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P26 die Geheimarmee, die keine war Martin Matter part 1/2

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Jul 22nd, 2018
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  1. P-26 . DIE GEHEIMARMEE, DIE KEINE WAR
  2. Wie Politik u n d Medien die Vorbereitung des Widerstandes skandalisierten
  3. Martin Matter
  4. Teil 1/2
  5. 2012 hier+jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, Baden
  6. «Wir sind die, die es gar nicht gibt. Wir sind die, denen niemand dankt.»
  7. Stieg Larsson, Vergebung
  8. 9 DIE ORGANISATION 10 Vorwort 14 Bild und Zerrbild 21 Kalter Krieg und Bedrohungsbild 28 Die Anfänge 48 Grundkonzeption 58 Ausbildung 79 Mitglieder und ihre Rekrutierung 85 Ausrüstung 91 Bewaffnung 95 Die geheimen Lager 99 Der KP im «Lochbach» 103 Finanzierung 108 Die Gruppe 426 113 Kooperation mit der Basler Polizei 116 Kooperation mit den Briten 129 Die Aktivierung im Ernstfall 131 Der Ausbau der Organisation im Ernstfall 133 Die Schweiz unter Besetzu ng 142 Eine illegale Organisation? 155 Das Gespenst der Selbstaktivierung
  9. 161 BEGEGNUNGEN 162 Hans Lippuner 173 Henry .R.Furrer 178 Paul schwend 187 Bernard Clément 193 Das Freiburger «Widerstandsnest» 194 Oscar 200 Michel 2 0 5 H. 209 Gertrud B. 213 Hans-Rudolf Strasser
  10. 217 OUTINGS IN DEN MEDIEN 218 Susanne Günter 2 2 0 Die Widerstandsregion Schaffhausen 223 Georg Held 226 Die Widerstandsregion Chur 2 2 8 Markus Flückiger, Alfred Hebeisen
  11. 233 DIE WIDERSTANDSVORBEREITUNGEN SEIT 1 9 4 0 234 Der Zweite Weltkrieg 240 Der erste «Spezialdienst» 243 Das «Alte Testament» 250 Das «Neue Testament» unter Oberst Bachmann
  12. 259 DAS «SKANDALISIERUNGS-CRESCENDO» 260 DerWegzurPUKEMD 273 Der PUK-Bericht 2 8 0 Wer wusste wie viel?
  13. 287 FAZIT
  14. 302 Nachwort
  15. 307 ANHANG 308 Bibliografie 309 Abkürzungsverzeichnis 309 Personenverzeichnis
  16. DIE ORGANISATION
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  18. DIE ORGANISATION
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  20. DIE ORGANISATION
  21.  
  22. VORWORT
  23. D i e grauhaarigen Herren, die sich an diesem Spätherbsttag 2009 in C h u r treffen, fallen in keiner Weise auf. Ehemali- ge Berufsleute? Kulturinteressierte? E i n Klassentreffen? Nichts weist auf den einmaligen C h a r a k t e r dieser Zusam- m e n k u n f t h i n . 19 Jahre früher hätte das genau gleiche Treffen, w ä r e es r u c h b a r geworden, einen Riesenwirbel verursacht. D e n n die r u n d zwei D u t z e n d Herren haben ein wohlgehütetes gemeinsames G e h e i m n i s : Sie sind ehe- malige Mitglieder der Kaderorganisation P-26. Genauer: Sie gehörten den beiden Zellen oder Widerstandsregionen mit den N u m m e r n 73 (Buchs) u n d 82 (Chur) an - zwei der r u n d 80 Widerstandsregionen, aus denen die P-26 bei ihrer E n t t a r n u n g im Jahr 1990 bestand und die schachbrettartig über die ganze Schweiz verteilt waren. D i e meisten E h e m a l i g e n , die sich im C h u r e r Grossrats- saal treffen, b e g e g n e n sich z u m ersten M a l . E i n z e l n e kennen sich privat - u n d k o m m e n jetzt aus dem Staunen nicht heraus. Zwei Jahrzehnte lang haben sie nach Befehl geschwiegen. Jetzt ist es vorbei mit der G e h e i m h a l t u n g . Im September 2009, fast zwei Jahrzehnte nach der Ent- t a r n u n g u n d L i q u i d i e r u n g der P-26, hat der Bundesrat die persönliche Schweigepflicht aufgehoben u n d den Ehemaligen öffentlich für i h r Engagement in der Wider- standsorganisation gedankt. D i e E h e m a l i g e n k ö n n t e n sich n u n «offen, frei u n d u n b e f a n g e n über ihre eigenen persönlichen Diensterlebnisse äussern», beschied ihnen Bundesrat Ueli Maurer. Eine vollständige Offenlegung der Widerstandsvorbereitungen bedeutet die A u f h e b u n g der Schweigepflicht allerdings nicht: D i e A k t e n r u n d um die P-26 bleiben n o c h bis z u m Jahr 2020 unter Verschluss, erst d a n n läuft die übliche 30-jährige Sperrfrist ab.
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  27. Die Verabschiedung der Ehemaligen in Chur ist eingebet- tet in einen militärischen Stabsanlass der Bündner Füh- rungsunterstützungsbrigade41. Gemeinsam besuchen die Teilnehmer die Kathedrale, hören einen Vortrag über die Widerstandsvorbereitungen in der Schweiz von 1940 bis 1990 und sehen den D o k u m e n t a r f i l m «Die Freiheit ist uns nicht geschenkt». Das gewisse Pathos der Veranstaltung ist durchaus gewollt. D a n a c h folgen der offizielle Emp- fang und die Verabschiedung der Ehemaligen durch die Bündner Regierung. Auch die Bündner Regierungsrätin Barbara Janom Steiner wird am Anlass der Brigade 41 als langjährige Offizierin verabschiedet und lernt dabei die ehemaligen Churer Widerständler kennen. Sie äussert sich nach dem Treffen gegenüber der «Südostschweiz» überrascht, sowohl von der Existenz der Organisation als auch von deren personeller Zusammensetzung. Auch an anderen Orten in der Schweiz kommt jeweils eine A n z a h l Ehemaliger an solchen Veranstaltungen zusammen. In der Regel nehmen kantonale Regierungsmitglieder an der Ver- d a n k u n g teil, so etwa im Klostergut Paradies, eingebettet in einen Anlass der früheren Schaffhauser und Zürcher Grenzbrigade 6; die Schaffhauser Regierungspräsiden- tin Rosmarie Widmer Gysel dankt dort den Schaffhauser Ehemaligen der P-26 mit einer kurzen Ansprache. Die Ehemaligen können seit der Aufhebung der Schwei- gepflicht öffentlich zu ihrer Mitgliedschaft stehen. Einige haben dies getan und sind in den Monaten danach in ver- schiedenen Medien in Erscheinung getreten. Andere ou- ten sich erstmals gegenüber dem Verfasser dieses Buches, einige von ihnen unter W a h r u n g ihrere Anonymität, wie- der andere wünschen dieses Kapitel in ihrem Leben ohne jede öffentliche E r w ä h n u n g abgeschlossen zu wissen. Die komplette Namensliste der P-26 mit ihren rund 400
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  31. Einträgen bleibt unter Verschluss. Der Bundesrat will den Entscheid über ein allfälliges Outing bewusst jedem ein- zelnen Mitglied überlassen: «Dass von der N e n n u n g von Personen, welche nicht selbst damit einverstanden sind, aus persönlicher Rücksicht Abstand genommen wird, ist für den Bundesrat eine Selbstverständlichkeit.» An diesen Treffen k o m m t es bisweilen zu verblüffenden Begegnungen. Die allermeisten P-26-Leute haben bis anhin nichts voneinander gewusst, denn es gehörte zur Grund- konzeption der Organisation, dass jedes Mitglied aus Si- cherheitsgründen höchstens einige wenige andere Mitglie- der kennen durfte, jetzt, nach fast 20 Jahren, treffen sich da und dort Bekannte, die von ihrer gemeinsamen Mitglied- schaft nicht die geringste A h n u n g hatten. Einige trauen ihren Augen nicht: In Chur trifft ein Rheintaler Ehemaliger nicht nur auf einen persönlichen Freund, sondern es steht da auch der Präsident eines Vereins vor ihm, in welchem er selbst seit Jahren als Vizepräsident amtet. Die Überra- schung ist perfekt. Alle Ehemaligen haben 19 Jahre lang dichtgehalten und da- mit ihre Zuverlässigkeit auch nach dem Ende ihres Engage- ments unter Beweis gestellt. Als die P-26 im Jahr 1990 nach den aufsehenerregenden Enthüllungen der parlamentari- schen Untersuchungskommission PUK E M D mit Schimpf und Schande liquidiert wurde, blieben die Ehemaligen dennoch an die Geheimhaltungspflicht gebunden. Über ihr Engagement wusste höchstens der engste Familienkreis oder sogar ausschliesslich die Lebenspartnerin oder der Le- benspartner Bescheid. Bisweilen nicht einmal diese. Ein wenig zu bröckeln begonnen hatte die Mauer des Schweigens immerhin schon im Jahr 2008, als an der mi- litärischen Schau « C o m m 0 8 » in Frauenfeld ein unschein- bares Zelt dem Thema Widerstand gewidmet war u n d sich
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  35. in einem dort gezeigten Film erstmals etwa zwei Dutzend ehemalige P-26-Angehörige outeten. A u c h an diesem Stand trafen die eingeladenen Ehemaligen da u n d dort überraschend auf Bekannte. Einer berichtete gegenüber einem Journalisten des «Tages-Anzeigers» sogar kurz über seine Erlebnisse, natürlich o h n e N a m e n s n e n n u n g . Das war heikel, denn noch galt zu diesem Z e i t p u n k t die Ge- heimhaltung. Die Sache blieb ohne jegliche Folgen - ein Indiz dafür, dass die Zeit reif war für die A u f h e b u n g der Schweigepflicht. Die Ehemaligen sind heute pensionierte Berufsleute aller möglichen Gattungen, nicht selten hatten sie zur Zeit ih- rer P-26-Mitgliedschaft Kaderpositionen oder öffentliche Ämter inne. Sie engagierten sich damals in der Zeit des Kalten Kriegs und der als Bedrohung empfundenen sow- jetischen Politik, um im Fall einer sowjetischen Besetzung der Schweiz vom Untergrund aus den Widerstandswillen der Bevölkerung zu stärken u n d den Besatzern das Le- ben so schwer wie möglich zu machen - mit Propaganda- aktionen aller Art und später auch mit gezielten Sabotage- akten. Diese Hintergründe der Organ isation zu beleuchten, ist das Ziel dieses Buches. Seine Kernteile beruhen auf Gesprächen mit Ehemaligen. D i e « O r a l History», also die systematische mündliche Befragung von Zeitzeugen, tritt hier vorerst an die Stelle der Analyse der schriftli- chen Quellen, die erst nach 2020 möglich sein wird. Der Verfasser hat insbesondere mit dem ehemaligen P-26-Chef Efrem Cattelan alias Rico gesprochen und danach einer Reihe von Ehemaligen jeweils denselben Fragenkatalog vorgelegt. Weiter hat er die Aussagen von Ehemaligen in verschiedenen Medien ausgewertet. Gesprächsbereite ehemalige Mitglieder zu finden, war keine einfache Sache, da die Namensliste der Ehemaligen nicht
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  39. zugänglich ist u n d dem Verfasser aus einem Kreis von Ehe- maligen überraschenderweise sogar Widerstand erwuchs (siehe Seite 304). So ging es d a r u m , sich v o m einen Mit- glied z u m nächsten zu tasten. A u f diese Weise k a m eine zahlenmässig zwar überschaubare, aber aussagekräftige Reihe v o n Gesprächspartnern z u s a m m e n . D a s Bild, das sie von der P-26 zeichnen, hat wenig gemein mit der auf- geregten W a h r n e h m u n g der «illegalen Geheimarmee» von damals, als die Existenz der Organisation öffentlich wurde.
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  42. D e r M a n n wartet auf einem Perron i m B a h n h o f G s t a a d . Er w i r k t g a n z u n d gar n i c h t konspirativ. D a r f er auch nicht, d e n n U n a u f f ä l l i g k e i t ist das A u n d das O als Mit- glied der P-26. In der l i n k e n H a n d trägt der W a r t e n d e eine M a p p e , in der rechten den « B u n d » . Diese Anord- n u n g signalisiert, dass die Luft rein ist. W ä r e sie es nicht, müsste e r M a p p e u n d Z e i t u n g a n d e r s r u m tragen. Der M a n n ist Berufs-Unteroffizier der Armee. G e g e n w ä r t i g arbeitet er indessen im streng geheimen Spezialauftrag: A l s I n s t r u k t o r ist er a b k o m m a n d i e r t z u m F ü h r u n g s s t a b des Projekts 26, der in e i n e m alten B a u e r n h a u s in der N ä h e v o n B u r g d o r f untergebracht ist. H e u t e erwartet er e i n m a l mehr einen K u r s t e i l n e h m e r zur A u s b i l d u n g . D i e Kurse finden h ä u f i g im «Schweizerhof» oben statt: D i e gut getarnte Festungsanlage liegt k n a p p o b e r h a l b der G s t a a d e r VIP-Ferienchalets. E r k e n n t den A n k ö m m l i n g nicht, n u r dessen D e c k n a m e ist i h m b e k a n n t . D e r Kurs- teilnehmer seinerseits ist neu in der P-26 u n d reist z u m ersten M a l n a c h G s t a a d . Er k e n n t den M a n n , der i h n er- wartet, ebenfalls nicht; n o c h viel weniger weiss er, w o h i n
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  46. der Instruktor i h n bringen wird. Sehr genau im Kopf hat er hingegen die Erkennungsregeln. Was jetzt folgt, ist Routine, aber wichtig und typisch für konspiratives Verhalten: Die beiden Männer müssen sich einander auf eindeutige Art zu erkennen geben. Der an- kommende Kursteilnehmer, von Beruf Lehrer, schlendert ruhig auf den M a n n mit der richtigen Anordnung von Map- pe und Zeitung zu. Der Wartende spricht als Erster: «Guten Tag, sind Sie der Herr Vorburger von den Bally Schuhfabri- ken?» Der A n k o m m e n d e antwortet: «Nein, Herr Vorburger hat leider die Grippe, ich bin an seiner Stelle da.» Kurzes Kopfnicken, kurzer Händedruck, unauffällig, banal. Es hat vorschriftsmässig geklappt mit den Erkennungssätzen. Die- se sind im Voraus ebenso festgelegt worden wie die Anord- nungen von Mappe und Zeitung. Die Satzkombinationen müssen unverwechselbar sein und Formulierungen enthal- ten, die einem zufällig Mithörenden in keiner Weise auffal- len, die aber niemand ausser den beiden Beteiligten kennen kann. Solche Dinge werden in der Ausbildung innerhalb der P-26 immer wieder geübt. Der Kursteilnehmer hat seine Erkennungssätze zusammen mit dem Aufgebot von seinem Vorgesetzten, dem sogenannten Regionschef, auf einem vorbereiteten Formular erhalten; er hat die Sätze sorgfältig auswendig gelernt und den Zettel danach vernichtet. Die beiden Männer besteigen einen Wagen und fahren z u m geheimen Festungswerk Schweizerhof hinauf, das eine der zentralen Ausbildungsanlagen der Organisation ist. Der Neue ist nicht der einzige Kursteilnehmer, aber er bezieht zuerst ein Einzelzimmer. Dort wird er, wie jeder Neue, per Videobotschaft vom amtierenden Generalstabschefs begrüsst, der i h m für sein Engagement dankt und betont, dass die Organisation zwar strikt geheim, aber Teil der Ge- samtverteidigung der Schweiz sei.
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  50. Die Kurse im Schweizerhof finden in der Regel in kleinen G r u p p e n statt. Die Leute (weitgehend Männer, einige we- nige Frauen) kennen sich nicht u n d wissen ausser ihren D e c k n a m e n nichts voneinander. Beim gemeinsamen Es- sen in der Anlage oder auch mal auswärts in einer Beiz spricht m a n über alles, nur nicht über sich selbst - dafc ist tabu. Nach drei oder vier Tagen gehen sie auseinander und sehen sich nie wieder. Jeder P-26-Angehörige kannte damals n u r einige wenige andere mit vollem N a m e n . Die Abschottung der Mitglie- der in sogenannten Widerstandsregionen, u n d innerhalb dieser wiederum in speziellen Kleingruppen, war ein zentraler P u n k t der G r u n d k o n z e p t i o n der Geheimorga- nisation. Alles spielte sich innerhalb der einzelnen Re- gion ab. D a s wäre auch im Ernstfalleinsatz gegen eine Besatzungsmacht so gewesen. Jede Region oder G r u p p e hätte für sich agiert, koordiniert per Kurzwellenfunk von einem öffentlich b e k a n n t e n , vom Bundesrat gewählten Chef u n d dem Führungsstab, der sich wahrscheinlich im Ausland eingerichtet hätte. Die r u n d 400 Leute, die zur Zeit der A u f d e c k u n g im Jahr 1990 als Aktive in der P-26 eingeteilt waren, hätten auch im Ernstfall nie zu einem G a n z e n zusammengefunden, schon gar nicht für Kampf- einsätze. Die Widerstandsregionen hätten an geeigneten Orten innerhalb ihres Rayons versucht, der Besatzungs- macht mit «Nadelstichen» u n d spektakulären Aktionen, vom Flugblattregen bis zum gezielten Sabotageakt, land- auf, landab klarzumachen: Die Schweiz gibt auch nach der Kapitulation der Armee und der erzwu ngenen A b d a n k u n g des Bundesrats nicht auf; es gibt Leute im ganzen Land, die den Widerstand mit den ihnen zur Verfügung stehen- den Mitteln weiterführen. Diese Botschaft wäre vor al- lem auch an die eigene Bevölkerung gerichtet gewesen,
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  54. um ihren D u r c h h a l t e w i l l e n zu stärken. M a n n e n n t das psychologische K r i e g f ü h r u n g . Bewaffnete A k t i o n e n in grösseren G r u p p e n , wie sie die französische Resistance d u r c h f ü h r t e , gehörten hingegen nie z u m K o n z e p t ; d a f ü r waren die P-26-Leute weder ausgebildet n o c h ausgerüs- tet. D i e Widerstandsorganisation wäre im Besetzungsfall das letzte Mittel u n d der einzige noch aktive Informa- t i o n s k a n a l des w a h r s c h e i n l i c h im Exil weilenden Bun- desrats gewesen.
  55. DIE FICHEN-SCHWEIZ In einer ruhigeren Zeit wäre die P-26 vielleicht so wahr- g e n o m m e n worden, wie sie gemeint war. In der erhitzten A t m o s p h ä r e der Schweiz von 1990 indessen gewann ein ganz anderes Bild die O b e r h a n d : «Eine Geheimarmee im gesetzlosen Zustand, bar jeder politi- schen Kontrolle, hinter dem Rücken [...] eines unwissenden und ahnungslosen Bundesrates. Eine Privatorganisation, finanziert aus öffentlichen Mitteln, mit zweckentfremdeten Geldern, mit missbrauchten Krediten, am Parlament vor beigemogelt, mit einem Auftrag, der eben nicht allein - wie man uns jetzt weismachen will - dem noblen Widerstandsgedanken gegen einen Aggressor von aussen verpflichtet, sondern auch gegen den inneren Feind gerichtet war.»
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  57. So schilderte der damalige Thurgauer SP-Ständerat Tho- mas O n k e n seine weitherum geteilte Sicht der Dinge. So tönte es auch in vielen Medien. Der «Tages-Anzeiger» fass- te den PUK-Bericht u n m i t t e l b a r nach der Pressekonfe- renz zu seiner Veröffentlichung unter dem Titel « G e h e i m , gesetzlos, gefährlich» mit diesen W o r t e n z u s a m m e n : «Mehrere hundert Mann, fast zwei Bataillone stark, ausgerüstet mit Schnellfeuerwaffen, Zielfernrohrgewehren, Sprengstoff und
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  61. Antitankraketen, übten jahrzehntelang in unserem Land heimlich
  62. den Widerstand, den Guerillakrieg, sogar den Staatsstreich.»
