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Porno Lehrer

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Mar 3rd, 2012
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  1. Ein Deutschlehrer des Literargymnasiums Rämibühl liest mit seinen Schülern Frank
  2. Wedekind und Unica Zürn. Die Mutter einer Schülerin erstattet bei der Polizei Anzeige
  3. wegen Pornografie — und die Zürcher Staatsanwaltschaft bringt den Lehrer zu Fall.
  4.  
  5. Von Mathias Ninck
  6.  
  7. Zeichnungen Yves Netzhammer
  8.  
  9. Bereits seit mehr als zwei Jahren unterrichtet Blum nicht mehr. Etwas soll vorgefallen sein an seiner Schule, etwas mit Büchern, etwas Sexuelles, niemand weiss genau was. Er sitzt an einem langen Holztisch, im elften Stock eines gesichtslosen Plattenbaus, vor sich hat er einen Berg Papier, die Akten seines Falls. Draussen, am Morgenhimmel, schimmert ein unnatürliches Rosarot. Überall Wolkenfetzen. Der Lehrer hat das Flair eines Dreissigjährigen, eine gesunde, ghandihafte Glatze, er trägt Brille, Flanellhose und einen dunkelgrauen Pullover, der seine schlanke Figur betont.
  10.  
  11. Georg Blum (Name geändert) ist 48 Jahre alt, verheiratet, Vater einer kleinen Tochter, er ist auch Schriftsteller, eins seiner Bücher hat das Feuilleton in grossen Tönen gelobt («Ein packendes, ein rundum überzeugendes Buch, das auf gescheite Weise auch die unheimliche Magie von Geschichten reflektiert»). Er lebt in dieser unbedeutenden deutschen Stadt, die leicht heruntergekommen ist, er schreibt Texte für einen Freund, ohne Entlöhnung, seine Frau forscht an der Universität der nahen Grossstadt — eine Autostunde entfernt. Blums Stimme ist getragen von Verletzlichkeit, er versteckt den Schmerz im horrenden Tempo, mit dem er erzählt, springt bald in eine Nebenerzählung und zurück, macht bald einen philosophischen Einschub, es ist, als eilten seine Gedanken in alle Richtungen gleichzeitig los, dann macht er ein Spässchen, lacht mit, und gleichzeitig wirkt er bei aller Unruhe und Lebendigkeit melancholisch und müde, zerrüttet. «Ich bin noch nicht über den Berg», sagt er.
  12.  
  13. An jenem Dienstag, dem 7. Juli 2009, hat es frühmorgens an seiner Haustür geklingelt. Helen Blum, seine Frau, geht zur Gegensprechanlage. «Polizei, aufmachen!» Sie weckt ihren Mann, sie denkt, wie sie später erzählt: «Scheisse, das Auto. Schon wieder falsch parkiert.» Die Polizisten stehen jetzt im Treppenhaus, klopfen an die Wohnungstür, verlangen, dass man auch die sofort aufmacht. «Sofort!» — «Wir ziehen uns an!», ruft Helen, dann schliesst sie auf. Drei Männer betreten die Wohnung in Zürich- Wipkingen, bewaffnete Polizisten, eine Polizistin der Kinderschutzgruppe ist da — und die Staatsanwältin, Patricia Brunner. Sie überreichen Blum ein auf gelbes Papier gedrucktes Schreiben der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat: «In der Strafuntersuchung gegen Blum Georg, Lehrer, Dr. phil., betreffend Pornografie etc. wird verfügt: Es wird eine Hausdurchsuchung vorgenommen am Wohnort des Angeschuldigten, es ist dort zu suchen nach Dateien und Unterlagen mit pornografischem Inhalt verbotener Natur, Speicherträger, Computer, Bücher, CDs etc. Die unterzeichnende Staatsanwältin wird die Durchsuchung persönlich leiten.» Lehrer Blum wird bedeutet, sich aufs Bett zu setzen. Als er pinkeln muss, sagt ein Polizist: «Die WC-Tür lassen Sie offen!»
  14.  
  15. Die Polizisten durchstöbern die Wohnung, packen ein: Computer, Bücher, DVDs, sie blättern die Noten auf dem Klavier durch, sie schauen in die Spiegelschränke im Bad. Was Georg Blum nicht weiss: Die Staatsanwältin hat — ausser einer vagen Erzählung vom Hörensagen — nichts gegen ihn in der Hand. Sie braucht aber etwas. Dazu eignet sich die Hausdurchsuchung bestens. Die Hausdurchsuchung ist eines der wirkungsvollen Instrumente des Staatsanwaltes. Blum fragt den Polizisten, ob er sich rasieren dürfe. Die Staatsanwältin ist dagegen, die Polizistin des Kinderschutzes dafür. Also gut. Er rasiert sich. Er hört Gelächter aus seinem Arbeitszimmer. Helen, die angefangen hat, Wäsche zusammenzulegen, geht in das Zimmer, sie will wissen, was da vor sich geht. Staatsanwältin und Polizistin blättern in einem Buch. «Die beiden Frauen knieten am Boden und lachten.»
  16.  
  17. Eineinhalb Stunden dauert die Durchsuchung. Dann führen sie Blum ab. Seine Frau fragt: «Darf ich mitkommen?» Die Polizisten schmunzeln. Einer sagt, es habe zu wenig Platz im Auto. Jetzt lachen die Polizisten. Sie fahren mit Blum zur Schule, dort rasselt gerade die Glocke, letzte, verspätete Schüler hetzen an dem von Beamten umstellten Lehrer vorbei; die Polizisten durchsuchen seinen Schrank im Lehrerzimmer und den Schulaccount.
  18.  
  19. Um 8.54 Uhr trifft Georg Blum bei der Stadtpolizei Zürich ein, Zeughausstrasse 31, 2. Stock, Büro 219. Ihm gegenüber sitzt Regula Büchler, Polizistin beim Kinderschutz, die ihm zwei Stunden zuvor erlaubt hat, sich zu rasieren. Das Verhör beginnt (hier in gekürzter Fassung wiedergegeben).
  20.  
  21. — Wie geht es Ihnen?
  22.  
  23. … Ich habe extrem Hunger. (Er bekommt etwas Schokolade.)
  24.  
  25. — Können Sie sich vorstellen, weshalb Sie hier sind?
  26.  
  27. … Nein, absolut nicht.
  28.  
  29. — Was für ein Verhältnis haben Sie zu Ihren Schülern?
  30.  
  31. … Ein gutes, nicht sehr hierarchisches. Ein forderndes, strenges Leistungsverhältnis. Ich habe ein direktes Verhältnis zu den Schülern, nicht ein formelles, würde ich sagen.
  32.  
  33. — Fühlen Sie sich sexuell von jungen Mädchen angezogen?
  34.  
  35. … Nein.
  36.  
  37. — Wir haben heute Morgen bei der Hausdurchsuchung DVDs und Computer mitgenommen. Werden wir dort Kinderpornografie finden?
  38.  
  39. … Nein.
  40.  
  41. — Kommen wir zur Klasse 3i. Was für ein Thema behandeln Sie dort derzeit?
  42.  
  43. … Im 3i haben wir vier Bücher, die thematisch zusammengehören müssen. In diesen Büchern geht es ums Erwachsenwerden, um Sexualität und um Tod. Auch um schwierige Familienverhältnisse.
  44.  
  45. — Wie gefallen Ihren Schülern diese Bücher?
  46.  
  47. … Den einen gefallen sie, den anderen nicht.
  48.  
