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Die Erlösung

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Dec 3rd, 2012
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  1. Die Erlösung
  2.  
  3. Die Welt außerhalb verwandelte sich für ihn von Erinnerung zu Realität, als er einen Blick aus dem Fenster wagte. Jedes Detail bekam erneut Bedeutung. Und auch, wenn er Meilen entfernt von den Bäumen dort draußen stand, so streckte er seine Hand aus, um sie zu fassen. Er spürte, wie ein Windhauch seine Hand friedlich streichelte. Die untergehende Sonne wärmte seine Haut auf eine angenehme Art. All die Farben strömten auf ihn ein; das kräftige Orange der Blätter im Licht, das saftige Grün der Wiesen jenseits der grauen Mauern, das kühlende Blau, welches nun in verspielte Violetttöne überging. Diese Eindrücke verdrängten seine schwarze Vergangenheit. Was früher war, spielte nun keine Rolle mehr. Er fühlte sich wohl. Heute war er endlich frei.
  4.  
  5. Die Wanduhr pochte penetrant im Takt jede einzelne Sekunde herunter. Je länger sie auf den Zeiger starrte, desto langsamer schien er sich zu bewegen. Sie stöhnte auf. Das Ticken ging durch ihre Ohren und kroch langsam in ihr Unterbewusstsein. Sie hatte noch Zeit, musste warten. Gefesselt an diesen Raum, verbunden mit ihrer Aufgabe. Der Rhythmus erzeugte ein Gefühl der Monotonie in ihr. Langsam ließ sie ihren Blick über die Stapel von Formularen schweifen, die ordentlich vor ihr auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen, ohne dabei nach etwas Bestimmten zu suchen. Sie kannte den Inhalt jeder einzelnen Mappe auswendig. Mit ihrem Zeigefinger strich sie vorsichtig über die Kante eines Blattes, welches als einziges offen vor ihr lag. Sie seufzte auf. Diese Momente waren die schlimmsten. Sie hasste ihren Beruf.
  6.  
  7.  
  8. Als Schritte den Gang entlang kamen, schreckte er auf. Die Stahllinien vor seinem Gesicht nahmen wieder Kontur an und wurden scharf, die Landschaft außerhalb des Fenster verschwamm. Die Türe wurde langsam geöffnet und er wurde hinaus gebeten. Sein Körper spannte sich an und er bemerkte, wie Nervösität in ihm aufkam. Doch sein Lächeln blieb. Er wusste, es würde nicht mehr lange dauern. Der Mann, der ihn die sterilen Gänge entlang begleitete, warf ihm Worte an den Kopf, die aus einem Formular vorgelesen worden, mit einer monotonen, gleichgültigen Stimme. Für beide hatten diese Worte wenig Bedeutung. Nur kurz verstummte der Begleiter und der ihm Folgende stutzte, bis er in seinem Kopf verarbeitet hatte, was ihm gerade vorgelesen wurde. Bohnen und Pommes zu einem Rindersteak. Medium Rare.
  9.  
  10. Ihre müden Beine kribbelten, als sie aufstand und einen Stapel ausgefüllter Papiere mit sich nahm. Sie hatte keine Eile, er würde noch eine Weile sein Mahl genießen wollen und sie wollte ihn nicht stören. Es war ein kleiner Funke Respekt, der in ihrer inneren Leere aufblitzte. Genug, um nicht respektlos zu wirken, aber immer noch wenig, gemessen an der Gleichgültigkeit, mit der sie diesem Fall gegenüber trat. Für sie war er wie all die anderen. Für sie verkörperte er das Böse, obwohl sie ihn nur aus Aufschrieben und von Fotos kannte. Ihr Job war verachtet, doch irgendjemand musste es doch tun. Sie stöhnte auf. Sie hasste ihren Job. Am liebsten wäre sie vor der großen Metalltüre umgedreht, zurück zu ihren Papieren. Die tickende Uhr beobachten. Doch sie wusste, er würde bald kommen.
  11.  
  12.  
  13. Das Essen hatte keine Wertigkeit für ihn. Es schmeckte wie immer, zwar fad, dennoch wohltuend genug, um seinen letzten Hunger zu stillen. Er war seit Jahren hungrig gewesen. Nicht wegen des Essens, sondern wegen seine Sehnsüchte, die ihm jeden Geschmack, jede Freude und jede Hoffnung wie ein Parasit im Inneren seines Körpers auffraßen. Nun war er wunschlos. Fast glücklich, aber zumindest fast erlöst. Es würde nur noch ein paar Minuten dauern, da war er sich sicher.
  14.  
  15.  
  16. Hinter der schweren Türe war ein kalter, fast leerer Raum. Nur ein Stuhl, eine Liege und ein metallener Schiebewagen mit diversen, wenigen Werkzeugen dekorativ nebeneinander sortiert auf einer Blechtrage. Sie setzte sich vor dem Wagen auf den alten Klappstuhl und lehnte sich zurück. Sie seufzte. Mit ihrer linken Hand griff sie nach einer Ampulle, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Ihre Rechte griff nach der Spritze, welche bereits einige Momente lang von ihr gedankenlos angestarrt wurde. Sie biss auf die Plastikkappe und entfesselte die tödliche Gefahr, die von dem Werkzeug in ihrer Hand ausging. Mit angehaltener Luft zog sie die Spritze voll auf und begutachtete einen Augenblick die Flüssigkeit, die nun im Inneren gefangen war. Behutsam legte sie alle Gegenstände zurück an ihren Platz und fing an, nervös mit den Fingerspitzen auf dem Metall des Wagens herumzutrommeln.
  17.  
  18. In den Kellergewölben gab es keine Fenster. Halogenlampen beleuchteten die Gänge und summten dabei taktlos. Er sah in das grelle Licht und wurde sofort innerlich ruhig. Er war abwesend und merkte nicht, dass seine Begleiter ihn vor eine Tür brachten und er unbewusst stehen blieb. Das Klopfen auf dem hallenden Metall weckte ihn wieder aus seiner Trance.
  19.  
  20. Sie schrak auf und lief zur Türe. Drei Männer standen vor ihr, wobei der Mittlere die anderen beiden um jeweils einen Kopf an Körpergröße überragte. Dennoch sah er schwach aus, mitgenommen von den vergangenen Jahren. Es war jedoch mehr seine Psyche, die nach außen hin strahlte und ihn so zerbrechlich erscheinen ließ. Sie seufzte auf und bat den Mann in der Mitte, es sich auf der Liege bequem zu machen. So bequem wie möglich. Die anderen beiden begleiteten ihn und banden dann seine Hände an die Lehnen. Es würde gleich vorbei sein. Er fühlte sich gelähmt. Sie atmete tief durch. Er wusste, er würde keinen Schmerz spüren. Sie nahm die Spritze in die Hand und legte an. „Noch ein paar letzte Worte?“ „Endlich erlöst“. Er war frei. „Endlich erlöst“, dachte sie und legte die geleerte Spritze zurück auf das kalte Blech.
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