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  64. W i e k a m es zu solchen W a h r n e h m u n g e n ? Der Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK E M D ) platzte im Herbst 1990 mitten in eine Zeit, in der die Schweizer Öffentlichkeit sich noch nicht erholt hat- te vom Schock des Fichenskandals: Nach einer Geheim- dienstaffäre u n d dem skandalumwitterten Rücktritt von Bundesrätin Elisabeth Kopp war 1989 herausgekommen, dass rund 900 000 Schweizer und Ausländer in der Schweiz direkt oder indirekt von der Politischen Polizei des Bundes fichiert worden waren - ein unerhörter Vorgang, den eine erste parlamentarische Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des späteren Bundesrats Moritz Leuenberger ans Licht brachte. Bloss ein Jahr später berichtete eine zwei- te Parlamentarische Untersuchungskommission unter der F ü h r u n g des Appenzeller CVP-Ständerats Carlo Schmid von der 400-köpfigen Geheimtruppe mit der Bezeichnung P-26 und überdies von einem nicht minder geheimen Nach- richtendienst namens P-27. Eine neue Schockwelle ging durch das Land. Viele Menschen rieben sich die Augen und verstanden ihre Schweiz nicht mehr: eine bewaffnete ille- gale Guerilla-Armee, die, so die PUK E M D , keiner politi- schen Kontrolle unterlag, in ihren Szenarien sogar das Wort «Umsturz» führte und die die verfassungsmässige O r d n u n g gefährdete? Unglaublich. Was mochten das nur für Leute sein, die sich freiwillig für so etwas hergaben? Forderungen wurden laut, die Mitgliederliste der P-26 zu veröffentlichen. Kurz nach der Aufdeckung schrieben einige Ostschwei- zer P-26-Angehörige an E M D - C h e f Kaspar Villiger u n d forderten ihn auf, die N a m e n der Mitglieder keinesfalls zu veröffentlichen. Sie hatten Angst um ihr Ansehen und
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  68. fürchteten sich vor beruflichen Nachteilen. Ihr Brief hat w o h l die Gefühlslage vieler Ehemaliger ausgedrückt: «Nicht wenige von uns haben sowohl geschäftliche wie auch gesellschaftliche und politische Spitzenfunktionen inne», schrieben sie. «Es liegt n u n auf der H a n d , sollten unsere N a m e n bekannt werden, dass wir zum Teil exis- tenziell gefährdet sind - und dies alles, weil wir über Jahre hinweg in unserer karg bemessenen Freizeit dem Vater- land einen Dienst erweisen wollten. Das darf doch nicht sein!» Vielleicht wären viele Zeitgenossen nachdenklich geworden, hätten sie damals um diesen Brief u n d die Identität der Briefschreiber gewusst: Der Brief war unter- zeichnet von einem Geschäftsleitungsmitglied eines Che- mieunternehmens, einem Schulratspräsidenten, einem Spitalverwalter und dem Direktor eines Stahluntcrneh- mens - alle aus der Widerstandsregion Buchs. Villiger, der unter starkem politischem Druck stand u n d sich eine Ver- öffentlichung offenbar für einen Moment überlegt hatte, entschied zugunsten der Geheimhaltung. Er dankte den Ostschweizern für ihr Engagement und äusserte die Hoff- nung, dass die «Kopfjagd» bald ein Ende finden möge. Dass die im Brief der ehemaligen Mitglieder geäusserten Sorgen nicht unbegründet waren, zeigte die Debatte in der Öffentlichkeit. Äusserst harte Politiker- und Journalisten- worte fielen damals. D e m SP-Präsidenten Helmut Huba- cher entfuhr in der Hitze des parlamentarischen Gefechts das Wort vom «potenziellen Putschgeneral»: Gemeint war der ehemalige Generalstabschef Jörg Zumstein. Der als Beirat des ebenfalls streng geheimen Nachrichtendiens- tes P-27 enttarnte Baselbieter SP-Regierungsrat, Bankrat der Nationalbank und Oberst Edi Belser musste sich von einem Parlamentarier der G r ü n e n «terroristische Unter- wanderung unseres Staatswesens» vorwerfen lassen. Der
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  72. Zürcher Sozialdemokrat Sepp Stappung, enttarnt als Bei- rat der P-26, wurde von seiner Partei im ersten Moment ebenfalls massiv kritisiert. Auch in bürgerlichen Kreisen herrschten zumindest Verunsicherung u n d Unzufrieden- heit über die fehlende politische Kontrolle, auch wenn etli- che Exponenten die geheimen Vorbereitungen als sinnvoll u n d legitim verteidigten. Die Medien transportierten die E m p ö r u n g über die Schlussfolgerungen der P U K E M D mindestens im ersten Durchgang fast unisono, denn die Darstellungen der Kommission erschienen im Lichte der damaligen Ereignisse als durchaus plausibel. Die P-26 wurde angesichts des PUK-Berichts vom Bundes- rat unter dem Applaus aller politischen Lager sofort aufge- löst. Der Brief einiger Ehemaliger aus dem St. Galler Rhein- tal bildete die einzige schriftliche Reaktion aus den Reihen der P-26-Mitglieder. Die anderen schwiegen. Einige von ihnen liessen sich aufgrund der vielen negativen Veröf- fentlichungen verunsichern und begannen nachträglich zu zweifeln, ob ihr Engagement richtig gewesen war - sie hatten schliesslich nicht alles über die Widerstandsorgani- sation gewusst, sondern jeweils immer nur das, was sie für ihren individuellen Auftrag wissen mussten. Und das war in der Regel ganz wenig. Auch dies gehörte zum Konzept und zur Sicherheit. Die beiden einzigen P-26-Köpfe, die damals von findigen Journalisten enttarnt worden waren, mussten den M u n d halten: Efrem Cattelan alias Rico u n d Propagandachef Hans-Rudolf Strasser alias Franz. Strasser war im Zivil- beruf Informationschef des Eidgenössischen Militärde- partements E M D unter Kaspar Villiger, welcher, über- rumpelt u n d konsterniert, seinen engsten Mitarbeiter nach der Enttarnung auf der Stelle feuerte. Cattelan trat zwar nach der Enttarnung z u s a m m e n mit dem früheren
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  76. Generalstabschef H a n s S e n n u n d dem früheren Chef der Untergruppe Nachrichtendienst u n d A b w e h r ( U N A ) des Eidgenössischen Militärdepartements, Richard Ochsner, an einer Pressekonferenz auf, aber seine Botschaft fand in der fiebrigen politischen A t m o s p h ä r e von 1990 wenig G e h ö r - übrigens auch beim Verfasser dieses Buches nicht. D a s ist Geschichte. Seither ist es still geworden um die « G e h e i m a r m e e » . Die Zeit ist reif, die wirkliche P-26 dar- zustellen.
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  79. In der A t m o s p h ä r e von 1990 ging noch etwas anderes fast gänzlich unter: die historischen Voraussetzungen der schweizerischen Widerstandsvorbereitungen. Vom Kalten Krieg mochte man schon 1990 am liebsten gar nichts mehr hören: «Es fällt uns allgemein schwer, uns heute, erst ein paar Jahre nach Beendigung des Kalten Krieges, vorzustellen, dass der Kom- munismus bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrzehnts immer noch die Weltherrschaft anstrebte. Die im Osten immer grösseren und weiter reichenden Raketen, Flugzeuge und Panzer Hessen noch vor ein paar Jahren vielen Westeuropäern einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagen.»
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  81. Diese Worte äusserte im November 1990 ein bürgerlicher Sprecher im Ständerat, als es um den Bericht der Parla- mentarischen Untersuchungskommission P U K E M D zur P-26 ging u n d die Kritik auf die Organisation niederpras- selte. Was er d a m i t sagen wollte: Der Kalte Krieg als histo- rischer H i n t e r g r u n d der Widerstandsvorbereitungen u n d d a m i t auch der P-26-Entstehung w u r d e d a m a l s bei der
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  85. Beurteilung der Widerstandsorganisation fast gar nicht thematisiert. Der Kalte Krieg war vorbei. Heute fällt es erst recht schwer, sich zurückzuversetzen in die Atmosphäre des Ost-West-Konflikts, der auch die innenpolitischen Auseinandersetzungen in unserem Land prägte; weit entfernt scheint die Zeit des Eisernen Vor- hangs mitten durch Europa, die Epoche der beängstigen- den Rüstungsspirale in der Welt, die Emotionen des Anti- k o m m u n i s m u s u n d der Subversionsangst in der Schweiz. Kalter Krieg: Das bedeutete in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die ideologische Konfrontation der bei- den weltumspannenden Machtblöcke in einer «bipolaren Welt», die nach landläufiger W a h r n e h m u n g sauber einge- teilt war in Gut und Böse: G u t war der von den USA ange- führte Westen, böse der von der Sowjetunion mit eiserner H a n d dirigierte Ostblock. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig aggressiver Absichten. Die Konfrontation arte- te in einen alle Lebensbereiche umfassenden Wettkampf der Systeme aus - politisch, wirtschaftlich, technisch, militärisch, wissenschaftlich, kulturell. A u c h in beson- ders prestigeträchtigen Bereichen wie dem Sport oder der R a u m f a h r t versuchten die Parteien zu glänzen. Beide Blö- cke rüsteten massiv auf, vor allem nuklear: Riesige atoma- re Arsenale auf beiden Seiten hielten das «Gleichgewicht des Schreckens» aufrecht, das gegenseitige ln-Schach- Halten galt am ehesten als Schutz vor dem Untergang der Welt. Mehr als einmal drohte dieses «Gleichgewicht» zu kippen, vor allem in der Kubakrise von 1963. Über die «heissen» Kriege - Korea, Vietnam, Afghanistan - hinaus kam es in vielen Ländern der Dritten Welt immer wieder zu «Stellvertreterkriegen», in welchen die beiden Gross- mächte versuchten, machtpolitischen u n d strategischen Einfluss in einer bestimmten Gegend zu erringen oder zu
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  89. erhalten. Es war die Zeit, als der Kreml überall in der Welt marxistisch orientierte Regimes und Bewegungen unter- stützte u n d die U S A z u m Teil auch anrüchigsten Regimes unter die A r m e griffen - Hauptsache, sie traten der Ver- breitung des K o m m u n i s m u s entgegen. Die Schweiz war zwar politisch neutral, kulturell, wirt- schaftlich und ideologisch jedoch klar in den westlichen Block eingebunden. Die Ansicht, dass der Westen sich ge- gen sowjetische Eroberungsabsichten verteidigen müsse, war lange Zeit unbestritten. Dem Grossteil der Bevölke- r u n g w a r eine grundsätzlich antikommunistische Haltung eigen. «Die Russen» waren das Feindbild schlechthin, die «rote Gefahr» war in sehr vielen Köpfen latent präsent. Deshalb stand die politische Linke in der Schweiz nicht selten unter dem Verdacht, der D i k t a t u r in der Sowjet- union, deren aggressiven Äusserungen und den Waffen- arsenalen der Warschauer-Pakt-Staaten allzu wohlwol- lend gegenüberzustehen oder, noch viel schlimmer, dem Feind indirekt oder direkt in die H ä n d e zu arbeiten. Der kommunistischen Partei der Arbeit u n d ihren Unter- stützern traute m a n in Sachen Subversion alles zu. Mit grossem Misstrauen wurde verfolgt, wie etwa Schweizer Sozialdemokraten in Moskau auftraten oder eine Gruss- adresse an die D D R - F ü h r u n g abgaben. Kritikern von Z u s t ä n d e n im eigenen L a n d schallte reflexartig der Ruf entgegen: «Geh doch nach Moskau!» Bundesrat Rudolf G n ä g i sprach einmal von den «Kräften der Verneinung» und meinte damit neben den Linken vor allem kritische Intellektuelle, Pazifisten, Zivildienst-Befürworter, kurz: die Achtundsechziger. Wenn Kritiker der schweizerischen Aufrüstung oder der amerikanischen Vietnampolitik den Spruch «lieber rot als tot» erwähnten, galt dies wehrhaf- ten Schweizern als Inbegriff des Defaitismus.
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  93. Diffamierende Pauschalisierungen fehlten natürlich auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums nicht. Wer sich klar gegen die Sowjets und ihre Ideologie aussprach u n d einer glaubwürdigen militärischen Landesverteidi- gung das Wort redete, sah sich rasch einmal als «Kalter Krieger» in die Ecke gestellt, als «Betonkopf» und «So- zialistenfresser» verhöhnt. Diese Leute würden die Ge- fahr aus dem Osten herbeireden, um von Missständen im eigenen Land abzulenken und ihre eigene Vorherrschaft zu sichern, lautete oftmals der Tenor von links. Die Gefahren aus dem Osten wurden relativiert oder als Angstmache- rei kleingeredet. Das erschwerte auch die Diskussionen um Armeeleitbilder und Rüstungsprogramme im eigenen Land. Der ideologische Graben zwischen bürgerlich-kon- servativen und eher linken und progressiven Kreisen hat die politische Atmosphäre des Landes während Jahrzehn- ten geprägt und ein Klima des gegenseitigen Misstrauens und Missverstehens gefördert. «Es gibt Leute, die in einer harmlosen Konsumgenossenschaft ein bolschewistisches Verschwörernest wittern», schrieb Jean Rudolf von Salis im Jahr 1968. A u f beiden Seiten haben die Auswüchse dieses Misstrauens Spuren hinterlassen. D a s jeweilige Feindbild, durch die Blöcke des «aggressiven Sowjetkom- m u n i s m u s » u n d des «imperialistisch-kapitalistischen» Westens scheinbar in Stein gemeisselt, blieb bis in die 1980er-Jahre bestimmend. D e m jeweiligen Gegner traute m a n stets nur üble Absichten zu. Die in den 1980er-Jahren beginnende internationale Entspannungspolitik wurde in der Schweiz oft mit Misstrauen verfolgt, denn viele hielten die «Friedens-Schalmeien» der Russen für blosse Ablen- kungsmanöver. Dies alles heisst nicht, dass die Schweizerinnen u n d Schweizer in jenen Jahrzehnten konkrete Angst vor einem
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  97. baldigen sowjetischen Angriff auf Westeuropa und damit wohl auch auf die Schweiz gehabt hätten - aber ausschlies- sen wollte man diesen keinesfalls. Dinge wie der regelmäs- sige behördliche Aufruf an die Bevölkerung, für den Fall der Fälle stets einen Notvorrat an Grundnahrungsmitteln bereitzuhalten, nährten das latente Gefühl der Bedrohung und sorgten gleichzeitig immer wieder für Gelächter. Da- gegen bestand kein Zweifel daran, dass die östliche Spio- nage auch in der Schweiz sehr aktiv war: Die Statistik der schweizerischen Spionageabwehr verzeichnete in der Zeit zwischen 1948 und 1989 insgesamt 205 aufgedeckte Fälle von östlicher Spionage, zugleich deren 97 mit Agenten aus westlichen, das heisst befreundeten Ländern. Vor allem die Niederschlagung des Ungarnaufstandes von 1956 und des Prager Frühlings von 1968 durch die sow- jetischen Panzer verstärkte das Bild von der aggressiven Machtpolitik des Kremls als Hauptgefahr für den Weltfrie- den. 1 n beiden Fällen gi ng eine beispiellose Welle der Hilfs- bereitschaft durch die Schweiz. 1968 wehten wochenlang tschechoslowakische Fahnen auf öffentlichen Gebäuden. Auch gegenüber den Flüchtlingen aus Vietnam, den «Boat People», u n d den Flüchtlingen aus Tibet nach der Beset- zung durch C h i n a erwies sich die Schweiz als hilfsbe- reit, nach dem Motto «der Feind meines Feindes ist mein Freund». Die Schweizer Bevölkerung zeigte Flagge: M a n war keineswegs «gesinnungsneutral». Die Überlegungen der schweizerischen Armeeführung im Hinblick auf einen möglichen Angriff aus dem Osten fanden deshalb nicht im luftleeren R a u m statt, sondern stimmten mit dem Empfinden weiter Bevölkerungsteile überein. M a n durfte es in der neutralen Schweiz zwar nicht zu laut und offiziell sagen, aber in den taktischen Lagen der Armeemanöver zur Zeit des Kalten Kriegs waren «der
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  101. Kommunismus», das heisst die Sowjetunion und der War- schauer Pakt, allgegenwärtig, und zwar in Form der «ro- ten Pfeile» auf den Lagekarten, die immer aus dem Osten kamen. Bisweilen erfolgten die hypothetischen Angriffe auch von Süden oder Westen, d a n n aber immer unter An- n a h m e eines kommunistisch inspirierten Umsturzes oder von U n r u h e n in einem Nachbarland. Gelangten Details einer solchen Ü b u n g s a n n a h m e an die Öffentlichkeit, was nicht selten geschah, k a m es zu diplomatischen Verstim- mungen u n d Auseinandersetzungen mit namentlich ge- n a n n t e n Nachbarländern. Dass konkrete sowjetische Angriffspläne bestanden, dar- an gab es in Schweizer Militärkreisen nicht die geringsten Zweifel. Tatsächlich existierten in der Sowjetunion, wie wir heute wissen, detaillierte Unterlagen, zum Beispiel ein klas- sifiziertes eigenes Kartenwerk über die Schweiz im Mass- stab 1:50000 mit teilweise äusserst detaillierten Signaturen; 1992 wurde im freiburgischen Delfaux eines der von den Sowjets sorgfältig vorbereiteten Materialdepots gefunden, wie es der in den Westen geflüchtete Archivar des sowjeti- schen Geheimdienstes K G B geschildert hatte. Die neuere historische Forschung in der Schweiz bestätigt die sowjeti- sche Angriffsthese gegen die neutrale Schweiz zwar nicht, aber die damalige Wahrnehmung der Bedrohung war ein- deutig. Die Staaten des Warschauer Pakts verfügten über enorme Waffenarsenale mit vielen Panzern und Flugzeugen, der Angriffskrieg war die am häufigsten geübte Kampfart. Der K o m m a n d a n t einer Artillerieabteilung, in welcher der Verfasser Anfang der 1970er-Jahre Dienst leistete, pflegte seine Offiziere zur «Einstimmung» zu mahnen: «Meine Herren, an besonders klaren Tagen k a n n man von höheren Lagen aus den Böhmerwald erahnen. Dort stehen russische Panzer.» Solche Äusserungen waren damals üblich.
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  105. Die Armeeführung machte sich laufend G e d a n k e n über mögliche Szenarien und Zielsetzungen eines Angriffs auf die Schweiz. Ein Beispiel dafür ist die Studie «Das Feind- bild der 70er-Jahre» von 1966, in weicher die Untergruppe Planung der Generalstabsabteilung folgende Möglich- keiten nannte: « l . D e r Aggressor erachtet die Benützung des schweizerischen Territoriums oder des Luftraums für Operationen gegen einen Dritten als notwendig. 2. Der Aggressor will präventiv das neutrale Territorium beset- zen, um dessen B e n ü t z u n g durch den Feind zu verhin- dern. 3. Er will das L a n d aus ideologischen, politischen, wirtschaftlichen oder militärischen G r ü n d e n unterwerfen oder vernichten.» Das Motto der schweizerischen Militär- politik blieb deshalb «Kriegsverhinderung durch Verteidi- gungsbereitschaft». Das Gefühl der existenziellen Bedrohung durch den Ost- block: Dies war der Boden, auf dem auch die geheime Pla- nung von Widerstandsbemühungen im Fall einer Beset- zung wuchs, während Jahrzehnten und nicht erst bei der Schaffung der P-26. Das Bedrohungsbild und die Über- macht der Warschauer-Pakt-Truppen veranlassten die Landesregierung, über eine - realistisch betrachtet - wahr- scheinliche militärische Niederlage hinaus Überlegungen anzustellen, mithin zu einer anderen Form des Widerstan- des gegen einen Besatzer. 1973 sprach dies der Bundesrat erstmals klar aus: «Eine Besetzung des Landes darf nicht das Erlöschen jeden Widerstandes bedeuten. Ein Gegner soll auch in diesem Fall nicht nur mit Ablehnung, sondern mit aktivem Widerstand rechnen.»