  49. — Die Mutter einer Schülerin aus der Klasse 3i hat Strafanzeige erstattet wegen Pornografie. Was sagen Sie dazu?
  50.  
  51. … Da muss ich ehrlich sagen, da bin ich sprachlos. Ich finde es wahnsinnig. Das ist hochstehende Literatur. Natürlich sind das keine harmlosen Texte, das sind schwierige Texte, und natürlich ist Sexualität ein zentrales Thema. Das ist ja im Leben auch so.
  52.  
  53. — Musste die Klasse «Dunkler Frühling» von Unica Zürn lesen?
  54.  
  55. … Ja, die Schüler mussten alle vier Bücher lesen.
  56.  
  57. — Der Text handelt von Zungenküssen mit der Mutter und vom Lecken eines Hundes zwischen den Beinen. Wieso vermitteln Sie das?
  58.  
  59. … Es ist ein Buch aus der deutschen Literatur. Wieso darf man das nicht nehmen? Ich finde es besser, wenn sich Jugendliche über die Literatur mit dem Thema Sexualität auseinandersetzen, als wenn sie einen billigen Porno auf dem Handy sehen. Ich vertrete meinen Unterricht gegenüber dem Rektor, und wenn ich so nicht unterrichten kann, werde ich gehen.
  60.  
  61. — Mit vorerwähnten literarischen Werken machen Sie Pornografie an unter 16-jährige Schüler zugänglich. Was sagen Sie dazu?
  62.  
  63. … Ich bestreite das vehement. Ich sehe das nicht als pornografische Texte.
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  65. Am Tag der Verhaftung, um 11.22 Uhr, wird Georg Blum freigelassen. Er ist orientierungslos und verstört, wird er später erzählen. Er ruft seine Frau an, sie verabreden sich im Innenhof des Landesmuseums, der Schwager ist auch da. Georg Blum fühlt sich mit Füssen getreten, und er vergeht vor Scham, er hat einer wildfremden Person erklären müssen, dass er nicht auf Kinder steht, dass er seit 16 Jahren mit der gleichen Frau ins Bett geht und mit niemandem sonst, ein quälender Striptease vor der Polizei. Frau und Schwager reden ihm gut zu. Es nützt nichts. Blum wird krank. Man hat ihm ein Loch in die Brust geschlagen, und da sickert jetzt der Lebenssaft heraus. Blum geht zum Psychotherapeuten, acht Wochen lang, dann lässt er sich in die psychiatrische Klinik bringen.
  66.  
  67. «Privatleben bedeutet den Anspruch jeder Person auf die Respektierung eines persönlichen Geheimbereichs. Staatliche Organe sind verpflichtet, keine Angriffe auf die Würde, die Ehre und den guten Ruf von Personen vorzunehmen. Die Schutzbereiche der Menschenwürde, der persönlichen Freiheit und des Rechts auf Privatleben sind sehr eng verbunden.» Das hat der Bundesrat im Jahr 2000 geschrieben, und zwar in der Botschaft zur neuen Bundesverfassung.
  68.  
  69. Das überbehütete Kind
  70.  
  71. Der Angriff auf den Lehrer Blum beginnt mit Amina Huggel, die damals 15 Jahre alt ist. Es ist Frühling 2009. Amina geht in die sogenannte Immersionsklasse 3i des Literargymnasiums Rämibühl, hat Deutsch bei Blum, sie ist klug und zurückhaltend, ein energiegeladenes Mädchen, von der Mutter übermässig behütet und zurückgebunden (sagen Klassenkameraden). Die Mutter: Fatos Huggel, Muslimin, hat Germanistik studiert und als Journalistin für verschiedene Schweizer Zeitungen gearbeitet. Der Vater: Peter Huggel, Jurist, hat einen Chefposten in der Verwaltung. Er politisiert für die FDP. Die Familie lebt an der Goldküste (ihre Namen wurden hier geändert).
  72.  
  73. Amina Huggel erzählt zu Hause von der Schule, wie andere Teenager das auch tun, dies und das, auch vom Deutschunterricht. Einmal macht sie, ohne sich viel zu denken dabei, eine Randbemerkung zu einem Bild, das der Lehrer in der Linguistik gezeigt hat, das Foto einer Höhlenmalerei: Man sieht einen Hintern, aus dem etwas tropft, daneben ein Penis. Die Mutter, schon lange misstrauisch, ist elektrisiert. Sie hat die vier Bücher gelesen, die Amina in diesem Schuljahr lesen muss: Frank Wedekinds «Frühlings Erwachen», Jeffrey Eugenides’ «Selbstmord-Schwestern», Aglaja Veteranyis «Warum das Kind in der Polenta kocht» und Unica Zürns «Dunkler Frühling». Sie ist zum Schluss gekommen: Das sind lauter Sexeinlagen. Sie bittet die Tochter, ihr das ganze Unterrichtsmaterial zu geben, Prüfungen, Notizen, alles. Sie entdeckt weitere «Sexeinlagen». Die Mutter erkennt in dem Material ein Muster, das Muster der Pädophilie, sie ist auf einmal sehr dezidiert, und die Tochter, die sich zu Hause nie über den Lehrer beschwert hat, gerät ins Kraftfeld der mütterlichen Illumination. Allmählich sieht sie es auch. Doch, ja. Und dann erzählt sie der Mutter von der «Massagestunde», die es vor Weihnachten im Deutsch gegeben hat.
  74.  
  75. Die Huggels laden einen Freund ein zum Znacht, der bei der Polizei arbeitet. Der meint, der Lehrer bewege sich im Graubereich, sie sollten Anzeige erstatten. Dann gehen die Eltern mit dem Schulmaterial zur Kinderschutzgruppe der Stadtpolizei Zürich, verbringen einen ganzen Nachmittag dort. Man sagt ihnen: Sie müssen achtsam sein. Bei Pädophilen ist das Überraschungsmoment wichtig. Nicht zu viel Wirbel machen im Voraus. Auf keinen Fall das Gespräch suchen mit diesem Lehrer. Zusammen wird diskutiert, welche Strafnorm mit den «Sexeinlagen im Deutschunterricht» verletzt worden sein könnte. Vielleicht Artikel 197 des Strafgesetzbuches, wonach bestraft wird, wer Personen unter 16 Jahren Pornografie zugänglich macht? Jemand vom Kinderschutz ruft eine Staatsanwältin an. Die sagt, doch, das könnte man probieren.
  76.  
  77. Am Samstagnachmittag, dem 9. Mai 2009, um 15 Uhr ruft Fatos Huggel den Prorektor des Literargymnasiums Rämibühl, Donat Margreth, auf dessen Privatanschluss an.
  78.  
  79. — Ich bin die Mutter von Amina Huggel. Klasse 3i. Die Sie als Lateinlehrer in der ersten Klasse unterrichtet haben. Es geht um eine heikle Angelegenheit, die ich mit Ihnen besprechen möchte. Es dauert aber länger. Haben Sie eine Stunde Zeit?
  80.  
  81. … Es ist Samstagnachmittag, wir erwarten Gäste. Wenn es länger dauert und es sich um eine heikle Sache handelt, möchte ich dies am Montag oder Dienstag im Büro unter vier Augen besprechen. Dafür eignet sich ein Telefongespräch nicht gut.
  82.  
  83. — Aus Diskretionsgründen möchte ich es am Telefon besprechen.
  84.  
  85. … Ein diskretes Gespräch ist auch an der Schule möglich. Aber sagen Sie mir doch bitte kurz, worum es geht.
