Advertisement
Guest User

Untitled

a guest
Mar 10th, 2013
728
0
Never
Not a member of Pastebin yet? Sign Up, it unlocks many cool features!
text 11.57 KB | None | 0 0
  1. DER SPIEGEL 11/2013 - S138-S140 - Zeitgeist: @afelia Marina Weisband´s neues Buch
  2.  
  3. "Rosa, die dritte"
  4.  
  5. Sie war das It-Girl der Piraten: ein Komet aus dem Nichts, der bald wieder verglühte. Nun kehrt Marina Weisband mit einem Buch zurück – und träumt immer noch davon, die Demokratie zu revolutionieren. Von Georg Diez
  6.  
  7. Ist Marina Weisband Rosa Luxemburg? Die Augen, die Bluse, die Haare, der selbstbewusste, direkte Blick. Ist das das Gesicht der Revolution? Und was für eine Revolution wäre das dann genau?
  8.  
  9. Weisband ist müde und nicht ganz so rosaluxemburgisch wie auf dem Cover ihres Buchs. Es ist ein Uhr mittags, früh für die digitale Boheme oder das digitale Prekariat. Vielleicht ist das das Gleiche, vielleicht aber muss man sich entscheiden, was man sein will, wenn man eine Revo- lution machen will: Mit der melancholischen Boheme geht das wohl schlechter als mit dem wütendenden Prekariat.
  10.  
  11. Nur: Ist Revolution überhaupt das richtige Wort, Frau Luxemburg?
  12.  
  13. „Ja, es waren die Vorbeben einer Revolution, was wir 2011 weltweit erlebt haben“, sagt Weisband, ehemalige Piraten-Politikerin, immer noch Hoffnungsfigur.
  14.  
  15. „Occupy Wall Street, die Proteste in London, in Madrid und Athen, der Arabische Frühling, letztlich auch der Erfolg der Piratenpartei in Deutschland. Das waren unterschiedliche Zeichen für die tiefgreifende ökonomische, ökologische und repräsentative Krise, die wir durchleben. Und aus der technologischen wird eine gesellschaftliche Revolution werden.“
  16.  
  17. Lektion Nummer eins: Revolutionen werden heute nicht mehr gemacht, Revolutionen geschehen.
  18. Weisband, geboren in Kiew, ist angenehm schnell und eloquent und wach im Kopf, sogar wenn sie müde ist, so schnell und eloquent und wach wie die andere Jüdin, die aus Osteuropa nach Deutschland kam, um Revolution zu machen.
  19.  
  20. Aber es ist gerade nicht 1913, wo man sich vor eine Menschenmenge stellt und ruft: „Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Das tun wir nicht!“ Und, wie Luxemburg damals, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wird.
  21.  
  22. Es ist eben 2013, wo man wie Weisband Twitter-Nachrichten schreibt, in denen steht: „Ich treffe mich jetzt mit Leuten und rede über Visionen“ oder „Schlaf ist auch so eine der Kulturtechniken, die ich nicht beherrsche“. Oder ein Buch schreibt, und das heißt dann: „Wir nennen es Politik“.
  23.  
  24. Deshalb das große Gespräch mit der „Bild am Sonntag“. Deshalb das große Porträt im „Zeit-Magazin“. Deshalb die große Diskussion mit Frank Schirrmacher. Lektion Nummer zwei: Vor der Revolution kommt der Talk.
  25.  
  26. Deshalb sitzt Weisband auch hier im Restaurant Ganymed, im unwichtigsten und leersten Restaurant im überwichtigen und hektischen, heimlichen, intriganten Regierungsviertel von Berlin, sie passt sehr gut ins Ganymed, denn sie ist nicht hektisch und nicht heimlich und wahrscheinlich nicht mal intrigant, und wie wichtig sie sein wird, das entscheiden die nächsten Wochen oder sie selbst.
  27.  
  28. „Wir arbeiten bei den Piraten seit drei Jahren an der Revolution der Demokratie“, sagt sie. „Und die Revolution beginnt im Kopf, sie beginnt mit der Frage: Wer bin ich in dieser Gesellschaft?“
  29.  
  30. Ihr Buch soll keine Werbung für die Piraten sein, obwohl das immer noch ihre Partei ist, es ist für ein Publikum gedacht, das sich „sonst nicht für Politik interessiert“. Einfach sollte es sein und verständ- lich, sagt sie. „Ich wollte, dass die Gedan- ken ankommen.“
  31. Deshalb gibt es jetzt dieses Ding aus Papier, das man kaufen kann, deshalb hat sie aber auch darauf bestanden, dass das Buch vom Verlag als E-Book ohne Kopierschutz angeboten wird. „Wenn es den Leuten etwas wert ist“, sagt sie, „dann kaufen sie es auch.“ Einen Vorschuss des Verlags hat sie trotzdem genommen.