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  107. W ä h r e n d des Kalten Kriegs war in der Bevölkerung auch ein gewisses Verständnis vorhanden für die Geheim- haltung «sensibler» Bereiche. Die Kritik daran sollte erst
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  113. später, n a c h dem Ende des Kalten Kriegs, mit aller Schärfe einsetzen. Die P-26 war die letzte u n d am professionells- ten konzipierte Widerstandsorganisation aus der Zeit des Kalten Kriegs.
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  116. Im Februar 1981 erlitt Oberst im General Stab Efrem Cat- telan einen Herzinfarkt u n d w u r d e ins Spital eingewiesen. D a s gesundheitliche M a l h e u r passierte beruflich zur Un- zeit. Cattelan war formell bereits seit dem 1. O k t o b e r 1979 als Chef der geheimen Widerstandsorganisation unter Ver- trag: D a s «Projekt 26» sollte an die Stelle des bisherigen «Spezialdienstes» aus der Zeit des berühmt-berüchtigten Obersten Albert B a c h m a n n treten. B a c h m a n n alias Tom w ä r e d a m i t beauftragt gewesen, Cattelan in seine neue Aufgabe e i n z u f ü h r e n . Es blieb bei der Absicht, denn schon im November 1979 platzte die Spionage-Affäre um Kurt Schilling u n d Oberst B a c h m a n n , welche f ü r Letzteren mit der Entlassung endete. Fortan war jeglicher Kontakt mit Tom für Rico tabu. Er musste sich vorerst allein zurecht- finden, was nicht einfach war, d e n n der Neue verstand im G r u n d e nichts v o n der Sache, er musste sich alles zuerst aneignen. «Dröle de guerre» nennt Cattelan heute diese erste Phase. «Die Spital-Wochen u n d die Rehabilitation waren meine fruchtbarste Zeit: Ich las u n d las, arbeitete m i c h durch einen grossen Teil der einschlägigen Litera- tur durch. So entstand die G r u n d k o n z e p t i o n der Wider- standsorganisation.» Cattelans geschäftliche Tarnung, die Pcrsonalvermitt- l u n g s f i r m a Consec an der stark frequentierten Freien Strasse in Basel, war zu diesem Z e i t p u n k t bereits im Han-
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  120. delsregister eingetragen. Niemand in Basel ahnte, was es mit dem oft überquellenden Consec-Briefkasten u n d den Büros in der 3. Etage des stattlichen Jugendstil-Eckhauses auf sich hatte; die Passanten beachteten, wenn überhaupt, nur die elegante Parfumerie im Erdgeschoss. Personalver- mittlung - das war nicht einmal gelogen: Cattelan rekru- tierte ja tatsächlich Personal, wenn auch für ganz spezielle Zwecke. Efrem Cattelan alias Rico - Name und D e c k n a m e gingen 1990 um die halbe Well - woh nt mit seiner Frau noch heu- te im selben Einfamilienhaus in der Baselbieter Gemein- de Münchenstein, vor den Toren Basels. Flaches Dach, Garten, kleiner S w i m m i n g p o o l , am R a n d eine dekorative Buddha-Statue. Das Haus ist auf perfekte Weise unauffäl- lig, genau wie der Hausherr selbst. Niemand hätte sich da- mals vorstellen können, wer der Bewohner wirklich war. Verblüfft rieben sich die Menschen in der Region Basel 1990 die Augen, als Cattelan kurze Zeit nach der Veröf- fentlichung des PUK-Berichts vom Weltwoche-Journalis- ten Urs Paul Engeler als Chef der P-26 enttarnt wurde und als überdies die Sache mit der Tarnfirma Consec in Basel herauskam. Noch mehr staunte m a n , dass der M a n n mit dem fremdländisch klingenden Namen, von dem niemand so recht wusste, wie m a n ihn ausspricht, so ganz und gar nicht dem Bild eines Bösewichts oder Haudegens entspre- chen wollte. Nur ganz wenige Leute waren damals über Cattelans wah- re Identität im Bild gewesen. Seine Enttarnung bildet eine Geschichte für sich: Engeler hatte nach eigenem Bekunden in einem Interview «wie ein mittelmässiger Kriminalbe- amter mit Gesprächen u n d Analysen» recherchiert und war schliesslich auf Oberst Cattelan gekommen, dem man schon damals eine gewisse Ähnlichkeit mit Gorbatschow
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  124. nachsagte. D o c h der harte Beweis fehlte. Engelers Welt- woche-Kollege A n t o n L a d n e r erbrachte i h n : Es gelang i h m n ä m l i c h , Oberst B a c h m a n n s ehemaligen Chef, Divi- sionär R i c h a r d O c h s n e r , z u m i t t e r n ä c h t l i c h e r S t u n d e a m Telefon aus der Reserve zu locken u n d Engelers Vermu- t u n g zu bestätigen. Der S c o o p w a r perfekt, die Story ging in D r u c k .
  125. DER CHEF Wer heute zu Cattelans H a u s k o m m t , sucht am geschlos- senen kleinen G a r t e n t o r vergeblich einen Klingelknopf: Dieser befindet sich unsichtbar auf der Innenseite der Gartenmauer. M a n k a n n nicht anders, als zu s c h m u n z e l n : Überreste aus der konspirativen Ä r a ? Natürlich U n s i n n : Cattelans H a u s liegt an einem Schulweg - Kinder lieben es zu allen Zeiten, K l i n g e l k n ö p f e zu drücken u n d sich an- schliessend aus dem Staub zu machen. Da erschien es i h m zweckmässig, den K l i n g e l k n o p f etwas zu verbergen. Cattelan e m p f ä n g t üblicherweise im W o h n z i m m e r . Bis- weilen auch in seinem kleinen Arbeitszimmer im 1. Stock: D o r t sind an der W a n d alle G e w e h r t y p e n der Schweizer A r m e e sorgfältig in Reihe gehängt. Diese kleine Samm- lung ist das einzig Martialische am ehemaligen P-26-Chef, der im Übrigen kein W o r t über diese Waffen verliert. Über drei Jahrzehnte nach seiner E n t t a r n u n g ist Cattelan er- leichtert, dass er n u n über (fast) alles reden k a n n . Z w a r besitzt er seit vielen Jahren die Erlaubnis, mit i m m e r dem- selben Vortragstext u n d in sehr summarischer Form über A u f b a u u n d S t r u k t u r der Organisation zu reden. D a s hat er bisher etwa 60 M a l getan, vorab vor militärischen Ver- einigungen. «Die P-26 w a r eine ausserordentlich berei- chernde E r f a h r u n g » , sagt er. W e n n Cattelan heute über seine Zeit als P-26-Chef erzählt, tut er das mit der i h m ei-
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  129. genen Mischung aus Ernst und Lockerheit. Seine 80 Lenze würde m a n dem M a n n mit den vifen Augen nicht geben. Sein rund elfjähriges Doppelleben als «Personalvermitt- ler» und Chef einer Geheimorganisation habe ihn weniger belastet als ursprünglich befürchtet, aber er musste dem gesellschaftlichen Leben weitgehend entsagen. Über die ganze Wahrheit im Bild war damals ausschliesslich Cat- telans Ehefrau, die sein Engagement von A n f a n g an mit Überzeugung mittrug; die beiden Söhne wurden erst ei- nige Zeit später, n ä m l i c h nach Abschluss ihrer Rekruten- schule 1983 und 1984, von den Eltern informiert. «Nicht einmal mein Vater wusste, was ich tat, als er 1986 starb», bedauert Rico noch heute. Er musste stets gut vorbereitete Aussagen und Ausreden bereithalten. «Wenn m a n mich nach meinem Job fragte, antwortete ich immer dasselbe: Ich führe die Personalfir- ma Consec im Auftrag von drei privaten Unternehmen; ihre N a m e n nannte ich nicht.» Das reichte aber nicht immer: Einmal fragte ihn ein Freund, ob er einverstanden wäre, die Kader seines Unternehmens auszubilden. Doch auch für solche Fälle hatte er seine Antwort bereit: «Ich sagte jeweils, der Vertrag mit den drei erwähnten Firmen sei ex- klusiv.» Mitgliedschaften in Clubs wie «Lions» oder «Rota- ry» kamen nicht in Frage, da dort oft auch über berufliche Tätigkeiten der Mitglieder geredet wird. Das hatte in einem Fall negative Folgen: Ein Freund insistierte zweimal nach- einander, Cattelan solle doch Mitglied eines solchen Clubs werden. «Als ich zum zweiten Mal absagte, wurde er so wütend, dass dies das Ende unserer Freundschaft war. Ich habe ihn nie wiedergesehen.» Das blieb indessen ein Ein- zelfall. Besonders pikant war der Umstand, dass Rico da- mals als direkte Nachbarn eine Jugoslawin und eine tsche- chische Familie hatte. Er sah sich gezwungen, die Kontakte
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  135. mit i h n e n auf das strikte M i n i m u m , die alltäglichen Höf- lichkeitsformeln, zu reduzieren: «Nicht nur zu meinem eige- nen Schutz, sondern auch zu dem ihrigen. D e n n in Sachen möglicher Erpressung k a n n m a n nie vorsichtig genug sein.» Das Doppelleben funktionierte perfekt: Nie in den ganzen elf Jahren habe irgendjemand etwas gemerkt. Nach seiner E n t t a r n u n g im Dezember 1990 tauchte Rico vorerst für eine Weile unter, erhielt d a n n später im E M D für eine Zeitlang den Job eines wissenschaftlichen Mitarbeiters beim Stab der G r u p p e für Ausbildung. Bald jedoch konnte er das Leben eines völlig normalen Rentners führen. Ins Be- wusstsein seiner Wohngegend rückte er vorübergehend erst wieder 1995, als er in Pfeffingen auf E i n l a d u n g bürgerlicher Politiker einen Vortrag hielt, seinen Standard-Vortrag über die Konzeption der P-26. Als Mitgründer der «Infanterie- Stiftung Baselland» zur Erinnerung an das Baselbieter In- fanterieregiment 21 gab er 2002 erstmals wieder ein Inter- view in heimischen Medien.
  136. TOM KAM ZUERST Als m a n im Jahr 1979 mit der geheimen Anfrage an ihn he- rantrat, war Dr. jur. Efrem Cattelan 48 Jahre alt, Vizedirek- tor bei der National-Versicherung in Basel u n d seit kurzem im R a n g eines Obersten K o m m a n d a n t des Baselbieter In- fanterieregiments 21. Ursprünglich war er Berufsoffizier ge- wesen, hatte nach seiner Promotion an der Universität Ba- sel zuerst als Instruktor in der Infanterie-Rekrutenschule in Liestal gearbeitet u n d später in der Offiziersschule in Bern. 1972 wechselte er ins zivile Leben, zur National-Versiche- rung. Deren Chefs hätten mit dem Direktoriumsmitglied Cattelan noch einiges vorgehabt - doch es k a m anders. Es scheint, dass es sein Vorgänger, Oberst Albert Bach- m a n n , selber war, der 1979 Cattelan in Bern als Kandidaten
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  140. ins Spiel brachte. «Tom», der Cattelan von Generalstabs- kursen her kannte, kontaktierte ihn im Frühjahr 1979 im Auftrag seines Chefs, Divisionär Richard Ochsner. Ochs- ner war damals Chef der U N A , in der B a c h m a n n seine beiden streng geheimen Dienste betrieb, «Ich hatte keine Kenntnis von den Widerstandsvorbereitungen u n d wurde völlig überrascht von der Anfrage», sagt Cattelan. «Auch besass ich nur sehr rudimentäre Vorstellungen von solchen Dingen.» B a c h m a n n schilderte i h m ausführlich, welche Widerstandsvorbereitungen bereits getroffen worden sei- en u n d wie alles funktioniere. Cattelan, gewohnt, genau hinzuschauen, blieb skeptisch: «Mir kam dies alles absolut unglaublich vor.» Er sagte aber nicht zum vornherein Nein. Vorerst wollte er mehr wissen und traf sich noch im Früh- jahr 1979 während seines ersten Wiederholungskurses mit seinem Regiment 21, der just daheim im Baselbiet stattfand, unauffällig mit Ochsner im Motel auf der Hauenstein-Pass- höhe; auch Ochsner kannte er aus militärischen Weiterbil- dungskursen. Und siehe da: «Der UNA-Chef bestätigte mir zu meinem Erstaunen all die unglaublichen Sachen, die B a c h m a n n mir erzählt hatte.»
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  147. DIE AFFÄRE BACHMANN/SCHILLING Der legendäre Oberst «Bert» Bachmann alias Tom war die Schlüsselfigur der bisherigen geheimen Dienste im EMD. Er flog im Spätherbst 1979 auf. Cattelan erfuhr just an seinem Geburtstag davon, dem 29. November, als er sich mit einigen Dienstkameraden in der Ostschweiz traf. Die Affäre Bach- mann/Schilling verursachte damals einen Riesenwirbel und warf ein schlechtes Licht auf die ganze schweizerische Ge- heimdienstszene. Was war geschehen? Ein Geheimdienstmann hatte seinen Mit- arbeiter Kurt Schilling zum Ausspionieren der Raumverteidi- gungsübung 79 des österreichischen Bundesheeres ausge- sandt. Das Ziel der Mission bestand darin, herauszufinden, wie lange etwa die Österreicher einem sowjetischen Angriff würden standhalten können. Doch der Betriebsberater und Amateur- spion Schilling benahm sich derart dilettantisch, dass er im niederösterreichischen St. Pölten von der Spionageabwehr des österreichischen Bundesheeres sofort bemerkt und aufge- griffen wurde. In der Einvernahme durch die österreichischen Behörden gab er dann, für einen Agenten eine Todsünde, sei- nen Spionageauftrag und seinen Schweizer «Führungsoffizier» preis: einen gewissen Oberst Albert Bachmann. Nach einmona- tiger Untersuchungshaft wurde Schilling wegen militärischen Nachrichtendienstes für eine fremde Macht (d. h. die Schweiz) zu einer bedingten fünfmonatigen Haft verurteilt und sofort in die Schweiz abgeschoben. Der glücklose Amateurspion wurde noch am Flughafen Kloten von Schweizer Beamten verhaftet. Weil er in der Untersuchungshaft in Österreich alles preisgege- ben hatte, was für das EMD «top secret» war, taxierte die Mili- tärjustiz dies als vorsätzliche fortgesetzte landesverräterische Geheimnisverletzung. «Dafür kassierte der Pechvogel in einem Geheimprozess in einer Festung im Gotthardraum weitere fünf Monate Gefängnis», schrieb die «BAZ» später.
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  151. In der Schweiz führte diese Affäre zum Eklat. Die Öffentlichkeit wusste nicht recht, ob sie lachen oder weinen sollte über diese «Indianerspiele», wie EMD-Chef Georges-André Chevallaz es vor dem Nationalrat nannte. Man lernte staunend ein bisher kaum bekanntes Kürzel kennen: UNA, Untergruppe Nachrich- tendienst und Abwehr im EMD, genauer: im Stab der Grup- pe für Generalstabsdienste. Wie sich herausstellte, wussten selbst die meisten UNA-Leute wenig oder nichts davon, dass Bachmann die zwei Organisationen «Spezialdienst» und «aus- serordentlicher Nachrichtendienst» in der UNA geschaffen hatte; diese führten ein streng geheimes Eigenleben. In einem Bericht erfuhr die Öffentlichkeit erstmals von der Existenz die- ser beiden geheimen Dienste. In der UNA gab es schon seit Jahren Personalstreitigkeiten, Spannungen, Führungsmängel und organisatorische Unzulänglichkeiten, wie die Arbeitsgrup- pe der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission unter dem Vorsitz des späteren Bundesrats Jean-Pascal Delamu- raz 1981 öffentlich machte. Als Hauptprobleme erkannte die Geschäftsprüfungskommission die Personalunion bei der Lei- tung der beiden geheimen Dienste und Bachmanns ständige Eigenmächtigkeiten. in der Generalstabsabteilung des Eidgenössischen Militärde- partements hatten sämtliche Alarmglocken geläutet, als die Hiobsbotschaft von der Verhaftung Schillings und seinem Ge- ständnis eintraf. Denn die Verantwortlichen im EMD fürchte- ten nichts mehr als eine öffentliche Debatte in den Räten über Auftraggeber und Kontrolle derartiger Einsätze. Der damalige UNA-Chef Richard Ochsner mahnte laut der ««Basler Zeitung» mehrere Bundesparlamentarier in einem persönlichen Brief: «Die idiotische Szene von St. Pölten sollte nicht zum Marigna- no des schweizerischen Nachrichtendienstes werden.» Dazu kam es trotz dem Wirbel tatsächlich nicht. Noch nicht.
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  157. Die UNA-Probleme waren den Verantwortlichen im E M D schon vorher nicht entgangen. Noch zu Bachmanns Amts- zeit und somit noch vor dem Eklat kamen der damalige Generalstabschef Hans Senn und der UNA-Chef Richard Ochsner z u m Schluss, dass angesichts der offenkundigen Probleme Handlungsbedarf bestand. Bachmann sollte die Leitung des bestehenden «Spezialdienstes» abgeben, den ausserordentlichen Nachrichtendienst aber «auf kleinem Feuer weiter betreiben», schrieb Senn rückblickend. Sie ei- nigten sich im Wesentlichen auf folgendes Vorgehen: - Die beiden bisherigen Dienste werden organisatorisch voneinander getrennt und je einem eigenen neuen Chef unterstellt; Doppelmitgliedschaften sollen ausgeschlos- sen sein. - Die beiden Neuen sollen auf der Basis eines zivilrecht- lichen Vertrags engagiert werden, damit sie besser getarnt und notfalls fristlos entlassen werden können. - Der Handlungsspielraum der beiden Dienste soll d a n k klaren Aufträgen u n d Umsetzungskonzepten begrenzt werden. - Direkte Kontrolle durch den Unterstabschef Nach- richtendienst u n d Abwehr, mit Unterstützung eines Aufsichtsrats aus Beamten. Dieser hatte für die Über- einstimmung des Mitteleinsatzes mit den Aufträgen zu sorgen u n d der Ü b e r n a h m e untragbarer Risiken vorzubeugen.
  158. Vor diesem Hintergrund wurde Efrem Cattelan 1979 von B a c h m a n n kontaktiert. Die Aufgabe reizte Cattelan, die Notwendigkeit einer solchen Organisation sah er angesichts der Weltlage und der sowjetischen Expansionspolitik ein. Zweitens fand Cattelan die Aufgabenstellung sehr interes-
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  162. sant. Lange überlegte er hin und her und wollte schliesslich seine Zusage von einer Information des Gesamtbundesrats / u m Projekt 26 abhängig machen. Diese aber erhielt er nicht sofort. Generalstabschef Hans Senn informierte den bundesrätlichen Dreierausschuss für das E M D im Frühjahr 1979 über die Grundzüge des Projekts. Das Ziel bestehe darin, «der Landesregierung ein Instrument in die Hand zu geben, das es ermöglicht, einen hartnäckigen Widerstand zu führen in den Gebieten der Schweiz [...], die vom Feind besetzt wären». Die drei Bundesratsmitglieder gaben im Sommer 1979 grünes Licht, Cattelan unterschrieb. Am 5. September 1979 schliesslich orientierte Senn den Ge- samtbundesrat über die Grundzüge der beiden geheimen Dienste. Über den «Spezialdienst» führte er aus: «Seine Aufgabe ist es, den in Ziffer 426 des Berichtes über die Sicherheitspolitik der Schweiz von 1973 (siehe Seite 41 f.) geforder- ten Widerstand nach einer allfälligen Besetzung unseres Landes schon in Friedenszeiten vorzubereiten. Damit soll im Besetzungs- fall der Landesregierung ein taugliches Instrument zur Verfügung gestellt werden können. Die wesentlichen Ziele sind: 1. Rekrutierung und Ausbildung geeigneter Kader und Spezialis- ten, die nach einer Besetzung den Kampf in geeigneter Form fortsetzen und zusätzliche Kerne des Volkswiderstandes bilden können;
  163. 2. Bereitstellung des für diesen Kampf notwendigen Spezial- materials, seine Lagerung und Vorbereitung der rechtzeitigen Verteilung.
