördert die rhetorische Selbstherrlichkeit von Mittelschichts- und
- Oberschichtskindern und nur ihre »freie« Entfaltung, anstatt die Kinder der anderen, der
- Arbeiter und Migrantinnen, der Hartz-IV-Empfänger, Kleinbürger und Subproletinnen
- mit den intellektuellen und sozialen Waffen für den Kampf um Erkenntnis und Befreiung
- auszurüsten.
- Vor unsere Zukunft ist ein blickdichter Vorhang aus Scheinfreiheiten gezogen. Die
- Propaganda hierfür funktioniert perfekt: Junge Leute, nach ihren individuellen
- Zukunftsvorstellungen befragt, haben oft nicht einmal dafür eine eigene Sprache und
- illustrieren ihre Träume mit Bildern aus Werbefilmen. Der Konsumzwang, der sich als
- individuelle Wahlfreiheit gebärdet, terrorisiert das Individuum, damit kein kritischer,
- rebellischer und subversiver Gedanke aufkommt.
- Soziale Gleichheit verlangt, dass jeder Mensch die gleichen materiellen
- Voraussetzungen hat, sich zu ernähren, bestmöglich medizinisch versorgt zu sein, gut zu
- wohnen, sich zu bilden, am kulturellen Leben teilzunehmen und sich mit den
- gesellschaftlichen Verhältnissen ungehemmt auseinanderzusetzen. Wie sollte er sonst
- frei sein? Der Mensch ist ein soziales Wesen, welches andere Menschen lebensnotwendig
- braucht. Ein Mensch wird in der Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt zum
- Individuum. Damit alle Menschen sich frei und gleich entfalten können, sich selbst
- verwirklichen können, müssen sie von Armut, Unterdrückung und Ausbeutung befreit
- werden.
- Ein solch radikaler Humanismus braucht die Verankerung im wirklichen Leben des
- Menschen. Es gibt für jeden von uns nur dieses eine Leben. Und es existiert schon, wenn
- wir neu dazukommen. Es besteht unter komplizierten Voraussetzungen, die wir
- verstehen lernen müssen, um nicht zu planlosen Mitläufern unserer Existenz zu werden.
- Wir werden vollkommen zufällig in irgendwelche Verhältnisse hineingeboren. Allein
- deshalb ist jeder Stolz auf Nation oder Herkunft lächerlich. Wir wissen nicht, wie lange
- wir leben. Nach unserem Tod bleibt von uns nichts. Es geht um diesen Zeitabschnitt, der
- uns durch den Zufall der Evolution geschenkt ist. Uns und all den anderen Menschen, die
- in unserer Zeit leben. Wir können vor uns hinleben oder wir können die Welt verbessern,
- für uns, für die Menschen, die mit uns leben, und für die Kinder aller.
- Was hält Menschen davon ab, sich so zu entscheiden? Frühes Gebrochensein,
- zerstörerische soziale Einflüsse, materielle Interessen? Verblüffend groß ist die Zahl
- derjenigen, die meinen, »Gutes« zu tun, und sich beispielsweise in großen Kirchen
- organisieren, wo doch diese Institutionen alles dafür tun, dass ihre Anhänger sich in die
- herrschende Ordnung, die Ordnung der Herrschenden, einfügen.
- Grandios unterschätzt aber wird die entsolidarisierende und antisoziale Wirkung des
- modernen Irrationalismus, der Esoterik. Die antiaufklärerischen
- »Geheimwissenschaften« gibt es nicht ohne Elitedenken, Antisemitismus und Rassismus
- und abgrundtiefe Verachtung angeblich minderwertiger Menschen, so blendend das auch
- alles getarnt sein mag. Die Desorientierung des Menschen weg von seinem wirklichen
- Leben hin auf Jenseits und Himmel, auf Karma und Reinkarnation, auf Gott, Götter oder
- sonst welche »höheren« Instanzen, die nicht existieren, rauben ihm den Verstand, sein
- Leben zu verstehen, und die Kraft sowie die sozialen Fähigkeiten, die Gesellschaft zu
- verändern. Der Mensch legt sein »Schicksal« in die Hände von All- und Übermächtigen,
- fördert, ob er es will oder nicht, Eliten, stützt das »Oben« und »Unten« der herrschenden
- Ordnung, befeuert den Rassismus, die Nabelschau und die Ich-Bezogenheit.
- Irrationalismen zersetzen wie bösartige Viren die Fähigkeit des Menschen, sein Leben
- gemeinsam mit anderen in die eigenen Hände zu nehmen.
- Der Irrationalismus mit all seinen esoterischen Facetten ist der größte Feind des
- Humanismus und ein Begleiter und Vor(be)reiter antidemokratischer und faschistischer
- gesellschaftlicher Entwicklungen. Wahnwelten sichern die Herrschaft von Menschen
- über Menschen auf direkte und indirekte Weise, deshalb fördern die Gegner der
- Befreiung aller Menschen diese, wo sie nur können. Nebenbei ist der Vertrieb von
- Heilslehren samt der esoterischen Konsumgüter und Dienstleistungen ein profitables
- Geschäft.
- Unser soziales Leben hat, wie schon gesagt, eine biologische Seite: Ohne Luft zum
- Atmen, ohne Trinkwasser, ohne Nahrung kann kein Mensch existieren. Ohne das zu
- ernährende Hirn kann er nicht denken, weder über sein gesellschaftliches Sein und noch
- über sein Verhältnis zur natürlichen Umwelt reflektieren. Ohne seinen Verstand kann
- kein Mensch die erste wirksame Waffe gegen unfreie Verhältnisse schmieden: die Waffe
- der Kritik für den Weg aus der Unmündigkeit.
- Die wirkliche Freiheit des Menschen hat als ihre eine Bedingung die soziale Gleichheit
- und als ihre andere einen Zustand von Natur, in dem der Mensch gesund leben kann.
- Nichts davon ist verwirklicht. Im Gegenteil. Wir kommen der Befreiung des Menschen
- nicht einmal näher. Die tatsächlichen Möglichkeiten einer humanen Gesellschaft und
- ihre Wirklichkeit klaffen immer weiter auseinander. Die Weltwirtschaftskrise, die seit
- 2007 um die Erde rollt, dient den Herrschenden als Alibi für die beschleunigte Zerstörung
- von Freiheiten, Rechten und Errungenschaften, die soziale Bewegungen, allen voran die
- Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter, erkämpft haben.
- Während die Meere zu sterben beginnen, planen unsere Gegner die Natur noch
- effizienter auszuplündern. Während Hungersnöte sich ausbreiten wie Wüstenstaub,
- berechnen sie, wie sie unsere Arbeit restlos entwerten können. Während sie ein
- menschenverträgliches Klima zerstören, wetteifern sie um maximalen Profit.
- Glaubt irgendjemand allen Ernstes, dass alles so weitergehen kann wie bisher,
- vielleicht mit ein paar marginalen Korrekturen?
- 2 WAS IST
- In Hunderten von Jahren und in ungezählten blutigen Kämpfen ist die heute herrschende
- kapitalistische Ordnung so erfolgreich durchgesetzt worden, dass sie den meisten
- Menschen als natürliche Ordnung erscheint. Der brutal hergestellte, aber »stumme
- Zwang der Verhältnisse« (Marx) täuscht die Menschen. Sie nehmen ihr
- Ausgebeutetwerden nicht wahr. Sie glauben, sie arbeiteten für sich, weil sie auch
- konsumieren, ein bisschen Freizeit haben und Überschüsse für »Luxus« wie Urlaub oder
- ein Auto anhäufen dürfen.
- Der Kapitalismus hat, seit er vor rund 500 Jahren aufkam, mit ungeheurer Wucht den
- Feudalismus weggesprengt. Er zwang die Menschen in die Fabriken, veränderte die
- gesamte Organisation der Arbeit und des Lebens und machte sich die Natur untertan.
- Indem er die feudalen Verhältnisse umgestoßen hat, hat er uns aber keineswegs von
- allem befreit, was er vorfand. Patriarchat, Sklaverei und Religion verleibte er sich ein und
- modernisierte sie, um uns effizienter auszubeuten und ruhig zu stellen. Diese
- Wandlungs- und Integrationsfähigkeit gehört zu des Kapitalismus besonderen und stets
- unterschätzten Begabungen. Mit der Erweiterung seiner Unterdrückungsformen – ins
- noch diktatorischere und autoritärere bis hin zum offenen Faschismus – rettet er sich im
- Allgemeinen aus seinen Krisen.
- Es gab aber auch soziale Rechte und Gewohnheiten, die zu übernehmen der
- Kapitalismus sich weigerte: die Allmende beispielsweise, das Recht auf kollektives Land.
- Oder das Recht auf Faulheit, auf Muße, Tagträumerei, auf »unproduktiven« Genuss,
- sofern der nicht dazu diente, die Arbeitskraft für den nächsten Arbeitstag
- wiederherzustellen. »Müßiggang« wurde getreu dem christlichen Arbeitsethos »aller
- Laster Anfang«. Des Menschen Wert wurde künftig an seiner Arbeitsfähigkeit und seiner
- Leistung gemessen. Auch die Mehrheit der Arbeiterbewegung sah das so und wurde
- anfällig für Ideologien, die den vermeintlich »unproduktiven« Menschen verachteten:
- Eugenik, Rassismus und Antisemitismus, aber auch die Intellektuellen und die
- »brotlose« Kunst.
- Besonders unproduktiv schien der zu sein, der mit Geld handelte. Dass aber die
- Herstellung und Verwertung eines Produkts ohne Rechnungsführung, Management,
- Vertrieb, Handel, Kredite, Devisen usw. im Kapitalismus nicht funktionieren kann, blieb
- ausgeblendet. Diese Funktionen schöpfen zwar selbst keinen Wert, weil Buchhalter,
- Manager, Händler, Banker ja selbst nichts Konkretes herstellen (auch wenn sie manche
- ihrer Dienstleistungen und Geschäfte heute gern Produkte nennen), aber ihre
- Funktionen sind kapitalistisch notwendige. Sie sind die Kehrseite des
- Produktionsprozesses.
- Der produzierende Mensch schafft ein Produkt. Der Kapitalist eignet sich, indem er
- den Lohnabhängigen ausbeutet, diesen geschaffenen Gebrauchswert als Mehrwert an.
