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Berlinwahl – ein Versuch einer Analyse

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Sep 20th, 2016
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  1. Berlinwahl – ein Versuch einer Analyse
  2.  
  3. Am 18. September wurde in Berlin gewählt. Die größten Verschiebungen gab es bei den so genannten Nicht-Etablierten, gefolgt von Verschiebungen bei den derzeit (noch) Regierenden.
  4. Mit einer gigantischen millionenschweren Materialschlacht und 70.000 mal „Müller, Berlin“ in der Stadt gelang es der SPD, den Absturz zu bremsen und wenigstens, gerade noch, stärkste Fraktion und damit den Regierungsauftrag zu retten. Die Stadt gehört weiterhin der SPD, aber die Luft wurde dünner, sehr dünn.
  5.  
  6. Ähnlich abgestraft wurde die CDU, mit der Lichtgestalt Frank Henkel vorneweg (was macht er doch gleich beruflich? Videotechnikverkäufer etwa?) und Senatoren wie Czaja oder Heilmann konnte man die Wähler nicht überzeugen, sie liefen in Größenordnungen davon.
  7.  
  8. Die GRÜNEN hielten sich eigentlich recht stabil, bedenkt man, dass das 2011-er Ergebnis im ausklingenden Fukushima-Effekt recht proper war, trotz damals mieser Wahlkampagne und unglücklich gewählter Spitzenkandidatin Renate Kühnast. Sie haben etwas verloren, aber nicht sehr viel.
  9.  
  10. Im Aufwind dagegen die LINKE, denen durchaus auch zu Gute kam, dass einige der fleißigeren und politisch erfolgreicheren Piraten rechtzeitig den Absprung Richtung LINKE gewagt und geschafft hatten, wie beispielsweise Anne Helm, und helfen konnten, neue Wählerkreise für die LINKE zu erschließen. Die LINKE hatte 2011 zudem die Bürde einer Juniorpartnerschaft unter Rot-Rot mit der SPD, musste also damals deren miese Realpolitik mittragen, was 2011 das Ergebnis drückte.
  11.  
  12. Die PIRATEN durften ein mittleres Desaster hinnehmen. Sie stürzten fast ins Bodenlose, von 8,9 auf 1,7%. Eine Partei, denen einige Leistungsträger Richtung FDP, SPD und LINKE davonliefen, mit professionellem Campagning der Parteien die sie aufnahmen, dagegen eigenen Schwächen was Campagning und Kampagnenfähigkeit anging, ist aus dem 2011-er Hype nahezu in die Bedeutunglosigkeit abgestürzt, lediglich 4 Mandate (2 Mitte, 2 Friedrichshain-Kreuzberg) konnten verteidigt werden respektive wiederbesetzt werden.
  13.  
  14. Der FDP, die 2011 ein ganz ähnlich desaströses Ergebnis einfuhr wie jetzt die PIRATEN, nämlich 1,8%, reüssierte und sprang deutlich über die 5%-Hürde, und stellt jetzt mit 12 Abgeordneten eine fast so große Fraktion wie vorher die PIRATEN (15).
  15.  
  16. Die AfD, mit millionenschwerer, zum Teil parteiengesetzwidrig finanzierter Kampagne („Extrablatt“) und derzeit starkem Hype, war äußerst erfolgreich, 5 Direktmandate, 25 Abgeordnete, 7 Ansprüche auf einen Stadtrat (also ein handlungsbefugtes, verbeamtetes Mitglied der Exekutive) sind ein veritabler Durchmarsch, der den der PIRATEN 2011 noch deutlich überragt.
  17.  
  18. Die Partei Die PARTEI und die Tierschutzpartei konnten Achtungserfolge erzielen, die PARTEI auch 2 Mandate in Friedrichshain-Kreuzberg, wo sie sich mit den PIRATEN ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die BVV-Stimmen lieferten. Letztlich lagen die PIRATEN um nur gut 100 Stimmen vorne.
  19.  
  20. Woran lags?
  21.  
  22. Ich möchte hier insbesondere ein Ergebnisse näher beleuchten, den größten Absturz und seine Ursachen bei den PIRATEN, auch im Vergleich zur jetzt erfolgreichen AfD. Es gibt nämlich einige interessante Parallelen.
  23.  
  24. Was eint, was trennt die Erfolge (PIRATEN 2011, AfD 2016) bzw. Mißerfolge?
  25. Nun, zunächst mal das Einende, verblüffenderweise ist es gar nicht so wenig:
  26.  
  27. • Beide konnten blitzartig einen nicht erwarteten Wahlerfolg verbuchen (okay, bei der AfD nicht ganz erstmalig, wie bei den PIRATEN bei der Berlinwahl)
  28. • Beide haben massiv Nichtwähler aktivieren können
  29. • Beide haben den Impetus der „Protestpartei“ nutzen können, und damit von allen etablierten Parteien mehr oder weniger Wähler „absaugen“ können
  30.  
  31. Die größten Unterschiede liegen allerdings in den Millieus, die man ansprach:
  32.  
  33. PIRATEN sprachen 2011 und tendenziell auch 2016 Menschen „links von der Mitte“ an, die mit den bestehenden Verhältnisse unzufrieden sind oder die Verbesserungen wünschen.
  34.  