  164. 3. Schaffung der notwendigen Infrastruktur für die koordinierte Führung des Widerstandes aus noch unbesetzten Teilen unseres Landes oder aus einem allfälligen Exil.
  165. Die damit betraute Organisation besteht im Wesentlichen aus: - dem Chef des Spezialdienstes, ab Herbst 1979 einer qua- lifizierten im Auftragsverhältnis verpflichteten Persönlichkeit
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  170. (Regimentskommandant und Generalstabsoffizier), die in ihrer Funktion nur sehr Wenigen bekannt sein darf;
  171. - einem kleinen, teilweise in Erscheinung tretenden Stab von heute drei Beamten und fünf Instruktoren, die für die Belange der Administration, Ausbildung und der materiellen Vorbereitung eingesetzt sind
  172. - dem Gros der im Verdeckten arbeitenden, auf dem Milizsystem basierenden Organisation als Träger des Widerstandes. Periodische, örtlich und zeitlich geheimgehaltene Einführungs- und Ergänzungskurse für die Kader vermittein in zwei geheimen Ausbildungszentren die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten. Feldübungen runden die Detailausbildung ab. Die Aufwendungen beliefen sich 1978 auf etwa eine Million Franken. Angesichts der Gefahr der Eigengesetzlichkeit einer solchen Organisation sind externe Kontrollorgane, im finanziellen Sektor Vertrauensleute der eidgenössischen Finanzkontrolle und auf konzeptionellem Gebiet aktive Parlamentarier, für mich zusätzliche Garantien gegen uner- wünschte Entwicklungen.»
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  174. Senn äusserte sich ebenfalls z u m «Ausserordentlichen Nachrichtendienst», der jene Art von Auslandnachrichten beschaffen sollte, die zu hohe Risiken bargen für die or- dentlichen Nachrichtenbeschaffungsorgane. Dieser Dienst sollte «aussergewöhnliche Risiken, unter Verwendung von
  175. I unkonventionellen Mitteln u n d Methoden» einzugehen in der Lage sein, völlig anonym arbeiten und jegliche Verbin- dung zur Staats- und Armeeführung ableugnen können (Ab Streitbarkeit). Der Bundesrat n a h m diese Ausführungen zur Kenntnis, ohne sich dazu zu äussern. Diese Nichtreaktion war nicht unbedingt aussergewöhnlich - aber auslegungsbedürftig. Er habe dieses Schweigen gemäss den politischen Usanzen als «grünes Licht» interpretieren dürfen, gab Senn später
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  179. gegenüber der PUK E M D zu Protokoll. Also machte m a n vorwärts. Catteian unterzeichnete unter voller N a m e n s n e n n u n g ei- nen zivilrechtlichen Vertrag, der durch den Unterstabschef Nachrichtendienst u n d Abwehr als Auftraggeber gegenge- zeichnet wurde. D a t u m : 30. Juni 1979. Stellenantritt: 1. Ok- iober 1979. Catteian verpflichtete sich darin, «das Projekt Nr. 26 der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr ¡später geändert in <Generalstabschef>] selbständig zu lei- ten und alle damit verbundenen Dienste zu erbingen». Das vereinbarte Jahressalär betrug brutto im M a x i m u m 180000 Franken, was etwa zwischen dem Lohn eines Divisionärs und dem eines Korpskommandanten lag und auch die Kos- ten für Cattelans Tarnfirma Consec samt Büromiete et ce- tera umfasste; zudem musste Catteian, der ja gegen aussen ein Selbständigerwerbender war, auch die Arbeitgeberbei- träge in die A H V und in die Pensionskasse berappen. Auf- grund der Indexierung stieg dieses Salär bis 1990 auf rund 240000 Franken: Dies war die Z a h l , die damals Eingang in den PUK-Bericht fand. Der Vertrag sagte materiell nichts über Sinn und Zweck des Projekts 26 aus. Gemäss den Ab- klärungen der späteren P U K E M D wurde er vom Direktor der eidgenössischen Finanzkontrolle, vom Sekretär der parlamentarischen Finanzkommissionen und vom Gene- ralstabschef eingesehen. Weder Bundesrat noch Parlament erfuhren etwas über das Engagement von Catteian.
  180. ERSTE SCHRITTE Catteian hatte sich also für das Projekt 26 entschieden. Bei der National-Versicherung in Basel staunte die Chefeta- gc sehr: N o c h nie in der Geschichte des Hauses hatte ein imitierender Vizedirektor von sich aus gekündigt, am al- lerwenigsten einer, mit dem m a n noch etliche Pläne hatte.
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  184. « M a n erhält nur einmal im Leben die Chance, etwas kom- plett Neues aufzubauen und zu leiten, von der Konzeption über das Personal u n d die Ausbildung bis zur Logistik», erklärte Rico seinen Vorgesetzten. Natürlich erfuhren sie nichts über seinen wahren Auftrag. Er habe eine Anfrage des Bundes im R a h m e n eines geheimen Dienstes erhalten, lautete die Sprachregelung. Als erstes besuchte Cattelan noch unter B a c h m a n n zwei Einführungskurse, wurde mit geheimen Unterlagen ver- traut gemacht, sprach mit Instruktoren aus dem Kreis der bestehenden beiden geheimen Dienste. Diese E i n f ü h r u n g währte k a u m einen Monat, d a n n k a m der Bachmann- Eklat. Cattelan musste allein zurechtkommen mit dem Projekt 26, dessen Bezeichnung übrigens im Wesentlichen von Bernard Stoll stammt: Der damalige Chef der Sektion G e h e i m h a l t u n g im E M D und Sicherheitschef im «Spezial- dienst» unter B a c h m a n n schlug den N a m e n im Gespräch mit Cattelan mit Blick auf die 26 Kantone vor. Gleichzeitig wurde der neue Nachrichtendienst unter der Bezeichnung Projekt 27 ins Leben gerufen, organisato- risch und personell völlig getrennt von der Widerstands- organisation P-26. Sein erster Leiter war der inzwischen verstorbene Binninger Arzt H a n s Hug, wahrscheinlich war auch dieser Personalvorschlag eine Idee Bachmanns. In den A n f ä n g e n waren also beide neuen Projekte in der H a n d von Nordwestschweizern. Sie kannten sich nicht und arbeiteten auch nie zusammen. Mit der Schaffung von P-26 und P-27 war die Ära der einheitlichen Leitung über beide Organisationen definitiv beendet. Der ideenreiche, zur Selbstüberschätzung neigende B a c h m a n n hatte offen- bar trotzdem davon geträumt, als N u m m e r 1 der Grosse Vorsitzende über beide Organisationen zu werden. Daraus wurde natürlich nichts, denn «Tom» flog ja im November
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  188. 1979 auf. O h n e h i n wäre dieser Traum w o h l k a u m Realität geworden, d e n n in der Personalunion B a c h m a n n s an der Spitze sah der Bericht D e l a m u r a z die Hauptquelle aller Probleme u n d S p a n n u n g e n innerhalb der U N A . Und Cat- telan, der B a c h m a n n s Qualitäten ebenso k a n n t e wie seine Schwächen, sagt d a z u lakonisch: «Mit mir wäre so etwas nicht zu machen gewesen.» Albert Bach m a n n , die bekannteste u n d umstrittenste Fi- gur in der Geschichte der schweizerischen Geheimdienst- uktivitäten, ist im A p r i l 2011 im Alter von 82 Jahren in Irland gestorben.
  189. POTEMKINSCHE DÖRFER W ä h r e n d seiner persönlichen «dröle de guerre» kämpf- te sich Cattelan durch einen Grossteil der einschlägigen Literatur z u m Thema Widerstand und zu allem, was damit zusammenhängt, entwarf, verwarf, wog Vor- und Nachtei- le verschiedener Modelle ab. Die Struktur der neu zu or- ganisierenden P-26 fiel ihm nicht in den Schoss. D e n n der Neue war kein Widerstands-Fachmann. Bei Null an- zufangen brauchte Cattelan bei seiner Aufbauarbeit nach Bachmanns Entlassung indessen nicht. Ansätze für Wider- standsorganisationen gab es in der Schweiz schon seit langem. Widerstandsvorbereitungen zutreffen hatte der erwähnte Spe- zialdienst schon seit den 1960er-Jahren unter verschiedens- ten Vorgesetzen bis B a c h m a n n versucht (siehe Seite 240). Die Arbeiten waren aber nie über einen eher bescheidenen Konkretisierungsgrad hinausgewachsen. Angelpunkt für Rico bildete vielmehr der sicherheitspolitische Bericht des Bundesrats von 1973, in dem auch die Vorbereitung des ak- tiven Widerstandes für den Besetzungsfall postuliert wurde. Auch Generalstabschef Senn hatte sich daraufgestützt. Zif- fer 426 dieses Berichts lautete:
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  193. «Ein Gegner soll auch in diesem Fall [der Besetzung, Anm.d.Verf.] nicht nur mit Ablehnung, sondern mit aktivem Widerstand rechnen.» Solcher Widerstand könne «nicht in demselben Ausmasse im Voraus organisiert werden wie die militärische oder die zivile Verteidigung. Aber alle Möglichkeiten, günstige Voraussetzungen für den aktiven Widerstand zu schaffen, müssen früh wahr- genommen werden. Ebenso hat der gewaltlose Widerstand der Bevölkerung einen hohen moralischen Wert. Als Elemente der Selbstbehauptung gehören beide Arten des Widerstandes gegen die Besetzungsmacht zur schweizerischen Strategie.»
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  195. Was Cattclan damals an Bestehendem antraf, bezeichnete er gegenüber der PUK E M D als «potemkinsche Dörfer», heute als «befruchtetes Ei, nicht mehr. W i r waren faktisch im Ruhezustand,» Eine echte Ausbildungstätigkeit für die Widerstandsvorbereitungen gab es nicht, dafür reihenweise interne Änderungen und personelle Wechsel. Sehr vieles war angedacht worden, zuletzt von Bachmann und seinem Stellvertreter Major Ruedi Moser. Die beiden Geheim- dienstler träumten davon, im Endausbau (etwa 1985) dem Generalstabschef 2000 bestausgebildete Widerstandsleute samt flächendeckenden Material- und Munitionsdepots in die H a n d zu geben, wie Moser 1993 in seinem von Selbstlob triefenden Büchlein «Schweizer Geheimarmee» schwärm- te. In der Realität konnte davon nicht im Entferntesten die Rede sein. Die Leute, die im Geheimen für den Widerstand oder den Nachrichtendienst vorgesehen waren, hatten noch keine oder nur eine rudimentäre Ausbildung und wa- ren als «Einzelmasken» überall im Land verteilt. Wie und durch wen die Ausbildung stattfinden sollte, war jedenfalls für Rico nicht ersichtlich. Im Ernstfall sollten sie dann zu Gruppen zusammengefügt werden. So etwas konnte in Cat- telans Augen niemals funktionieren.
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  199. Das einzige, das gemäss Cattelan damals existierte und ei- nigermassen funktionierte, war ein Übermittlungssystem: Iis gab schon lange vor der Zeit B a c h m a n n s eine Funkzen- irale und vielleicht zwei Dutzend mehr oder weniger aus- gebildete Funker. Diese waren aber k a u m integriert und abhängig von der Technischen Sektion des damaligen Stabs der Gruppe für Generalstabsdienste, einein EMD-Dienst, unter dem sich k a u m jemand etwas vorstellen konnte: Die- se Abteilung unterhielt unter anderem jahrzehntelang eine technische Funkverbindung mit den Engländern; sie stamm- te möglicherweise bereits aus dem Zweiten Weltkrieg. A u c h w e n n 1979 in keiner Weise von einer operativen Bereitschaft der Vorgängerorganisation gesprochen wer- den konnte, so gab es doch eine Liste mit mehreren hun- dert Personen, vielleicht auch mehr, die den einen oder anderen G r u n d k u r s in konspirativem Verhalten besucht hatten u n d für die beiden Organisationen als Mitarbeiter in Frage k a m e n . Diese Leute w u r d e n z u m Teil noch zu Zeiten B a c h m a n n s systematisch überprüft u n d auf ihre Tauglichkeit für die beiden neuen Projekte abgeklopft. Insgesamt ü b e r n a h m Cattelan für seine P-26 schliesslich etwa 60 Personen, darunter zahlreiche Instruktoren und Angehörige des bisherigen Führungsstabs. U n d natürlich etliches Material wie Funkgeräte.
  200. WIDERSTANDSGEDANKEN Rico las. A u c h die Schriften von M a o Tse Tung. Dessen (auch in Geheimdienstkreisen) b e r ü h m t e r Satz «Der Wi- derstandskämpfer muss sich in der Bevölkerung bewegen k ö n n e n wie der Fisch im Wasser» b e e i n d r u c k t e i h n be- sonders. Es gibt zwischen einer Widerstandsorganisation und der Besatzungsmacht ein Ringen um Einfluss auf die schweigende Mehrheit - die schweigende Mehrheit ist bei
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  204. M a o das Wasser. Anders ausgedrückt: D e r Widerstand gegen die Besatzungsmacht mitsamt ihren Helfern u n d Kollaborateuren muss einen höchstmöglichen G r a d an A k z e p t a n z in der Bevölkerung erreichen. Darunter darf m a n sich indessen nicht ein aktives Mitwirken der Bevöl- kerung vorstellen, sondern realistischerweise nicht viel mehr als eine Art aktives Dulden. Beispiele dafür gibt es aus der Zeit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zur Genü- ge. Was darüber hinausginge, wäre wohl wünschenswert, aber nicht mehr kalkulierbar, überlegte Rico. Er zog daraus den Schluss: Widerstand k a n n nicht elitär, sondern nur im Einklang mit dem Grossteil der Bevölke- ru ng aufgebaut und mit Aussicht auf Erfolg geführt werden. Nicht aus einem Réduit heraus, sondern eben inmitten der Bevölkerung. Daraus folgte ein weiterer Kernsatz Ricos: Wi- derstand ist primär nicht ein militärisches Problem, sondern eine politische Aufgabe. Dabei können militärische und politische Fragen nicht fein säuberlich getrennt, chrono- logisch aufeinander folgend betrachtet und gelöst werden. Vielmehr liegt hier eine Einheit vor mit eindeutiger Priorität bei der Politik. Rico zitiert Vietcong-General Giap nach der Schlacht um Dien-Bien-Phu: «Die Überlegenheit des Viet- cong begründet sich damit, dass seine Strategie und Taktik eine Synthese von politischer und militärischer Strategie zugrunde liegt. Dieser mentale Unterschied ist die Basis der Überlegenheit über das französische Expeditionskorps.» Im Verständnis schweizerischer Widerstandsgedanken war immer unbestritten: Widerstand k a n n nicht der Er- satz für die militärische Landesverteidigung sein, son- dern beginnt sofort n a c h d e m das L a n d besetzt wurde. Das Fernziel besteht in der Befreiung des Landes und in der Wiederherstellung der selbstbestimmten freiheitlich- demokratischen O r d n u n g . Im Jahr 1969 hatte es die eid-
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  208. genossische «Studienkommission für strategische Fragen» unter der Leitung von Professor Karl Schmid so formuliert: «Wenn der militärische Abwehrkampf abgebrochen werden muss, dann kann der Wille zur Selbständigkeit sich nur noch in der Form des Widerstandes gegen die Besatzungsmacht auswirken. Diese Willensäusserung hat mehr als symbolische Bedeutung. Auch für den Fall, dass die Befreiung von fremder Herrschaft nur noch mit Hilfe dritter Mächte möglich scheint, hängt für die spätere Stellung unseres Staates sehr viel davon ab, dass wir uns über einen Beitrag zu dieser Befreiung ausweisen können. Der tatsächliche Erfolg des Widerstandes ermisst sich möglicherweise weniger am Ausmass des Schadens, der dem Gegner zugefügt worden ist, als daran, dass die Welt erfährt und erfahren hat: Diese Nation hat sich nicht aufgegeben.»
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  210. Und weiter: «Die Bevölkerung eines besetzten Landes ist in hohem Masse der Gefahr geistiger und moralischer Zermürbung ausgesetzt. Nichts vermag diesen Zerfall so sehr zu beschleunigen wie das passive Erdulden des Unheils. Der Widerstand kann dieser Gefahr entge- genwirken, indem er noch vorhandene Kräfte aktiviert und auf ein gemeinsames Ziel ausrichtet.»
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  212. Hin Zitat, das Efrem Cattelan sich immer wieder vor Augen hielt. Für ihn war klar: Die psychologische K a m p f f ü h r u n g musste im Vordergrund stehen. « O h n e das entsprechende innere Engagement fehlen die psychische Voraussetzung und die Kraft zum Handeln aus innerer Überzeugung. [...] Widerstand ist also ein strategisches Mittel in der H a n d der politischen Führung, wenn auch die schwierigste und letzte Aufgabe.»
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  217. RICOS SZENARIEN N a c h der E r n e n n u n g Cattelans im Herbst 1979 begann die A r m e e f ü h r u n g im Einvernehmen mit dem damaligen EMD-Vorsteher, Bundesrat Georges-André Chevallaz, mit der Erarbeitung eines neuen Widerstandskonzepts für den Fal l einer Besetzung. Am 7. September 1981 erliess der neue Generalstabschef Jörg Zumstein ein G r u n d l a g e n d o k u m e n t zur Widerstandsvorbereitung, das sich auf den bundesrät- lichen Sicherheitsbericht von 1973 abstützte. «Endziel des Widerstandes», heisst es darin, «ist die Wiederherstellung der schweizerischen Souveränität in rechtsstaatlicher Frei- heit in den heutigen Grenzen.» Der neu zu strukturieren- den P-26 erteilte Z u m s t e i n folgende Aufträge: «-Planung und Vorbereitung der Führung, des Einsatzes, der Ausrüstung und der logistischen Unterstützung der Wider- standsorganisation;
  218. - Rekrutierung und Ausbildung einer Kaderorganisation ergänzt durch Fachspezialisten; - Sicherstellung von Schutz und Kontinuität der Widerstands- organisation; - Aktivieren des Widerstandes im feindbesetzten Gebiet auf Befehle, - Führen des Widerstandes auf Befehl, allenfalls aus dem Ausland.»
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  220. Der Widerstand sollte gemäss Zumsteins D o k u m e n t «die ßesatzungsmacht verunsichern, den Widerstandswillen der B e v ö l k e r u n g stärken u n d die K o l l a b o r a t i o n unter- binden». D a z u war der P-26 aufgetragen, den gewaltsamen Widerstand zu führen u n d den gewaltlosen Widerstand zu lenken u n d zu unterstützen. D o c h Z u m s t e i n s Grundla- genpapier sei damals weder dem E M D - C h e f noch dem Ge- samtbundesrat zur Kenntnis gebracht worden, monierte die P U K E M D später; auch mit allen folgenden grundlegenden
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  224. I 'a pieren zur P-26 seien weder der Vorsteher des E M D noch iler Gesamtbundesrat bedient worden. Dem widersprach danach Bundesrat Georges-André Chevallaz, der ab 1980 direkt in die Reorganisation der P-26 involviert war (siehe Seite 282f.). Die sehr weitgehende Geheimhaltung war ein wesentlicher Teil der später im PUK-Bericht formulierten, scharfen Kritik. Cattelans G r u n d k o n z e p t i o n vom April 1982, deren Kern- teile die P U K E M D damals öffentlich machte, basierte auf diesen Leitlinien des Generalstabschefs Zumstein. D a z u gehörten auch Überlegungen zu möglichen Entwicklun- gen (Szenarien), bei denen die Widerstandsorganisation ganz oder teilweise z u m Einsatz kommen sollte. Es gehör- te zur Auftragsanalyse, für alle möglichen Entwicklungen gewappnet zu sein. Cattelan formulierte in seinem eben- falls streng geheimen D o k u m e n t folgende Szenarien: «1. Fall Durchmarsch: Dieser führt zu einer Teilbesetzung des Landes. Das Ziel dieser Aktion gilt nicht primär der Eroberung der Schweiz.