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  87. — Im Unterricht einer Lehrperson der Klasse 3i wird oft das Thema Sex angesprochen, was für die ganze Familie belastend ist.
  88.  
  89. … Um wen handelt es sich? Die Klasse 3i wird von 14 Lehrern unterrichtet.
  90.  
  91. — Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich Repressionen von dieser Lehrperson gegenüber meiner Tochter Amina befürchte.
  92.  
  93. … Ich bin in der Schulleitung für die Betreuung der ersten und zweiten Klassen zuständig. Mein Kollege, Herr Schneckenburger, ist für die Betreuung der dritten und vierten Klassen und der Immersionsklassen zuständig. Ich bitte Sie, sich am Montag an ihn zu wenden.
  94.  
  95. — Ich finde, Herr Schneckenburger ist etwas jung, um mit ihm darüber zu sprechen.
  96.  
  97. … Ich bin nur ein Jahr älter als Herr Schneckenburger. Aber gut, wenn es sich um eine heikle Sache handelt, wie Sie sagen, bitte ich Sie, sich am Montag an den Rektor zu wenden, Herrn Baumgartner. Es ist bei uns üblich, bei heiklen Angelegenheiten den Rektor miteinzubeziehen. Zudem ist Herr Baumgartner älter, als Herr Schneckenburger und ich es sind. Melden Sie sich beim Sekretariat der Schule und vereinbaren Sie einen Termin mit dem Rektor. Sie müssen noch nicht sagen, worum es geht, das heisst, Sie können das Gespräch dann wirklich diskret führen.
  98.  
  99. Am darauffolgenden Montag informiert Prorektor Margreth den Rektor über den Anruf von Frau Huggel. Am Dienstagmorgen ruft Fatos Huggel das Sekretariat des Literargymnasiums Rämibühl an und wünscht, den Rektor zu sprechen. Der Rektor ist nicht in seinem Büro. Sie verlangt keinen Termin, sie bittet auch nicht um einen Rückruf. Sie meldet sich nicht wieder. Rektor Christoph Baumgartner sagt heute: «Später warf die Mutter der Schule vor, sie hätte bei uns auf Granit gebissen. Das ist einfach nicht wahr. Ihre Kontaktaufnahme mit uns war nicht richtig gewollt. Jeder kann mich erreichen, problemlos, und ich gehe jedem Hinweis nach.» Aminas Eltern haben beide jahrelang als Journalisten gearbeitet, der Vater war Chefredaktor einer Regionalzeitung, sie wissen, wie man jemanden erreicht, wenn man ihn erreichen will. Das «Magazin» hat mehrere Gespräche geführt mit den Huggels, mit der Mutter, mit dem Vater. Auch Bekannte der Familie wurden interviewt. Die Huggels wollen nicht, dass aus diesen Gesprächen zitiert wird. Nur dies: «Da es sich um ein hängiges Strafverfahren handelt, nehmen wir keine Stellung.»
  100.  
  101. Und dann wurde sie feucht
  102.  
  103. Am Dienstag, dem 16. Juni 2009, um 13 Uhr geht Fatos Huggel zur Polizei und erstattet Anzeige wegen Pornografie. Im Rapport des Polizisten, der die Anzeige entgegennimmt, heisst es: «Im Deutschunterricht des Literaturgymnasiums Rämibühl lässt der Angeschuldigte seine 14- und 15-jährigen Schüler verschiedene Bücher mit sexuellem Inhalt lesen. In diesen Büchern sind Textpassagen vorhanden, die von Erotik über sexuelle Handlungen bis zu verbotenen sexuellen Handlungen mit Kindern und Tieren reichen. (…) Gemäss Auskunftsperson findet am 19. Dezember 2008 die Abschlussstunde vor Weihnachten statt. Der Angeschuldigte lässt das Schulzimmer verdunkeln, spielt indische Musik ab, sagt den Kindern, dass diejenigen, die möchten, sich gegenseitig massieren dürfen, und liest ihnen eine Geschichte vor, die mit den Worten endet: ‹Und dann wurde sie feucht.›»
  104.  
  105. Der Polizeirapport vom 22. Juni geht an die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat, ins Büro A-2 von Patricia Brunner. Weil der Beschuldigte ein kantonaler Beamter ist, muss die Anklagekammer des Obergerichts darüber entscheiden, ob gegen ihn ermittelt werden darf. «Es steht nicht mit Sicherheit fest, dass es sich beim Werk von Unica Zürn um keine Pornografie im strafrechtlichen Sinne handelt. Für die Eröffnung des Strafverfahrens besteht deshalb ein hinreichender Anfangsverdacht», urteilt die Oberrichterin. Der Bescheid geht am Montag, dem 6. Juli, per Fax bei Patricia Brunner ein. Am nächsten Morgen früh steht sie vor Blums Wohnungstür.
  106.  
  107. Die Hausdurchsuchung findet vier Tage vor den Sommerferien statt. Nach den Ferien teilt der Rektor der Klasse 4i (ehemals 3i) mit, Deutschlehrer Blum werde durch Lea Höhn ersetzt, die Gründe für den Wechsel dürfe er nicht nennen. Georg Blum ist von der Bildungsdirektion suspendiert, bei Lohnfortzahlung, er darf die Schule bis zum Abschluss des Strafverfahrens nicht mehr betreten. «Ich dachte zuerst, er hat ein Burnout, das ist das Naheliegende bei Lehrern», sagt Fabio (Name geändert), ein Schüler aus der damaligen Klasse 3i. «Dann hat mir ein Kollege von der Strafanzeige erzählt.» Tanja, die neben ihm sitzt in der trostlosen, schattenhaften Kantine des Rämibühls, sagt: «In der Klasse wusste man, dass es Schüler gab, die über die Vorgänge informiert waren, aber sie sagten nur, sie dürften es nicht sagen. Vor den Herbstferien fuhren wir dann auf Klassenreise nach Genf, unterwegs sass ich neben Fabio und sagte: He, du weisst es doch, sags mir. Ich musste richtig bohren, schliesslich sagte er, Blum habe eine Anzeige bekommen, es gehe um den Unterricht. Etwas Sexuelles. Er sagte mir auch, dass es Amina war, die Anzeige gemacht habe.» Fabio erklärt: «Ich wusste nur, etwas Sexuelles war passiert. Ich ging dann zu Amina und fragte sie: Hat er dir etwas gemacht? Hat er dich berührt oder belästigt? Oder auch nur dumm angequatscht? Sags. Ich bin voll auf deiner Seite! Sie antwortete: ‹Nei, Fäbe, es isch nöd eso.› Mehr sagte sie nicht. Sie konnte mir nicht sagen, was es war.»
  108.  
  109. Es gab sofort Gerüchte. Von allen Seiten. Es war von einem Skandal die Rede. Schüler aus anderen Klassen kamen zur 4i und sagten: Hey, da ist doch was bei euch mit dem Blum. «Man musste diesen Fragen ständig ausweichen, wir wussten ja nicht einmal, ob wir es überhaupt wissen durften», sagt Tanja. Fabio: «Als ich dann konkret vom Vorwurf erfuhr, war ich geschockt. Ich hätte nie gedacht, dass das Lesen dieser Bücher der Punkt war, der den Lehrer sozusagen ruiniert hat. Wir haben diese Bücher ganz normal besprochen im Unterricht, wir haben dabei — neben vielem anderen — auch über Sexualität geredet, aber das finde ich total okay.» Und Klassenkameradin Mara (Name geändert), die zum Gespräch in der Kantine gestossen ist, fügt mit sarkastischer Stimme hinzu: «Hallo! Sex gehört zum Leben. Dank Sex gibt es auch in hundert Jahren noch Staatsanwälte.»