  35. Die AfD sprach Menschen „rechts von der Mitte“ an, die mit den bestehenden Verhältnisse unzufrieden sind oder die sich ein „Zurück in eine gefühlt gute alte Zeit“ wünschen.
  36.  
  37. Es gibt Schnittmengen, etwa 10%, das sind Menschen denen das politische System hierzulande bereits derart verhasst ist, dass sie eine reine Anti-Wahl durchführen. Sie wählen die Partei, völlig unabhängig von ihrer Ausrichtung, die möglichst maximal gegen „Die da oben“ also die Politikergruppe der „Etablierten“ ist. Den Eindruck vermittelten (mit „Politik mal ander5“) damals die PIRATEN, heute (mit „weil wir für euch sind, sind die gegen uns“) die AfD.
  38.  
  39. Warum aber stürzten die PIRATEN, trotz einer gewissen Sichtbarkeit im Wahlkampf mit Plakaten, Wahlkampfständen und auf Podien, und dem Vorteil, bis zur Wahl eine Fraktion zu haben, die öffentliche Aufmerksamkeit zumindest generieren kann und wahrgenommen wird, mit 1,7% der Zweitstimmen so gnadenlos und tief ab, tiefer gar als die letzten Prognosen vor der Wahl (3 bzw. 3,4%)?
  40.  
  41. Die Gründe sind vielschichtig, ich greife die m.E. nach Wichtigsten heraus
  42.  
  43. • Disperse, nicht kongruent und einheitlich wahrnehmbare Fraktion, die internen Streit auch gerne mal öffentlich austrug
  44. • Deutlich sichtbarer Weggang einiger prominenterer Leistungsträger wie Martin Delius, Anne Helm, Christopher Lauer oder Andreas Baum
  45. • Relativ kleine, von Mitgliederschwund und manchen demotivierenden persönlichen Kleinkriegen geschwächte Partei
  46. • Campagning mit Kommunikationsschwächen und nur teilweise pfiffigen und kreativen Ideen („Better call Jan, #PRTXHN, Spitzenkandidat auf Plakat in Bühnenoutfit, „Opposition geht auch konstruktiv“)
  47. • Wenig Sichtbarkeit im Stadtbild der einzelnen Wahlkämpfer, geschuldet einer sehr kleinen Aktivenzahl, die niedrig dreistellig war (ungefähr 1/10 beispielsweise der aktiven GRÜNEN oder 1/30 der aktiven SPD-ler)
  48. • Negatives Framing und Image in der öffentlichen Wahrnehmung („Es war nett, aber das war’s“, „Piraten sind tot“, „Das Schiff ist gekentert und sinkt“)
  49. • Nahezu keine Sichtbarkeit in überregionalen Zusammenhängen, keine „Bundespromis“ (wie sie z.B. die PARTEI mit Martin Sonneborn hat)
  50. • Viele „strategische“ Wähler die insbesondere ihre Zweitstimme einer der RRG-Parteien gaben, um die AfD zu schwächen und ein mögliches RRG zu stärken – das kostete Zweitstimmen
  51.  
  52. Unter solchen Rahmenbedingungen war von Anfang an klar, es wird schwer, sehr schwer. Die Friedrichshain-Kreuzberger Piraten, auch nur eine Gruppe von knapp 20 Menschen, aber immerhin pro Einwohner etwa doppelt so viele Aktive wie im übrigen Berlin, hatten eine eigene Kampagne aufgesetzt mit viel Elan, die einer Art „Guerilla-Strategie“ folgte, mit 3 Stufen
  53.  
  54. • Aufbau eines neuen, frischen Designs und frechen, provokativen Wordings ohne sofort direkte Erkennbarkeit „PIRATEN“ (Guerilla Style)
  55. • Stufenweises „Lüften“ des Geheimnisses, wer dahintersteht (Piraten*Xhain, kurz #PRTXHN)
  56. • Übergang im aktiven/heißen Wahlkampf zu cross media-Aktivitäten, kombinierter on- und offline-Ansprache mit klare Ablesbarkeit einer eigenständigen, frischen und frech-positiven Kampagne
  57.  
  58. Diese Kampagne war sehr erfolgreich, und outperformte die eher mäßige Landeskampagne um etwa 180% (50-60% liegt der Bezirk allerdings auch schon immer strukturell vorne, da piratenaffineres Publikum in Teilen des Bezirks wohnt wie z.B. in den Altbaugebieten Friedrichshain und Kreuzberg). Somit gibt es eine Nettooutperformance von ca. 100%, jedoch von einem sehr, sehr niedrigen Niveau aus, eben diesen 1,7% im Land, dessen allgemeine Ursachen oben bereits angerissen wurden.
  59.  
  60. Fazit für die PIRATEN: es ist nicht gelungen, das negative Momentum zu drehen, es ist allerdings gelungen, den weiteren Absturz in die „Nicht-Messbarkeit“ (unter 1%) der Demoskopen aufzuhalten, und punktuell sogar wieder ein wenig nach oben zu drehen, z.B. in Mitte oder Friedrichshain-Kreuzberg.
  61.  
  62. Insgesamt ist es ein Desaster, mit dem selbst ich nicht gerechtet hatte (mein mid case scenario war, an die 3% im Land heranzukommen und über 6% im Bezirk Xhain zu schaffen).
  63.  
  64.  
  65. Ulli Zedler 20.09.16
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