  225. 2. Fall Einfall: Dieser führt vorerst zu einer Teilbesetzung. Das Ziel aber ist die Eroberung des Landes. Wird es erreicht, so tritt der dritte Fall ein. 3. Besetzung: In diesem Falle würde die Schweiz militärisch erobert und besetzt. Ob sie anschliessend in ihren heutigen Gren- zen bestehen bleibt oder ob sie z. B. nach Sprachen und Kulturen den entsprechend grösseren europäischen Regionen zugeteilt wird, liegt in der Hand der Besetzungsmacht. Sollte das eintreten, so erlischt Zielsetzung und Auftrag an die Widerstandsorganisation nicht. Sie können höchstens dadurch erschwert werden.
  226. 4. Umsturz: Als letzter Fall erscheint der innere Umsturz durch Erpressung, Unterwanderung und/oder dergleichen mög- lich. Auch in diesem Fall ist das Ziel eine Besetzung der ganzen Schweiz [...]».
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  231. W ä h r e n d die drei ersten Szenarien auch den späteren Kriti- kern einleuchteten, löste das Szenario «Umsturz» nach der Veröffentlichung des PUIC-Berichts 1990 einen politischen Aufschrei aus: Die P U K E M D äusserte den Verdacht, die P-26 könnte auch von sich aus aktiv werden, gegen die politi- schen Behörden. In der Politik u n d in der breiten Öffentlich- keit mutierte dieser Verdacht umgehend zur «Putschgefahr». Es war vielleicht das grösste der vielen Missverständnisse im PUK-Bericht und in dessen W a h r n e h m u n g in der schweize- rischen Öffentlichkeit (siehe Seiten 158/273). Im April 1982 genehmigte der Generalstabschef die von Rico vorgelegte G r u n d k o n z e p t i o n . D a m i t war die Basis gelegt für Rekrutierung, A u s b i l d u n g und Materialbeschaf- f u n g für den Widerstand im Besatzungsfall. Die Organi- sation w u r d e im Gegensatz zu B a c h m a n n s Spezialdienst, der in der U N A angesiedelt gewesen war, aus der Verwal- t u n g ausgegl iedert, aber auch nicht als Teil der A r m e e kon- zipiert. Was genau ihr Status war, darüber w u r d e später unter dem Titel «P-26 ausserhalb jeder Kontrolle» erbittert gestritten.
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  234. N a c h den wolkigen Vorstellungen von Ricos Vorgängern B a c h m a n n u n d Moser hätten die auf die ganze Schweiz verteilten einzelnen Mitglieder der Widerstandsorganisa- tion im Ernstfall zu G r u p p e n z u s a m m e n g e f ü h r t werden sollen. C a t t e l a n : « D a s k a n n u n m ö g l i c h f u n k t i o n i e r e n . Da riskieren wir, dass zwei Leute aufeinandertreffen, die sich nicht riechen k ö n n e n , bei denen die C h e m i e nicht s t i m m t oder die schon lange verkracht sind. D a s ist der Kern des Scheiterns. D e s h a l b k a m ich auf die Idee der
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  238. K leingruppe, die man von Anfang an zusammenschweisst, deren Mitglieder sich gegenseitig kennen und die wissen, dass sie sich in jedem Fall aufeinander verlassen können. Zweitens: W i r müssen wissen, wo wir überhaupt etwas inachen wollen. Drittens müssen wir wissen, welche Spe- zialitäten u n d Spezialisten wir benötigen. Viertens müssen wir wissen, welche grundsätzlichen Voraussetzungen - charakterlich, persönlich - ein Kandidat mitbringen u n d über welche Fähigkeiten er für die vorgesehene Spezialität verfügen muss. Fünftens: Wir bestimmen selber, wo wer mit welcher Eigenschaft zu suchen ist, und überlassen es nicht dem Zufall, dass er uns jemanden bringt, der total in der Luft hängt. So ist die G r u n d k o n z e p t i o n entstanden.» Während seiner Lektüre erkannte Cattelan bald: Es gibt im Grunde nicht viele Möglichkeiten, eine Widerstandsor- ganisation und ihre einzelnen Gruppen zu strukturieren, jede Art von Widerstandsgruppe, soll sie wirkungsvoll arbeiten k ö n n e n , benötigt im Kern dieselben Elemente: «Verbindung nach oben, Verbindung innerhalb der Grup- pe (nicht über Funk), Nachrichten, Propaganda, Orga- nisation z u m Transport von Menschen, Meldungen u n d Material (<3M>) u n d , w e n n nötig, einen <Hammer>, also Gcnieleute mit ihren Sprengsätzen.» Das führte sozusa- gen automatisch zur personellen Zusammensetzung einer l Irzelle, die im Fall der P-26 «Widerstandsregion» genannt wurde: «Regionschef, Nachrichtenchef, Propagandachef, <SM>-Chef, Geniechef, angehängt als Einzelperson der Funker. Diese G r u n d s t r u k t u r ist nicht geheim, vielmehr findet sie sich in analogen Organisationen überall auf der Welt in sehr ähnlicher Form.» «Die Verbindungen zwischen den Führungsstäben u n d der politischen F ü h r u n g einerseits und den Widerstands- gi'iippen andererseits erfolgen im Ernstfall über Funk.
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  242. D i e G r u p p e n , Führungsstäbe u n d die politische F ü h r u n g benötigen N a c h r i c h t e n zur Beurteilung der Lage. Koor- diniert m i t den Mitteln der Information u n d Propaganda w i r d der psychologische K a m p f geführt, um den Wider- standswillen in der Bevölkerung zu stärken. Meldungen, Material, eventuell auch Menschen müssen transportiert werden k ö n n e n . Erst in einer späteren Phase der Beset- z u n g k o m m t gewaltsamer Widerstand, das heisst gezielte Sabotage, in Frage, d e n n Sabotage zieht Repressionen ge- genüber der eigenen Bevölkerung n a c h sich u n d birgt die Gefahr, k o n t r a p r o d u k t i v zu wirken.» So beschreibt Rico den Kerngehalt der P-26.
  243. REGIONEN UND KLEINGRUPPEN (URZELLEN) D e r zentrale P u n k t von Cattelans G r u n d k o n z e p t i o n be- stand darin, dass die P-26 nie als operative Einheit ange- legt war. Vielmehr bestand die Kaderorganisation aus r u n d 80 sogenannten Widerstandsregionen im Sinne von Urzel- len, die schachbrettartig über die ganze Schweiz verteilt w a r e n , sich gegenseitig nicht k a n n t e n u n d die keinerlei Verbindungen u ntereinander besassen. Mitglieder der ein- zelnen Regionen oder Urzellen w u r d e n nach dem Wohn- o r t s p r i n z i p rekrutiert. Jede Region arbeitete a u t o n o m , koordiniert durch den Führungsstab. Selbst die einzelne Region, bestehend aus etwa sechs bis zehn Leuten, bilde- te keine Einheit, sondern zerfiel in Kleingruppen. Solche Klein- oder Kleinstgruppen waren etwa der Regionschef u n d sein Funker, die Nachrichten- u n d Propagandaleu- te, die Geniespezialisten. U n d sie mussten sorgfältig von- einander abgeschottet sein: So k a m der Funker einer Re- gion nie mit dem Geniespezialisten, der Transportchef nie mit den Nachrichtenleuten in B e r ü h r u n g . N u r i n n e r h a l b der K l e i n g r u p p e k a n n t e m a n sich gegenseitig; der Chef
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  247. der Kleingruppe k a n n t e n u r seinen direkten Vorgesetz- len, der w i e d e r u m einer anderen Kleingruppe angehörte. Selbst der Chef einer Region k a n n t e nicht unbedingt alle «seine» Mitglieder, sondern lediglich seine Direktunter- stellten, also die Chefs der verschiedenen Kleinstgruppen. D e n übrigen Mitgliedern waren jeweils nur der direkte Vorgesetzte u n d ganz wenige weitere Personen bekannt, das heisst, sie k a n n t e n je nach F u n k t i o n ein bis höchstens drei oder vier weitere Mitglieder. Entscheidender Vorteil dieser Abschottung in Kleingrup- pen w a r natürlich die Risikobegrenzung für den Fall, dass ein Mitglied von der Besatzungsmacht festgenommen werden würde: D i e Organisation wäre d a n k den sehr be- schränkten personellen u n d materiellen Kenntnissen des Einzelnen nicht in ihrem Kern gefährdet gewesen, u n d man hätte den Verhafteten (und vermutlich Gefolterten) beziehungsweise eine ganze Kleingruppe oder Region aus den personellen Reserven sofort ersetzen k ö n n e n . Dieses Hydra-Prinzip war eine der grossen Stärken von Catte- lans G r u n d k o n z e p t i o n : jede «aktive» Widerstandsregion hesass ein A b b i l d in Form einer «schlafenden» Region. I nsgesamt w u r d e n auf dieser Basis r u n d 40 Widerstands- regionen aufgebaut - jede mit jeweils einem Abbild. Also insgesamt deren 80.
  248. DAS HYDRA-SYSTEM Iti der S c h u l e h a b e n w i r gelernt, w a s die H y d r a ist, je- nes neunköpfige schlangenähnliche Ungeheuer der grie- chischen Mythologie, m i t welchem Herakles sich tapfer herumschlug: W e n n der H y d r a ein K o p f abgehauen w i r d , wachsen sofort zwei neue n a c h . Ii reo: «Hydra-Prinzip heisst in unserem Fall nichts ande- res als abgeschottete personelle Reserven». D a s bedeutet:
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  252. W e n n ein P-26-Mitglied das Leben verliert oder aber seine Aktivität einstellen muss, weil die Lage zu brenzlig wird, soll gleich der Nächste eingesetzt werden können.» Gern räumt Rico ein, dass diese Idee nicht auf seinem Mist ge- wachsen ist: «Ich habe damals eine kurze Notiz über die polnische Gewerkschaft Solidarnosc gelesen, in der das Hydra-Prinzip beschrieben wurde. Das ist alles.» Was als Prinzip einfach tönt, w a r im Fall der P-26 viel komplizierter u n d ganz schön raffiniert: «jede Wider- standsregion der P-26 bestand aus einer <aktiven> und einer <schlafenden> Region. Der Chef der aktiven Region wusste nichts davon, dass es eine <schlafende> Parallel-Region gab: Hätte er es gewusst, wäre das für die Schläfer viel zu gefähr- lich gewesen. Der Chef der <schlafenden> Region hingegen wa r darüber im Bild, dass es eine aktive Region gab und er mit seinen Leuten diese < Aktivem im Fall ihrer Ausschaltung er- setzt hätte; so viel musste er natürlich wissen. Die Feldleute beider Regionen hingegen wussten gar nichts voneinander, und noch viel weniger hatten sie Kenntnis davon, dass es das Hydra-System gab. Nicht einmal die verschiedenen Ak- tions- und Geniegruppen innerhalb ein und derselben Wi- derstandsregion durften sich gegenseitig kennen. Wir muss- ten auch dafür sorgen, dass die Chefs der beiden Regionen nie bei einer Ausbildung aufeinandertrafen {in einem Fall ist es allerdings trotz allen Vorsichtsmassnahmen doch pas- siert). Natürlich mussten beide Regionen über je einen Fun- ker verfügen, deshalb benötigten wir so viele Funkgeräte. Wäre eine ganze aktive Widerstandsregion ausgefallen, hätten wir auch aus dem ausländischen Exil über Funk so- fort die schlafende Region aktivieren können. Das hätte der Besatzungsmacht u n d der Bevölkerung gezeigt, dass der Widerstand trotz Zerschlagung einer oder einer Reihe von Gruppen weitergeht.»
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  256. I )us blieb Theorie. «Natürlich kamen wir bis zur Enttarnung nicht mehr dazu, solche Sachen zu üben. Überhaupt waren die schwierigsten Themen erst in den Köpfen der Führungs- sliibe vorhanden, vor allem desjenigen, der im Ernstfall rechtzeitig hätte ins Ausland verschwinden müssen.» Die G r u n d k o n z e p t i o n der P-26 sah einen Bestand von etwa 800 Mitgliedern vor. Bei ihrer A u f l ö s u n g im Jahr 1990 waren gemäss Cattelan etwa 400 Leute rekrutiert und teilweise oder g a n z ausgebildet in ihren jeweiligen Aufgaben. Z u m Z e i t p u n k t der E n t t a r n u n g war der Auf- bau der Organisation i m m e r n o c h im G a n g , die einzelnen Widerstandsregionen befanden sich in unterschiedlichem Ausbaustand. Im Endausbau der P-26 wäre der ganze vor- gesehene Personalbestand vollständig ausgebildet gewe- sen. Rico: «Der schwierigste Schritt bestand jeweils da- rin, den Regionschef zu finden. Da gab es [zwischen den regionalen G r u p p e n , A n m . d. Verf.] leicht Differenzen von drei oder vier Jahren. W e n n ein Regionschef um Jahre spä- ter a n f i n g als ein anderer, k a m es natürlich zu enormen Unterschieden.»
  257. DIE GRUNDSTRUKTUR DER WIDERSTANDSREGIONEN G r u n d s ä t z l i c h existierten in der P-26 zwei Typen von Wi- derstandsregionen: die sogenannten Schlüsselregionen und alle übrigen Regionen. Rico: «Wir wollten in wirt- schaftlich, politisch und verkehrsmässig wichtigen Regio- nen eine möglichst ausgebaute Kaderorganisation haben. Insgesamt bezeichneten wir nur ein knappes halbes Dut- zend solcher Schlüsselregionen. Alle anderen waren we- it iger stark bestückt. D a s hatte mit dem Bestandesproblem zu t u n : Ich wollte auf keinen Fall auf mehr als 800 Leute k o m m e n - es war schon schwierig genug, bis zu 800 zu rekrutieren. Aus dem gleichen G r u n d k o n n t e n wir auch
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  261. die <schlafende> Schlüsselregion nur reduziert bestücken, sie war also keine vollständige Kopie.» Die aktiven Schlüsselregionen im Zustand ihres Endaus- baus in Friedenszeiten hätten über je vier Aktions- und vier Geniegruppen verfügt. Die Struktur der Aktionsgrup- pen hatte Rico bewusst gewählt: «Nachrichten und psy- chologische Kriegführung - das sind Leute an der Front, die ich nicht unbedingt immer dem Regionschef unterstellt haben wollte. Auch dies hat mit Hydra zu tun. Mit dieser Struktur konnte die Aktionsgruppe im Rahmen des Auf- trags selbständig handeln, ohne dass der Chef der Wider- standsregion immer direkt involviert war.» «Wie gesagt kannte man sich auch in derselben Region gemäss Abschottungsprinzip nur innerhalb derselben Ak- tions- oder Geniegruppe; gegenseitig wussten diese Grup- pen nichts voneinander. Im Einsatz wäre zuerst jeweils nur eine Aktions- und eine Geniegruppe aktiv geworden; die anderen drei wären im Ernstfall zwangsläufig zu (Schlä- fern) geworden und erst bei Gefährdung oder Ausfall der aktiven Gruppe zum Einsatz gelangt. Doch auch über diesen Teil des Konzepts wussten die einzelnen Feldleute nichts.» Fazit: - Die aktive Schlüsselregion bildete einen Sonderfall und war bestückt mit je vier Aktions- und Geniegrup- pen. Die Aktionsgruppe bestand aus dem Gruppenchef, einem Nachrichtenmann und einem Spezialisten für psychologische Kriegführung. - Die Geniegruppe hatte neben dem Gruppenchef zwei bis höchstens vier Mitglieder. - A l l e anderen Widerstandsregionen waren identisch und reduziert bestückt mit je nur einer Aktions- und einer Geniegruppe. Dieselbe Struktur hatten auch alle «schlafenden» Regionen.
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  265. DER EINSAME FUNKER Für jede Region galt es, rechtzeitig in Friedenszeiten jene Fachspezialisten zu rekrutieren, deren A u s b i l d u n g unter Besatzungsbedingungen nicht oder k a u m mehr möglich gewesen wäre: F u n k e r u n d Genisten. Rico: «Unter Besat- zungsbedingungen k a n n es keine wirkungsvolle Funkaus- b i l d u n g geben, u n d Sabotageausbildung ist nur in sehr be- s c h r ä n k t e m U m f a n g möglich. So w u r d e n etwa im Zweiten Weltkrieg F u n k e r eingeflogen oder sprangen mit dem Fall- schirm ab. Sie blieben Fremde u n d mussten entsprechend gedeckt werden.» So etwas k a m nicht in Frage. Der Funker n a h m einen besonderen Platz in der Wider- standsregion ein. Seine A u s b i l d u n g erfolgte i m m e r in- dividuell, nie in G r u p p e n ; der I n s t r u k t o r aus dem Füh- rungsstab k a m nicht selten zu i h m nach Hause. Die Rolle des Funkers der Region definierte Rico anders als seine Vorgänger, u n d z w a r aus Sicherheitsgründen; « Z u r Zeit B a c h m a n n s gab es Funker und Chiffreure. Vorteile: Der Funker war ein ausgewiesener F a c h m a n n , der Chiffreur ebenfalls. Nachteil: Der Chiffreur k a n n t e die gesamte Tä- tigkeit der Widerstandsgruppe u n d die Verbindungen z u m Führungsstab. W e n n diese Schlüsselfigur erwischt wurde, d a n n G n a d e G o t t den anderen Mitgliedern der Region. Deshalb h a b e n w i r das anders organisiert u n d alle Chefs der Regionen im Chiffrieren u n d Dechiffrieren ausge- bildet. D a m i t vermieden wir eine heikle A n h ä u f u n g von Wissen. A u c h wusste der F u n k e r nur, was i h n persönlich anging. Nachteil: W i r hatten n i c h t so speziell gewandte Leute im Chriffrieren u n d Dechiffrieren. Es gibt eben im- mer Vor- u n d Nachteile. Ich entschied m i c h aus Sicher- heitsgründen für diese Variante.»
