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Guest User

interpretation FOT

a guest
Feb 9th, 2013
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  1. Die Kurzgeschichte „Die Linkshänder“ von Günther Grass handelt von zwei Freunden, dem Ich-Erzähler und Erich, die auf Grund ihrer beider Linkshändigkeit sich gegenseitig die jeweils linke Hand, inoperabel und mit gezieltem Schuss, abtrennen. Die Ursache für diesen gegenseitigen Akt der Verstümmelung, ist der in der Geschichte zum Ausdruck gebrachte Zwang, der Linkshändern im Deutschland der 50er Jahre widerfuhr, ihr angeborenes sogn. „Handicap“ abzulegen und Rechtshänder zu werden. Schauplatz des Ereignisses ist Erich's abgelegenes Wochenendhäusschen.
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  3. Auf die Handlung des gegenseitigen Abschießens der linken Hände, reagiert man vom Standpunkt unserer heutigen Gesellschaft aus gesehen zunächst mit völligem Unverständnis. Warum überhaupt sollte man sich so etwas antun und warum sollten es sich darüber hinaus zwei Freunde gegenseitig antun? Die Geschichte zeigt aber, aus Erich's abgelegenem Wochenendhäuschen heraus, in vielen Beispielen, wie stark damals das Leben des Ich-Erzählers und seines Umfeldes, dass lediglich aus Linkshändern besteht, von diesem angeborenen Gebrechen, wie es der Erzähler nennt, zu einem „manuellen Leiden“ (Z 114) wird, das sich bis ins Tiefste in sein gesellschaftliches und privates Erleben frisst und zum Mittelpunkt seines Lebens wird. In Rückblenden erfährt man wie: der Erzähler seinen Freund im gemeinsamen Linkshänderverein kennenlernt, einem Verein dessen Mitglieder ausschließlich Linkshänder sind; im selben Verein seine spätere Frau Monika kennenlernt; von seiner ersten Freundin abgelehnt wird, als sich herausstellte dass er Linkshänder ist; in seiner Kindheit gezwungen worden war immer nur seine rechte Hand den Tanten und Onkeln zur Begrüßung zu reichen. Selbst die Hochzeitsringe, die er und Monika sich eigentlich an ihre linken Hände, ihre lieben Hände, wie Monika sie nennt, anstecken wollen, müssen an ihre tauben Hände, die rechten Hände angesteckt werden, da der Erzähler aus einer zutiefst empfundenen Verunsicherung gegenüber der Gesellschaft, was nach dieser Kindheit wohl mehr als verständlich erscheint, und dem, was er deshalb als richtig und angemessen versteht, so entscheidet. Er kann es aus dem ihm auferlegten Zwang heraus wie ein Rechtshänder handeln zu müssen, nicht verantworten, lediglich als verlobtes Paar gesehen zu werden, wo er und Monika doch schon längst verheiratet sind und hat darüber hinaus Angst vor gesellschaftlichen Anfeindungen. „Wir können es uns nicht leisten, vor einer unwissenden, nicht selten böswilligen Welt, als Verlobte zu gelten, wenn wir schon lang ein getrautes Paar sind [...]“ (Z 139). Es wird sehr deutlich, dass all diese beispielhaft dargestellten Rückblenden letztlich zu dieser zu tiefst verwurzelten Verunsicherung im Umgang mit eigentlich ganz alltäglichen Situationen führen und das Linkshänder damals zu versuchen hatten, Allen alles recht zu machen. Der Zwang des Rechtmachenwollens geht auch deutlich aus den ständigen, überzogenen Entschuldiungen aus dem Text hervor, und besonders als die Beiden Erich's Wohnzimmer präparieren. Man will selbst während des blutigen Akts der Selbstverstümmelung kein Aufsehen erregen, bloß keine Mödelstücke, Bilder oder den Spiegel treffen, oder Porzellan verletzen. Wie kann man Porzellan verletzen? Aus dieser Wortwahl geht eine Abstumpfung der Empfindung gegenüber des eigenen Selbst hervor, die sogar tote Gegenstände lebendiger erscheinen lässt als die eigene Person, und dem Leser wird diese Abstumpfung im Verlauf des weiteren Textes immer deutlicher gemacht, als eine Folge der jahrelangen seelischen Misshandlungen.