  110.  
  111. Am 22. Oktober 2009, fünfzehn Wochen nach der Hausdurchsuchung, hat Staatsanwältin Patricia Brunner das folgende Material beisammen:
  112.  
  113. • Vier literarische Werke mit sexuellen Textstellen. Der Haken: Noch nie wurde ein Lehrer oder eine Buchhandlung oder ein Verlag angeklagt, geschweige denn verurteilt, weil er diese Bücher Jugendlichen zugänglich gemacht hat. Es dürfte also schwierig sein, einen Richter davon zu überzeugen, dass diese Bücher Pornografie sind.
  114.  
  115. • Den Film «Am Anfang war das Feuer». Der Haken: Der Lehrer hat den Abenteuerfilm aus der Schulbibliothek geholt, und er lief ganz normal im Kino mit Altersfreigabe ab 10 Jahren.
  116.  
  117. • Die Massagestunde vor Weihnachten. Der Haken: Von dieser Stunde kennt die Staatsanwältin nur die Version der Mutter, die nicht selber dabei war. Diese Stunde basiert auf reinem Hörensagen.
  118.  
  119. • Auf einem alten Computer des Lehrers rund 400 Aktfotos von Mädchen zwischen 10 und 20 Jahren. Der Lehrer hatte alle Fotos zwar vor Jahren gelöscht, aber sie wurden von den Informatikern der Polizei wiederhergestellt — Bilder von David Hamilton und Vergleichbares. Hamilton arbeitete in den freizügigen Siebzigerjahren mit Teenagern, es ging ihm um «visuelles Einfangen von physischer Schönheit junger Mädchen», wie er es einmal formulierte. Auf den Bildern sind teilweise nackte Mädchen zu sehen, mit viel Weichzeichner und Unschärfe, kaum herausragend, was Motive und Freizügigkeit betrifft. Kunst war das, zumindest damals. Die Bilder hingen in der amerikanischen Library of Congress, der grössten Bibliothek der Welt, sie hingen im königlichen Palast Dänemarks. Vielleicht würden sich ein paar von den Bildern auf Blums altem Computer der Kinderpornografie zuordnen lassen, nicht alle sind so apart fotografiert wie bei Hamilton. Vielleicht würde ein Richter das als Kinderpornografie verurteilen, aber sicher war eigentlich auch das nicht.
  120.  
  121. • Die Befragungen der Rektoren der Gymnasien Hohe Promenade und Kanti Wettingen, der früheren Arbeitgeber von Blum. Der Haken: Niemand hat am Lehrer etwas auszusetzen («Wir waren mit ihm sehr zufrieden»).
  122.  
  123. Was soll die Staatsanwältin mit diesem nicht sehr zwingenden Material tun?
  124.  
  125. Sie lässt es liegen.
  126.  
  127. Ein Schüler gründet eine Facebook-Seite: «Wir vermissen ihn!» Blum sei der coolste, netteste, ausgeflippteste Lehrer, den es am LG je gegeben habe, steht dort. «Wir hoffen alle, dass er bald wieder zurückkommt!» Innert Stunden treten 89 Schüler der Gruppe bei. Sie finden den Lehrer einen temperamentvollen Freak und verstehen nicht, dass man ihn davongejagt hat.
  128.  
  129. Christoph Baumgartner, der Rektor, sagt: «Unsere Schule ist nicht gerade dafür bekannt, links zu sein oder wild, wir liegen am Zürichberg, zu uns kommen viele Schüler aus dem gutbürgerlichen Milieu. Bei den Schülern und Lehrerkollegen war Blum gut akzeptiert. Und bei den Eltern auch. Herr Blum hat es gewagt, Bücher zu behandeln, die Tabuthemen aufgreifen. Themen wie: die lähmende Langeweile in der Pubertät. Erster Sex. Liebe. Überbehütung durch Erziehungsberechtigte. Selbstmord. Gewalt. Den Eltern war es gerade recht, dass er über die Textanalyse gelegentlich bei diesen Lebensfragen gelandet ist, weil sie das daheim vielleicht nicht so gut thematisieren können und weil sie wissen, dass es die Jugendlichen interessiert. Sex ist in den Augen dieser Eltern kein Thema, über das man in der Schule nicht reden darf, das merke ich an den Elternabenden.» Der Rektor ist sich bewusst, wie er sagt, dass das Thema Sex in jeder Familie anders bewertet wird und ein ideologisches Minenfeld ist. «Es gibt Eltern, die müssen erst einmal durchatmen, wenn sie sehen, wie locker manche Jugendliche heute sind im Umgang mit Sex und Körperlichkeit. Sie waren in ihrer Kindheit mit Sexualität anders konfrontiert. Für manche Erwachsene ist Sexualität mit Angst besetzt, mit Scham und Sündhaftem.»
  130.  
  131. Ein Lehrer am Literargymnasium sagt, er verstehe schon, warum sich der Rektor für diesen Blum einsetze. «Blum ist eine Figur. Er ist ein Lehrer, der die Schüler nicht kaltlässt. Die Schüler wollen Figuren, sie wollen keine lahmen Ärsche. In der Schule war Blum in seinem Element. Er war nie langweilig, hat einen blitzenden Geist, damit kommt er bei den Schülern an. Er ist manchmal auch ein Schwätzer, mich hat sein Vielreden eher genervt. In der Schule ist er jedenfalls am richtigen Ort, insofern hat man ihm seine Lebensgrundlage zerstört. Zu den Fotos, die man bei ihm gefunden hat, kann ich wenig sagen, ich habe sie nicht gesehen. Aber dieser Blum ist sicher nicht pädophil. Er ist ein Ästhet, er hat ein Flair für junge und schöne Frauen, er lotet gerne Grenzen aus, das sieht man auch, wenn er Schülertheater macht. Er rührt dort an Tabus, klar, das ist typisch Blum.»
  132.  
  133. Fabio sagt: «Vorher, in der ersten und zweiten Klasse, hatten wir einen anderen Deutschlehrer. Wir lasen den Schafskrimi ‹Glennkill› von Leonie Swann, in dem Schafe ermitteln, wer ihren Hirten umgebracht hat, voll kindisch, das war jedenfalls auf einem anderen Planeten als der Unterricht bei Blum. Er warf uns ins kalte Wasser, unsere Noten gingen erst mal runter, man musste sich an ihn gewöhnen. Er ist unheimlich schnell, fast konfus, und verlangt viel, aber wir sind gerne in den Unterricht. Wir haben bei ihm gelernt, wie man ein Buch analysiert, wie man einen guten Aufsatz schreibt. Dass sich Schüler auf eine Stunde freuen, das muss man erst mal hinkriegen. Er ist ein guter Typ, es gibt Lehrer, die geniessen ihre Autorität, er war da anders, ganz angenehm. Er war anspruchsvoll, aber voll menschlich.»
  134.  