- Ausgebeutet ist der Lohnabhängige deshalb, weil er gezwungen ist, seine Arbeitskraft, um
- leben zu können, zu einem Preis zu verkaufen, den er nicht bestimmt, und weil er
- aufgrund der gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse niemals den wahren Wert seiner
- Arbeit als Lohn erhält. Die Umformung eines Rohstoffs durch eine Arbeiterin zu einem
- Gegenstand ist die konkrete Seite desselben Kapitalismus, der einen Händler handeln
- und eine Bank zocken lässt. Man kann die Banken nicht bekämpfen, ohne den
- Kapitalismus zu bekämpfen. Es gibt keine Trennung von Produktiv- und Finanzkapital.
- Auch um die heutigen Banken loszuwerden, muss man den Kapitalismus abschaffen.
- Es geht im Kapitalismus darum, Geld in mehr Geld zu verwandeln. Produkte sind
- nichts als Mittel zum Zweck. Es geht auf dem kapitalistischen Markt nicht um den
- rationalen Tausch von Gebrauchsgütern, sondern um die Rückverwandlung von Waren in
- mehr Geld. Zweck der Sache ist die Realisierung des von den ausgebeuteten Arbeitern in
- abhängiger Lohnarbeit geschaffenen Mehrwerts zur Maximierung des Profits des
- Kapitalisten.
- Um noch mehr dieser Produkte, dieser Mittel zum Zweck, verkaufen zu können,
- müssen Bedürfnisse geweckt werden. Ihre Befriedigung ist nicht der Sinn der ganzen
- Sache, sondern auch nur ein Abfallprodukt kapitalistischer Produktion. Das Kapital
- bezahlt Werbeagenturen, damit sie den Menschen Bedürfnisse einreden. Fettere Autos,
- mehr Kleidung, Kosmetik, die jung hält.
- Den größten Erfolg aber hat das Kapital, wenn es ihm gelingt, die Träume des
- Menschen zu okkupieren, die Bilder des Menschen von sich selbst. Wenn es ihm gelingt,
- die Sehnsucht nach Freiheit, nach einem angstfreien, selbstbestimmten Leben, durch den
- Wunsch nach Ersatzwelten zu unterlaufen, nach käuflichen Ersatzwelten aus
- Konsumgütern und Dienstleistungen, für die leider hingenommen werden muss, dass die
- Natur geplündert wird und Menschen sich totschuften.
- Die Sache mit dem Konsum ist vertrackt. Ein Teil des Konsums ist lebensnotwendig:
- Essen, Kleidung, gelegentlich Medikamente. Anderes notwendig: Möbel, Bücher,
- Werkzeug. Aber ein riesiger Anteil des Konsums bedient vor allem zwei Funktionen: Die
- des drogenähnlichen Ersatzes für ein autonomes, freies Leben und die der Integration des
- Konsumierenden in die bestehenden Verhältnisse.
- Das Kapital muss, jedenfalls in den kapitalistischen Zentren, die Menschen mit der
- Teilhabe am relativen Wohlstand locken. Wäre die Unzufriedenheit in den Zentren so
- groß wie an seiner Peripherie, wäre die herrschende Ordnung bedroht. Diese
- Bedürfnisbefriedigung ist janusköpfig: Auf der einen Seite steht eine Flut betäubender,
- nutzloser, schädlicher, aber auch arbeitserleichternder, hübscher und unterhaltsamer
- Produkte. Auf der anderen Seite haben die Bedingungen der Rohstoffbeschaffung, ihre
- Verarbeitung und die Folgen der Produktion Landstriche verseucht, Armut verbreitet,
- Kriege angeheizt und arbeitende Menschen krank gemacht. Und die nutzlos-nützlichen
- Produkte sind vielleicht Spielzeuge mit krebserregenden Weichmachern, auf denen
- Kinder herumkauen; Medikamente ohne therapeutischen Nutzen und mit tödlichen
- Nebenwirkungen; Lebensmittel aus laboraromatisiertem Dreck.
- Was ist der Einbruch in einer Bank gegen ihre Gründung? Was ist ein Joint gegen den
- allgegenwärtigen Konsumrausch? Die bunte Welt der Waren ist die Superdroge. Der
- Mensch ist Arbeit und Konsum. Will er innerhalb dieser perversen Logik seinen »Wert«
- steigern, weil er seinen eigentlichen Wert nicht kennt, benötigt er Mittel zur materiellen
- Distinktion, zur abgrenzenden und andere Menschen abwertenden Unterscheidung. Er
- muss teurere, seltenere, ja auch offen sinnlosere Konsumgüter kaufen als die anderen.
- Wir leben in einer Gesellschaft voller Suchtkranker, deren Zustand als normal
- definiert wird. Keine Regierung und kein Gesundheitssystem planen, sie auf Entzug zu
- setzen. Dem Drogendealer und seinen Kumpanen gelingt es sogar, dem Suchtkranken
- einzureden, Herstellung und Vertrieb der Droge geschähen in seinem besten Interesse,
- ihr »Standortinteresse« sei identisch mit unserem Interesse an einem guten Leben.
- Viele Menschen funktionieren störungsfrei: statt ihre knappe freie Zeit für Schönes zu
- nutzen, shoppen sie. Statt Vögeln, Lesen, Streiten, Spielen, Musikmachen, Spielen,
- Recherchieren, Erfinden, Reisen und Denken, müllen sie, für ein paar Stunden aus dem
- Arbeitspferch »frei«gelassen, ihren Kopf zum Beispiel mit den vergleichenden Daten von
- Konsumgütern zu. In der so verschwendeten freien Zeit werden sie auf doppelte Weise
- für die kapitalistische Wirtschaftsordnung zugerichtet: Sie kaufen und mehren den Profit
- derer, von denen sie ausgebeutet werden. Zweitens helfen sie, die Verhältnisse zu
- stabilisieren, unter denen sie oft genug leiden, weil sie nichts Subversives mit ihrer
- kostbaren arbeitsfreien Zeit anzufangen wissen.
- Der schäbige Ersatz für ein selbstbestimmtes Leben sind die Scheinfreiheiten und
- Scheinidentitäten des Massen- und Luxuskonsums. Ich bin, was ich kaufe. Mein Auto /
- mein Flachbild-TV / mein iPhone usw. usf. Konsum und virtuelle Realitäten ersetzen
- eine echte Teilnahme an gesellschaftlichen Entwicklungen.
- Aus der überbordenden Warenvielfalt lassen sich Kleidung und andere Insignien eines
- »persönlichen, individuellen Stils« auswählen, dessen Zurschaustellung Identität zu
- stiften scheint. Aber diese gekauften Identitäten sind Schimären. Die Konsumdroge mag
- eine Zeitlang die alltägliche Demütigung überdecken, in hierarchischen Strukturen zu
- arbeiten und Sinnloses, Fremdbestimmtes, gar Schädliches herzustellen. Auf Dauer aber
- nützt die Droge Konsum als Ventil nichts. Der denkende Mensch ertappt sich in der Falle
- unzufriedener Zufriedenheit, in einer mit Waren vollgestopften Leere.
- Spätestens wenn man seine Telefonrechnung nicht bezahlt, sind die Leitungen zur
- Außenwelt und ins world wide web schneller gekappt, als Eis in tropischer Sonne
- schmilzt. Es ist keine technische, sondern eine soziale Frage. Wer kein Handy und keinen
- Internetzugang besitzt, kann nicht mitmachen, wird isoliert und aus der Gemeinschaft
- ausgeschlossen. Diesem Zwang der Verhältnisse können sich Jugendliche und
- Erwachsene kaum entziehen.
- Sofern die Rechnung bezahlt ist und die Technik funktioniert, betritt der Mensch das
- Reich der Überwachung, der Manipulation und des grenzenlosen Konsums. Es verändert
- seine Art, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Und dann beginnt die Sisyphus-
- Arbeit, denn in diesem Giftmüllgebirge von Desinformation und Schrott sind winzige
- Perlen wertvoller Information nicht zu surfen, sondern zu schürfen.
- Die Methoden, mit denen sie die – nicht mehr so – neuen Techniken durchsetzen,
- haben zwei Gesichter. Das eine lacht: Ich bin ein neues Spiel, ich verspreche Spaß! Das
- strenge sagt: Sei flexibel verfügbar, schnell, effizient, du fliegst sonst aus dem
- Rattenrennen, das immer rasender wird. Die Sklaveneigenschaften werden dadurch
- gezuckert, dass die Technik auch eine private nützliche Seite hat.
- Aber sie beschädigt unsere Freiheit und Selbstbestimmung, indem mit ihr unsere
- Bewegungs- und Verhaltensmuster, unsere Konsumgewohnheiten, sozialen Kontakte und
- Gespräche abgefischt werden. Die kapitalistische Entwicklung der Informationsund
- Kommunikationstechnologie unterwirft die Menschen Schritt für Schritt einer
- allumfassenden Kontrolle aller Lebensbereiche.
- Bank-, Scheck- und Gesundheitskarten, Handys, Satellitennavigationssysteme, EMails,
- Internet, facebook und twitter usw. usf. scheinen das Leben der Menschen in
- Zeiten der ansteigenden intensiven wie extensiven Ausbeutung leichter und bequemer zu
- machen und »schenken« den Ausgeworfenen, solange sie die Teilhabe bezahlen können,
- einen sinnlosen Sinn. Die oberflächliche oder tatsächliche Attraktivität der Waren
- verbirgt das in ihnen steckende zerstörerische Potenzial. Der Konsument macht sich
- selbst dumm, um konsumieren zu können. Die weltweite Diskussion über Elektrosmog
- ist beispielsweise am Hype über die Smartphones erstickt. Der Konsument will sich das
- Spielen nicht verderben lassen. Er verweigert die Aufnahme kritischer Informationen,
- weil er sonst sein Spielzeug nicht mehr skrupelfrei benutzen könnte. Wie zum Ausgleich
- interessiert er sich noch viel weniger für die Arbeitsbedingungen in den chinesischen
- Sonderwirtschaftszonen oder auf den Giftmüllhalden aus deutschem Elektronikschrott in
- Ghana.
- Heute können alle alles leichter erfahren, sofern wir die richtigen Werkzeuge
- einsetzen. Wir können fragen: Wie viel Blut klebt an diesem lustigen Produkt, das ich in
- Händen halte? Von welchen Rohstoffen handelt dieser Krieg? Wir könnten wissen
- wollen, warum der Soldat, der aus Afghanistan oder einem anderen
- »Menschenrechtseinsatz« in einem Sarg heimkehrt, sich zum Töten ausbilden ließ und
- wie viele Menschen er tötete, bevor er starb. – Eine Gesellschaft, die sich all diese Fragen
- nicht stellt, ist schwerkrank.