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  5. Neben der offenkundigen Thematik der Folgen der Unterdrückung von Linkshändern, wird außerdem die gesellschaftliche Ächtung Homosexueller angesprochen. Der Ich-Erzähler distanziert sich, ebenfalls in seiner übertrieben entschuldigenden Weise, von dieser sexuellen Neigung, als ob er Schlimmstes befürchten müsse, würde man ihn als Homosexuellen, oder auch nur als Sympathisant Homosexueller sehen. „Jene verfehlte und mir ganz unbegreifliche Liebe zwischen Geschlechtsgleichen [...]“ (Z 174). Offensichtlich wird Homosexualität also in dieser Zeit gesellschaftlich verachtet und möglicherweise bestraft. Es wird außerdem skizziert, dass der Erzähler seine Frau Monika an diese von ihm immer wieder übermäßig stark abgelehnte Form der Sexualität zu verlieren wähnt, als er im Linkshänderverein erlebt, wie Monika ihm entgleitet. „Zu oft ist sie mit ihrer Freundin [...] zusammen“ (Z 177). Der Erzähler sieht als Auslöser für diese Entwicklung die „Ringfrage“, in der er entschieden hatte die Eheringe rechtshändig zu tragen, was ihm immer wieder von Monika vorgeworfen wird, die ihn daraufhin als zu nachgiebig und mutlos bezeichnet und ihm immer mehr den Rücken zuwendet. Hier kommt Monikas Wunsch nach eigener Lebensgestaltung zum Ausdruck, der bei ihr dem Wunsch einer gesellschaftlichen Konvention zu genügen, offensichtlich überwiegt, denn sonst hätte sie ja die Entscheidung des Erzählers ohne weitere Vorwürfe akzeptiert. Bedenkt man die bereits belegte Abstumpfung gegenüber der eigenen Person und die tiefgreifende Verunsicherung, wie sie wahrscheinlich auch in Monika von Kindheit an gewachsen sein dürfte, und außerdem, ihren damit einhergenden Wunsch ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen gestalten zu wollen, kann man hier sinnbildlich von einer Suche nach der eigenen Identität sprechen. Monika scheint sich ja zunächst klar darüber zu sein, dass sie mit dem Erzähler verheiratet sein will, fühlt sich dann aber später auf Grund ihrer gewachsenen Unsicherheit und der inneren Leere, die bei ihr einen Wunsch nach Leben weckt, gleichsam zu einer Frau aus dem Verein hingezogen, die natürlich ebenfalls Linkshändering ist. So kann die Bedeutung des Begriffes „links“ ab hier auch mit dem Begriff identitätslos verstanden werden.
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  7. Die große Zahl dieser Rückblenden und Darstellungen von der Innenwelt des Erzählers aus beschrieben, die, wie man sieht, überwiegend mit Personen aus dem Verein verknüft sind, stellen den Verein an eine Schlüsselposition zum erweiterten Textverständnis. Der Veinsname lautet „Die Einseitigen“ und ist damit nach Außen hin zunächst geradezu nichtsaussagend, sozusagen identitätslos. Es ist aber bereits jetzt klar, welchen Zweck der Verein gegenüber den Mitgliedern zu erfüllen hat und in welchem Verhältnis die Mitglieder gegenüber dem Verein stehen; der Verein ist wie gesagt der Mittelpunkt ihres Lebens. Sonst wird aber nichts aus dem Leben der Mitglieder erwähnt! Das heißt, die Mitglieder des Vereins leben in gesellschaftlicher Isolation und ausschließlich unter sich, ohne Korrespondenz in andere gesellschaftliche Bereiche. Das Verhältnis des Vereins zu der ihn umgebenden Gesellschaft wird nun deutlich, wenn man die Vereinsaufgabe mit einem älteren Begriff aus der politischen Terminologie beschreibt. Im Verein, der wie erwähnt sämtlich aus Linkshändern besteht, sollen also Linkshänder zu Rechtshändern erzogen, oder eben umerzogen werden, bzw. sich unter Anwendung geeigneter Mittel von selbst dazu gezwungen fühlen, die Rechtshand gegenüber der Linkshand zu ihrer Bevorzugten werden zu lassen. Es ist also hier der politische Begriff des Umerziehungslagers gemeint, wie dieser für Einrichtungen totalitärer politischer Systeme benutzt wird, in denen Gegner und Andersdenkende eines solchen Systems zum vermeindlichen Schutz der übrigen Gesellschaft isoliert werden. Um das Ziel des Vereins „Die Einseitigen“ also zu erreichen, werden die Linkshänder hier im Rahmen der häufigen und regelmäßigen Vereinstreffen zunächst isoliert und dann angewiesen, verschiedene Tätigkeiten selbstständig mit der Rechten Hand zu erlernen. „[...] rechts einfädeln, eingießen, aufmachen und zuknöpfen.