  135. Mara, 18 Jahre alt, Klasse 6i: «Ich hatte bei Blum das Gefühl, er unterrichte gern. Hey, das macht so viel aus! Und er hat sich für uns als Menschen interessiert. Wenn es jemandem schlecht ging, hat er ihn aufgemuntert, hat gefragt: ‹Du, was isch los?› Es gab eine Nähe zwischen ihm und den Schülern. Dass man ihm jetzt daraus einen Strick dreht, dass man einem Lehrer sexuelle Motive unterstellt, wenn er sich um die Schüler kümmert, das finde ich besonders schlimm. Da signalisiert man den Lehrern: Das dürft ihr nicht. Das ist so krank. Es gab ja keine Körperkontakte, und wir sassen auch nicht nackt im Unterricht. Hallo, was soll das? Ich finde es erstaunlich, dass unser Rechtssystem heute am Begriff Pornografie scheitert.»
  136.  
  137. Nadine, 18 Jahre, in derselben Klasse, sagt: «Die Bücher, die wir gelesen haben, ja, die sind provokant. Aber ich hatte keine Probleme damit. Wir waren damals 15 Jahre alt, mitten in der Pubertät, und die Bücher handelten von anderen Menschen in dieser Situation. Es kam mir jedenfalls nicht unlogisch vor, das zu lesen. Es gab in diesen Büchern nichts, das problematisch war, ausser vielleicht eine einzige Szene, die Hundeszene bei Unica Zürn. Einige fanden das schon weird. Aber es ist nur diese eine Szene. Wenn man dann das ganze Buch gelesen hat, diese schöne, traurige Geschichte eines abgrundtief einsamen und verzweifelten Mädchens, ist nichts Schockierendes mehr da. Also, mich dünkt, wenn man abends um zehn den Fernseher anmacht, sieht man mehr Sex, als wir in diesem ganzen Jahr in der Schule thematisiert haben.»
  138.  
  139. Oh my God! Wäääh!
  140.  
  141. Das Buch, das in der Klasse zu reden gab: «Dunkler Frühling» von Unica Zürn. Eine autobiografische Kindheitserzählung, die von einem 12-jährigen Mädchen handelt, am Anfang der Pubertät. Das Leben des Mädchens, das in einem grossbürgerlichen Haus aufwächst, ist ein ständiger Wechsel von stickiger Langeweile und Zuständen der Erregung, überall ist Sexualität, die bald schockartig in seinen Alltag einbricht, dann wieder von ihm auf Menschen und Dinge übertragen wird. Es umschwärmt einen Fremden, der in der Badeanstalt sitzt, bleibt auf Distanz, beobachtet, wie andere Mädchen ihre Reize an ihm ausprobieren. Die Sexszene, die in der Klasse 3i zu Oh-my-God-Ausrufen geführt hat und zu Wäääh-Geschrei, fängt damit an, dass das Mädchen beim Essen lachen muss und ihm dabei ein paar Tropfen Urin in die Hose gehen. Der Hund unter dem Tisch, der das riecht, beginnt es an der nassen Stelle zu lecken, und es stellt überrascht fest, dass das angenehm ist. Später geht das Mädchen in den Keller, pinkelt absichtlich in die Hose und wartet, bis der Hund damit anfängt.
  142.  
  143. Fabio erzählt, er habe das Buch bei Orell Füssli für die ganze Klasse bestellt. «Die Verkäuferin hat mich so schräg angeguckt und gefragt: Sind Sie sicher, würkli das Buech? Ich so: ja, ja!» Er und Tanja lachen.
  144.  
  145. Rhea Blem aus der 6i sagt, die Szene mit dem Hund hätten sich Schüler teilweise gegenseitig vorgelesen und sich einen abgegrölt. «Das Lachen, dieses Herausstreichen der einen Szene ist ein Zeichen für Unsicherheit — man versteckt das hinter dem Lachen. Aber so viel Sex kommt in dem Buch gar nicht vor. Das Buch handelt davon, wie ein ziemlich abgekapseltes Mädchen die Liebe entdeckt. Von seiner Fantasie, mit der es die ätzende Langeweile daheim wettmacht. Es handelt von der Enttäuschung, als das Mädchen begreift, wie wenig das Erwachsenenleben ihm einmal bieten wird. Am Ende bringt es sich um. Das Buch zu lesen, war so, als schaue man einen ganz normalen Kinofilm, und dann kommt, ganz kurz, eine krasse Sexszene. Einen Moment bleibt das hängen, überblendet das den Film. Aber dann taucht es wieder unter im Gesamteindruck.»
  146.  
  147. Mara fügt an: «Es gibt diese Szene, wo sich das Mädchen mit dem Hund befriedigt, das ist irritierend, aber es ist nicht vulgär oder hässlich beschrieben, im Gegenteil. Ich finde Günter Grass, den wir jetzt lesen, viel brüskierender als dieses Büchlein von Zürn.»
  148.  
  149. Michael, ein lustiger, aufgeweckter Schüler, hat vor der Deutschstunde laut herumgeflucht, wie kann man so einen Scheiss schreiben! Und ein paar Schülerinnen haben bei Blum reklamiert. «Blum sagte, okay, wir machen eine Extrastunde, ihr regt euch ja richtig auf. Jetzt legt mal los», erzählt Sonja. «Wir haben dann die ganze Stunde lang darüber diskutiert, warum diese Stelle abstossend ist. Wir haben darüber geredet, warum es ekelhaft ist, dass das ein Hund ist, wir haben das total auseinandergenommen, geschaut, woher unsere Emotionen kommen, wie wir gesellschaftlich geprägt sind in unserem Werturteil, schliesslich trat die Wertung in den Hintergrund. Ich sah, woher die Emotionen kamen, und ich sah am Ende, was der Text wollte. Das war gut. Blum liess es zu, dass wir uns aufregten, dann führte er uns weg von diesen Gefühlen und hin zum Text. Es war eigentlich der einzige hysterische Moment in diesem ganzen Schuljahr.»
  150.  
  151. Lehrer Blum verteilte den Schülern in der darauffolgenden Deutschstunde ein achtseitiges Dokument, in dem er diese Extrastunde zu Zürn zusammenfasst. Das Handout ist eine Mischung aus wohlwollender Beruhigung aufgewühlter Teenagerseelen und trockenem Vortrag zu Semiotik und Dekonstruktion. Das Dokument, das den Lehrer entlasten würde, weil es seine pädagogische Könnerschaft in einem delikaten Moment illustriert, hat Aminas Mutter der Polizei nicht mitgeliefert. Und die Staatsanwältin hat bei der Hausdurchsuchung offenbar nicht nach Unterrichtsmaterial geforscht — und folglich hat sie auch dieses Dokument nicht gefunden, das auf dem Computer des Lehrers abgespeichert ist.
  152.  
  153. Die Massagestunde
  154.  
  155. Bleibt die Massagestunde. Also: ein verdunkeltes Zimmer, indische Musik, und der Lehrer, der seine Schüler ermuntert, sich zu massieren, und dazu einen Text vorliest, der in den Satz mündet: «Und dann wurde sie feucht.» So hat es die Mutter der Polizei erzählt, so steht es in der Anklageschrift. Wie hat sich dieses Geschehen in der Erinnerung der Schüler abgespielt? «Es war die letzte Stunde vor Weihnachten», erzählt Sonja, «Blum hatte uns vorgeschlagen, aus einer Novelle von Ludwig Tieck vorzulesen, aber wir wollten seinen Roman. Wir erinnerten ihn daran, dass er uns das mal versprochen hatte. Wir waren neugierig, ob unser Deutschlehrer schreiben kann. Also las er aus dem Krimi vor, den er geschrieben hatte, es lief leise Yogamusik, und eine Freundin fragte mich, ob ich sie massieren könne, sie sei verspannt. Wir haben den Lehrer gar nicht gefragt, wir gingen einfach davon aus, dass er das okay finden würde. Am Schluss waren wir fünf oder sechs Mädchen, die am Boden hockten und sich gegenseitig die Schultern massierten. Mit dem Lehrer hatte das nichts zu tun, der sass vorne und las.» Nadine sagt: «Das machen wir immer mal, in der Pause, nach der Schule, es ist zur Entspannung, total angenehm. Bei uns Jugendlichen herrscht richtiges Massagefieber. Das ist überhaupt nicht sexuell.»