  32.  
  33. Sie wirbt in dem Buch für eine Demokratie, die direkt ist und partizipatorisch, also auch transparent, sie tut das mit angestrengter Euphorie, sie tut das aber auch mit der freundlichen Selbstverständlichkeit, mit der sie die Welt betrachtet, als einen Ort, den man verändern muss.
  34.  
  35. Manchmal klingt das dann so: „Wir haben einen politischen Raum mit festen Regeln gebaut, ein starres System, das sich schwertut, auf neue Sachverhalte und Probleme zu reagieren. Um unsere Gesellschaft flexibel gestalten zu können, benötigen wir jedoch einen ständigen politischen Diskurs und die Möglichkeit, jederzeit verbindliche und demokratisch legitimierte Entscheidungen zu treffen.“
  36.  
  37. Gemeint ist: Die Liquid Democracy, wie sie die Piraten wollen, mit ständigem Feedback und der Möglichkeit, seine Stimme zu delegieren und jederzeit wieder zurückzuhaben, schafft eine Demokratie mit menschlichem Antlitz.
  38.  
  39. Und manchmal klingt das so: „Die Welt steht auf der Schwelle einer Veränderung, und alle stehen verwirrt davor. Und genau jetzt ist es wichtig wie nie, dass gerade die jungen Menschen politisch werden. Wir sind diejenigen, die ohne Angst einfach hingehen und machen. Wir sind diejenigen, die verstehen, dass Regeln veränderbar sind. Wir kommen direkt aus dem Leben, sehen die Welt um uns herum und beginnen, Fragen zu stellen.“
  40.  
  41. Das hört sich vielleicht etwas welpenhaft an und ein wenig nach Bundeszentrale für politische Bildung. Gemeint ist: dass ganz offensichtlich die Parteien- demokratie hakt.
  42. Weisbands Pointe dabei: Wir leben längst in der Zukunft, sagt sie, wir leben nur noch nicht nach ihren Regeln. Und so gibt es in der digitalen Gegenwart Menschen, die ausprobieren, was Glück und Freiheit jenseits und unabhängig von Wohlstand sein könnten – es gibt aber auch ein digitales Proletariat der digitalen Revolution, das vergleichbar ist mit dem Proletariat der industriellen Revolution.
  43.  
  44. „Was wir nun brauchen“, sagt Weis- band, „ist ein Grundeinkommen für alle, denn kein Mensch darf in dieser Gesellschaft Existenzängste haben, weil das die Partizipation unmöglich macht.“
  45.  
  46. Rosa Luxemburg wollte noch die alte Welt stürzen und eine neue Welt bauen. Marina Weisband will die alte Welt umbauen, weil die neue Welt schon da ist.
  47.  
  48. Lektion Nummer drei: Die Revolution wird, zumindest im Westen, unblutig sein. Vielleicht werden wir gar nicht viel davon merken. Vielleicht sind die Sensorien für Wandel so veraltet wie das System, das den Wandel erforderlich macht. Vielleicht meint Marina Weisband das, wenn sie sagt: „Mit dem Ende der Vollbeschäftigung ist nicht mehr die Arbeitskraft das Nadelöhr für Veränderungen, heute ist dieses Nadelöhr die Auffassungsgabe.“
  49.  
  50. Was heißt also Scheitern in diesem Zusammenhang? Einstweilen sind die Piraten so historisch wie Occupy Wall Street. Die Zäsur von 2011 wäre der Komet der Revolutionen, schneller verglühten Wan- del, Hoffnung, das Neue noch nie.
  51.  
  52. Vielleicht aber, so beschreibt es der phi- losophische Spekulant Slavoj Žižek in seinem neuen Buch „Das Jahr der gefährlichen Träume“, sind die Ereignisse von 2011 wie „Fragmente einer utopischen Zukunft“, die „in unserer Gegenwart als verborgenes Potential schlummert“.
  53. Der Schweizer Boni-Deckel von 2013 könnte so ein Fragment sein, auf das man zurückblickt und sagt: Da begann etwas.Occupy Wall Street könnte so ein Frag-ment gewesen sein, von dem man später sagt: Es sah nur aus wie Scheitern.
  54.  
  55. Und Marina Weisband? 140-Zeichen- Weltdeutung oder Rosa Luxemburg reloaded? Symbol für Veränderung oder Simulation von Revolution?
  56.  
  57. Das Interesse an ihr ist jedenfalls groß, Weisband kennen eben auch Leute, die Liquid Feedback für ein Getränk halten.
  58.  
  59. Auch die ernsten Politikjournalisten kommen in diesen Tagen und stellen erns- te Politikjournalistenfragen: ob sie zu- rückkehrt in die Politik oder wie es mit den Piraten weitergeht – was an der ei- gentlichen Sache vorbeifragt.
  60.  
