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Jul 24th, 2016
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  2. Nein! Nein! Nein!
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  4. Was Harald Lesch über Reformen des Bildungssystems sagt, halte ich großenteils für ganz falsch und sehr gefährlich! Die theoriefeindlichen Bildungspopulisten gefährden die Ressource, die uns als einzige helfen kann, im Wettbewerb der Volkswirtschaften zu bestehen. Und sie schaffen unglückliche Schüler. Wer kann sich noch an die unvergleichliche Freude erinnern, die jemanden durchströmt, dem gerade ein Licht aufgegangen ist? Diese Freude erlebt man nicht beim Einüben von praktischen Fertigkeiten; das ist nur Drill, der nicht glücklich macht. Man erlebt sie bei der Aneignung von Konzepten, beim Begreifen der Theorie.
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  6. Hat Lesch wirklich den Unterschied zwischen Mathematik und Rechnen nicht verstanden? Grundrechenarten, Dreisatz, Zinsberechnung, Flächenberechnung, die Dinge, die er als „starke Praxis“ empfiehlt, sind nur Rechnen. Mathematik beginnt dort, wo jemand begreift, was er tut. Der Dreisatz ist so ziemlich das Unmathematischste, was ich mir vorstellen kann. Ein Rechenhilfsmittel für Leute, denen man es erspart hat, sich mit Gleichungen und ihren Lösungen auseinanderzusetzen. Sieben Eier kochen in sechs Töpfen fünf Minuten. Wie lange kochen acht Eier in einem Topf? Liebe Güte! Erinnert sich außer mir noch jemand an das „Päckchenrechnen“, das ich in meiner Grundschulzeit erleben durfte? Zehn Aufgaben zu Grundrechenarten gleicher Struktur mit verschiedenen Zahlen als Päckchen untereinandergeschrieben. Die klassische Hausaufgabe bestand darin, fünf, sieben oder zehn Päckchen zu rechnen und die Lösungen neben die Aufgaben zu schreiben. Ist man nach zehn Päckchen glücklicher als nach fünf? Oder nach zwanzig? Ist man nach dreißig Päckchen besser auf das Leben vorbereitet? Rechenkunde statt Mathematik wäre vermutlich das grauenvollste und langweiligste Fach in der Schule.
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  8. Spannend ist, wie man von der Tätigkeit des Zählens auf den Begriff der natürlichen Zahlen kommt. Das ist Abstraktion, das ist Theorie. Und es ist einer der faszinierendsten Teile der menschlichen Geistesgeschichte. Spannend auch die Erweiterungen der Zahlenräume, vorangetrieben durch die Bemühung um das Lösen von Gleichungen: die negativen ganzen Zahlen, die Brüche, die Wurzeln. Spannend auch die Gedankenwelt der alten Griechen, die Mathematik immer zuerst von der Geometrie aus dachten. Zahlen sahen sie zunächst als das Ergebnis des Ausmessens von Längen oder Flächen mit Hilfe von Maßstäben. Ihnen war schon klar daß es Zahlen gibt, die keine Brüche sind, oder in ihrer Sicht: daß es keinen Maßstab gibt, mit dem man die Seite und die Diagonale eines Quadrats ohne Rest ausmessen kann.
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  10. Die Quadratur des Kreises - das Ausmessen der Kreisfläche und ihre Darstellung in einem flächengleichen Quadrat hat jahrhundertelang die besten Geister beschäftigt, bis man erkannte, daß man hierzu den Zahlenraum noch einmal erweitern mußte. Man brauchte Zahlen, die sich nicht als Wurzeln darstellen lassen, Zahlen, die man nur über Grenzbetrachtungen aus den bis dahin bekannten Zahlen konstruieren konnte. Und dann schließlich führte der Wunsch, noch mehr Gleichungen lösen zu können, zu den komplexen Zahlen.
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  12. Es gibt noch mehr faszinierende Dinge, für die allerdings die Schulzeit wohl zu kurz ist.
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  14. Natürlich soll man auch mit praktischen Anwendungen der Mathematik bekanntgemacht werden. Manches kann man im Leben wirklich brauchen. Und es kann auch motivieren, sich mit der Theorie auseinanderzusetzen. „Nichts ist praktischer als eine gute Theorie“ hat Albert Einstein gesagt. Aber letzten Endes können Maschinen besser rechnen als wir. Was sie nicht können (noch nicht?), ist die Abstraktion, das Erkennen, auf welchen naturwissenschaftlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Sachverhalt eine bestimmte mathematische Theorie anwendbar ist. Man kann das Modellbildung nennen oder „Textaufgabe“. Damit lassen sich die Früchte der Theorie ernten. Alles, was die Mathematiker über die theoretische Konstruktion herausbekommen haben, wissen wir dann auch über den fraglichen Sachverhalt. Soweit das Modell richtig ist, versteht sich.
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  16. Aber darum geht es nicht. Mathematik ist nicht die Sklavin der Naturwissenschaftler und Ingenieure. Mathematik ist vor allem eine Tätigkeit des menschlichen Geistes. Eine Tätigkeit mit der er die Räume vergrößert, über die er nachdenken kann, über die er Erkenntnisse gewinnen kann, mit der seine Möglichkeiten vergrößert, sich auszudrücken.