- Indem der Konsument sich darin übt, zu verdrängen, damit er ohne schlechtes
- Gewissen konsumieren kann, trainiert er soziale Verhaltensweisen, welche die
- Gesellschaft zu ihrem Nachteil verändern. Jeder Bildschirm auf einem Bahnsteig zieht
- des Konsumenten Aufmerksamkeit von den real existierenden Menschen neben ihm ab.
- Er verzichtet auf autonome Erkundungs- und Lernprozesse, weil er im Internet ja
- angeblich jede Auskunft »findet«, deren Qualität er aber nicht bewerten kann. Gibt es
- Hoffnung auf Verweigerung, Subversion? Wir werden später sehen.
- Die neuen Techniken sind Kavallerien trojanischer Pferde. Versteckt unter Effizienz
- und Bequemlichkeit verbergen sich neue Möglichkeiten der sozialen Kontrolle und
- Prägung, die sich, kaum hineingelassen, im privaten und öffentlichen Leben und im
- Arbeitsleben der Menschen ausbreiten und einrichten: Lauschangriff in der Wohnung,
- Videoüberwachung im öffentlichen Raum, Kontrolle und Manipulation des
- Konsumverhaltens, totale Bespitzelung des Individuums durch biometrische Daten,
- drangsalieren politischer Meinungsäußerungen, die vom Mainstream abweichen.
- Das Verdrängen und blinde Konsumieren schärft die Angst vorm Nachbarn: diffuse
- Bedrohungen vom Terrorangriff bis zum Taschendiebstahl schüren ein Klima, in dem die
- Menschen der Einschränkung ihrer Freiheit fortwährend zuzustimmen. Die Menschen
- werden zum bloßen gläsernen Objekt des kapitalistischen Verwertungsinteresses,
- kontrolliert, manipuliert, gesteuert. Ihrer Unsicherheit opfern sie die Reste ihrer Freiheit
- für nur noch mehr Unsicherheit und Unfreiheit.
- Es geht im Kapitalismus, wie gesagt, nicht um die Herstellung von Produkten, sondern
- um Profit, um Geld, um die Mehrung des eingesetzten Kapitals. Dafür wird unsere
- Arbeitskraft ausgebeutet. Die Produkte sind nur die Mittel für diesen Zweck. Der
- Lohnarbeitende stellt ein Produkt her. Die Differenz zwischen dem, was er – oder sie – an
- Lohn bekommt und was die Kapitalistin zum Beispiel für die Maschinen aufwendet, und
- dem, was der Kapitalist als Preis für das Produkt erhält, ist der Mehrwert. Alles
- Wirtschaften im Kapitalismus, alle Beschäftigung, alle Einkommen, alle Marktprozesse
- sind von der erfolgreichen Mehrwertproduktion abhängig. Sie liegt dem
- Wachstumszwang im Kapitalismus zugrunde und begründet die Konkurrenz der
- Kapitalfraktionen untereinander. Wachstumszwang und Konkurrenz führen zu
- Überproduktionskrisen, die dem Kapitalismus immanent sind. Überproduktionskrisen
- sehen sehr unterschiedlich aus.
- Kapitalismus ist auch in seinen ruhigsten Zeiten – die es ja nur um der Preis der
- Ignoranz der Grausamkeiten gibt, die er anderswo anrichtet – kein »Markt« und keine
- »Marktwirtschaft«, in der »freie« Menschen nützliche Produkte gegen Geld tauschen.
- Der kapitalistische Markt ist kein Gemüsemarkt, sondern die Sphäre der Realisierung des
- Mehrwerts, der in die Ware gesteckten Arbeit und der sonstigen Aufwendungen. Das
- bedeutet: Auf dem Markt geht es nur um die Rückverwandlung der Waren in mehr Geld,
- als zuvor in sie investiert worden ist. Der irrationale Selbstzweck der »schönen
- Maschine« Kapitalismus ist es, unaufhörlich Geld aufzuhäufen und als Kapital wieder in
- den Produktionsprozess einzubringen. Die Konkurrenz im Kapitalismus treibt die
- Produktivitätssteigerung durch neue Technologien voran. Die heute erreichte
- Produktivitätssteigerung könnte unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen den
- Menschen als freie Zeit zur Verfügung gestellt werden, so dass sie weniger arbeiten
- müssten und dennoch gut leben könnten. Aber im Kapitalismus wird dieser
- Produktivitätszuwachs benutzt, um Arbeitskraft überflüssig zu machen. Wozu vierzig
- Facharbeiter einstellen, wenn es ein Dutzend Sklavenarbeiter zu Dumpingpreisen
- machen oder ein Roboter noch billiger? Der einzelne Kapitalist kann sich, selbst wenn er
- das wollte, diesem strukturellen Zwang, die Produktivität zu steigern, nicht entziehen –
- außer um den Preis seines Untergangs. So sind die unaufhebbaren kapitalistischen
- Spielregeln.
- Wir sind im sechsten Jahr dieser Weltwirtschaftskrise mit den verschiedenen Namen.
- Ganze Volkswirtschaften gehen zugrunde, und auch wenn sie sich wieder zu erholen
- scheinen, ändern sich die sozialen Strukturen der Gesellschaften drastisch und wir finden
- danach noch mehr Menschen dauerhaft ins Elend gestürzt als zuvor. Alle Versuche, die
- Krise zu bändigen, sind bisher gescheitert. Aus der letzten Weltwirtschaftskrise rettete
- sich der Kapitalismus in Faschismus und Weltkrieg. Welche »Lösung« wird ihm diesmal
- einfallen?
- 3 WAS DROHT
- Niemand weiß, wie diese Weltwirtschaftskrise ausgehen wird. Kaum läutet ein
- Hohepriester der herrschenden Verhältnisse ihr Ende ein, nimmt sie ihren nächsten
- Anlauf. Viele Linke hofften, dass die Krise das Ende des Kapitalismus bedeutet.
- Tatsächlich beobachten wir, dass sie die heutige Ordnung nicht beseitigt, sondern die
- gesellschaftlichen Verhältnisse brutalisiert.
- Lange ging es vielen Handwerkerinnen, Facharbeitern, Akademikerinnen und der
- technischen Intelligenz materiell gut, und sie ignorierten die grundsätzliche
- Zerstörungskraft des Kapitalismus. Dann platzten ihre Baudarlehen, Rentenfonds,
- Aktiendepots und sonstige Geldanlagen und mit ihnen ihre materielle Sicherheit, die
- Zukunft und die ihrer Kinder und Enkel. Plötzlich, manchmal zu ihrem eigenen
- Erschrecken, sehen auch sie die Welt mit anderen Augen.
- Der Kapitalismus funktioniert, auch wenn er einmal keine Krise hat, immer nur in den
- Augen seiner Profiteure störungsfrei. Bereits sein Normalbetrieb beruht darauf, dass er
- Mensch und Natur verbraucht und ruiniert. Indem er jene beiden einzigen
- »Springquellen des Reichtums« (Marx) – die menschliche Arbeitskraft und die
- Naturressourcen – so profitabel wie nur möglich verwertet, zerstört er sie und beraubt
- sich damit tendenziell seiner eigenen Grundlage. Er versucht sich dieser Gefahr, von der
- er weiß, auf zweierlei Weise zu entziehen: Erstens indem er mit neuen Technologien der
- Erde noch mehr Ressourcen abpresst. Zweitens indem er die menschliche Arbeit bis unter
- die Hungergrenze verbilligt oder gleich möglichst viele Menschen durch Automation
- ökonomisch gänzlich überflüssig macht.
- Verschiedene Kapitalfraktionen sind auf unterschiedliche Weise von der
- Weltwirtschaftskrise betroffen, denn sie zertrümmert Branchen, lässt Konzerne
- fusionieren und ganze Betriebe verschwinden. Wir werden den Kapitalismus dennoch
- leider nicht los, er ändert »nur« seine Gestalt. Er rüstet auf und wird mit moderneren
- Waffen auf uns und auf die Natur eindreschen, mit ideologischen, ökonomischen und
- militärischen. Er wird autoritärer, barbarischer, raffinierter.
- Die gegenwärtig vom Kapitalismus und den ihm immanenten Überproduktionskrisen
- ausschließlich selbst verursachten Störungen seiner Geschäfte befördern neue Raubzüge
- und Kriege. Nicht nur im Pazifik, in der Arktis und im Kaukasus rasseln Großmächte mit
- ihren Waffen.
- Deutschland ist kein harmloses Land, welches die Lage der Welt lediglich mit
- Besorgnis, aber im Wesentlichen unbeteiligt beobachtet. Deutschland ist Mittäter.
- Deutsches Kapital befindet sich auf Raubzügen in der ganzen Welt. Der deutsche Staat
- maßt sich die Führungsrolle in der EU an, ermächtigte sich, die Regierungen anderer
- Staaten zu kontrollieren, und seine Politik ließ andere Staaten in die Knie gehen.
- Der Staat unterdrückt soziale Unruhen, beschafft dem Kapital die nötige Infrastruktur,
- sorgt für die Ausbildung seines Personals, schenkt ihm unseren gesellschaftlichen
- Reichtum durch Privatisierung, moderiert Konflikte zwischen Kapitalfraktionen und
- sichert ihre gemeinsamen beziehungsweise dominanten Interessen politisch und
- militärisch ab. Das Verhältnis von Staat und Kapital ist in seinem Kern heute noch wie im
- Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels 1848 beschrieben: »Die
- moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der
- ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet.«
- Die Bundeswehr war von der Remilitarisierung 1955 der Bundesrepublik bis zur
- Auflösung der Sowjetunion 1991 stets eine angebliche Verteidigungsarmee. Die
- Verteidigungspolitischen Richtlinien, drastisch verändert 1992 und 2003, erlauben heute
- den Einsatz des Militärs auch im Innern des Landes gegen die politische Opposition,
- gegen Streikende, gegen Flüchtlinge. Noch wird nicht eingesetzt, was möglich ist, aber die
- Waffen und Strategien liegen griffbereit in den Safes des »Sicherheits«staates. Die
- Richtlinien erlauben außerdem Kampfeinsätze und Kriege überall in der Welt, sobald
- deutsche »Sicherheits«fragen berührt sind. Diese »Sicherheit« ist längst das Gegenteil
- von Freiheit und nur ein Codewort für die Absicht, sich mit Gewalt an den Ressourcen
- anderer Staaten zu vergreifen.