“ (Z 31). Aus der bereits dargestellten erlernt fundamentalen Unsicherheit heraus, was den natürlichen Umgang mit der Händigkeit angeht, folgen Viele den Weisungen im Sinne des Vereinsziels und hoffen dabei, diese Unsicherheit durch Rechtslernübungen ablegen zu können. Aus dieser Folgsamkeit ensteht ein Vereinsstatut: „Wir wollen nicht ruhen, bis dass rechts wie links ist.“ (Z 32). Gleichzeitig existiert aber ein extremer Flügel des Vereins, der bevorzugt den Vereinsleitsatz „Wir wollen auf unsere linke Hand stolz sein und uns nicht unseres angeborenen Griffes schämen.“ (Z 32) in die Vereinssatzung aufnehmen würde. Erich und der Erzähler zählen zunächst überraschend zu diesem linken Flügel. Überraschend deshalb, da dieses dem Rechtslernziel scheinbar entgegengesetzte Statut zunächst nicht erkennen lässt, dass sich Vertreter dieses Statuts die linken Hände abschießen würden. Beide wissen aber nur zu gut, dass dieses Pathos wohl am ehesten mit einer Überkompensation zu erklären ist, die, in dieser extremen Weise kanalisiert, niemandem helfen wird die tiefempfundene Unsicherheit ablegen zu können, durch die die Mitglieder des Vereins zu Gefangenen geworden sind: „Auch diese Parole stimmt sicher nicht, und nur ihr Pathos […] ließ uns diese Worte wählen“.
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  9. Das vereinsinterne Ringen der Anhänger dieser unterschiedlichen Vereinsstatuten um eine gemeinsame Zielsetzung und die daraus folgende Lagerbildung, wird mit dem politischen Beispiel der räumlichen Sitzverteilung, von der Mitte aus links oder von der Mitte aus rechts, im Parlament verglichen, und somit dem Begriff „links“ eine politische Bedeutung verliehen. Hier wird also die Analogie des Vereins mit einer politischen Partei / Fraktion gebildet. Man kann textextern erschließen, dass während des kalten Krieges im Deutschland der 50er Jahre, die politische Linke, in der Besatzungszone der Alliierten, übermäßig unter Druck gesetzt wurde, worauf der Text auch eingeht, indem links gleichbedeutend mit radikal gesetzt wird: „[...] ist es zur Sitte geworden […] links […] eine gefährliche Radikalität anzudichten.“ (Z 106). Die wichtigste politische Anspielung des Textes ist deshalb in der Mehrdeutigkeit des Begriffs „links“ zu verstehen und kennzeichnet damit ein Mal mehr die Stellung des Vereins, gegenüber der ihn umgebenden Gesellschaft – ein linker (= radikaler = zu verachtender) zu isolierender Verein. Die Bedeutung des Begriffs „linker Verein“ kann man in diesem Zusammenhang auch als link = hinterhältig verstehen. Der Text transportiert im Rahmen seiner politischen Anspielungen recht genau, dass politisch linke Parteien damals so gesehen wurden. Man weiß außerdem, dass unter den damaligen Besatzern in der alliierten Zone Linke, Kommunisten und Sozialisten höchst unbeliebt waren, was ja auch das Parteiverbot (analog: Linksverbot) der KPD in den Nachkriegsjahren in Westdeutland zeigt. Eine Partei hatte also nach der öffentlichen Linksbekennung mindestens mit Isolation zu rechnen, so wie es die Mitglieder im Verein erleben. Wie schon erwähnt, werden an keiner Stelle Kontakte des Vereins nach Außen angesprochen. Der einzige Kontakt, ein „Rechtslehrer“, wurde wegen interner Vereinspolitik, man kritisierte seine Lehrmethoden, allerdings vom Verein selbst, ausgeschlossen. Hier gilt wohl als Grund das selbe überkompensierende Pathos, dass hinter der überzogenen Satzung „Wir wollen auf unsere linke Hand stolz sein [...]“ (Z 37) steht. Die hieraus entehende verfahrene Situation für den Verein, also die Lagerbildung in extreme Flügel als Folge gesellschaftlicher Isolation und psychischer Verstümmelung der Mitglieder, lässt zwischen den extremen Flügeln des Vereins zunehmend radikalisierende Fronten entstehen, so „[...] dass manche Vorstandssitzung einer Orgie gleicht, in der es gilt, durch heftiges und besessenes Hämmern in Ekstase zu geraten.“ (Z 171).