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  270. DIE STRUKTUR DES FÜHRUNGSSTABS l ; iir die Leitung der Organisation in Friedenszeiten schuf Uico einen den Bedürfnissen angepassten Führungsstab, gegliedert in einen Dienst- u n d einen Ausbildungsteil. Bei seiner Auflösung rekrutierten sich rund zwei Drittel des Führungsstabs aus Bundesbeamten und Instruktoren des l '.MD. Die Mitglieder der Führungsstäbe bildeten gleichzei- lig auch das Ausbildungspersonal: Sie waren die einzigen militärischen u n d fachlichen Profis in der Organisation, die überdies in verschiedenen Ausbildungskursen in Gross- britannien von der Erfahrung der Briten profitieren konnten (siehe Seite 116). Vom E M D geheim abkommandiert waren neun Instruktoren (zwei Offiziere, sieben Unteroffiziere) sowie drei Bundesbeamte aus den Bereichen Verwaltung, Personal und Sicherheit. D a z u kamen Milizmitglieder der l ; iihrungsstäbe als Fachspezialisten im Nachrichtendienst, in psychologischer K r i e g f ü h r u n g (Propagandaaktionen), für den Kurierdienst u n d für medizinische Belange. Die Stabsmitglieder stellten die Verbindung zwischen Rico und den Regionschefs sicher, zusätzlich bestand für die Feld- mitglieder eine geheime telefonische N o t r u f n u m m e r . Für die F ü h r u n g und Koordination im Besetzungsfall hin- gegen sah Rico zwei identische Führungsstäbe vor: «Der erste führt so lange als möglich von ortsfesten Anlagen in unbesetzten Teilen der Schweiz aus. Der zweite hält sich bereit, im Ausland einen Standort zu beziehen, und zwar dort, wo es die legitime politische F ü h r u n g als zweckmäs- sig u n d möglich erachtet.» D a r u m gab es lediglich interne organisatorische u n d ausrüstungsmässige Vorbereitun- gen für ein allfälliges Exil der Landesbehörden zu treffen. «Geografische Vorbereitungen im A u s l a n d w a r e n über- flüssig», erklärt Rico. Er wollte in keiner Weise in die Ent- scheidungskompetenz des Bundesrats eingreifen. Mit ande-
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  274. ren Worten: Dem P-26-Chef wäre es ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger Bachmann nie eingefallen, irgendwo im Ausland unter grösster Geheimhaltung eine Liegenschaft aufzuspüren und speziell für den Bundesrat herzurichten. Hingegen sorgte Rico, wie wir noch sehen werden, für erst- klassige Funkmittel, die auch für den Exilführungsstab von zentraler Bedeutung gewesen wären. Der Führungsstab bildete am ehesten noch das Scharnier zur Vorgängerorganisation: Ein Teil der Stabsleute hat- ten ihre Funktion schon im «Spezialdienst» unter Oberst Bachmann inne. Jene Personen, die Rico in seinem neuen Führungsstab versammelte, waren ihm meist keine Unbe- kannten: «Die Milizleute im Führungsstab kannte ich alle von früher her persönlich, zufällig kannte ich aus dem Mi- litär aber auch einzelne Berufsinstruktoren persönlich. Die Unteroffiziere im Stab hingegen kannte ich vorher nicht.» So wie die Ausbildung von Fachspezialisten war in Frie- denszeiten auch die Beschaffung von jenem Material er- forderlich, das unter Besatzungsbedingungen nicht oder kaum zu beschaffen war: Funkgeräte, Karten, Feldstecher, Waffen, Munition, Goldplättchen, Sanitätsmaterial und an- deres. Alles wurde in einigen zentralen Depots eingelagert, deren Standorte nur wenigen Personen bekannt waren und zu denen die P-26-Mitglieder keinen Zugang hatten (siehe Seite 98f.). Diese Versorgungsgüter wären im Einsatzfall auf Befehl des General stabschefs in die Regionen dezent- ralisiert worden. Alles war bis ins Detail vorbereitet.
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  277. Die grosse Herausforderung für die P-26 war es, in Friedens- zeiten Menschen mit normalem Familien- und Berufsleben
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  283. in geheimen Widerstandsaktivitäten auszubilden, ohne dass deren Umfeld auch nur das Geringste davon bemerkte. Dass die mehrere Jahre dauernde Ausbildung unentdeckt ablaufen konnte, war für den Erfolg der ganzen Organisation entscheidend. Die wichtigsten Voraussetzungen für eine Er- folg versprechende Arbeit waren deshalb die Beherrschung der Regeln konspirativen Verhaltens und striktes Beachten der Geheimhaltung. Was aber bedeutet richtiges konspiratives Verhalten? Rico: «Nichts anderes als das Einbetten von geheimen Aktivitäten in das normale Leben eines unauffälligen Durchschnitts- bürgers.» Und dies musste zwingend mit einfachsten Mitteln bewerkstelligt werden - da gab es rein gar nichts von all dem, was wir aus Bond-Filmen kennen. Das ist, fügt Rico an, im Übrigen auch bei professionellen Agenten nicht anders, wie Enttarnungen von Agenten u n d Spionen irgendwo in der Welt jeweils erkennen lassen: Selbst die Profis benützen bis heute zum Teil dieselben simplen Methoden, die auch den Mitgliedern der P-26 beigebracht wurden und die man da und dort sogar schon bei den Pfadfindern lernen kann! Z u m Bei- spiel der Umgang mit toten Briefkästen oder das Schreiben mit unsichtbarer Tinte. Erzählen ehemalige P-26-Mitglie- der von ihrer Tätigkeit, neigt der Zuhörer deshalb bisweilen zum Schmunzeln. Dass in ihrem konspirativen Verhalten teilweise auch «Pfadi-Methoden» angewandt wurden, wird durchaus nicht in Abrede gestellt, aber: Einfach bedeutet keineswegs schlecht oder lachhaft. Profiagenten oder po- lizeilich gejagte Mafiabosse in ihren Verstecken arbeiten häufig ähnlich, selbst im Zeitalter von Handy und Internet: Einzig ein sorgfältig bewirtschafteter toter Briefkasten ist wirklich vor Hackern sicher. Die P-26-Leute mussten ler- nen, für die psychologische Kriegführung im Besetzungsfall mit einfachsten Mitteln und Methoden auszukommen.
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  287. Wichtige Voraussetzung für ein unauffälliges Einbetten der geheimen Tätigkeit in den Alltag bildete das Wohn- nrtsprinzip, die Ortsansässigkeit: Jedes Mitglied sollte in jener Gegend aktiv sein, die es gut kannte. Man darf sich die Ausbildung der P-26-Mitglieder nicht wie einen militärischen Wiederholungskurs vorstellen. Sie erfolgte dezentral in mehrtägigen Kursen, in der Regel mehrmals jährlich, einzeln oder in kleinen Gruppen, und man trug natürlich Zivilkleidung, Niemals traf sich eine grössere Gruppe von P-26-Angehörigen am selben Ort, das wäre viel zu riskant gewesen. Es gab folgende Kursarten: drei Einstiegskurse mit E i n f ü h r u n g e n in das Projekt 26 und Ausbildung in konspirativem Verhalten; drei bis sechs lachkurse für die Spezialisten im Nachrichtendienst, in psychologischer K a m p f f ü h r u n g , Sabotage, Kurierdienst und Kurzwellenfunk; drei Chefkurse in Führungsaufga- ben und Führungstechnik; Verbandsausbildung, das heisst ei no rund einwöchige Zusammenarbeit innerhalb einer Re- gion, eingebettet in den normalen Lebensrhythmus. Auch die Aufgebote zu solchen Kursen darf m a n sich nicht militärisch vorstellen. Die Ausbildner konnten nicht frei über die Zeit ihrer Leute verfügen, denn die Mitglieder al- lein kannten ja ihre zeitliche Verfügbarkeit und die indi- viduellen Möglichkeiten, ihre Abwesenheiten jeweils mit sogenannten «PGs» zu tarnen. «PG» stand für «Plausibel- (ieschichten», die für konspiratives Verhalten eine grosse Holle spielen und im Hinblick auf alle erdenklichen Situa- lionen vorbereitet werden mussten. I >em Mitglied wurde jeweils eine Reihe von Kursdaten ange- holen, unter denen es das geeignete wählen oder neue Ter- mine vorschlagen konnte. War das «Einrücken» fällig, so tarnte jeder nach seinen individuellen Möglichkeiten seine Abwesenheit: Der eine besuchte angeblich eine berufliche
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  291. Weiterbildung oder einen Trainingskurs, der andere gab eine mehrtägige Geschäftsreise im Land an, ein anderer nutzte vielleicht seine zivile Position als Kursleiter in einem Be- trieb. Wer noch militärdienstpflichtig war, dem wurde auf Wunsch eine Soldmeldekarte ausgefüllt, so konnte er für einige Tage «normal» einrücken, und der Arbeitgeber er- hielt die Lohnausfallentschädigung. Dieses Vorgehen war mit dem damaligen Oberkriegskommissariat (OKK) im Mi- litärdepartement abgesprochen. Für jeden Kurstag erhielt das Mitglied 100 Franken bar auf die H a n d , dazu gab es eine Spesenentschädigung für das Bahnbillet Erster Klasse, die Hotelübernachtung und das Essen, falls die Ausbildung ausserhalb einer militäri- schen Anlage stattfand. Auch die Spesenordnung war mit dem O K K abgesprochen, in welchem aber nur ganz wenige Personen über die wahre Natur dieser Dienstleistungen im Bild waren. Der jeweilige Instruktor des Führungsstabs war in der Regel für die A u s z a h l u n g des «Soldes» nach Kursende zuständig u n d quittierte die Checks jeweils mit seinem D e c k n a m e n . Vom Normalfall einer militärischen oder zivilen Ausbil- dung unterschied sich die P-26-Ausbildung am deutlichs- ten im Bereich der Sicherheit, jeder Armeeangehörige ist ein Fachmann, weiss über Militaría Bescheid, m a n un- terhält sich im Dienst und im Ausgang darüber. So etwas kam in einer klandestinen Organisation niemals in Frage: Immer u n d überall galt der Grundsatz: «Wissen, nur was unbedingt nötig ist» («need to know»). Dass die P-26 den Widerstand vorbereitete, wussten selbstverständlich alle Mitglieder, aber über die eigene Aufgabe hinaus nicht sehr viel mehr. Das «Wer, Wo, Womit u n d Wozu», mithin das Wissen über die Strategie und Struktur der P-26, musste auch vor den eigenen Mitgliedern geheim bleiben, sollte
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  295. diu Widerstandsorganisation im Fall einer Besetzung der Schweiz auch nur für kurze Zeit unentdeckt bleiben. Seinen ersten E i n f ü h r u n g s k u r s absolvierte jedes P-26- Mitglied grundsätzlich allein in einer geheimen Anlage. I )er Absolvent arbeitete, ass u n d schlief in einem Zimmer, das er nur für den G a n g zur Toilette oder zum Duschen verlassen durfte. In diesem Fall wurde der G a n g für ihn freigehalten. Bewegte er sich hingegen im Hauptgang der Anlage, etwa z u m Verstecken eines toten Briefkastens, dann hatte er das Gesicht mit einer Gesichtsmaske, ähn- lich dem berühmten «Kopfpariser» der Armee, zu verhül- len. Bei der Organisation von Gruppenunterricht musste die Verwaltung im Führungsstab sorgsam darauf achten, dass keine Leute aufeinandertrafen, die sich nicht erken- nen durften. W e n n zwei Kurse gleichzeitig in derselben Anlage stattfanden, trugen die Teilnehmer im Hauptgang ebenfalls «Kopfpariser», damit sie sich nicht gegenseitig offen zu sehen bekamen; auch die Instruktoren brauchten die Gesichter aus dem jeweils anderen Kurs nicht zu se- hen. Rico; «Es ist meines Wissens nie vorgekommen, dass zwei Leute aufeinandertrafen, die sich kannten. Für die Administration im Führungsstab war es jeweils ein gros- ses Puzzle, die Teilnehmer so z u s a m m e n z u f ü h r e n , dass wenn immer möglich nichts passieren konnte.» Die ersten drei Einführungskurse u n d die Funkausbil- dung besuchten die Teilnehmer immer alleine. Die wei- lere Ausbildung fand normalerweise in kleinen G r u p p e n statt. Sie wurde in den dafür vorgesehenen R ä u m e n einer Anlage offen absolviert, das heisst ohne Verhüllung. Die Teilnehmer arbeiteten miteinander, kannten sich aber nur per D e c k n a m e n und wussten sonst nichts voneinander, nicht einmal ihre richtigen N a m e n . Es k a m e n in diesen Gruppen jeweils Leute aus verschiedenen Gegenden der
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  299. Schweiz z u s a m m e n , m a n konnte so höchstens a n h a n d des Dialekts über die regionale Herkunft eines Kollegen spekulieren. Die G r u p p e n arbeiteten jedes M a l in anderer Z u s a m m e n s e t z u n g , die Absolventen sahen in der Regel nie dieselben Gesichter zweimal in einem Kurs. W e n n sie w ä h r e n d der mehrtägigen Kurse miteinander assen - es k a m auch vor, dass m a n ins Restaurant ging redeten sie über alles, nur nicht über persönliche Angelegenheiten, diese waren tabu. D i e Teilnehmer mussten auf der Hut sein, um während der Ausbildung nie Details aus ihrem persönlichen oder beruflichen Leben zu verraten, was gut funktioniert zu haben schien. Öfters trat Rico in den Kursen in Erscheinung, er erteilte selber regelmässig Füh- rungskurse. Zweimal bekamen die P-26-Mitglieder auch den Generalstabschef zu Gesicht, den sie natürlich kann- ten. Die Teilnehmer erhielten am Ende der Kurse aufgrund ihrer Leistungen eine Qualifikation, m a n wünschte ihnen alle Gute auf dem Lebensweg - und sah sie in der Regel nie wieder. Im besten Fall konnten die Ausbildner in G r u p p e n von zwei bis maximal vier Personen arbeiten. Sicherheit ging vor Effizienz, dies war ein bewusster Entscheid. Die Zah- len zeigen, dass die Ausbildung auch unter solchen Um- ständen möglich u n d wirkungsvoll war: 50 bis 70 neue Mit- glieder pro Jahr konnten ausgebildet werden. Die P-26 kam in ihren letzten beiden Jahren 1987-1989 auf bis zu 1300 Manntage Ausbildung jährlich, das waren drei bis vier Per- sonen täglich, verteilt über das ganze Jahr. Die Kurse dauerten in der Regel drei bis vier Tage, häufig von Freitagabend bis Sonntag. Erwartet wurde der Besuch von einem bis drei Kursen pro Jahr. Das zeigt, dass die Mit- glieder gut organisiert sein mussten, um die Abwesenhei- ten plausibel zu erklären. Insgesamt besuchte ein Mitglied
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  303. /.chn bis zwölf Kurse, das ergab 30 bis 40 Ausbildungstage, verteilt über einen Z e i t r a u m von etwa f ü n f Jahren. Somit kam jedes P-26-Mitglied im Laufe seiner Ausbildungszeit mit mehreren D u t z e n d anderen Mitgliedern in K o n t a k t , aber jeweils nur ein einziges M a l , u n d m a n k a n n t e nur Ge- sichter u n d D e c k n a m e n . D a s funktionierte ein Jahrzehnt lang ohne nennenswerte Probleme oder P a n n e n .
  304. DER SCHWEIZERHOF Die meisten Ausbildungskurse fanden im sogenannten Schweizerhof statt. Jeder in der P-26 kannte den Schwei- zerhof. Das war kein Hotel, sondern eine alte, geheime Ar- ineeanlage oberhalb von Gstaad, tief im Fels, ganz nahe an den hoch gelegenen Ferienchalets. Eine eingerichtete un- terirdische Anlage von respektabler Grösse, die nach ihrer Entdeckung in der Öffentlichkeit Furore machte und um die sich Legenden bildeten. D e n n dort oben wurde auch mit der Pistole geschossen! Bis ins Jahr 1980 hatte die P-26 noch ein Anlage aus der Epoche B a c h m a n n und davor be- nutzt: Es handelte sich um den sogenannten Alpengarten, das frühere Artilleriewerk Krattigen über dem Thunersee. Ehemalige, die schon zu jener Zeit dabei waren, berichten über den penetranten Gestank in dieser Anlage, der leicht auch in die Kleider drang u n d die Leute bisweilen zu aus- weichenden Erklärungen zwang. Die neuere Anlage ober- halb von Gstaad hatte diesen Nachteil nicht. Den Schweizerhof hatten Rico u n d seine Stabsleute aus einer ganzen Reihe von möglichen A n l a g e n ausgewählt. Der ehemalige D i v i s i o n s - K o n i m a n d o p o s t e n hatte nach dein Zweiten Weltkrieg als ABC-Labor (Atom, Biologie, Chemie) gedient u n d k o n n t e mit relativ wenig Mitteln für die Bedürfnisse der P-26 hergerichtet werden. Ein ge- I arnter H a u p t e i n g a n g am Fuss eines r u n d 15 Meter hohen
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  308. Felsvorsprungs, gesichert mit Betontüre und Stahlgitter, verbirgt die im Fels gelegene, heute noch bestehende, aber nicht mehr geheime Anlage. Die Zentralachse des Schwei- zerhofs bestand aus einem mit Spritzbeton ausgekleideten, etwa 100 Meter langen Gang. Entlang diesem waren auf beiden Seiten ein Dutzend Kammern aus dem Fels gehau- en worden, einige davon wurden in mehrere Zweierzim- mer aufgeteilt, in denen die P-26-Angehörigen schliefen und ihren Einzelunterricht absolvierten. Daneben gab es R ä u m e für den Gruppenunterricht. Der grösste R a u m der Anlage diente für Rapporte wie auch als Schiesskeller, in dem sich die Kursteilnehmer, zusätzlich zu ihrer Fachaus- bildung, im Pistolensch iesscn übten. Nach der E n t t a r n u n g der P-26 wurde der Schweizerhof im Dezember 1990 einer staunenden Medienöffentlichkeit vorgeführt. Das Echo war riesig, auch aus dem Ausland reisten Medienleute an. «Während unten im Tal, im mon- dänen Palace-Hotel, z u m Diner die Champagnergläser klirrten, peitschten weiter oben, ganz in der N ä h e von idyllisch gelegenen Ferienhäusern, Pistolenschüsse z u m Com bat kämpf. Das geschah ungehört, ungesehen und un- erkannt. Jahrelang, wie es die Einwohner und Feriengäste bislang wohl nur im K i n o erlebt hatten, wurde oberhalb von Gstaad, an der Oberbortstrasse und nicht weit vom D o r f z e n t r u m entfernt, für den totalen Widerstand im feindbesetzten Gebiet geübt. [...] Von 1983 bis im Som- mer 1990 haben hier Geheimarmisten all jene Fertigkeiten geübt, die auch ein James Bond in brenzligen Situationen gebrauchen kann. In einem mit schwarzen Vollgummiqua- dern ausgekleideten M e h r z w e c k r a u m übten die Wider- ständler zum Beispiel das reflexartige Schiessen mit der Pistole», schrieb die Basler Zeitung. Andere Schilderun- gen fielen nüchterner aus: «James B o n d wäre enttäuscht
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  312. gewesen», schrieb etwa die Schweizerische Politische Kor- respondenz (spk). «Die Besichtigung der Ausbildungsan- lage war alles andere als spektakulär: keine schiessenden Kugelschreiber, keine als Feuerzeug getarnten Flammen- werfer [...], sondern lediglich nüchterne Holztische, ein paar Stühle und EMD-Stahlrohrbetten gab's in Gstaad zu sehen.» «Aufregend war diese Besichtigung nicht», mein- te auch die Sonntags-Zeitung: «Künstliches Neonlicht er- hellt das Dunkel. Alles wirkt sehr spartanisch, die Schlaf- zimmer sind mehr Kojen als Zimmer, aber Speis und Trank ist reichlich vorhanden. Der Stollenkoller lässt griissen.» In der Tat hatten die Kurse im Schweizerhof wenig Ähn- lichkeit mit Janies-Bond-Geschichten, auch wenn, Ironie der Sache, Roger Moore zeitweise ganz in der Nähe des Schweizerhofs ein Chalet mit Schwimmbad besass. Doch der berühmte Agent hörte die Schüsse tief im Fels drin natürlich nicht. Die Teilnehmer schössen jeweils mit ei- ner Pistole, die sie an Ort und Stelle unter strengen Si- eherheitsvorkehrungen entgegennahmen und nach dem Schiessen wieder abgaben. Zu Hause besass niemand eine Waffe, abgesehen von den noch Militärdienstpflichtigen. Wer im Militärdienst weder Offizier oder höherer Unterof- fizierwar oder Sportschütze, hatte im Schweizerhof über- haupt z u m ersten M a l eine 9-Millimeter-Pistole in den Händen. Die Teilnehmer gaben ein paar Schüsse auf die Silhouette eines Mannes ab, dereine Pistole gezogen hatte und auf den Schützen zielte. Die Befehle lauteten: «ganz links», «ganz rechts», es handelte sich um sogenanntes Combat-Schiessen. Alle P-26-Mitglieder absolvierten im Schweizerhof ihren ersten Einführungskurs. Zu Beginn wurde jeder Teilneh- mer in seinem Z i m m e r mit einer Videobotschaft des je- weils amtierenden Generalstabschefs begrüsst. Am An-
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  316. fang war dies K o r p s k o m m a n d a n t Hans Senn, später Jörg Zumstein u n d Eugen Lüthy. In dieser Botschaft, verfasst vom Propagandachef des Führungsstabs, betonte der Ge- neralstabschef sinngemäss, dass es sich bei der P-26 um einen offiziellen Bestandteil der Gesamtverteidigung handle, der aber natürlich streng geheim sei. Der Kernteil der ersten Botschaft von Senns Begrüssung lautete: «Es wäre leichtsinnig u n d vermessen, a n n e h m e n zu wollen, dass unsere Armee [...] einen massiv angreifenden Gegner noch nach W o c h e n oder Monaten hindern könnte, Teile unseres Landes zu besetzen. In einem solchen Fall aber hätten politischen Behörden die Pflicht, alles daran zu set- zen, diesen u n w ü r d i g e n Z u s t a n d der Fremdherrschaft zu beseitigen. Dies ist aber nur denkbar, wenn rechtzeitig die Vorbereitungen für einen hartnäckigen und schlauen Wi- derstandskampf getroffen werden [...]. Sein langfristiges Ziel muss es sein, unser Land aus Besetzung und Unter- drückung in geistig-politische Freiheit und Unabhängig- keit z u r ü c k z u f ü h r e n . » Der Generalstabschef berief sich im Weiteren auf die Ziffer 426 (siehe Seite 41f.) des bun- desrätlichen Sicherheitsberichts von 1973 und dankte den Teilnehmern für ihr Engagement. Wie mehrere Ehemalige berichten, waren sie damals sehr empfänglich für diese Worte, die ihnen allfällig gebliebene Zweifel über Legiti- mität und Legalität der Organisation zerstreuten. Zutritt zum Schweizerhof hatten die Kursteilnehmer immer nur in Begleitung eines Führungsoffiziers oder Ausbildners. Auch wenn mehrere Leute denselben Kurs absolvierten, wurden sie immer einzeln an einem der Treffpunkte vom Kursleiter abgeholt. Diese Treffpunkte lagen jeweils in einer Ortschaft zwischen Zweisimmen und Chateau d'Oex. Das gegenseitige Erkennen ging, wie am Anfang geschildert, nach präzisen Regeln und mit Erkennungssätzen vor sich.