  156.  
  157. Georg Blum liest also vor aus dem ersten Kapitel seines Romans, er schafft es bis Seite 27. Dort, in der Handlung der Geschichte, ist gerade Nacht, die Hauptfigur namens Leer schaukelt hin und her zwischen Wachsein und Schlaf, träumend. Leer träumt von einer Rolltreppe, «die nach unten führt, Mädchen mit blauen Röcken hüpfen, Mütter geben Nahrung aus, Väter sagen Dinge und tragen ein Wanderhemd. Leer steht auf der Rolltreppe und es wird endgültig sein. Es wird nach unten gehen. Der Sommer wird dunkel, die Sonne stirbt ab, der Wald beginnt, es wird feucht, sehr feucht.» Da klingelt die Schulglocke, Blum macht das Zimmer hell, wünscht den Schülern schöne Ferien.
  158.  
  159. Vier Monate nach der Hausdurchsuchung, im Herbst 2009, scheint Staatsanwältin Patricia Brunner das Interesse an dem Fall verloren zu haben. Auf die Frage, was sie nach ihrer Einvernahme von Georg Blum am 22. Oktober 2009 noch untersucht habe, sagt sie: «Ich erinnere mich nicht mehr konkret an die chronologische Abfolge. Einerseits habe ich die Akten nicht mehr, die befinden sich am Obergericht, andererseits müssen wir bis zu 80 Straffälle gleichzeitig untersuchen. Es kann durchaus sein, dass eine Weile an diesem Fall keine Untersuchungshandlungen vorgenommen wurden.» Die Staatsanwältin, welcher von Fatos Huggel der Vorwurf zugetragen wurde, der Lehrer Blum habe «während des Schuljahres 2008 und 2009 seine vierzehn- und fünfzehnjährigen Schüler in einer nicht adäquaten Form und im Übermass mit Sexualität konfrontiert», hat diese Behauptung nicht untersucht.
  160.  
  161. Es geht nicht um die Bücher
  162.  
  163. Die Staatsanwältin hat die vier Bücher nie gelesen, sie weiss nicht, was drinsteht, wie sie im Gespräch mit dem «Magazin» auch zugibt. Auf die Frage, ob das für die Untersuchung nicht zentral sei, antwortet sie nicht, dafür ihr Vorgesetzter, Staatsanwalt Daniel Kloiber: «Es geht nicht um die Bücher.» Worum dann? «Wenn man das ganze Buch lesen würde, wäre es noch etwas anderes. Ich habe ja Wedekind auch gelesen in der Schule. Das ist obligatorischer Schulstoff. Aber wenn man aus diesen Büchern die Stellen herausnimmt, die wir jetzt als problematisch bezeichnen, und nur diese Stellen mit den Schülern bearbeitet, dann ist das etwas anderes. Dann entsteht ein pornografischer Kontext.» Dass der Lehrer die Bücher nur auszugsweise hat lesen und bearbeiten lassen, ist eine Erfindung der Staatsanwaltschaft. Das steht nicht einmal in der Anklageschrift. Und die Schüler aus der damaligen Klasse 3i sagen unisono: «Natürlich haben wir die Bücher ganz gelesen. Und ganz behandelt. Da können Sie jeden in der Klasse fragen.»
  164.  
  165. Die Staatsanwältin hat nie, wie Strafverteidiger Christoph Hohler dies verlangt hatte, beim Deutschen Seminar der Universität Zürich ein Gutachten in Auftrag gegeben, um die Frage zu klären, ob die vier Bücher Pornografie im strafrechtlichen Sinne seien. Weil die Antwort auf der Hand liegt? Artikel 197, Absatz 5 des Strafgesetzbuches lautet: «Schriften sind nicht pornografisch, wenn sie einen schutzwürdigen kulturellen Wert haben.» Dank diesem Passus kann Michel Kunz, der CEO von Orell Füssli, ruhig schlafen, obwohl seine Filialen ohne Altersbeschränkung Bücher anbieten wie Thomas Hettches «Stellungen» oder Charlotte Roches «Feuchtgebiete».
  166.  
  167. Die Staatsanwältin hat nie untersucht, in welcher Art der Lehrer unterrichtet hat, ob er bei der Textanalyse tatsächlich auf Sexualität fokussiert hat oder ob das Thema einfach unter vielen anderen auch behandelt wurde in seinen Schulstunden. Keiner seiner Schüler wurde befragt, kein Lehrerkollege von Blum, kein Mitglied der Fachschaft Deutsch oder der Schulleitung.
  168.  
  169. Die Staatsanwältin hat unterschlagen, dass die Abbildung eines Graffito (Höhlenmalerei) zu einer Serie von 20 Bildern gehörte — zur Einführung in die Zeichenlehre. Eine Bilderserie, von denen 19 keinen Bezug zu Sexualität haben.
  170.  
  171. Und hätte die Staatsanwältin nicht die Mutter, die Anzeige erstattet hat (Fatos Huggel), als Belastungszeugin und den Lehrer Blum als Beschuldigten gemeinsam befragen sollen? Die Strafprozessordnung sieht das jedenfalls vor. Auch hat die Staatsanwältin die Hauptzeugin Huggel nie selber befragt — wie aber soll sie dann deren Glaubwürdigkeit einschätzen können?
  172.  
  173. Hingegen hat die Staatsanwältin eineinhalb Jahre nach Eröffnung der Strafuntersuchung der Bildungsdirektion des Kantons Zürich telefonisch mitgeteilt, man habe auf dem Computer des Lehrers inkriminierendes Material gefunden. Von dem Moment an hatten die Leute im Mittelschulamt ein düsteres Bild des Lehrers. Die Unschuldsvermutung zerbröselte. Ein Mitarbeiter des Amtes sagt: «Diese Mitteilung hat dazu geführt, dass wir auf die Entlassung beziehungsweise eine einvernehmliche Kündigung des Lehrers hingewirkt haben.»
  174.  
  175. Christoph Baumgartner, der Rektor des Literargymnasiums, sagt: «Ich bin horrifiziert von der totalen Fehlleistung dieser Staatsanwältin.»
  176.  
  177. Ein Fall von Prüderie
  178.  
  179. Am Mittwochmorgen, dem 19. Oktober 2011, wird der Fall des «Porno-Lehrers» an der 10. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich beraten. Staatsanwältin Patricia Brunner bleibt der Verhandlung fern. Es ist nur ein kurzer Moment, aber an Klarheit nicht zu überbieten, als der Richter ihre Anklage in scharfen Worten tadelt. «Völlig unzureichend.» Und an die Adresse von Fatos Huggel: «Die Mutter hätte das direkt mit dem Lehrer oder der Schule regeln müssen!» Niemals, sagt der Richter, hätte diese Unterrichtssache zu einer Anklage führen dürfen. Er urteilt, Literatur sei nicht Pornografie, und also sei es auch nicht verboten, diese mit Personen unter 16 Jahren zu lesen. Im Hauptanklagepunkt wird Georg Blum vollumfänglich freigesprochen.
  180.  