- Es werden, um die Mehrwertproduktion anzukurbeln, nahezu unberührte Teile der
- Natur – vom Arktischen Ozean bis zur Sahara, von der Mongolei bis in den Norden
- Kanadas, von Äthiopien bis Angola – neu verwertet. Deutsche sowie andere europäische,
- russische, chinesische, indische, kanadische und US-amerikanische Staaten und
- Konzerne können Meere leerfischen, Kontinente und Meeresböden nach Öl durchbohren,
- Gesteine auspressen und fruchtbares Ackerland mit Pipelines durchgraben. Böden, die
- Millionen Menschen ernähren könnten, werden weltweit dem Biosprit für Autos und
- Maschinen und der Fleischproduktion geopfert. Bei der giftgeschwängerten Suche nach
- seltenen Erden entstehen chemikaliengetränkte Mondlandschaften, die das Wüstenband
- der Erde vergrößern und damit das Elend der Menschen.
- Der Reichtum des deutschen Bürgertums begründet sich auf rund 500 Jahre
- Kapitalismus, auf Kolonialismus, zwei Weltkriege, auf Faschismus, Arisierung und
- Zwangsarbeit, auf der gewaltsamen Enteignung der Arbeitsmittel der eigentlichen
- Produzenten, auf Ausbeutung der Natur und der so genannten Dritten Welt – bis heute.
- Das weiß der Bürger, das weiß die Bürgerin. Das verheimlichte Wissen prägt ihren Blick
- auf die Welt. Von ihrem Anteil an der Beute wollen sie nicht lassen, auch die Mehrheit
- des aufgeklärteren Teils des Bürgertums nicht. Das erklärt ihre Aggressivität gegenüber
- jeder radikal-humanistischen Kritik und ihre Sucht nach konfliktlosen, harmonischen
- Zuständen, weil doch jedes Lüpfen des schweren Teppichs, der ihre Geschäftsgrundlagen
- zudeckt, ihre Verbrechen – und die Verbrechen, von denen sie profitiert haben – enthüllt.
- Das erklärt auch, warum jede grundsätzliche Kritik an den gesellschaftlichen
- Verhältnissen, so schnell als obszön stigmatisiert, als geisteskrank pathologisiert oder als
- terroristisch denunziert werden muss.
- »Glück« besteht für das Bürgertum nicht aus dem Wohlbefinden aller Menschen.
- Lässt sich aus der Lage »fremder« Menschen kein Geschäft machen, verschwinden sie –
- außer dem Dienstpersonal – aus dem Blickfeld. Wenn der Lohnarbeitende – also der
- Produktive und Mehrwertschaffende – sich erhebt und ein freies und glückliches Leben
- unter Gleichen fordert, wird der Besitzbourgeois verrückt. Und steht der Mensch auf,
- obwohl er nicht mehr nützlich ist, keiner Erwerbsarbeit nachgeht, schwer behindert ist,
- krank oder alt, dreht der Kapitalist vollends durch. Alles Geld, was der Wohlfahrt der
- Unnützen dient, schmälert seinen Profit. Diese Furcht befeuert eine Vielzahl
- utilitaristischer Diskurse, in denen der Mensch nach seiner ökonomischen Nützlichkeit
- bewertet wird.
- Bei der Flucht aus seinen Widersprüchen hilft dem Bürger und der Bürgerin, wenn sie
- die Opfer der Verhältnisse, von denen sie profitieren, für »selbst schuld« an ihrer miesen
- Lage erklären können. Deshalb die schrillen Töne aus den Musikantenstadln der
- deutschen Gesellschaft, aus dem Mainstream der Stammtische, der Wirtschaftsverbände
- und Kulturinstitutionen, der Sportvereine und Hochschulen. Die Armen sind selbst
- schuld an ihrem Elend, würden sie sich nur anstrengen, ihre Kinder ökologisch ernähren
- und nicht so viele schäbige Fernsehprogramme ansehen, obwohl die doch extra zu ihrer
- Ruhigstellung geschaffen wurden. Die Kranken sind selbst schuld – sofern nicht privat
- versichert –, gewiss haben sie geraucht, getrunken, in ungesunden Wohnungen an viel
- befahrenen Straßen gelebt und falsch gearbeitet. Die Alten sind selbst schuld, weil
- unproduktiv.
- Ganz besonders groß aber ist die Selbstschuld der »Fremden«. Angefeindet,
- staatlicherseits schikaniert und verfolgt sowie in jeder Hinsicht auf eigene Kosten
- versuchen antirassistische und antifaschistische Linke seit Jahrzehnten, den deutschen
- Inhumanismus zu bekämpfen. Aber Deutschland ist durchtränkt von einem in löchrigem
- Gehege gehaltenen Antisemitismus und vom Rassismus. Wenn, wie in der Münchner
- Reithalle, ein gutbürgerlicher Mob selbst moderat-kritische Fragen an Thilo Sarrazin
- niederbrüllt, dann sind wir mittendrin. Mit einem NPD-Verbot wäre diese Meute nicht
- erfasst.
- Weil die Angst vor dem sozialen Absturz das Bürgertum in guter deutscher Tradition
- aggressiv macht und nicht solidarisch, sind Hassbilder von feindlichen, fremden,
- minderwertigen Menschenmassen sehr wirksam. Denn mit der Obrigkeit und den
- Konzernspitzen, den oberen Etagen der sozialen Hierarchien, auf die sich ja sein Ehrgeiz
- richtet, legt sich ein deutscher Untertan selten an.
- W e n n die Fremden von Nazis ermordet werden, sind sie durch ihr Fremdsein
- irgendwie selbst dafür verantwortlich. Wenn sie im Mittelmeer ertrinken – hätten sie
- nicht zu Hause in »ihrer Kultur« bleiben können? Dann wären sie an unserer schließlich
- nicht zugrunde gegangen. Wenn sie in »Entwicklungs«ländern leben und dort
- verhungern, sind sie auch selbst schuld – warum sind sie auch »zu viele«?
- Was droht? Die Interessen der EU-Staaten prallen aufeinander. Das deutsche Kapital
- hat sich an EU-Europa groß gefressen und frisst weiter. Die Verbilligung der Arbeit in
- Deutschland hat die deutsche Exportwirtschaft an die Spitze katapultiert. Durch deutsche
- Mitverantwortung brechen ärmere europäische Staaten vollends ein. Die Bevölkerungen
- etwa von Spanien und Griechenland bekommen das zu spüren. Aber über die
- geostrategischen Interessen Deutschlands wird nur im Ausland diskutiert, hier lediglich
- in linken Publikationen, so dass hier fast niemand versteht, was das Gekauder »Europa
- spricht jetzt deutsch« anderswo an historischen Erinnerungen und berechtigtem Zorn
- auslöst.
- Im Takt jedes einzelnen Wimpernschlags eines nervösen Menschen stirbt irgendwo auf
- der Welt ein unterernährtes Kind. Die Lebenserwartung eines Menschen in Afrika liegt
- durchschnittlich zwanzig Jahre unter der eines Deutschen. Jeder siebte Mensch auf der
- Welt hungert, eine Milliarde Menschen sind es insgesamt. Schon vor der
- Weltwirtschaftskrise mussten vierzig Prozent der Weltbevölkerung mit einem US-Dollar
- am Tag auskommen. Nur ein Drittel der Weltbevölkerung hat Zugang zu sanitären
- Einrichtungen. Das alles hat das Bürgertum in den kapitalistischen Zentren bisher nie
- wirklich in seinen Fundamenten erschüttert. Ablasszahlungen zu Weihnachten, nach
- Tsunamis und Erdbeben, bieten Ventile.
- Was droht? Mit der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise, so fürchte ich, wird ein
- großer Teil der Weltbevölkerung noch härter als »überzählig« attackiert werden als
- bisher. Der Nutzen ist klar: Die krisengeschüttelte Menschheit soll zum Vorteil einer
- einflussreichen Minderheit gespalten, die Ursachen der Naturzerstörung vernebelt und
- der vorzeitige Tod von Millionen Menschen relativiert werden. Es soll aber auch um jeden
- Preis verhindert werden, dass neue soziale Unruheherde entstehen und bestehende sich
- verbünden.
- Entgegen allen Fakten gelten nicht Imperialismus und Kapitalismus, sondern die
- »Überbevölkerung« als wesentliche Ursache von Armut, Hunger und Naturzerstörung.
- Die üblichen Berichte über die Entwicklung der Weltbevölkerung sind meist mit Bildern
- eng gedrängter dunkelhäutiger Menschenmassen illustriert, selten mit Bildern
- Hellhäutiger im Feierabendverkehr, beim Schlussverkauf oder in Autobahnstaus zu
- Ferienbeginn.
- Wenn Menschen als überzählig gelten und ihr Leben angeblich die ökologischen
- Grundlagen »unserer« unvergleichlich wertvolleren Existenz bedroht, leben sie
- gefährlich. Man plündert sie aus, sperrt sie in Lager, schiebt sie ab, lässt sie im
- Mittelmeer ertrinken, an Aids, leicht heilbaren Krankheiten oder an Nahrungsmangel
- sterben. Ihre Vernichtung ist lautlos. Die Sprache, in der manchmal über ihren Tod
- berichtet wird, und die seltsame Folgenlosigkeit demonstrativen Mitleids verraten den
- stählernen Willen, so viele wie möglich sterben zu lassen.
- Deutschland ist dichter besiedelt (231 Einwohner pro Quadratkilometer) als Nigeria,
- das bevölkerungsreichste Land Afrikas (152 Einwohner pro km2). In den Niederlanden
- leben mehr Menschen (400 Einwohner pro km2) als in Indien (382 Einwohner pro km2).
- Ägypten liegt mit 81 Menschen pro Quadratkilometer unter Österreich (100 Einwohner
- pro km2) und der Schweiz (184 Einwohner pro km2). Israel (341 Einwohner pro km2) und
- Japan (337 Einwohner pro km2) haben eine bald dreimal so große Bevölkerungsdichte
- wie China (135 Einwohner pro km2). Hat schon jemals irgendwer ernsthaft die
- Überbevölkerung Monacos (16 620 Einwohner pro km2) gegeißelt? Niemand hat bisher
- verlangt, die deutsche Bevölkerung gewaltsam an ihrer Vermehrung zu hindern – im
- Gegenteil, es wimmelt nur so von Versuchen, »deutsches Erbgut« zu mehren.