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  320. Auch das Formulieren solcher Erkennungssätze gehörte zur Ausbildung. Die Instruktoren vom Führungsstab kann- ten die Identität ihrer Schüler, abgesehen von Decknamen und Funktion, nicht; umgekehrt galt dasselbe. Hingegen lernten die Ausbildner die Qualitäten ihrer Kursteilnehmer kennen, was später hätte von Nutzen sein können. Anfänglich sassen alie Neuen isoliert in einem Einzelzim- mer; regelmässig brachte jemand das Essen vorbei und holte die Hausaufgaben ab. Ausbildung und Aufgaben be- kamen die Schüler immer per Video. Am Anfang der Ausbildung lernten die Teilnehmenden Grundsätzliches zur Geheimhaltung und zum konspirati- ven Verhalten. Später wurden die Kursinhalte verfeinert. So lernte man zum Beispiel fleissig das Einrichten von toten Briefkästen. Zuerst wurde dies im Schwcizerhof ge- übt, später absolvierten die Mitglieder solche und weitere Übungen in bestimmten Städten und Dörfern.
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  325. Der tote Briefkasten Der tote Briefkasten, das klassische Kommunikationsmittel aller geheimen Gruppen oder Individuen, funktioniert immer nach demselben Prinzip: Person A legt eine Botschaft in den toten Briefkasten und hinterlässt an einer zuvor genau ver- einbarten anderen Stelle ein Zeichen, an dem der Empfänger erkennt, dass der Briefkasten aktiviert worden ist. Person B nimmt die Meldung unauffällig aus dem Briefkasten und hinterlässt an einem vereinbarten dritten Ort ein anderes Zeichen, das bedeutet: Ich habe die Botschaft erhalten. Die beiden Nutzer kreuzen sich also nie am Briefkasten und brau- chen sich nicht zu kennen. Alles hängt von der Qualität der Vorbereitungen und Abmachungen ab. Da kann eine blaue Unterhose an der Wäscheleine einen geheimen Sinn haben oder ein vorübergehend ausgehängtes Stück Draht am Rand einer Kuhweide. Der tote Briefkasten muss leicht zugänglich sein und sich an einem Ort befinden, wo beispielsweise ein kurzer Griff hinterein Gartenmäuerchen nicht auffällt.
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  330. Die Absolventen wurden bei ihren Übungen in einer Stadt oder einem D o r f jeweils genau beobachtet. Der Führungs- stab der P-26 verfügte über eine Liste von Ortschaften, in denen solche Ü b u n g e n vorbereitet wurden; jeder dieser Orte kam zwei- oder dreimal im Jahr an die Reihe. Was, wenn trotz aller Vorsicht und Unauffälligkeit w ä h r e n d einer Ü b u n g im öffentlichen R a u m ein «Schüler» einem Polizisten auffiel? Für diesen Fall trugen alle das Notku- vert auf sich. Rico: «Das Notkuvert erhielt das Mitglied jeweils zu Beginn jeder Ü b u n g von seinem Instruktor oder Übungsleiter für den Fall, dass er aus irgendeinem G r u n d polizeilich angehalten und mit seinen vorbereite- ten Ausreden auf wenig Glauben stossen würde. Wenn es hart auf hart gegangen wäre, hätte er sein Notkuvert zei- gen k ö n n e n mit der Telefonnummer einer Bundesstelle, die der Polizeibcamte hätte anrufen können.» Um welche Bundesstelle es sich handelte, mochte Rico auch heute nicht preisgeben. Ehemalige vermuten: die Bundespoli- zei. «Bei dieser Bundesstelle war immer ein verschlosse- nes Kuvert von uns abgegeben mit Angaben, von w a n n bis w a n n Übungen stattfanden, und zwar mit den echten Namen der Teilnehmer. Natürlich war darin nicht die P-26 erwähnt, sondern die Sprachregelung lautete allgemeiner, nämlich «Übungen im R a h m e n der Gesamtverteidigung>. Es ist aber nie vorgekommen, dass diese N u m m e r benutzt werden musste.» Der A u f w a n d für diese Schutz- und Sicherheitsmassnah- me war gross. Rico: «Wenn man sich vergegenwärtigt, dass wir in der Schlussphase, den letzten zwei Jahren vor der Enttarnung, über das ganze Jahr verteilt permanent ein bis drei Personen in Ausbildung hatten, d a n n k a n n m a n ermessen, welcher A u f w a n d für den Verwaltungsteil des Führungsstabs dahintersteckte. Es galt all die Kuverts
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  334. bereitzumachen, auszuliefern, wieder abzuholen. Dieser A u f w a n d war aber nötig zur Sicherheit unserer Leute.»
  335. PSYCHOLOGISCHE KRIEGFÜHRUNG Wichtig war die Ausbildung in dem, was man psychologi- sche Kriegführung nennt: Propagandaaktionen aller Art, bei welchen der Phantasie keine Grenzen gesetzt waren. M a n erhielt in Kursen im Schweizerhof Ideen u n d Anregungen, die d a n n innerhalb der Regionen vertieft u n d verfeinert wurden. Wie überschwemmt m a n einen städtischen Platz, auf dem die Besatzungsmacht gerade eine Militärparade aufmarschieren lässt, mit Flugblättern, ohne dass jemand dabei geschnappt wird? So etwas musste mit einfachsten Mitteln zu bewerkstelligen sein, etwa von einer D a c h l u k e aus. Wie organisiert m a n möglichst im ganzen Land gleich- zeitig Sprayaktionen an gut sichtbaren Orten? Wie produ - ziert u n d verteilt m a n Untergrundzeitungen? Was braucht es, um im ganzen besetzten L a n d gleichzeitig Massen von Ballons mit Schweizerkreuzen steigen zu lassen oder zahl- lose F ü n f r ä p p l e r m i t bemaltem Helvetia-Kopf in Umlauf zu setzen? M a n zeigte den Leuten aber etwa auch, dass m a n mit Damenstrümpfen nicht nur Keilriemen flicken, sondern auch einfache Siebdrucke herstellen k a n n . Aus rohen Kar- toffeln liessen sich Stempel basteln, aus dem Kartonrücken von Papierblöcken liessen sich Schablonen machen z u m Sprayen oder Malen. A u c h hier galt: Was simpel ist u n d auch Pfadfinder kennen, ist meistens sehr brauchbar. Es fehlte auch nicht an skurrilen Ideen. E i n m a l w u r d e für eine Ü b u n g folgende A n n a h m e getroffen: D i e Besatzungs- macht hat das Zürcher Sechseläuten verboten, weil identi- tätsstiftende Massenveranstaltungen ihr suspekt sind. In den Kursen galt es, Ideen als R e a k t i o n d a r a u f zu entwi- ckeln. Jemand schlug etwa vor, aus R a d i e r g u m m i s kleine
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  339. «Bööggen» zu schneiden, ein anderer wollte einen selbst- gebauten «Böögg» auf einem Floss die L i m m a t hinunter- fahren lassen, damit die Leute das Zeichen registrierten und Freude hätten. Dass Widerstands-Propagandaaktio- nen auch die Waffe des H u m o r s u n d das Lächerlichma- chen der Besatzungsmacht mit einschlossen, gehörte z u m Konzept. Diskutiert w u r d e n natürlich auch A k t i o n e n , die m a n als «leichte Sabotage» bezeichnen k ö n n t e u n d die bei der Besatzungsmacht zumindest zu Verwirrung und Ärger führen w ü r d e n , etwa das Verschwindenlassen von Regis- tern, Plänen u n d anderen D o k u m e n t e n . Kurz: Alle Ideen waren w i l l k o m m e n , w e n n es d a r u m ging, den Besatzern zu zeigen: Wir sind da, wir geben nicht auf, mit uns müsst ihr rechnen, die Bevölkerung steht hinter uns. Schon die Strategie-Kommission Schmid halte 1969 in ih- rem Abschnitt z u m Thema «gcwaltloser Widerstand» fest- gehalten: «Mit all diesen Methoden lassen sich zwar kaum spektakuläre Erfolge erzielen. Dennoch können sie mithelfen, die Moral der eigenen Bevölkerung zu stärken und diejenige der Besatzungs- truppen zu zermürben. Sie verhindern oder verzögern zumindest die von der Besatzungsmacht angestrebte Gleichschaltung der Bevölkerung und die Ausbeutung des besetzten Gebiets, bewirken einen unsicheren oder schwer kontrollierbaren Zustand und schaffen damit wichtige Voraussetzungen für gewaltsame Wider- standsaktionen. »
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  341. DER «HAMMER»: DIE GENISTEN UND SABOTEURE Die Ausbildung im Umgang mit Sprengmitteln war den Ge- nicspezialisten vorbehalten und fand meistens in einer an- deren geheimen Anlage statt, die intern unter dem N a m e n «Park» lief. Wo liegt dieser «Park»? Rico möchte sich nicht z u m N a m e n der Anlage äussern. W i r kennen i h n trotzdem:
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  345. Es handelte sich um die Anlage «Hagerbach» bei Sargans, Teil der grossen Festungsanlage im Gonzenmassiv. Heute dient die Anlage übrigens unter anderem dem friedlichen Umgang mit Sprengmitteln und der Ausbildung von Feuer- wehrleuten in gefährlichen Tunnel ein sätzen. D i e Genisten der P-26, Pioniere genannt, lernten in ei- nem halben D u t z e n d verschiedener Fachkurse, wie man mit einfachen Mitteln wirkungsvolle Sabotage betreibt, vorab an Einrichtungen der Infrastruktur, etwa an Bahn- linien, Wasser- u n d Stromversorgungen, Leitungen für Telefon und Telegrafíe oder an Radiosendeanlagen. Neben Sprengmitteln wurde in dieser Ausbildung auch mit che- mischen Mitteln wie Säuren, Laugen oder Lösungsmitteln gearbeitet. Jeder Pionier musste in die Lage versetzt wer- den, selbständig Sabotageakte zu rekognoszieren, zu pla- nen und durchzuführen. Auf diese Weise sollte die Besat- zungsmacht an Material und Objekten geschädigt werden. Rico: «Es ging uns um Sabotageakte mit eher geringem Schaden, aber hohem Symbolwert.» Pro Widerstandsre- gion gab es eine oder mehrere Geniegruppen mit zwei bis m a x i m a l vier Angehörigen. « G r u n d s a t z der Ausbildung war es, mit möglichst wenig Sprengstoff eine möglichst grosse W i r k u n g zu erzielen. Das führte dazu, dass wir zu anderen Sprengstoff-Anordnungen kamen, als sie in der Armee üblich sind. Daraus entstand schliesslich ein Sprengstoffreglement, das vom Generalstabschef gutge- heissen wurde. D a s Reglement enthielt die technischen Anweisungen für die Art und Weise, wie bestimmte Objek- te am besten zu sprengen sind - etwa eine Antriebswelle oder ein starkes Tragseil. Früher gab es im Spezialdienst nichts dergleichen, jeder Ausbildner instruierte auf seine Weise! Das war für mich nicht akzeptabel. Das Reglement diente aber nicht nur der technischen Sicherheit für unsere
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  349. Leute, sondern war auch die rechtliche Basis für die Aus- bildung; wir hatten ja als Organisation keine gesetzliche Grundlage.» (Siehe Seite 142ff.). Die Regionschefs wurden jeweils in kleinen G r u p p e n - stets an einem Samstagmorgen - in den geheimen «Ha- gerbach» gebracht. «Dort führte m a n ihnen vor, was die Genisten lernten, damit sie die Ausbildung kannten und wussten, was sie von ihren Genisten verlangen konnten», erklärt Rico. «Das war also Demonstration und informa- tion, keine Ausbildung.» Es waren somit die Pioniere, die in einer späteren Phase der Fremdbesetzung der Schweiz den «Hammer», den gewaltsamen Arm der P-26, gebildet hätten. Nach Ricos G r u n d k o n z e p t i o n sollte der Einsatz der physischen Mittel zunehmen, je näher die Befreiung von der Besetzung k o m m e n würde; u n d auch d a n n nur sehr dosiert und überlegt. Rico betont, dass Sabotageak- te stets ein zweischneidiges Schwert bilden würden: Sie seien unumgänglich, wenn man dem Besatzer schaden wolle, andererseits würden Sabotageakte sofort Repressa- lien provozieren. Die Bevölkerung müsse lernen, gewisses Leid zu ertragen: «Plötzlich Verwandte oder gute Freunde an der W a n d stehen zu sehen, das hält nicht jeder aus.» In der Anfangsphase des Widerstandes sind Sabotageak- te nach Ricos M e i n u n g überhaupt kein geeignetes Mittel; zuerst müsse mit psychologischer Kriegführung der Boden bereitet werden. Das sah die Strategie-Kommission Schmid 1969 genauso; sie bezeichnete die geschilderten Aktionen von Propaganda Iiis leichter Sabotage als wichtige Voraussetzung für gewalt- same Aktionen und warnte vor zu viel Gewaltanwendung: «Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der gewaltsame Widerstand nicht in Unternehmungen ausartet, welche die Solidarität der Bevölkerung des besetzten Landes gefähr-
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  353. den [...] Dieses Risiko ist nicht zu unterschätzen und muss vor allem beim Abwägen der Vor- und Nachteile bestimm- ter Widerstandsmethoden in Rechnung gestellt werden.» Im spektakulären Bericht der P U K E M D von 1990 aber wurde das Thema Sabotage keineswegs als sekundärer Auftrag der P-26 w a h r g e n o m m e n , ganz im Gegenteil: Aller Augen richteten sich auf diesen Geniedienst. «Auf- grund der Ausbildungsprogramme und der Bewaffnung muss a n g e n o m m e n werden, dass Sabotageaktionen ein grosses Gewicht beigemessen wird», schrieb die PUK. «Der Geniedienst ist der militärische u n d auch bestan- desmässige Hauptteil der Organisation, für den zwei Inst- ruktionsunteroffiziere vollamtlich im Ausbildungseinsatz stehen.» Das Zerstörungspotenzial der Organisation sei erheblich. Rico stiess damals bei der P U K auf taube Oh- ren mit seiner Versicherung, auch in der Ausbildung der P-26 werde auf allen Stufen immer wieder hervorgehoben, «dass gewaltsame Einsätze nur unterstützenden Charak- ter haben; eine Unterstützung k a n n niemals eine Haupt- waffe sein.» Die PUK aber beurteilte die P-26 «nicht nach den Absichten ihrer Führung, sondern nach dem effekti- ven Potenzial, welche diese Organisation darstellt». Rico: «Wir haben unseren Leuten immer wieder gesagt: Ihr seid keine Terroristen.» Hätte die P-26 dennoch zur gezielten Tötung eines Ex- ponenten der Besatzungsmacht oder eines Kollaborateu rs schreiten k ö n n e n ? Rico: «So etwas wäre nur in einem ab- soluten Extremfall als letztes Mittel denkbar gewesen. Aber in der Ausbildung k a m dieses Szenario nicht vor. Mit gutem G r u n d : Die Gefahr wäre sehr gross gewesen, dass die eigene Bevölkerung nach einem derartigen Gewaltakt unter schwersten Repressionen zu leiden gehabt hätte und dies die Organisation in Misskredit gebracht hätte.»
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  357. AUSBILDUNG IM VERBAND Als H ö h e p u n k t war in Ricos Konzept die sogenannte Ver- bandsausbildung vorgesehen, die einsetzen konnte, w e n n die einzelnen Mitglieder einer Widerstandsregion ihre Sach- u n d Fachausbildung abgeschlossen hatten. Einen «Verband» darf m a n sich einmal mehr nicht militärisch vor- stellen: In der P-26 war dieser einfach eine Widerstandsre- gion. Übungen unter Einbezug der ganzen Region abergab es aus zeitlichen G r ü n d e n kaum: Bis ein neues Mitglied rek- rutiert u n d voll ausgebildet war, vergingen etwa f ü n f Jahre, die P-26 aber bestand nur gut zehn Jahre. Rico: «Wir hatten nur zwei Kurse für Verbandsausbildung! Die Ü b u n g dau- erte eine Woche. Nehmen wir an: Der Regionschcf Z ü r i c h erhält einen Auftrag per F u n k vom Führungsstab, und zwar chiffriert über den Funker der Region. Der Funkergibt den Auftrag an den Regionschef weiter, der i h n dechiffriert. Der Befehl m ü n d e t beispielsweise in einen Genieeinsatz (da- mit alle Mitglieder der Region eine Aufgabe bekommen). Ein Standard-Genieeinsatz war etwa eine demonstrative Sprengung, die in der Bevölkerung <zündet>, aber keinen grossen Schaden anrichtet. Dabei ging es als erstes darum, den Ort, die Umgebung und die dort anwesenden Leute zu erkunden, also um die Nachrichtenarbeit. D a n a c h musste der Propagandachef Möglichkeiten suchen, das Ereignis weit zu streuen (Flugblätter etc.). Der Transporteur hatte dafür zu sorgen, dass das Sprengmaterial abgeholt und den Genisten gebracht wurde, die die Bombe anfertigten und platzierten. U n d all das musste natürlich total konspirativ ablaufen, eingebettet ins private Familienleben und in den Berufsalltag. Das war eine einfache erste Ü b u n g , bei der es vor allem d a r u m ging, zu arbeiten, ohne dass jemand im privaten oder beruflichen Umfeld auch nur das Geringste von dieser Ü b u n g mitbekam. Das dauerte eine Woche.»
