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Sep 16th, 2014
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  1. Artikel von Peter Decker in der Zeitschrift Kalaschnikow, Ausgabe 11, Herbst 1998
  2.  
  3. Kommunismus = Verbrechen!
  4. Alles klar - oder?
  5. 5 Thesen gegen eine Scheindebatte
  6.  
  7. Das "Schwarzbuch des Kommunismus" aus Frankreich hat, wie zu erwarten war, auch in Deutschland sein Interesse gefunden. In Feuilletons und Talk-Shows werden begeistert die Leichen Stalins, Berijas und Pol Pots nachgezählt. Die große Zahl ist das Argument - und liefert dem interessierten Publikum den erwünschten Beweis: Kommunismus ist Massenmord, sonst nichts. Nicht wenige linke und linksliberale Stellungnahmen sehen sich herausgefordert und bemühen sich um einen Gegenbeweis: Courtois und seine Autoren hätten schlampig recherchiert, so viele Leichen, wie behauptet, seien es nicht gewesen. Außerdem sei der Autor voreingenommen: Über die Opfer, die der Kapitalismus auch in Friedenszeiten fordert, habe er nichts gesagt. Der Ruf nach Genauigkeit beim "body count" und nach Ausgewogenheit beim Anschwärzen verrät einerseits, wie tief der Stachel sitzt, den der französische Ex-Maoist dem linken Gemüt gesetzt hat. Er verrät andererseits, vor wem und an welchem Maßstab diese Linken bestehen wollen. Sie sehen den moralischen Bonus einer Tradition zerstört, aus der sie bei aller Distanzierung gegenüber dem Ostblock-Sozialismus irgendwie auch ihr Recht auf Kapitalismuskritik zu beziehen meinen: Wenigstens die gute, humanistische und antifaschistische Absicht der früheren kommunistischen Bewegungen wollen sie gegenüber Anklägern und Talk-Partnern verteidigen, die nun wirklich nicht zum Kommunismus konvertieren würden, wenn dieser den Menschenrechtspreis gewönne. Von einer Rechtfertigung des moralischen Rechts linker Kritik gegenüber den Maßstäben des Schwarzbuches ist also abzuraten.
  8.  
  9. 1. Was gehen heutige Kritiker des Kapitalismus Stalins Leichen an?
  10.  
  11. Die Kritik an der im Kapitalismus notwendigen und nützlichen Armut der großen Masse und die Kritik der demokratischen Staatsgewalt, die diese Armut und den ihr gegenüberstehenden Reichtum absichert, braucht den Verweis auf großartige Leistungen Stalins nicht - und kann von seinen Untaten nicht beschädigt oder ins Unrecht gesetzt werden. Die heutige Kritik des heutigen Kapitalismus - immerhin des Systems, das es gibt und das sich als mächtiger - auch kriegsmächtiger - erwiesen hat als jenes "Horrorgebilde" im Osten, hängt nicht davon ab, ob die früher einmal an die Macht gekommenen Feinde des Kapitalismus gediegene Politökonomen oder Knallköpfe, Kritiker der Staatsgewalt oder soziale Staatsreformer, zartfühlende Mitmenschen oder herzlose Despoten waren.
  12. Der Kapitalismus jedenfalls wird nicht besser, Kritik an ihm wird nicht weniger stichhaltig dadurch, daß die Alternative, die in diesem Jahrhundert zu ihm aufgekommen ist, auch nicht gerade eine Ideallösung war.
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  14. 2. Gründe für die Revolutionen, Säuberungen, Kriege und Hungerkatastrophen im roten Drittel der Erde will ohnehin niemand wissen!
  15.  
  16. Eine Befassung mit dem Wahnwitz der blutigen Parteidisziplin und den Irrtümern der opferträchtigen Agrarreformen in Rußland ist anläßlich des "Schwarzbuchs" schon deshalb fehl an Platz, weil weder Stéphane Courtois noch seine Mitdiskutanten wissen wollen, was die zusammenaddierten Leichenberge mit Kommunismus zu tun haben. Sie wissen es nämlich immer schon: Die Toten sind im Umkreis dieses Umsturzes angefallen, gehen also so sehr auf sein Konto, daß die Ermordung möglichst vieler Menschen und der selbstzweckhafte Terror gegen die Noch-nicht-Geschlachteten offenbar die einzigen Ziele dieses Umsturzes gewesen sein müssen. Die Schuldfrage, ebenso wie die Verurteilung stehen fest, ohne daß eine Ursachenforschung dafür nötig gefunden wird. Deshalb kann Courtois sein ganzes Augenmerk darauf richten, die Zahl der "Opfer des Kommunismus" möglichst groß ausfallen zu lassen. Denn je mehr Leichen, desto verabscheuungswürdiger die Sache, der sie zur Last gelegt werden. Die Riesensumme von 100.000.000 Toten sagt dann alles.