- In den Publikationen des ökologisch besorgten Bürgertums finden sich martialische
- Begriffe wie »Bevölkerungsbombe«, »Bevölkerungsexplosion«, »Überbevölkerung«,
- »Menschenfluten«. Sie unterstellen, dass nicht der Kapitalismus, sondern die »zu vielen«
- Menschen im Trikont3 die Natur bedrohen. Mancherorts müssen Menschen für
- Lebensmittel, medizinische Versorgung oder Bildung zahlen, indem sie sich
- zwangssterilisieren lassen. Man nennt es »Bevölkerungspolitik«. Das Bild von der zu
- kleinen Erde, auf der sich die Armen hemmungslos fortpflanzten, während die
- Lebensmittelproduktion stagniere, ist ein prominentes Klischee der Inhumanität. Es
- übermalt viele gesellschaftliche Defizite, deren wahre Ursachen unerhellt bleiben. Statt
- zu fragen: »Wie viele Menschen erträgt die Erde?«, müsste es lauten: Wie viel
- Kapitalismus ertragen der Mensch und die Natur noch?
- Tatsächlich wächst die Lebensmittelproduktion schneller als die Erdbevölkerung. Es
- ist auch in Zukunft genug da, um alle Menschen zu ernähren. Hunger ist allein ein
- Problem der Verteilung, des Mangels an Kaufkraft, der kapitalistisch beschleunigten
- Wüstenbildung und des Missbrauchs fruchtbaren Landes. Neuere Forschungen lassen
- vermuten, dass die Zahl der Weltbevölkerung ab etwa 2060 stagnieren, sich
- möglicherweise sogar zurückentwickeln wird. Aber seit wann sind Tatsachen eine
- wirkungsvolle Waffe gegen soziale Verachtung und Rassismus?
- Hohes Ansehen genießen in Deutschland Organisationen, welche »die
- Bevölkerungsexplosion im Süden« für die größte Bedrohung der Erde halten,
- beispielsweise der Club of Rome. In ihm organisieren sich Angehörige der Oberschicht:
- Konzernvorstände, Aufsichtsräte, Banker, Manager, Politiker, Wissenschaftler. Keiner
- will mit der kapitalistischen Produktionsweise brechen. Sie plädieren u. a. für den
- »Klimaschutz durch Atomenergie« und für die nächste Stufe der Atomtechnologie: die
- Atomfusion.
- Zu den deutschen Mitgliedern gehört beispielsweise Liz Mohn, Aufsichtsratsmitglied
- der Bertelsmann AG und Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, die in Deutschland
- die Privatisierung öffentlichen Reichtums aggressiv vorantreibt. Auf Vorschlägen der
- Bertelsmann Stiftung beruhten die Hartz- und die Agenda-2010-Beschlüsse der
- SPD/Grünen-Bundesregierung (1998–2005). Club-Mitglied Franz-Josef Radermacher,
- ehemals Präsident des Bundesverbandes für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft,
- plädierte nach der Atomkatastrophe von Fukushima für die Laufzeitverlängerung von
- Atomkraftwerken. Einflussreich ist auch der Burschenschaftler und Wirtschaftsführer
- Eberhard von Koerber, Ex-Vorstand bei BMW, heute Chef eines
- Finanzberatungsunternehmens. Der Energie- und Elektrokonzern ABB, dessen
- Vorstandsvorsitzender von Koerber auch war, ist zum Beispiel am neokolonialen
- Solargroßprojekt Desertec in Nordafrika beteiligt.
- Im letzten Jahr luden die Grünen im Bundestag ausgerechnet Dennis Meadows, Co-
- Autor der Club-of-Rome-Studie Grenzen des Wachstums (1972) zum Vortrag über den
- Zusammenhang von Bevölkerungswachstum und Natur. Wesentliche Prognosen des
- Clubs haben sich als unzutreffend herausgestellt, aber das spielt keine Rolle. Erst halfen
- die Grünen Kriege durchzusetzen, jetzt ist es ihre Hauptaufgabe, öffentlichkeitswirksame
- »ökologische Argumente« zur noch erfolgreicheren Durchsetzung von Kapitalinteressen
- zu finden.
- Die Versorgung der »Unproduktiven« mindert den Profit. Die Unterstellung, dass die
- »Überflüssigen« an ihrer sozialen Lage »selbst schuld« seien, ist für die Profitierenden
- sehr nützlich. Sie versuchen zu belegen, dass nicht die kapitalistische Produktionsweise,
- sondern eherne »Naturgesetze« den Hungertod so vieler Menschen zu verantworten
- haben. Vielerorts wird dafür der Malthusianismus zu neuem Leben erweckt. Thomas
- Robert Malthus (1766–1834) unterstellte in seinem Buch Essay on the Principle of
- Population (1798/1803), dass die Zahl der Menschen sich exponentiell (1, 2, 4, 8 usw.)
- entwickle, die Produktion von Lebensmitteln hingegen nur linear (1, 2, 3, 4 usw.). Schuld
- an der Bevölkerungsentwicklung sei die hemmungslose Vermehrung der Armen. Den
- anglikanischen Landpfarrer ekelten die Armen in den Slums der englischen
- Industriestädte.
- Die Armengesetze des Feudalismus hatten den Menschen noch das Recht auf Nahrung
- und ein Dach über dem Kopf zugestanden. Malthus nahm es ihnen: Ein Mensch habe
- »nicht das mindeste Recht, irgendeinen Teil von Nahrung zu verlangen«, wenn seine
- Familie ihn nicht ernähren könne und »wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig
- hat«, sei er »wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist
- durchaus kein Gedecke für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt
- nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen.«4 Wer diesem Eindringling am
- reich gedeckten Tisch der Natur Platz mache, sagte Malthus, locke nur weitere
- Eindringlinge an. Statt Fülle herrsche dann Mangel, und bald werde das Vergnügen der
- Gäste durch das menschliche Elend gestört, das sie mit ansehen müssen. Es sei »völlig
- natürlich«, dass nur eine Minderheit der Menschen gebildet, sittlich wertvoll und
- wohlhabend sei und dass es auf der Welt immer zu viele arme, unbrauchbare Menschen
- geben werde. Die Unterstützung der Armen sei unsinnig, weil sie sich dadurch bloß
- vermehrten, Hilfe belohne Trägheit und Laster und stimuliere die Kinderzahl. Die Natur
- spreche diesen Menschen das Existenzrecht ab, man müsse ihre Zahl beschränken.
- Friedrich Engels nannte Malthus’ Theorie »die offenste Kriegserklärung der Bourgeoisie
- gegen das Proletariat«.
- An allen Ecken und Enden blitzt heute die Malthussche Inhumanität auf. Für viele
- konservative und rechte Ökologen, Ökonomen und Politiker ist die »Überbevölkerung«,
- vorzugsweise als »Sorge um die Natur« verkleidet, ein zentrales Problem. 2011: Dem Ex-
- Bundeskanzler Helmut Schmidt klatschte dafür ein SPD-Parteitag Beifall. Joseph Deiss,
- Ex-Bundespräsident der Schweiz und Ex-Präsident der UNO-Generalversammlung,
- huldigte auf einem Wirtschaftskongress Malthus. Das Bevölkerungswachstum in
- Deutschland und der Schweiz beunruhige ihn nicht, das nähme ja ab. Für den Rest der
- Welt habe Malthus »vor 200 Jahren [alles] gesagt, und die Lektionen der Geschichte sind
- immer noch nicht bekannt. Das ist ein Bereich, der sich von selber regelt.«5
- [Hervorhebung J. D.]
- Malthus wird seit 200 Jahren widerlegt. Aber seine Thesen sind zu nützlich, um sie
- den Fakten zu opfern. Was die »Protokolle der Weisen von Zion« für den Antisemitismus
- sind, das ist die Malthussche Ideologie für die Entwertung der Menschen im Trikont.
- Der einflussreiche US-Ökologe Garrett Hardin6 ersetzte Malthus’ Bild vom »Fest an
- der reich gedeckten Tafel der Natur« durch das Bild vom Rettungsboot, in dem »wir alle«
- sitzen und das sinke, sobald sich zu viele Ertrinkende auf stürmischer See darauf retten
- könnten. Er bezog dieses Gesetz ausdrücklich auf die Einwanderungs- und
- Flüchtlingspolitik der kapitalistischen Staaten:7 »Übermäßig fruchtbare« Menschen in
- ein wohlhabendes Land einzuladen sei eine »Politik des nationalen Selbstmordes«, sogar
- des Selbstmordes der Spezies Mensch.8 Es sei daher, sagt Hardin, unsinnig, auf
- universellen Menschenrechten zu bestehen.
- In inhumaner Tradition stehen auch andere Repräsentanten des rechten Flügels der
- Umweltschutz- und Ökologiebewegung, zum Beispiel Konrad Lorenz, Max Otto Bruker
- und Herbert Gruhl. Noch im Berliner Wahlkampf von 2011 bezog sich ein
- Spitzenkandidat der Ökologisch Demokratischen Partei positiv auf ÖDP-Parteigründer
- Gruhl.9 In der Natur, sagte Sozialdarwinist Gruhl, herrsche ständiger Anpassungsdruck,
- fortwährende Leistungsbereitschaft, überall Todesdrohung, keine Gnade – nirgends.
- Diese »Naturgesetze« übertrug er auf die menschliche Gesellschaft, jedes soziales Netz
- sei demzufolge »unnatürlich«. Wozu Einwanderung erlauben? Auch Gruhl drohte den
- »zu vielen« mit dem Tod: »Für einige überfüllte Populationen [er meint Menschen; J. D.]
- mag dann Gewalt oder sogar die Atombombe eines Tages keine Drohung mehr sein,
- sondern Befreiung.«10
- Die ökologische ist ein untrennbarer Teil der sozialen Frage. Die Lohnarbeitenden sind
- gezwungen, an ihrer eigenen Gesundheitsschädigung mitzuarbeiten, um zu leben. So
- verarmen sie auch ökologisch. Für ihr Kranksein erklärt man sie anschließend – wegen
- schlechter Lebensführung – für »selbstverantwortlich«, längst ein Orwellscher Begriff.
- Aber Menschen müssen die Natur bearbeiten, um zu leben. Wie diese Bearbeitung
- geschieht, welche Produktionsweise dabei zum Einsatz kommt, wer über sie wofür und zu
- wessen Nutzen verfügt, das sind die entscheidenden Fragen.
- Die Techniken und das Wissen, um allen Menschen ein würdiges Leben zu
- ermöglichen und zugleich die Natur in einem menschenfreundlichen Zustand zu
- erhalten, sind längst entwickelt. Insofern ist die Utopie an ihrem Ende, wie Herbert
- Marcuse 196711 sagte: Alle Techniken sind entwickelt, um den Menschen und die Natur
- zu zerstören. Aber es sind auch alle Mittel gefunden, um die Welt zu einer
- menschenwürdigen zu machen. Doch die Ruinierung des Menschen und der Natur
- bleiben profitabler als ihr Glück und ihre Freiheit. Die Sache ist also niemals eine Frage
- fehlender Alternativen, sondern eine der Herrschaft von Staat und Kapital und wann, wie
- und mit welchem Ziel wir mit ihr brechen können.