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  11. Aus dieser Situation heraus, also ohne Aussicht auf Besserung was die fanatischen Fronten im Verein, bzw. analog, was die politische Situation der Linken angeht, sowie aus der Verzweifelung heraus die der Erzähler und Erich auf Grund der als quälend empfundenen Abstumpfung sich selbst gegenüber empfinden, und auf Grund von Monikas Ablehnung dem Erzähler gegenüber, fällen Beide schließlich den Entschluss sich gegenseitig das zu nehmen, was sie ihrer Meinung nach daran hindert mit sich selbst und der Umgebung im Einklang leben zu können. Die Haltung der Beiden wird noch einmal durch eine Innenschau des Erzählers, bei der Abwägung möglicherweise treffenderer Vereinsnamen verdeutlicht. „Gewiss wären wir besser genannt, würden wir kurz, die Linken oder klanvoller, die linken Brüder heißen.“ (Z 85). Die Idee dieser Namensgebung verwirft der Erzähler aber sogleich, man könne doch nicht einen solch radikalen Schritt wagen und nicht-linke Personengruppen schon der Namensgebung wegen ausschließen. Gleichsam führt er weiter aus, dass jeder Pfarrer dem am Seelenheil seiner Gemeinde gelegen wäre, angesichts dieser so zahmen Truppe „[...] von der Kanzel ausrufen ließe: „Ach, wäret ihr doch alle Linkshänder!“ (Z 93). Man erkennt hier neben der zerissenen Innenwelt der beiden Freunde, außerdem, um erneut die politische Analogie zu den linken Parteien zu benutzen, die weichgespülte politische Linke, die, so profillos wie sie in der Gesellschaft wargenommen wird, und das in Folge ihrer inneren Zerrissenheit, nur noch als pastorales Zitat für beispiellosen Gleichmut dienen kann.
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  13. Abschließend möchte ich sagen, dass ich den zentralen Kern der vorliegenden Geschichte, von Herrn O. Lafontaine, einige Jahre später sehr eingängig und direkt formuliert gehört habe: „Deutschland braucht eine Linke“ (O. Lafontaine). Neben dem Aufruf, dass sich Deutschlands Linke nicht selbst zerfleischen solle, ist dies für mich die Kernaussage dieser Geschichte, die an der Metapher der Unterdrückung und gesellschaftlichen Ächtung von Andersausgerichteten aufgehängt wird. Jeder sollte aus solchen Dokumenten lernen, was Isolation und Ächtung ganzer Bevölkerungsschichten bewirken können. Nämlich, wenn Vielseitigkeit der „Einseitigkeit“ zum Opfer fällt und im politischen und gesellschaftlichen Sinn vorangetrieben wird, sich eine Gesellschaft (ein politisches System) alternativer Handlunsgmöglichkeiten beraubt, und nur noch in eine Richtung denken und handeln kann.
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  15. Das wahrscheinlich schwierige am Text ist aber wohl, dass man zunächst gar nicht einordnen kann, ob angesichts der dauernden überzogenen Entschuldigungen, selbsterniedrigenden Darstellungen auf Grund des eigenen „Gebrechens“ seitens des Erzählers und allerhand übertriebener Umsichtigkeiten, Ironie gemeint ist, oder ob wirklich Ernst im Spiel ist. Am Schluss ist man dann vollkommen verwirrt, als es heißt: „Wir lachen und beginnen unser großes Experiment damit, ungeschickt, weil nur auf die rechte Hand angewiesen, die Notverbände anzulegen.“ (Z 197). Warum die Zukunft nach der Abwesenheit der vollständig abgeschossenen „Linken“ als Experiment bezeichnet wird, ist aber eigentlich nicht einmal mehr aus dem zeitlichen Kontext heraus zu verstehen und aus heutiger Sicht schon gar nicht nachvollziehbar. Auch damals hatte man doch zum Ende der Weimarer Republik erlebt und wußte damit, was geschieht, wenn, bezogen auf die Parteienanalogie, kein Gegenpol mehr vorhanden ist, der vielleicht noch einen Rest politischen Gleichgewichtes sichern könnte. Außerdem das Lachen - man gewinnt den Eindruck, dass beide Freunde vollkommen verrückt geworden seien und von den Sektierern im eigenen Verein aufgerieben wurden. So verstehe ich den Text am ehesten.
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