  61. Denn das Widersprüchliche an der Figur Weisband wie an den Piraten überhaupt ist ja gerade die Vision einer Demokratie, die von den Parteien unabhängig ist – aber berichtet wird darüber mit den Mitteln und mit den Worten der Parteiendemokratie.
  62.  
  63. Weisband sagt dazu: „Wir sind die Ersten, die mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen sind, und hinter uns kommen viele, die mit dem Kopf gegen die Wand laufen, wenn wir kein Loch reinmachen.“
  64.  
  65. Sie sagt auch: „Wir wollen die Revolution der Demokratie, aber wir kommen mit dem Alltag nicht klar.“
  66.  
  67. Lektion Nummer vier: Der Alltag ist reaktionär, er ist der Feind der Revolte.
  68.  
  69. Sie weiß selbst sehr gut, was das bedeu- tet, Marina Weisband, Veteranin mit 25 Jahren und eine Rückkehrerin, die vor zwei Jahren aus dem Nichts in die Bundespressekonferenz und
  70. die Zeitungen, Talkshows, Online-Seiten geschleudert wurde, die von Mai 2011 bis April 2012
  71. Politische Geschäftsführerin der Piratenpartei war und dann zurücktrat, wahlweise weil sie nicht mehr wollte oder weil sie nicht mehr konnte.
  72.  
  73. Es gab antisemitische Ausfälle gegen sie, Hass und Häme, die eine Währung sind in der schönen neuen Internetwelt, es gab das Gerede, dass sie einfach erschöpft sei, es gab die Talkshow mit Michel Friedman, der sie michel-friedmanhaft anpöbelte und über den sie heute nur sagt, dass er „seinen Umgang mit jungen ukrainischen Frauen auch nicht geändert hat“. Weisband-Style.
  74.  
  75. Wer also ist diese Frau? Auch darüber schreibt Weisband in ihrem Buch, diese Frau, die sieben Jahre alt war, als sie aus Kiew nach Deutschland kam. 1994 war das, und sie war krank, auch das ist eine Parallele zu Rosa Luxemburg, sie litt an einer Immunschwäche, die auf den Atomunfall von Tschernobyl zurückzuführen ist, so beschreibt sie das in ihrem Buch.
  76. „Ich verbrachte große Teile meiner Kindheit im Bett, wo Bücher und Zeichenpapier meine einzige Ablenkung waren. Entsprechend früh musste ich lernen, selbst zu lesen. Ich schrieb Briefe, die ich oft mit dem Namen der Heldin des Buchs, das ich gerade las, unterschrieb. Ich tat immer so, als sei ich jemand anders.“
  77.  
  78. Und etwas davon ist in ihrem Kopf geblieben, eine Art von belesener Ver- huschtheit, wie sie zum Beispiel auch Sahra Wagenknecht hat, die selbst in Form und Inhalt stark an Rosa Nummer eins erinnert, das urlinke Rollenmodell.
  79.  
  80. Weisbands Mutter, schreibt sie, war liebevoll und arbeitete in einer Bank, ihr Vater war genialisch und arbeitete als Programmierer. „Natürlich kam ich in mei- ner Situation, trotz meines Alters, nicht umhin, auch an den Tod zu denken.“
  81. Auch das: Weisband-Style.
  82.  
  83. Sie „kam nicht umhin“. Sie war einsam und fremd, in diesem Land, in ihrem Leben. Sie fand sich selbst und fand Freunde im Internet. Sie lernte Japanisch, weil sie japanische Manga-Comics mochte. Sie spielte die Trosshure bei diesen mittelalterlichen Rollenspielen, bei denen sich besonders gern die Nerds, die sonst im- mer mit dem Kopf in Zahlenwolken hän- gen, für ein Wochenende aller modernen Zivilisation berauben.
  84.  
  85. Das sind die Kinder jener Mittelschicht, zu deren Revolte 2011 werden sollte. Die Mittelschicht war der Träger der Proteste auf dem Tahrir-Platz, vor der EZB in Frankfurt, im Zuccotti-Park in New York, bei den Asambleas in Madrid, eine „Revolte ohne Revolution“ hat Slavoj Žižek das genannt – und es liegt in der Natur der Sache, dass die Mittelschicht nur bedingt bereit ist, die Verhältnisse grundsätzlich oder mit Gewalt umzustoßen.
  86.  
  87. Marina Weisband, die Antwort der digitalen Gegenwart auf Rosa Luxemburg, sagt es so: „2012 war das Jahr, in dem die Debatte über Veränderungen breiter wurde. Es ging darum, von der Idee zur Umsetzung zu kommen. Und das ist ein eklig langwieriger Prozess.“
  88.  
  89. Und so ist ihr Buch auch ein Friedensangebot. Keine Angst, sagt Weisband: Wir nennen es nur Politik.
Advertisement
Add Comment
Please, Sign In to add comment
Advertisement