- 4 WAS TUN
- Was also tun, wenn wir nicht in einem Land leben wollen, in dem bald Millionen
- Menschen im Ghetto eines mickrigen Grundeinkommens und einer schäbigen
- Grundrente existieren sollen? Wenn wir wollen, dass keiner früher stirbt, nur weil er arm
- ist, schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen hat und nie die bestmögliche
- Gesundheitsversorgung erfährt? Was tun, wenn wir nicht möchten, dass Menschen an
- den verrammelten Grenzen dieses Landes zerschellen? Wenn wir eine Gesellschaft nicht
- mehr ertragen, die von schreiender Ungleichheit durchtränkt ist? Wenn wir der
- Vernichtung der ökologischen Lebensgrundlagen nicht weiter zusehen wollen? Wenn wir
- nicht mehr erleben möchten, wie soziale Verachtung und Rassismus Kindern das
- Rückgrat brechen, so dass sie verwelken, bevor sie ihre Einzigartigkeit entfalten können?
- W e n n wir die Opposition gegen diesen Terror der »Normalität« in einer
- kapitalistischen Gesellschaft ernst meinen, hat das Konsequenzen für uns. »Wir« meint
- kritische Menschen und emanzipatorische Linke aller Arten, zu deren Grundsätzen die
- Freiheit auf Basis sozialer Gleichheit gehört, Menschen, die diese Programmatik nicht
- nur als heimlichen Traum in ihren Köpfen verbergen, sondern handeln wollen und
- Bündnispartner suchen.
- Eine solche emanzipatorische linke Politik ist während einer Weltwirtschaftskrise
- noch schwerer zu machen als zu anderen Zeiten – einerseits. Mit der Krise haben
- Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und die soziale Stigmatisierung von
- Langzeitarbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und Obdachlosen zugenommen. Ihre Würde
- wird längst angetastet. Angepasste Untertanen treten, wenn sie unter Druck geraten, gern
- nach unten, wälzen alle Risiken auf sozial Schwächere ab, während sie selbst sich dorthin
- durchzuprügeln versuchen, wo in dieser Gesellschaft »oben« zu sein scheint. Sie sind
- rassistisch, antisemitisch (auch wenn sie ihren Antisemitismus gelegentlich hinter
- wohlfeilen Bekundungen pro Israel verstecken), sie sind islamophob und beten Law and
- Order an, weil die herrschende ja ihre Ordnung ist und der Staat ihre Besitztümer und
- Privilegien verteidigen und den Untergang der anderen betonieren soll. Das Bewusstsein
- vieler Untertanen und Profiteure ist für rechtsradikales und faschistoides Denken
- anschlussfähig. Während wir also unsere Chancen zur Aufklärung und zur Erweiterung
- unserer sozialen Basis zu nutzen versuchen, wächst zugleich die Zahl unserer rechten
- Gegner, und die werden, wie nicht nur unsere tägliche Erfahrung zeigt, immer
- gewaltbereiter und gewalttätiger.12
- Andererseits aber zerbrechen in dieser Krise Gewissheiten, und sie zwingen human
- denkende, aber bislang unpolitische Menschen zur Auseinandersetzung mit einer
- Wirtschaftsweise, die jahrzehntelang nur bei Strafe des »Extremismusverdachts«
- Kapitalismus genannt werden durfte. Das ist eine Chance. Es wäre eine große und
- selbstverliebte Dummheit, anzunehmen, dass wir allein sind. Damit gingen wir den
- deutschen Verhältnissen auf den Leim, deren Massenmedien uns so gern einhämmern,
- dass wir marginal sind. Das dort abgebildete Leben hat mit der sozialen Wirklichkeit
- ohnehin nur wenig zu tun. Wir sind eine Minderheit, aber alle sozialen Bewegungen,
- auch die historisch erfolgreichen wie die Arbeiterbewegung, waren selbst zu ihren
- Hochzeiten Minderheiten, wenn auch organisierte Minderheiten.
- Die ersten Schritte politischen Denkens handeln meist von Dingen, die einen
- persönlich berühren. Diese Auseinandersetzung kann den Blick auf die Welt erweitern.
- Oder auch nicht, man kann auch im eigenen Nabel steckenbleiben. Ein anderes Scheitern
- ist die Illusion, wenn eine Organisation nur groß genug ist, ließe sich die Gesellschaft
- verändern. Reformistische Taktik und Strategie und Organisation aber sind Sackgassen,
- es hapert schon an ihren theoretischen Grundlagen. In falschen Bündnissen werden wir
- nicht mehr, nur falsch, und wenn es ganz dumm kommt, tragen wir zur Befriedung und
- Stabilisierung eben jener Verhältnisse bei, die wir umwerfen wollten.
- Ein Mittelschichtskind kann ein Zelt vor der Europäischen Zentralbank aufbauen, weil es
- empört darüber ist, dass seine Eltern ihr Erspartes verloren haben, oder weil es selbst
- keinen Job bekommt. Das ist nicht verwerflich. Wenn nun aber persönliche
- Abstiegsängste und der drohende Verlust von materiellen Annehmlichkeiten die Motive
- zu handeln andauernd dominieren, haben wir ein Problem. Denn dieses Interesse wäre ja
- schon damit befriedigt, dass dieser Mensch einen Job bekommt und seine Eltern einen
- anderen Weg finden, ihren Ruhestand zu finanzieren.
- Der Staat muss die Integrierbaren von den Systemkritikern trennen. Er weiß das,
- beobachtet, analysiert und bleibt milde, wo ihm keine Gefahr droht. Das Frankfurter
- Occupy-Camp wurde von Polizei, Ordnungsamt, Bankern und Medien zugrunde gelobt.
- Occupy in Deutschland ist keine soziale Bewegung, schon gar keine linke. In einigen
- Städten der USA verband sich der Protest von Angehörigen der Mittelschicht und des
- Kleinbürgertums mit fortschrittlichen Teilen der Arbeiter- und Bürgerrechtsbewegung. In
- der Bundesrepublik aber finden wir bei Occupy kein emanzipatorischlinkes oder
- sozialrevolutionäres Selbstverständnis, stattdessen politische Unverbindlichkeit,
- Intellektuellenfeindlichkeit, Konfliktscheu, Harmoniestreben, Sehnsucht nach
- Reputation und – trotz intensiver Kritik von Linken – eine weit offene Flanke für
- Rechtspopulistisches, Nationalistisches und für den Antisemitismus.
- Der törichte Slogan »Wir sind 99 Prozent« unterstellt, dass Teile der Oberschicht und
- di e gesamte Mittelschicht zum sozialen Protest zählten und auch ihre wohlhabenden
- Teile nicht zu den vom Kapitalismus Profitierenden gehörten. Der Spruch verrät die
- Abwesenheit noch der embryonalsten Form von Klassenanalyse. Am Kapitalismus
- beklagt Occupy im Wesentlichen nur die »falsche« Politik der Banken, nicht Ausbeutung,
- nicht Profit, nicht Mehrwertproduktion, nicht Lohnarbeit, nicht Naturvernichtung. Aber
- wenn die Bedingungen kapitalistischer Verwertung unbegriffen bleiben, kippen die
- Annahmen über die Ursache der Misere ins Verschwörungstheoretische. Abstrakte
- Strukturen zu durchdringen ist anstrengende Kopfarbeit, da ist es einfacher, jüdische
- Weltverschwörungen zu erfinden.
- Occupy Deutschland lobt die eigene Toleranz über alle Maßen. Man will das Gute und
- ist gegen das Böse und alle, alle können mitmachen – auch der Rechtsradikale und der
- Nazi, solange sie nicht um sich prügeln. Man will das »rein Menschliche« vertreten. Es
- herrscht die absolute Toleranz. Marcuse beschrieb diese »repressive Toleranz« als eine
- Haltung gegenüber »politischen Maßnahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen […],
- die nicht toleriert werden sollten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend
- herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören. Diese Art von Toleranz stärkt die
- Tyrannei der Mehrheit.«13
- Occupys Art von Toleranz stärkte die politische Rechte. Sekten okkupieren Occupy
- Frankfurt, beispielsweise das Zeitgeist-Movement und die Anthroposophen. Rechte
- Gruppen haben sich von Anfang an breit gemacht und bestimmen Kommunikation und
- Kurs, zum Beispiel Vertreter der rassistischen, rechtspopulistischen Frankfurter Freien
- Wähler sowie Anhänger und Prediger der antisemitischen Wirtschaftstheorie Silvio
- Gesells.
- Es gibt überall auf der Welt Menschen, die so denken wie wir. Mehr als bisher müssen
- wir über alle kulturellen und sozialen Barrieren hinweg die Zusammenarbeit suchen.
- Häufig scheitert die Kooperation ja nicht an mangelnder inhaltlicher Übereinstimmung.
- Auch nicht an geografischen Entfernungen oder an der Sprache, sondern daran, dass wir
- uns nicht als mögliche Bündnispartner »sehen«, weil uns unsere Oberflächen
- wechselseitig fremd sind: Aussehen, Alter, Stil, Verhaltensweisen, Musik, Slang,
- Lebensform. Die in Scheinfreiheiten aufgelöste Individualität ist ein echtes Handicap.
- Vom Arbeiter bis zur Studentin, vom Künstler bis zur Ladenbesitzerin, von der
- Informatikerin bis zum Punk – hinter jeder Rolle und Funktion kann sich eine
- Reaktionärin verbergen oder eine potenzielle Aufständische, ein Revolutionär.
- Manchen kritischen Menschen scheint es leichter zu fallen, Befreiungskämpfe in
- anderen Ländern zu unterstützen, anstatt sich den Verhältnissen hier (auch) zu stellen.
- Aber wenn wir emanzipatorischen Widerstand überall wirksam unterstützen wollen,
- müssen wir uns hier mit Staat und Kapital auseinandersetzen: Sand ins Getriebe der
- großen Maschine werfen, ausbeuterische Pläne bremsen, Rohstoffkriege verhindern, die
- herrschende Ordnung stören und Konsense zerbrechen, die das System stabilisieren.