  181. Am anderen Tag bringen «Tages-Anzeiger» und NZZ grosse Storys. Nicht aber der «Blick». Das einschlägige Blatt schreibt keine Zeile über den Gerichtsfall. Warum? Viktor Dammann, vor zwei Jahren mit dem Zürcher Journalistenpreis ausgezeichnet, verfasst seit mehr als 30 Jahren Gerichtsberichte für den «Blick», er hat alles gesehen, was man am Gericht sehen kann — auch diesen Fall hat er verfolgt. «Das ist kein Fall von Pädophilie», sagt er. «Das ist ein Fall von Prüderie.»
  182.  
  183. Am nächsten Tag fällt der Richter das Urteil im Nebenanklagepunkt. Er musste die Aktfotos beurteilen, deren Spuren man auf Blums Computer gefunden hatte, die Frage lautete, ob sie Pornografie sein könnten. Aber was ist Pornografie? Eine knifflige Frage, auch für Juristen. Der Jugendforscher Kurt Starke hat vor zwei Jahren einen Bericht verfasst zur Frage, wie Pornografie auf Jugendliche wirkt. Darin heisst es: «Die Darstellung eines Geschlechtsaktes kann als pornografisch empfunden werden oder nicht, die Frau auf einem Aktfoto als schön oder aufreizend oder als beides, sie oder das Foto als pornografisch zu werten, ist willkürlich und sinnlos.» Sinnlos deshalb, weil einzelne Momente in sexuellen Darstellungen ganz unterschiedlich empfunden werden könnten. «Eine Konsequenz davon ist, alle sexuellen Darstellungen als Pornografie zu bewerten. Diese Tendenz hat mit dem Aufkommen des Internets eine Renaissance erlebt. Die öffentliche Sorge um die Sexseiten im Internet ist gross, man sieht sich von einer Sexwelle überrollt. In der unendlichen Fülle von Darstellungen sexuellen Inhalts verschwimmt die Grenze zwischen Pornografischem und Nichtpornografischem. Sie ist nicht klar bestimmbar, jeder kann sie ziehen und hat immer recht und unrecht. Schliesslich werden aus dem Meer des virtuell Sexuellen einige Tropfen ausgewählt und als Pornografie verfolgt.»
  184.  
  185. Bezirksrichter Thomas Meyer löst die unlösbare Aufgabe, indem er sie ernst nimmt. Er sortiert die Fotos. Sorgfältig, Bild um Bild. Die Fotos mit Minderjährigen erscheinen ihm mehrheitlich «nicht als strafwürdig», sie bewegen sich aber im «Graubereich zwischen Aktfotografie und Pornografie», wie er im Urteil schreibt. Drei Dutzend Bilder qualifiziert er schliesslich «in Anbetracht der bundesgerichtlichen Rechtssprechung» als kinderpornografisch, obwohl auf keinem Foto sexuelle Handlungen dargestellt sind. Man sieht posierende Teenager. Gemäss Bundesgericht sind Fotos von teilweise nackten Personen unter 16 Jahren dann Kinderpornografie, wenn die Person eine aufreizende Pose einnimmt. Schon Schminke oder ein Haarband kann für dieses Kriterium genügen. Der Richter umschreibt in seinem Urteil jedes einzelne Foto, damit klar wird, warum er es der Kinderpornografie zuweist. Bild 353: «Mit Hammer und Kokosnuss posierendes Mädchen, um ihre Hüfte ist lediglich ein Stofftuch gebunden.»
  186.  
  187. Blum wird der Pornografie nach Art. 197 Ziff. 3bis StGB schuldig gesprochen und erhält eine bedingte Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu 160 Franken. Der Richter findet, die Bilder seien «nicht schwerer Natur», das Verschulden wiege «leicht». Für die «erlittene seelische Unbill» erhält er vom Gericht eine Genugtuung von 2500 Franken zugesprochen.
  188.  
  189. Vor Gericht hat Blum ausgeführt, wie er zu diesen Bildern gekommen ist. Er, der selber gerne fotografiert und dessen Bilder auch schon ausgestellt worden sind, hatte auf seinem Laptop ein paar Tausend Fotos, die meisten selber geschossen. Menschen im Alltag, Landschaften, Architektur, Stimmungen der Natur, und ja, Akte. Aus einer legalen Newsgroup von Sunrise namens Aoi habe er bis etwa 2002 Aktfotos gesammelt. «Ich habe mich für Aktdarstellungen jeglichen Alters interessiert. Ich habe selber gemalt, und ich habe mich auch philosophisch mit Körperlichkeit in allen Formen auseinandergesetzt und das in Theaterarbeiten und eigenen literarischen Texten manchmal zum Thema gemacht. Tabus haben mich immer interessiert, sie beleuchten dunkle Ecken der Normalität.»
  190.  
  191. Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat beschliesst im Dezember 2011, gegen den Freispruch im Hauptanklagepunkt Berufung einzulegen. Die Verhandlung vor Obergericht wird im Sommer stattfinden. Da der Lehrer keine sogenannte Anschlussberufung gemacht hat («Die Sache hat mich zermürbt, ich mag nicht mehr»), wird er verurteilt bleiben. Und somit kommt er auf die schwarze Liste pädophiler Lehrer. Im Kanton Zürich landen seit Anfang 2012 alle wegen eines Sexualdelikts verurteilten Lehrer von Gesetzes wegen auf dieser Liste. Sie haben dann ein landesweites Berufsverbot.
  192.  
  193. Die Gedanken sind frei
  194.  
  195. Georg Blum hat niemandem etwas zuleide getan. Es gibt keine Opfer. Nicht einmal die Staatsanwältin behauptet, es gebe Geschädigte. Und doch trägt er nun einen behördlich verpassten Stempel. Er sagt: «In diesem ganzen Verfahren geht es um die Ausmerzung eines ‹anderen›. Der Verdacht, einer sei pädophil, treibt das Ganze an. Um das zu entlarven, sind alle Mittel recht, als Sanktion steht am Ende das Berufsverbot bereit, und alles geschieht im Namen des Schutzes und der Sicherheit. Wir kennen das aus der Geschichte bestens.»
  196.  
  197. Regine Aeppli, Bildungsdirektorin des Kantons Zürich, hat eine erwachsene Tochter, die bei Blum im Deutschunterricht war — «meine Tochter fand den Unterricht gut und anregend», sagt sie. Aber das tue nichts zur Sache, Jugendliche seien unterschiedlich empfindlich. «Schüler müssen geschützt werden vor Lehrpersonen, die strafbare Pornografie nutzen.» Warum? «Der Konsum von Kinderpornografie deutet auf ein problematisches Verhältnis zu Kindern und Jugendlichen, was in der Schule nicht angeht», sagt die sozialdemokratische Regierungsrätin. «Was einen Lehrer daheim bewegt, bewegt ihn auch im Klassenzimmer — und umgekehrt.» Als man ihr entgegenhält, das sei insofern eine höchst problematische Position, als der Mensch einen freien Willen habe und ein Bewusstsein, entgegnet sie mit einem Grundsatz: «Früher hat man Lehrer geschützt, die sich an Kindern vergriffen haben. Und die Schüler wagten nicht, darüber zu reden. Im Lehrpersonalgesetz ist heute deshalb verankert, dass strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität nicht toleriert werden. Und da muss man in Kauf nehmen, dass dies im Einzelfall für den betroffenen Lehrer schwere Konsequenzen hat.»
  198.  