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  18. Was wollen wir unseren Kindern eigentlich beibringen? Was soll denn das Ziel von Bildung und Erziehung sein? Nun, da gibt es eine Dimension, über die heute kaum noch gesprochen wird, in Zeiten der totalen Ökonomisierung und Säkularisierung. Das Erste und Wichtigste scheint mir eine Herzensbildung, die in Verbindung mit einem gewissen sittlichen Fundament die Kinder befähigt, das eigene Glück zu suchen und zu finden, sich anderen Menschen zuzuwenden und deren Glück zu mehren und die Zuwendung anderer Menschen anzunehmen und darin Glück zu finden.
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  20. Darüber hinaus sehe ich zwei Dinge, die ich für wichtig halte: Urteilsvermögen und Gestaltungsvermögen.
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  22. Der Wertschätzung Leschs für Sport, Kunst und Musik stimme ich zu, denn diese fördern das Gestaltungsvermögen. Aber die Verachtung, mit der er über Vokabeln spricht, ist schon wieder populistisch fehlgeleitet. Gestaltungsvermögen ergibt sich aus zwei Dingen. Erstens der Fähigkeit, sich auszudrücken: durch Sprache, durch Musik, durch bildende Kunst und Handwerk, durch Bewegung und Tanz und nicht zuletzt: durch Mathematik. Und zweitens der Fähigkeit, das Gewohnte zu überschreiten, neue Wege zu gehen. Die eigene Sprache gut zu beherrschen, schafft Denk- und Ausdrucksmöglichkeiten. Weitere Sprachen zu erwerben, schafft weitere Denk- und Ausdrucksmöglichkeiten, fördert die Fähigkeit über das Gewohnte zu hinauszugehen, Neues zu sehen, zu sprechen und zu denken. Sich selbst gestaltend zu erleben, mit welcher Ausdrucksweise auch immer, macht glücklich und gibt Selbstvertrauen. Doch das ist es nicht allein: Zivilisation besteht darin, daß nicht jeder einzelne von Null ausgehend durch Versuch und Irrtum sein Gestaltungs- und Ausdrucksvermögen entwickelt, sondern daß man Vorbilder nutzt, an denen man sich messen und reiben kann. Also nicht nur malen, sondern auch Bilder sehen und verstehen, nicht nur musizieren, sondern auch Musik hören und verstehen, nicht nur reden und schreiben, sondern auch Literatur lesen und verstehen. Das gilt auch für die Fremdsprachen; es geht nicht darum, in einem anderen Land unfallfrei Backwerk erwerben zu können. Spannend wird es dann, wenn man so weit kommt, daß man wirkliche Literatur in anderen Sprachen lesen kann. Eine Übersetzung ist kein Ersatz für das Original.
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  24. Vorbilder können auch Hilfen auf der Suche nach neuen Wegen sein. Die Großen der menschlichen Geistesgeschichte, die uns vorangebracht haben, haben sich vor einem Durchbruch oft in Klemmen befunden, in denen sie nicht weiterkamen. Es lohnt sich, diese Klemmen zu verstehen. Es lohnt sich, zu nachzulesen, wie sie schließlich auf die befreiende, die erlösende neue Idee kamen, die den Durchbruch brachte, die das bis dahin beschränkte Denken erweiterte.
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  26. Natürlich ist die Schulzeit zu kurz, um alles Sehenswerte zu sehen, alles Hörenswerte zu hören und alles Lesenswerte zu lesen. Aber sollten wir nicht mutig sein und eine reiche Auswahl wagen? Macht Zaghaftigkeit glücklich? Macht Mutlosigkeit lebenstauglich?
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  28. Schließlich das Urteilsvermögen. Auch hierzu taugt die Mathematik. Sie bietet ein unvergleichliches Feld, in dem man saubere Argumentation üben kann. Stets gilt es, sich Klarheit zu verschaffen, was vorausgesetzt ist, was benutzt werden kann, was eigentlich behauptet und zu beweisen ist. Da die Mathematik eine formale Sprache ist, kann man verhältnismäßig leicht die Folgerichtigkeit einer Argumentation überprüfen. Diese Übung hilft sehr dabei, den Argumentationen, die im richtigen Leben in natürlicher Sprache vorgetragen werden, auf den Grund zu gehen. Auch eigene Argumente lassen sich überprüfen, bevor man mit ihnen Schiffbruch erleidet. Diskutieren und argumentieren kann und soll man üben. Und selbstverständlich gibt es auch hierzu Literatur: Klassische Reden, die antiken Werke über Rhetorik, die Dialoge des Platon, den Melierdialog des Thukydides, der zeigt, daß eine Diskussion über berechtigte Interessen schwierig ist, wenn der Diskussionsgegner die Macht hat, seine Interessen durchzusetzen, und viele andere Werke über Philosophie, Rhetorik und Psychologie aus allen Jahrhunderten.
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  30. Also, Leute, bitte keine Bildungspolitik, die auf vor allem auf schnell verwertbare Fertigkeiten und aktuell Interessantes setzt. Diese verschwendet Lebenszeit und Lebensglück
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