- Viele Stellschrauben sind hier. Jeder Schritt, der uns hier gelingt, erleichtert das Leben
- vieler Menschen anderswo, weil der deutsche Staat und das deutsche Kapital (ja, auch der
- moderne Imperialismus hat noch nationale »Heimatadressen«) großen, oft
- vernichtenden Schaden an Mensch und Natur in aller Welt anrichten.
- Die Bedingungen, unter denen wir in Deutschland für eine wirklich humane
- Gesellschaft kämpfen, sind anders als anderswo und anders als früher. Überall in der
- Geschichte haben sich, von ökonomischer Entwicklung, Ressourcen, Klima und Zufällen
- hervorgebracht, von Kriegen, technischen Entwicklungen und erfolgreichen wie
- misslungenen Revolutionen zu kulturhistorischen Besonderheiten geformt,
- unterschiedliche Bewusstseinlagen und Kampfbedingungen herausgebildet. Auch wenn
- wir an Deutschland manchmal verzweifeln: Die Verhältnisse und Mentalitäten sind nicht
- genetisch und nicht unabänderlich.
- In Deutschland herrschen besondere Bedingungen, nicht nur weil es in diesem Land
- noch nie eine erfolgreiche Revolution gegeben hat. Auch die angeblich »samtene« von
- 1989 war keine. Denn wie könnte eine Revolution daraus bestehen, eine aus vielerlei
- Gründen verfallende Staatlichkeit, eine nicht-kapitalistische, aber eben auch nichtsozialistische,
- bürokratische Kommandowirtschaft, durch eine viel effizientere
- kapitalistische Herrschaft abzulösen? Das wäre ja eine gänzlich konterrevolutionäre
- Interpretation.
- Auch hinsichtlich der Befriedung der Lohnabhängigen hat sich in all den Jahrzehnten
- und unter unterschiedlichen Regierungen die Kollaboration der Gewerkschaftsführungen
- mit dem Staat als Interessenvertreter des Kapitals leider bewährt. Hoffnungsschimmer
- gab es, wenn sich junge Lohnarbeitende nicht sogleich in den staatstragenden Konsens
- einbinden ließen und wenn unter den Einwandernden Arbeiter waren, die in diese
- rückständige Bundesrepublik ihre widerständigen, auch revolutionären Erfahrungen
- mitbrachten. Ohne diese Italiener, Spanier, Portugiesen und Griechen hätte es die
- industriellen Massenstreiks der 1960er und 1970er Jahre vermutlich nie gegeben.
- Vielleicht ist dies der Grund, warum in der Bundesrepublik mit dem Ende der
- Hochkonjunktur Ende der 1970er Jahre in den meisten Massenmedien die Hetze gegen
- »die Ausländer, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen«, begann? Die Kunst sozialer
- Spaltung beherrschen Staat und Kapital wie nichts anderes.
- Wir können in Deutschland eine klassenbewusstere Arbeiterklasse, wie etwa in
- Frankreich, noch so sehr herbeisehnen, es ist vergeblich (was nicht heißt, dass der
- herrschende Block dort weniger reaktionär und gefährlich wäre als hier). Auch die in den
- Köpfen manch lateinamerikanischer Bevölkerungen verankerte Klarheit über die
- kapitalistische Welt können wir den Deutschen so wenig einimpfen wie die lebendigkämpferische
- Radikalität mancher südeuropäischer Demonstrationen.
- Was in Zeiten der Krise gelernt wird, ist ambivalent. Hunderttausende, wenn nicht
- Millionen von Menschen sind verarmt. Infolge der »Rettungsmaßnahmen« fürs Kapital
- und für die Banken verkümmern Kommunen – was wiederum die Lage der sozial
- Benachteiligten verschlimmert. Wenn sich aber die stets verheißungsvollen
- Zukunftsaussichten auch für die Mittelschicht trüben, deren Kinder nun, obwohl
- akademisch gebildet, keine Jobs mehr bekommen, wenn Hypothekenraten auch von
- bisher materiell Gesicherten nicht mehr bedient werden können und sich Perspektiven in
- Luft auflösen? Dann erfährt der Staat auch Proteste von ungewohnter Seite, die – falls sie
- mit den emanzipatorischen Protesten anderer verschmelzen – eine Gefahr für ihn
- bedeuten. Denn der Staat kann nicht mehr sein, was der »normale Bürger« von ihm
- erwartet. Er verliert an Autorität und steckt in einer tiefen Legitimationskrise. Aber die
- kann auch eine weitere Rechtsverschiebung bedeuten, das ist die Dialektik der Krise.
- Deutschland gehört noch zu den Staaten der Welt, die von der Krise relativ profitieren.
- Die deutschen Niedriglöhne ließen die deutsche Exportquote in den Himmel schießen,
- darüber brachen Märkte in anderen europäischen Staaten zusammen, unter anderem weil
- sie die Rechnungen für deutsche Produkte, auch für Rüstungsgüter, nicht mehr bezahlen
- konnten. Über Deutschland steht gleichsam das Auge des Hurrikans, die wirklich
- vernichtenden Stürme peitschen über andere Teile Europas und der Welt hinweg.
- Mächtige Kapitalfraktionen, die von der Krise, die sie verursacht haben, nun auch
- profitieren, konnten sich stets auf willfährige Regierungen stützen. SPD und Grüne
- dürfen hoffen, dass die sozialen Verbrechen ihrer Regierungszeit (1998–2005), darunter
- die einschneidenden Steuerersparnisse für Reiche, die Deregulierung der Finanzmärkte,
- die Aufweichung von Tarifverträgen sowie die immense Verarmung großer
- Bevölkerungsschichten, schnell vergessen und am besten der politischen Konkurrenz von
- CDU/CSU und FDP angelastet werden, die ja kein bisschen besser ist.
- Wie geht der Staat vor, um die Gefahr sozialer Unruhen zu bändigen? Er hat längst
- gelernt, nicht alle Opponierenden auf die gleiche Weise zu behandeln. Seine Erfahrungen
- mit der außerparlamentarischen Opposition der 1960er und 1970er Jahre lehrten ihn,
- dass zu viele Knüppel, die gleichzeitig auf zu vielen verschiedenen Köpfen zerdroschen
- werden, das soziale Lernen beschleunigen und selbstbewusste Widerstandskollektive
- gegen Staat und Kapital gedeihen lassen.
- Der Staat muss seine Repressionen den verschiedenen sozialen Milieus immer feiner
- anpassen, um den Widerstand zu spalten, ihn zu schwächen und zu marginalisieren. Alle
- politischen Generationen der neuen Linken – ich kalkuliere pro »Generation« rund vier
- Jahre – haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Erfahrungen von Ignoranz,
- Demütigung, Überwachung, Verfolgung und oft auch nackter Repression gemacht. Alle,
- die sich widerständig organisierten, wurden überwacht und erfasst. Besonders brachial
- ging der Staat gegen junge Linke vor, die sich – ob in Wohngemeinschaften, Cafés, Parks,
- auf Straßen oder in Universitäten – neu organisierten. Der reine aufmüpfige Gedanke,
- solange er in Salons und Elfenbeintürmen verbleibt, ist meist ungefährlich. Geht er aber
- auf die Straße und organisiert sich, wird die Sache ernst. Der Staat versucht systematisch,
- solche jungen Linken einzuschüchtern.
- Was also tun? Jede Behinderung der Beladung eines Frachters mit hochgiftigem
- Computerschrott oder Rüstungsgütern lässt anderswo weniger Menschen an Krebs und
- Krieg sterben. Jeder Belagerung eines Chemiekonzerns, einer Atomanlage, eines
- Rüstungsbetriebs oder des Bauplatzes der Europäischen Zentralbank geht eine Analyse
- voraus, welche die Aktion begründet und vorbereitet. Jede konkrete Praxis verlangt die
- Einübung von Kritik, technischen Fertigkeiten und von Solidarität. Wenn eine politische
- Aktion schiefgeht, obwohl sie gut begründet und vorbereitet ist, ist dies keine Frage von
- »Schuld«. Das Merkwürdige ist ja, dass sich aus einem Scheitern auf hohem Niveau fürs
- nächste Mal mehr lernen lässt als aus einem vom schieren Zufall begünstigten Erfolg.
- Jede gut vorbereitete Aktion löst Denkprozesse aus und hinterlässt die Welt und die
- Handelnden verändert.
- Was ist zu tun? Theorie, Aktion, Organisation.
- Theorie ist Kopfarbeit, lesen, denken, analysieren. Das ist anstrengend, lässt sich aber
- lernen, und es geht leichter im Kollektiv. Lesen: Karl Marx, mit ihm eignet man sich die
- Kapitalismusanalyse an, die Methode, das Kopfwerkzeug, mit der Wirklichkeit
- umzugehen. Dann zum Beispiel Rosa Luxemburg, Herbert Marcuse, Hans-Jürgen Krahl.
- Theorie ist keine Gebrauchsanweisung für die Aktion, aber Bedingung zur Erkenntnis
- der Welt und Ausgangspunkt zur Begründung und Überprüfung politischer Praxis.
- Theorie speist sich aus der Empirie. Wenn der Intellektuelle sich nur an den schönen
- Worten um ihrer selbst willen ergötzt, schwebt die Theorie davon und wird
- bedeutungslos oder Unterhaltung. Ohne theoretisches Rüstzeug versinkt die Praxis im
- Sumpf der Mittelmäßigkeit und hält dem Druck der feindseligen herrschenden
- Verhältnisse nicht stand. Die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse hilft uns auch,
- die strategische Entscheidung zu treffen, für welchen der überwältigend vielen
- gesellschaftlichen Konflikte wir uns entscheiden. Wir sind schließlich eine Minderheit,
- die sich nicht verzetteln, sondern eine maximale Wirkung entfalten will.
- Bei der Aktion kommt es nicht darauf an, um jeden Preis einen Fehlschlag zu verhindern.
- Das könnte letztendlich ja nur dadurch garantiert werden, dass man den Versuch gar
- nicht erst unternimmt. Wenn man ohne Erfolgsgarantie gar nicht anfangen will, bleibt
- nur trostlose Erstarrung. Eine kluge politische Aktion ist gut vorbereitet, außer sie
- entsteht spontan, weil wir zum Beispiel einschreiten müssen, wenn Nazis einen
- Menschen zusammenschlagen. Es geht bei Aktionen um vielerlei: aufklären, etwas
- verhindern, Angst überwinden, Grenzen der Legalität austesten, Erfahrungen sammeln,
- theoretische Erkenntnisse überprüfen, Solidarität praktizieren und strategisch gewählte
- Konflikte polarisieren.
