Advertisement
Guest User

Franz Karl Ginzkey: Ballade vom Vergeltsgott

a guest
Jan 30th, 2012
2,640
0
Never
Not a member of Pastebin yet? Sign Up, it unlocks many cool features!
text 1.85 KB | None | 0 0
  1. Franz Karl Ginzkey:
  2. Ballade vom Vergeltsgott
  3.  
  4. Beim Metzger erschien ein alt´ Weiblein in Sitten:
  5. Eins kleins Stückerl Fleisch nur, drum tät´ sie schön bitten.
  6.  
  7. Es lachte der Metzger: "Ja, kannst du´s bezahlen?
  8. Denn wenn du kein Geld hast, ich werd´ dir was malen!"
  9.  
  10. Da seufzte das Weiblein: "Das ist es ja eben,
  11. ich kann Euch dafür ein Vergeltsgott nur geben."
  12.  
  13. Da höhnte der Metzger: "Das könnt´ dir so passen,
  14. bei solcheiner Währung in Fleisch noch zu prassen!"
  15.  
  16. Drauf meinte das Weiblein: "Versündigt euch nicht!
  17. Es hat ein Vergeltsgott doch auch sein Gewicht."
  18.  
  19. Da lachte der Metzger: "Wir wollen´s versuchen,
  20. wieviel fürs Vergeltsgott an Fleisch ist zu buchen!
  21.  
  22. Ich leg´ auf die Waag´ hier ein Stückerl vom Schwein,
  23. und du legst dafür dein Vergeltsgott hinein!"
  24.  
  25. Das Weiblein bedankt´ sich demütig dafür,
  26. rasch schrieb es das Wort auf ein Blättchen Papier
  27.  
  28. und legt´s auf die Schale, die wartend noch leer.
  29. Und siehe - sie senkte sich wuchtig und schwer!
  30.  
  31. Da stutzte der Metzger und hieb auf gut Glück
  32. vom Schweinernen ab noch ein mächtiges Stück.
  33.  
  34. Doch siehe, die Schale, sie senkte sich nicht,
  35. noch zeigte sich beides nicht gleich an Gewicht.
  36.  
  37. Da riß es den Metzger verzweifelt herum,
  38. er legt´ noch dazu ein gewaltiges Trumm.
  39.  
  40. Doch sagt´ nun das Weiblein: "Oh, haltet nur ein!
  41. Ich meine - es wird schon das Richtige sein."
  42.  
  43. Da stellte die Waage sich plötzlich auf gleich.
  44. Der Metzger, er ward wie ein Linnen bleich.
  45.  
  46. Er schob ihr das Fleisch zu: "Nehmt alles nach Haus,
  47. ich geb´ es Euch gerne, es macht mir nichts aus!"
  48.  
  49. Er sah, wie still durch die Türe entschwand.
  50. Ein Schimmer umstrahlte ihr ärmlich Gewand.
  51.  
  52. Der Metzger, er sah wie entgeistert ihr nach.
  53. Er horchte der Stimme, die jetzt zu ihm sprach.
  54.  
  55. Die Stimme betraf ihn im innersten Kern:
  56. Die Waage des Mitleids - die Währung des Herrn!
Advertisement
Add Comment
Please, Sign In to add comment
Advertisement