  199. Es wird also nicht mehr differenziert. Nichts mehr toleriert. Wie ist das möglich?
  200.  
  201. Die Bevölkerung sei verunsichert, die Politiker müssten Sicherheit vortäuschen, sagt Jugendforscher Kurt Starke. Der Fall des Lehrers Blum überrasche ihn nicht. «Diese Strafverfolgung folgt einer Tendenz, welche die Soziologen ‹die neue Straflust› nennen — alles, was stört, wird angezeigt. Heute sucht man, man zeigt an, jedes kleinste Fehlverhalten wird skandalisiert.» Starke stellt fest, wie er sagt, dass Moral wieder in ist, die Rigidität hat zugenommen. Man grenzt Leute aus, und man tut es mit gutem Gewissen. «Berufsverbote haben ja den Charakter des Nachtretens, die Haltung ist: weg damit! Dabei kommen tiefe Emotionen zum Vorschein.»
  202.  
  203. Zurück in die Verklemmung
  204.  
  205. Es gibt zwei gesellschaftliche Bewegungen, die sich im Fall Blum verschränken: jene gegen Pädagogen und die Bewegung gegen Sexualdelinquenten. Lehrer wurden auch früher immer wieder diszipliniert, in den Siebzigerjahren waren es die Schwulen, in den Achtzigern die «Kommunisten», später VPM-Lehrer und andere «Sektierer». Die Bewegung gegen Pädagogen hat nun wieder Schub bekommen, seit die sexuellen Übergriffe an Reformschulen und in der Kirche aufgeflogen sind und allzu oft versucht wurde, diese zu rechtfertigen.
  206.  
  207. In den letzten zwanzig Jahren ist das Reden über den sexuellen Missbrauch von Kindern enttabuisiert worden, zumindest was Schulen, Kirche und Verdingsituationen betrifft. Die Opfer können darüber berichten, man nimmt sie ernst. Heute ist unbestritten: Kinder zu schützen, ist richtig. Aber gleichzeitig haben die jahrelangen Diskussionen über Kindesmissbrauch, Kinderpornografie und die medialen Zerrbilder davon den Blick verstellt — die an sich richtige Problematisierung sei unter dem Skandalisierungsdruck aus dem Ruder gelaufen und löse heute vor allem Angst und Verklemmung aus, sagt Ingrid Hülsmann, Mitarbeiterin des Zürcher Instituts für klinische Sexologie und Sexualtherapie. «Das Pendel hat zu weit ausgeschlagen», meint sie. «Die gesellschaftliche Grundstimmung richtet sich heute nicht mehr nur gegen den sexuellen Missbrauch, sondern auch gegen die Sexualität selber.»
  208.  
  209. Rechtsanwalt Markus Hugelshofer ist Präsident der Schulkommission des Literargymnasiums Rämibühl, der Aufsichtsbehörde. Er sagt: «Die Schulkommission hat den Fall Blum nach dem Gerichtsurteil eingehend diskutiert. Wir haben beschlossen, dass wir den Lehrer jederzeit wieder anstellen würden, falls die Bildungsdirektion das zulässt. Blum ist ein guter, risikofreudiger Lehrer, er bringt es fertig, mit den Schülern Themen zu besprechen, die für sie ohnehin auf dem Tisch sind. Eine Schule braucht solche Lehrer. Das mit den Fotos ist ein Schönheitsfehler.»
  210.  
  211. Nach der Gerichtsverhandlung muss Christoph Baumgartner im Mehrzweckraum des Realgymnasiums Rämibühl den beunruhigten Kollegen Rede und Antwort stehen. Am Schluss der Schulleiterkonferenz sind alle im wohligen Einklang. «Jeder ist froh, diese Scheisse nicht am Hals zu haben», flachst ein Rektor. Am Donnerstag, dem 27. Oktober 2011, geht Baumgartner in die Klassenstunde der Immersionsklasse 6i (der früheren 3i) und informiert auch sie über den Fall Blum. Amina Huggel unterbricht den Rektor, laut und aggressiv, der Rektor wiederum unterbricht sie, es gibt ein Scharmützel, dann stürmt Amina aus dem Zimmer, schmettert die Tür zu. Die Schüler sind verstört, da und dort ist ein Schniefen zu hören. «Päng, alles war wieder da. In der Klasse kam alles wieder hoch. Wir fanden dann, wir sollten mal in Ruhe mit Amina zusammensitzen, sie sollte mal erzählen können, wie alles kam», sagt Nadine. Ein paar Tage später ist es so weit. Die Klasse holt die Schulpsychologin dazu, man macht ab, es darf keine persönlichen Angriffe geben. Die Schüler setzen sich in ein Halbrund, Amina gegenüber. «Es war schon so: Wir gegen sie.»
  212.  
  213. Sonja erinnert sich: «Amina sagte, ihre Mutter habe Germanistik studiert, sie hätte diese Bücher gelesen und gesehen, dass sich das Sexuelle darin akkumuliere. Amina sagte uns, sie selber habe sich nicht an den Texten gestossen. Wir fragten: Hey, shit, gab es einen Übergriff? Nein, nein, nichts, sagte sie. Eine Bedrohung? Hat er dich bedroht? Nein, auch nicht. Was ist es dann? Sie konnte es nicht sagen. Es bröckelte dann so aus ihr heraus, dass die Mutter den Schluss gezogen habe, der Lehrer sei pädophil. Wobei Amina das Wort nicht aussprach, sie druckste herum und nickte nur, als es von einem Schüler ausgesprochen wurde. Sie sagte sinngemäss, dass das bei diesem Lehrer sehr gut versteckt war und dass es quasi die besondere Leistung der Mutter sei, es aufgedeckt zu haben. Sie wollte uns in der Klassenstunde davon überzeugen, dass ihre Mutter recht hat, aber sie schaffte es nicht. Am Ende der Stunde hat ein Schüler gesagt: ‹Okay, der Lehrer wird nie mehr seinen Beruf ausüben können. Deine Eltern haben das Ziel erreicht.› Nach diesem Satz herrschte eine unglaublich bedrückte Stimmung. Auch Amina war ganz bekümmert. Sie ist in einer elenden Lage. Sie sieht den ganzen Mist, klar, und gleichzeitig kann sie von ihrem Standpunkt nicht abrücken, weil sie sich sonst vorwerfen müsste, das Leben eines Menschen ruiniert zu haben. Ihre Einsamkeit in jener Klassenstunde war total.»
  214.  
  215. Inzwischen ist die dramatische Episode überwachsen vom rastlosen Schulalltag, man hat vor Weihnachten Maturarbeiten abgeliefert, nähert sich den Prüfungen, im Mai ist es so weit, in der Klasse herrsche heute ein gutes Klima, sagen die Schüler übereinstimmend. «Die meisten haben begriffen, dass Amina diesen Lehrer nicht fertigmachen wollte, sondern dass das ihre überspannte Mutter war.»
  216.  
  217. Georg Blum macht sich parat für einen Spaziergang. Es ist kalt an diesem Mittwochnachmittag, aber am Himmel über der fremden Stadt steht eine perfekte Wintersonne. Draussen, im nahen Kanal, schaukelt ein rostiges Frachtschiff. Eigentlich, sagt Blum, bevor er sich verabschiedet und den Kinderwagen mit dem vom Leben noch ungetrübten Wesen zum Lift schiebt, eigentlich schmerze ihn besonders eine Sache. Er zögert. Sagt schliesslich: «Mich schmerzt das Schweigen jener, von denen ich glaubte, sie stünden mir nahe.» •
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