- Eine kluge politische Aktion ist kein Selbstzweck, sondern Teil eines Konzepts. Sie
- muss neben den politischen Zielen auch die Ängste, Stärken und Lernfähigkeit der
- Teilnehmenden berücksichtigen. Im besten Fall ist sie auch öffentlich gut vermittelbar.
- Es gibt aber auch Aktionen, die notwendig sind und schwer oder erst einmal nicht
- vermittelbar. Die Handelnden müssen sie vor sich selbst verantworten. Und danach wird
- die Aktion ausgewertet.
- Theorie und Aktion brauchen die Organisation als Rahmen für theoretische
- Lernprozesse und als Träger für die Aktion. Diese Organisation soll eher keine Partei sein,
- aber auch die Fehlorientierung aufs lockere, unverbindliche Netzwerkeln sollte sich
- inzwischen erledigt haben.
- Manchmal hat man den Eindruck, kritische Menschen in Deutschland sind besonders
- organisationsfeindlich und individualisiert. In ihrer Arbeitszeit und in der so genannten
- Freizeit unterwerfen sie sich unendlich vielen fremden Zwängen. Sich aber
- selbstbestimmt mit anderen zusammenzuschließen, um die Gesellschaft zu verändern,
- erscheint ihnen als lästiger Zwang und nicht als das, was es sein kann: ein
- selbstbestimmter, befreiender Akt.
- In neueren sozialen Gruppen wird manchmal aus der korrekten Forderung nach
- antihierarchischen Strukturen die Missachtung politischer Erfahrungen und die Ignoranz
- gegenüber der Geschichte sozialer Bewegungen. Ein falscher Begriff von »Gleichheit«
- verklebt die Köpfe. Auf diese Weise setzen sich heimlich, bevor neue basisdemokratische,
- sozialistische oder rätekommunistische Strukturen gefunden sind, informelle
- Hierarchien und Intransparenzen durch, und eine Bewegung verblödet oder stirbt ab.
- Hans-Jürgen Krahl, ein kluger Kopf der außerparlamentarischen Opposition der
- 1960er Jahre, sagte: »Die Massen sind in der autoritären Leistungsgesellschaft von
- Erziehung, Manipulation und exekutiver Indoktrinierung so sehr auf Autoritäten fixiert,
- dass sie zunächst für ihre Aufklärung selber Autoritäten – und zwar solche, die sich als
- kritische Autoritäten begreifen – nötig haben.«14 Also, klare, gewählte Strukturen mit
- konkreten Verbindlichkeiten, jederzeitige Abwählbarkeit und gut organisierte
- Lernprozesse. Die »antiautoritären Autoritäten«, wie ich sie nenne, müssen vom ersten
- Moment an an ihrer Ablösung arbeiten.
- Jede Organisation braucht – so nötig wie die richtige Strategie und Taktik – eine
- Struktur und Aufgabenverteilung. Jede Organisation, die ihren Grund, also ihr Programm
- ernst nimmt, besteht auf Verbindlichkeit und fordert sie ein. Zweck der Organisation ist
- nicht die Organisation, sondern das Programm und dessen Umsetzung. Organisiert wird
- nach Inhalt, nicht nach Personenzahl. Es ist ziemlich leicht und für manch einen
- Frustrierten verführerisch, sich in schwierigen Zeiten in großen, reformistischen
- Organisationen zu verstecken. Aber so setzt niemand emanzipatorische Ziele durch,
- sondern wird Teil des Falschen.
- Man sollte sich eine Organisation danach aussuchen, ob man das in ihr lernen kann,
- was man lernen will, um weiterzukommen. Danach, ob man dort Menschen findet, die
- bei aller Verschiedenheit in den Grundfragen wirklich einig sind. Wenn eine Organisation
- etwas taugt, dann ist sie auch ein »Ort«, um Sachen zu verhandeln, streiten zu lernen,
- qualifiziert zu kritisieren und sich mit Kritik auseinanderzusetzen. Eine Organisation
- aber, in der qualifizierte Kritik (kein Genörgel) tabuisiert ist, sei es aus Unsicherheit,
- esoterischer Harmoniesucht oder wegen der Unantastbarkeit von Hierarchien, ist
- unverzüglich zu verlassen.
- Eine Organisation, sei sie klein oder groß, ist, wenn es gutgeht, ein Gegengewicht zur
- korruptiven Integrationskraft kapitalistischer Verhältnisse. Und wenn die Zeiten günstig
- sind (wir haben ja nicht alles in der Hand), bewegen wir uns inmitten einer oder
- mehrerer mitreißender Subkulturen, die unsere Grundprinzipien widerspiegeln und auch
- noch höllisch Spaß machen können. Wenn es gutgeht, kann man mit einigem Glück
- erleben, wie Menschen ihre Angst überwinden und wie sie lernen, sich selbst zu befreien.
- Ob die Theorie zuerst kommt die Aktion oder die Organisierung ist oft biografischer
- Zufall. Tatsache aber ist: Es geht langfristig, willst du ernsthaft etwas verändern, nicht
- ohne diesen Dreiklang.
- Aber nichts ist wirklich fertig, bevor die Auseinandersetzung beginnt. Es ist ein
- Prozess. Herbert Marcuse schrieb: »Die gesellschaftlichen Träger der Umwälzung, und
- das ist orthodoxer Marx, formieren sich erst in dem Prozess der Umwälzung selbst, und
- man kann nicht mit einer Situation rechnen, in der die revolutionären Kräfte sozusagen
- ready-made vorhanden sind, wenn die revolutionäre Bewegung beginnt.«15
- Wir werden sehen.
- ANMERKUNGEN
- 1 Max Horkheimer: »Die Juden und Europa«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 8(1939), S. 115
- 2 Blutige Handys (Blood in the Mobile), Film von Frank Piasecki Poulsen, Dänemark 2010. Phoenix, 28.9.2011, 21.00
- Uhr
- 3 Sammelbegriff für die drei unterentwickelt gehaltenen Kontinente Afrika, Lateinamerika und Asien
- 4 Thomas Robert Malthus: An Essay on the Principle of Population, 2nd enlarged ed., London: J. Johnson, 1803, S.
- 531
- 5 »8. Schaffhauser Wirtschaftsimpulse: »Wachstum – Fluch oder Segen?« am 16. 9. 2011 in Schaffhausen/Schweiz,
- Podiumsdiskussion
- 6 Garrett Hardin: »The Feast of Malthus – Living within limits«, in: The Social Contract, Frühling 1998
- 7 Ebd.
- 8 Ebd.
- 9 ÖDP-Kandidat Christian Schantz lt. Benjamin Quiring: »Orange ohne Revolution«, die tageszeitung, nachgedruckt
- in: ÖDP (Hrsg): Ökologie Politik – Das ÖDP-Journal Nr. 152, November 2011, S. 30
- 10 Herbert Gruhl: Himmelfahrt ins Nichts, München: Langen Müller Verlag 1992, S. 244. Gruhl zitiert hier
- zustimmend: René Dubos: Der entfesselte Fortschritt. Programm für eine menschliche Welt, Bergisch Gladbach: G.
- Lübbe Verlag 1970, S. 166
- 11 Herbert Marcuse: »Das Ende der Utopie«, in: ders.: Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967,
- Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik 1980, S. 9–18
- 12 Das belegt z. B. diese Studie: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt/Main: Suhrkamp
- 2011
- 13 Herbert Marcuse: »Repressive Toleranz«, in: Robert L. Wolff / Barrington Moore / Marcuse: Kritik der reinen
- Toleranz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996
- 14 Hans-Jürgen Krahl: »Autoritäten und Revolution«, in: ders.: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/Main:
- Verlag Neue Kritik 1971, S. 256–259
- 15 Herbert Marcuse: »Das Ende der Utopie«, a. a. O., S. 11 f.
- DANK, HINWEIS & KONTAKT
- Dank: Ich danke meinen FreundInnen für Diskussionen. Wie immer danke ich Manfred
- Zieran für seine kluge und im besten Sinn rücksichtslose Kritik. Hinweis: Weitere
- Informationen über meine Bücher, Texte, das Ulrike-Meinhof-Archiv, Termine meiner
- Vorträge und Lesungen usw. auf: www.jutta-ditfurth.de. Kontakt: Über Anregungen und
- Kritik freue ich mich. Ich lese alles, verspreche aber nicht, dass ich antworte: Jutta
- Ditfurth, c/o ÖkoLinX-ARL, Bethmannstr. 3, 60311 Frankfurt/Main. E-Mail:
- jutta.ditfurth@t-online.de.
- BÜCHER DER AUTORIN
- Die tägliche legale Verseuchung unserer Flüsse und wie wir uns dagegen wehren können.
- Ein Handbuch mit Aktionsteil (Hrsg. mit R. Glaser), Hamburg: Rasch & Röhring 1987.
- Träumen Kämpfen Verwirklichen. Politische Texte bis 1987, Köln: Kiepenheuer & Witsch
- Verlag 1988.
- Lebe wild und gefährlich. Radikalökologische Perspektiven, Köln: Kiepenheuer & Witsch
- Verlag 1991.
- Was ich denke. Anders oder gleich. Über die Entwertung des Menschen, München:
- Goldmann Verlag 1995.
- Blavatzkys Kinder. Krimi, Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe Verlag 1995.
- Feuer in die Herzen. Gegen die Entwertung des Menschen, Hamburg: Konkret Literatur
- Verlag 1997, 3. erweit. u. vollst. überarb. Neuausg., (1. Ausg.: 1992).
- Entspannt in die Barbarei. Esoterik, (Öko-)Faschismus und Biozentrismus, Hamburg:
- Konkret Literatur Verlag 2011, (1. Aufl.: 1997).
- Das waren die Grünen. Abschied von einer Hoffnung, München: Econ Taschenbuch
- Verlag 2001, (1. Aufl. 2000).
- Ulrike Meinhof. Die Biografie, Berlin: Ullstein Taschenbuch Verlag 2009, (1. Ausg.: 2007).
- Bisher auch in Schweden, Norwegen, den Niederlanden, der Türkei und Griechenland.
- erschienen.
- Rudi und Ulrike. Die Geschichte einer Freundschaft, München: Droemer Verlag 2008.
- Zeit des Zorns. Streitschrift für soziale Gerechtigkeit, München: Droemer Verlag 2009.
- Die Himmelsstürmerin. Roman, Berlin: Rotbuch Verlag 2010, (1. Ausg.: 1998).
- Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: die Grünen, Berlin: Rotbuch Verlag 2011.
- Durch unsichtbare Mauern. Wie wird so eine links?, Berlin: Rotbuch Verlag 2011, (1.
- Ausg.: 2002).
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