  17. Um sie zusammen zu bekommen, läßt Courtois alle, die im Laufe von 80 Jahren im Bereich des Realen Sozialismus durch Not oder Gewalt umgekommen sind, unterschiedslos für dasselbe sprechen - völlig gleichgültig dagegen, ob auf der Seite der Täter und Verursacher überhaupt eine Identität vorliegt: die Bolschewiken der ersten Stunde, Haudegen des Bürgerkriegs, - und Stalin, der ihnen den Schauprozeß gemacht hat; die Roten Khmer unter Pol Pot und die Vietnamesen, die sie später von der Macht über Kambodscha vertrieben haben. Ebenso gleichgültig zeigt sich Coutrois gegen die Natur der Konflikte, die diese zahlreichen Opfer forderten: Ob sich die Bolschewiki gegen einen von den Imperialisten ausgerüsteten Bürgerkrieg im eigenen Land wehren müssen; ob Mao die Landbevölkerung für einen "Großen Sprung" mobilisiert und sein brachialer Versuch beschleunigter Industrialisierung in einer Hungersnot endet; ob Stalin die Landwirtschaft kollektiviert und dafür die Kleineigentümer terroristisch vertreibt oder ob die Amis Vietnam in die Steinzeit zurückbomben - an allem ist immer gleich "der Kommunismus schuld". Hätten die Revolutionäre nicht gegen die alte Ordnung aufbegehrt, wären auch die Opfer ihrer Selbstbehauptung nicht angefallen!
  18. Nicht durch eine bestimmte, abgrenzbare verkehrte Zielsetzung, sondern durch seine pure - Zeit seiner Selbstbehauptung umstrittene - Existenz ist der Kommunismus schuldig geworden am Menschen und dem Menschenrecht. Er ist - so die intellektuell armselige Bestimmung - ein einziges Verbrechen. Das ganze System mit seiner Ökonomie, seiner Weltmacht, seiner Volksdemokratie und seinem kulturellen und sportlichen Blödsinn ist voll erfaßt, wenn man es begreift als - Regelverstoß, gegen die Prinzipien, die sich gehören.
  19.  
  20. 3. Die moralische Vernichtung des toten Kommunismus ist und bleibt ein immergrünes Bedürfnis der Freiheit
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  22. Man könnte meinen, daß mit dem Ende des Kommunismus auch der Antikommunismus langweilig würde. Aber weit gefehlt: Je toter die Alternative zum siegreichen System, desto schärfer gerät die Abrechnung mit ihm.
  23. Dem Untergang des realen Sozialismus folgt seine moralische Vernichtung auf dem Fuße, weil mit der endgültig geklärten Machtfrage der einzige Grund entfällt, dieser immer schon verhaßten Abweichung von der allein selig machende Staatsräson - der kapitalistischen - das kleine Quentchen Respekt zu erweisen, das Anhänger der Staatsgewalt jeder "real existierenden" Herrschaft zollen. Solange der Westen sich genötigt sah, die Existenz des Ostblocks mit seinem alternativen System und seiner Macht hinzunehmen, und in der Anerkennung der Staaten des Warschauer Paktes den Hebel suchte, sie aufzuweichen -, solange war das "Reich des Bösen" relativiert durch den berechnenden Respekt, den das Eigeninteresse dieser Staaten auf dem diplomatischen Parkett genoß. Einen Breschnew oder Honecker - aus welcher feindlichen Berechnung auch immer - mit Ehren zu empfangen, bedeutet immerhin, daß sich der Westen mit dem Ostblock ins Benehmen gesetzt und dessen Anliegen eine relative Berechtigung bescheinigt hatte.
  24. Jetzt endlich, nachdem es zum alternativlosen System keine Alternative mehr gibt, muß endgültig mit dem Gedanken aufgeräumt werden, daß es je eine Alternative zur Freiheit gegeben hat: Kapitalismus allein entspricht der Menschennatur, und jeder, der was anderes will, versündigt sich am Menschen! Aus politischen Gründen - so das zynische Selbstlob der zivilen, weil sattelfesten Staatsmacht - krepiert "bei uns" jedenfalls keiner. Und wenn hier einer verhungert, dann ißt er zu wenig! Müssen in den allfälligen Kriegen oder den zahlreichen Krisenländern des freien Westens gewaltsam zu Tote Gekommene gezählt werden, dann zeigen die Zahlen nicht ein Verbrechen an, sondern den gerade mal wieder fälligen "Preis der Freiheit", der ausdrückt, welch hohe Güter Freiheit und Nation sein müssen, wenn sie "uns" solche Opfer wert sind. Leiche ist eben nicht gleich Leiche!
  25.  
  26. 4. Eine Ehrenrettung des vergangenen Kommunismus ist dennoch nicht angebracht.
  27.  
  28. Es ist verkehrt, Courtois' moralische Vernichtung der kommunistischen Umstürze und Staaten umzudrehen und nunmehr den Kapitalismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuprangern: Wer eine Staatsform als Verstoß und Verbrechen outet, outet vor allem nämlich sich: Er giftet gegen eine Versündigung an den Aufgaben "guter Herrschaft", eben weil er eine ausgeprägte Vorstellung von guter Herrschaft hat. Herrschaft aber nie "gut", sondern institutionalisierte Gewalt über Land und Leute, die es nur braucht, wo beides für Zwecke hergenommen wird, die dem beherrschten Menschenmaterial nicht gut bekommen. Die Frage, ob die Opfer, die eine demokratisch verfaßte Herrschaft fordert, an höheren Werten gemessen, besser abschneiden und eher zu rechtfertigen sind als diejenigen einer "volksdemokratischen", geht den nichts an, der sich für Herrschaft weder in der einen noch in der anderen Form begeistert. Nur jemand der seinen Frieden mit einer Gewalt über sich machen will., verfabelt sich Herrschaftszwecke in den mehr oder weniger gelungenen Dienst an höheren Werten.
  29. Der "reale Sozialismus" hat sich in diesen Wettbewerb begeben. Er hat die Kritik an der bürgerlichen Staatsgewalt durch die Unterscheidung zwischen guten und bösen Seiten derselben ersetzt und sich der Durchsetzung einer "guten, echt sozialen Herrschaft" mit aller dazugehörigen Unerbittlichkeit gewidmet hat, dann ist das ein Fehler, den man weder mitmachen, noch durch den Hinweis auf schlechte historische Bedingungen entschuldigen soll.
  30.  
  31. 5. Der neuerliche Rufmord am Kommunismus schadet im übrigen nicht!
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  33. Und zwar nicht nur deswegen, weil Kommunisten ohnehin keinen guten Ruf zu verlieren haben. Ein besserer Ruf würde ihrer Sache auch gar nichts nützen: Die Einsicht, daß die lohnabhängige Menschheit sich selbst zu Abhängigkeit und Armut verurteilt, solange sie im Lohn ihr Lebensmittel sucht, kann sich gar nicht darüber einstellen, daß sich ihre Vertreter beim Volk beliebt machen. Und den Fall, daß jemand sich eigentlich dieser Einsicht anschließen wollte, durch die Kenntnis von Stalins "Gulag" aber davon abgeschreckt würde - den gibt es sowieso nicht. Es ist umgekehrt: Wer sich durch den Hinweis auf die vom "Kommunismus" begangenen moralischen Straftaten davon abhalten läßt, seine eigenen Bedürfnisse in ein kritisches Verhältnis zu den herrschenden Interessen zu setzen und denen auf den Grund zu gehen, der hat dies in Wahrheit gar nicht vorgehabt. Anders ausgedrückt: Wer seine Überzeugungen vom sittlichen Image der Führungspersönlichkeiten abhängig macht, die um sein Vertrauen werben, der ist mit seinen demokratischen und faschistischen Häuptlingen bestens bedient.
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