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  361. Wir dürfen uns auch bei solchen Übungen, wie sie später als Einsatzfälle wahrscheinlich geworden wären, nicht das physische Zusammentreffen der ganzen Widerstandsregion vorstellen. Jedes Mitglied hätte allein oder in seiner Kleinst- gruppe den i h m aufgetragenen Teil der Aufgabe gelöst. Für diese Übungen war ein Mitglied des Führungsstabs zuständig, der die Ü b u n g anlegte, sie leitete u n d verfolgte. D a n a c h fand jeweils eine Übungsbesprechung statt: «Ir- gendwo an einem geeigneten Ort, etwa in einem unauffäl- ligen Sitzungszimmer im Geschäft eines Beteiligten, oder auch m a l in einer Hütte.» Dabei besprach der M a n n aus dem Führungsstab die Ü b u n g mit den Kleinstgruppen. Bevor allerdings solche Übungen z u m «courant normal» werden konnten, flog die P-26 auf. In dieser Art und Weise hätte im Ernstfall jede Region für sich im eigenen Raum im Untergrund gewirkt, geführt und koordiniert vom Führungsstab, wahrscheinlich aus dem Ausland, über Kurzwellenfunk mit modernsten Geräten. Jede autonome Zelle hätte versucht, in der ihnen vertrau- ten Gegend, in der die Mitglieder selber wohnten oder ge- wohnt hatten, ein M a x i m u m an Propagandaeffekt gegen die Besatzungsmacht zu erzielen. Wozu aber wäre die P-26 als Kaderorganisation z u m Z e i t p u n k t ihrer Enttarnung, also noch vor dem Ausbau zur operativen einsatzfähigen Widerstandsorganisation, imstande gewesen? D a r ü b e r wurde damals intensiv diskutiert. D e n n die PUI< wollte die vorgefundene Organisation nicht als blosse Ausbil- dungsorganisation taxieren, sondern verstand ihr Poten- zial als viel grösser, will heissen: gefährlicher. Antwort ih- res ehemaligen K o m m a n d a n t e n heute: «Wir wären 1990 imstande gewesen, lokal u n d regional Nachrichtendienst u n d P r o p a g a n d a zu betreiben, u n d w i r w ä r e n m e h r oder weniger i m s t a n d e gewesen, Sabotageakte zu verüben,
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  365. je n a c h V o r h a n d e n s e i n u n d Grösse der G e n i e g r u p p e n . Niemals aber wären wir zu bewaffneten Einsätzen imstan- de gewesen u n d n o c h viel weniger zu, sagen wir, einem Sturm auf das Bundeshaus und erst recht nicht zu einem Umsturz! Zusammengefasst: W i r hätten mit einfachsten personellen Mitteln den Widerstand zu führen gehabt, das bedeutet psychologische Kriegführung u n d später eventuell Sabotageakte.»
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  368. Nach der E n t t a r n u n g der P-26 fragte sieh jeder: Was sind das eigentlich für Leute, die zu dieser «illegalen Geheim- armee» stiessen? Cattelan: «Für eine klandestine Organi- sation k o m m e n nur in jeder Hinsicht unauffällige, vertrau- enswürdige, besonders aber selbständige u n d belastbare Personen in Frage. Sie sollten weder charakterlich, beruf- lich, gesellschaftlich, politisch, sportlich noch militärisch besonders auffällig sein. W i r suchten also nach dem geeig- neten unauffälligen Durchschnittsbürger.» Das hiess: In Trage k a m e n keine in irgendeiner A r t u n d Weise exponier- te Personen, seien es eidgenössische Parlamentarier oder kantonale Regierungsräte, keine zu hohen Offiziere, keine Wirtschaftsführer, aber auch keine F u n k a m a t e u r e . Und ebensowenig E g o m a n e n u n d Selbstdarsteller. Dass Men- sehen mit einem H a n g zu A l k o h o l oder Drogen erst recht ausser Betracht fielen, versteht sich von selbst. U n d die Kandidaten mussten ein berufliches Umfeld haben, das ilinen erlaubte, i m m e r wieder o h n e A u f h e b e n s für zwei oder drei Tage zu «verschwinden». Wichtig war das Alter: M a n wollte dienstpflichtige Perso- nen nicht unter 45 Jahren oder aber dienstfreie Personen
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  372. rekrutieren. G r u n d : Die Kandidaten sollten am Ende ih- rer militärischen Dienstpflicht stehen oder dienstfrei sein, weil sie sonst im Ernstfall k a u m für die Widerstandsorga- nisation zur Verfügung gestanden hätten. All diese Kriterien mündeten in ein klares Anforderungs- profil, an dem die Rekrutierenden zu messen waren. Rico: «Das System hat sich in der Praxis gut bewährt. Trotzdem blieb die Rekrutierungsphase immer eine heikle Grat- wanderung: D e n Schleier des Geheimnisses konnten wir gegenüber dem Kandidaten nur schrittweise lüften. A u f diese Weise liess sich die Gefahr umgehen, dass bei ab- gebrochenen Rekrutierungen Wissen über die P-26 nach aussen sickerte.» Die Vorsichtsmassnahmen griffen, es gab auch bei abgebrochenen Rekrutierungen nie Proble- me mit der G e h e i m h a l t u n g . Von Anfang an wollte Rico den heiklen Prozess der Rekrutierung in der eigenen H a n d behalten. Im Prinzip konnte gemäss seiner Grundkonzep- tion zwar jeder P-26-Angehörige geeignete Personen vor- schlagen. Aber «erst nach einer polizeilichen Sicherheits- überprüfung darf Kontakt aufgenommen werden», heisst es in Cattelans G r u n d k o n z e p t i o n . In der Praxis lief die Sache dann anders ab: Rekrutiert wurde nur im Auftrag des Führungsstabs und nur bei entsprechendem Bedarf. Dabei galt: Jeder Vorgesetzte wählt und rekrutiert seine Mitarbeiter im Gebiet seiner Region selber. Die Teilschrit- te der Rekrutierung mit den entsprechenden Kontrollen waren genau vorgeschrieben. Über die A u f n a h m e wurde erst nach Vorliegen weiterer Tests u n d Unterlagen - grafo- logisches Gutachten, Eignungstests, Sicherheitsüberprü- fung durch spezielle Organe der Kantonspolizeien (ohne Angabe des Zwecks) - durch die «Sicherheitskonferenz» entschieden: Dieses G r e m i u m des Führungsstabs bestand aus Rico, dem Chef Sicherheit, dem Chef Personaldienst
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  376. und dem Sachbearbeiter Sicherheit. N u r dieses G r e m i u m Lind der Rekrutierende k a n n t e n die w a h r e Identität des
  377. Kandidaten. D e n Stichentscheid behielt sich der Chef im- mer selbst vor. Cattelan entschied somit aufgrund aller Fakten u n d Einschätzungen, die i h m zur Verfügung stan- den, ohne den K a n d i d a t e n jemals persönlich getroffen zu haben, denn das schätzte er als ein zu grosses Risiko ein.
  378. DIE KONVENTION War der A u f n a h m e e n t s c h e i d gefallen, hatte jedes neue Mitglied eine sogenannte Konvention zu unterzeichnen. «Als ich die O r g a n i s a t i o n ü b e r n a h m , gab es gar nichts dergleichen. Unsere K o n v e n t i o n umfasste die Pflichten u n d die Rechte der Mitglieder, vor allem die Pflicht zur Verschwiegenheit u n d das Recht z u m Austritt», erläutert Rico. Die Mitglieder verpflichteten sich darin «zu einem vorbehaltlosen Einsatz im R a h m e n des allgemeinen Auf- trags u n d zu echter Kameradschaft untereinander». D i e Konvention hielt fest, die Organisation sei «kein Teil der Armee, sondern eine Organisation für sich, die so struktu- riert ist, dass sich ihre Mitglieder n u r i n n e r h a l b kleinster G r u p p e n persönlich kennen». Rico: «Eine Konvention die- ser Art war nötig, da wir ja keine gesetzliche G r u n d l a g e besassen.» Die Pflicht zur G e h e i m h a l t u n g musste jedes Mitglied nach Ablauf eines Jahres jeweils neu unterzeich- nen: «Es galt zu verhindern, dass die Pflichten da u n d dort mit der Zeit etwas in Vergessenheit gerieten.» Alle r u n d 400 Mitglieder der Widerstandsorganisation haben sich strikte an die G e h e i m h a l t u n g s a n f o r d e r u n g e n gehalten, auch nach der E n t t a r n u n g . U n d Austritte gab es nur wenige. Rico: «Von den komplett ausgebildeten Mit- gliedern ist nie j e m a n d ausgetreten. Hingegen w u r d e wäh- rend oder zu B e g i n n der Ausbildungszeit bisweilen vom
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  382. Austrittsrecht Gebrauch gemacht. Beweggründe lauteten etwa: <nein, das ist doch nichts für mich>, <das stehe ich nicht durch» oder «das habe ich mir anders vorgestellt». A u c h von unserer Seite gab es <Austritte>. Beispielsweise hatte e i n m a l jemand an einer Bar etwas gar viel geplau- dert - neben i h m sass per Z u f a l l ein anderer 26er, der mithörte, was da geredet wurde. D e n etwas zu redseligen M a n n mussten wir verabschieden. D i e Austritte liegen aber insgesamt nur im einstelligen Bereich, m a n k a n n sie an zwei H ä n d e n abzählen.» Weil die Regionschefs ihre Mitarbeiter selber auswählten, stammten naturgemäss viele Kontakte aus dem privaten u n d beruflichen Umfeld der Rekrutierenden. So waren etwa in der Region Chur mehrere Leute Freimaurer; auch der Schweizerische Alpenclub SAC scheint eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Oft kontaktierten sich Berufs- kollegen oder die Verantwortlichen von K M U unterei- nander. In Freiburg z u m Beispiel waren gleich mehrere Leute derselben Firma Mitglieder der P-26, z u m Teil ohne voneineinander zu wissen. Es gab in den Reihen der Or- ganisation, um nur einige weitere Beispiele zu nennen, den stellvertretenden Chefredaktor einer Zeitung, einen Schulleiter, eine Krankenschwester, den Verwalter eines Bezirksspitals, Ingenieure, den Inhaber eines Uhrenge- schäfts, den Chef eines Stahlunternehmens, einen Dru- ckereileiter, Ärzte, aber ebenso Handwerker, Hilfsarbei- ter. Rico: «Ich k a n n m i c h an k a u m eine Berufsgattung erinnern, die nicht vertreten gewesen wäre. Die Palette reichte tatsächlich vom Hilfsarbeiter über den Handwer- ker bis z u m A k a d e m i k e r . D a s einzige Kriterium hiess u n a u f f ä l l i g e r Durchschnittsbürger>. Wir erteilten jeweils einen Rekrutierungsauftrag für einen bestimmten Posten mit einem bestimmten Anforderungsprofil an einen Re-
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  386. gions- oder Gruppenchef. Die Schwierigkeit unseres Rekru- ticrungssystems bestand jeweils darin, nicht zu viele Leute aus dem gleichen Berufskreis auf einmal zu haben. D e n n der Gewählte wurde immer zum direkten Untergebenen des Rekrutierenden. Beispiel: Nicht der Regionschef re- krutierte einen zusätzlichen Genisten, sondern der i h m unterstellte Geniegruppenchef. W e n n n u n beispielswei- se der Regionschef ein Lehrer war, d a n n gab es natürlich auch in seinem Bekanntenkreis viele Lehrer. W i r hatten dann Sorge zu tragen, dass seine Rekrutierten nicht alle ebenfalls Lehrer waren. Oder nehmen wir einen Archi- tekten: Er hatte zwar die Möglichkeit, auch ins Baufach hineinzusehen, aber es war nicht gut, wenn er ausschliess- lich in Architekten- u n d Ingenieurkreisen weitere Leute suchte. Die Gruppen durften jeweils beruflich nicht zu eng werden.» Und weiter: «Das Anforderungsprofil entschied meistens darüber, in welchen beruflichen Kreisen wir suchten: Ein Genist konnte ohne weiteres Hilfsarbeiter sein, wogegen etwa ein Propagandachefin einem anderen Umfeld gesucht werden musste. D a z u kamen auch die oft benötigten Chefeigenschaften. Und schliesslich waren wir eine Kaderorganisation; das führte zwangsläufig zu einer gewissen Kaderlastigkeit in unseren Reihen. Aber Generaldirektoren hatten wir keine.» Frauen gab es in der P-26 nur ganz wenige, ein halbes Dut- zend, z u m Beispiel eine Pflegeausbildnerin u n d eine als Funkerin tätige Frau, beide aus der Region Schaffhausen. Die Tatsache, dass es nur wenige Frauen unter den rund 400 Mitgliedern gab, erklärte Rico schon in einem frühe- ren Interview mit einem «interessanten sozialen Phäno- men»: «Auch in Zeiten fortgeschrittener E m a n z i p a t i o n kann eine Frau sich nicht einfach mit einer vagen Be- g r ü n d u n g für zwei bis drei Tage von zu Hause entfernen.
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  390. Bei M ä n n e r n ist das meistens ohne weiteres möglich. So waren es bei uns nur alleinstehende Frauen u n d eine oder zwei, bei denen der E h e m a n n im Grundsatz eingeweiht war u n d gegenüber der Verwandtschaft Rückendeckung geben konnte.» In der P-26 wurden die Frauen meist im Nachrichtendienst, bei der Propaganda oder im «3M» ein- gesetzt, nicht für mögliche Sabotageakte. Ein wichtiges Thema war für jedes Mitglied die Frage, wie gegenüber den nächsten Angehörigen mit der Geheim- haltungspflicht u m z u g e h e n war. Da musste jeder u n d jede einen eigenen Weg finden. «Uns wurde empfohlen, die Lebenspartner einzubinden», erklärte ein ehemaliges Mitglied in den «Schaffhauser Nachrichten». Die meisten scheinen das getan zu haben, aber durchaus nicht alle. Etliche machten lediglich Andeutungen oder wollten ihre Angehörigen lieber nicht belasten; zweifellos wollte es die eine oder andere Ehefrau gar nicht so genau wissen und begnügte sich mit Andeutungen. Die Einweihung der Le- benspartner schien auch deshalb sinnvoll, weil besorgte Ehefrauen bisweilen Privatdetektive anheuerten, um über die nicht näher begründeten Abwesenheiten ihrer M ä n n e r mehr zu erfahren. Da k a m es vor, dass ein Privatdetektiv sich plötzlich vor einer geheimen Anlage vorfand statt vor dem erwarteten diskreten Hotel. Im Notfall musste eben eine kleine Notlüge her: Der Sohn der Funkerin der Wider- standsregion Schaffhausen entdeckte einmal per Zufall das Transistorradio, den Weitempfänger, der zur Ausrüs- tung als Funkerin gehörte und im Keller aufbewahrt wur- de. Natürlich fragte er die Eltern, wozu sie dieses Gerät brauchten: « Z u m Glück konnten wir auf unser Hobby, das Segeln, verweisen.» Militärische Dienstgrade spielten in der Hierarchie der P-26 keine Rolle. Trotzdem war der Anteil der Offiziere unter
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  394. den militärdiensttauglichen Mitgliedern relativ hoch: Z u m Zeitpunkt der E n t t a r n u n g waren rund ein Viertel Unterof- fiziere, über ein Drittel Subalternoffiziere u n d Hauptleute und rund ein Fünftel Stabsoffiziere (Major, Oberstleutnant, Oberst). Bei den nicht mehr militärdienstpflichtigen Mit- gliedern war der Anteil der Offiziere kleiner.
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  397. Eine der d a m a l s über die P-26 kursierenden Legenden lautete, alle Mitglieder der « G e h e i m a r m e e » seien bewaff- net gewesen. Das entsprach nicht den Tatsachen. Was die einzelnen Widerstandsregionen in Friedenszeiten an Ma- terial besassen, war im Gegenteil harmlos u n d hätte auch einer G r u p p e von Hobby-Funkern gehören k ö n n e n . Es gab im Wesentlichen in jeder Region: - ein Kurzwellengerät «Phönix» mit Z u b e h ö r - «I<obra»-Chiffriergeräte - Chiffrierunterlagen für S c h u l u n g und Ü b u n g e n - Karten im Massstab 1:25 000 - Kompass - Feldstecher - Sanitätsmaterial, M e d i k a m e n t e
  398. Das w a r alles. Keine Rede v o n W a f f e n , M u n i t i o n oder Sprengstoff. E i n e Pistole zur Selbstverteidigung hätten die Mitglieder erst im Ernstfall erhalten. In Friedenszeiten waren die «heissen» Sachen unter Verschluss: Material, Waffen u n d M u n i t i o n lagerten in geheimen u n d den Mit- gliedern weder b e k a n n t e n n o c h zugänglichen Depots in militärischen A n l a g e n (siehe Seite 95ff.). W a s das ein- zelne Mitglied im Ernstfall für seine Einsätze u n d seine
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  402. Selbstverteidigung benötigt hätte, war sorgfältig verpackt in individuellen, etwa 80 Zentimeter langen Stahlcontai- nern. Das wussten die Mitglieder; jedes musste einen geeig- neten Ort in seiner nächsten Umgebung bereithalten, z u m Beispiel ein im Garten oder im Wald vergrabenes Rohr, um diesen Container im Ernstfall fürs Erste zu verstecken, wenn der Generalstabschef im Ernstfall die Dezentralisie- rung der Container angeordnet hätte. Über den Inhalt die- ser Container waren die Mitglieder nach den Feststellun- gen des Verfassers unterschiedlich gut informiert. Neben den Pistolen enthielten diese Container Goldplätt- chen, diskret von der N a t i o n a l b a n k beschafft. Dieser «Kriegsschatz» gab später viel zu reden (siehe Seite 273ff.). Das Gold war nicht nur als Zahlungsmittel gedacht, son- dern, wie Rico u n u m w u n d e n einräumt, auch z u m Beste- chen von Leuten, etwa zur Informationsbeschaffung un- ter Besetzungsbedingungen. Weiter bargen die Container Führungs- und Funkunterlagen sowie Sanitätsmaterial. Letzteres galt als Verbrauchsmaterial und konnte laufend benutzt werden. Rico: «Bei Medikamenten, Spritzen et cetera reichten kleine Mengen. Verbandsstoff hingegen brauchte es in grösseren Mengen. Deshalb gaben wir jedem einzelnen Mitglied Verbandsmaterial und eine Grundaus- rüstung an Medikamenten (aber keine Selbstmordpillen!) nach Hause, wo das Material auch gebraucht und ersetzt werden konnte. D a m i t stellten wir sicher, dass dieses Ma- terial immer dem zeitgemässen Stand entsprach u n d nicht veraltete.» Veralten durfte auch anderes nicht: « M a n hat etwa das alte <Phönix>-Funkgerät zu Hause in einer Her- mes-Schreibmaschinenkiste versteckt. Das war damals ausgezeichnet, aber heute würde das sofort auffallen, weil kein Mensch mehr eine Hermes besitzt. Deshalb sagte ich bei den neuen Funkgeräten: Jeder Funker soll vorerst sel-
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  406. her eine Hülle wählen, etwa einen Sportsack oder so etwas, und nach ein paar Jahren einen neuen kaufen. Es musste etwas sein, das zu ihm passte, das nicht auffallen und nicht veralten durfte.» hur die Regionschefs enthielten die Container: -1 « Kobra »-Chiffriergerät mit Schlüsselunterlagen, - Netzladegerät, A k k u s - 2 Schachteln W ä h r u n g (2 x 1 kg, 200 G o l d b a r r e n zu 5 G r a m m u n d 100 Goldbarren zu 10 G r a m m ) - Landeskarten in verschiedenen Grössen - 1 Pistole «P225» mit 3 M a g a z i n e n - 1 Paket mit 120 Pistolenpatronen -1 Sanitätspaket mit «Buscopan», «Valium», «Urgo», Gazekonipressen, Verbandsklammer, N a t r i u m c h l o r i d 0 , 9 % , «Bactrimforte», «Baygon» (Insektenvernichter).
  407. / w i s c h e n der Menge an Materialcontainern einerseits u n d der A n z a h l der eingeteilten P-26-Mitglieder bestand eine Diskrepanz, die nach der Enttarnung der Organisation die Öffentlichkeit zu falschen Schlüssen verführte. Rico: «Wir haben Material und Waffen natürlich mit Blick auf den Soll- hestand einer im Ernstfall erst noch auszubauenden Wider- standorganisation beschafft.» Der Sollbestand lag bei etwa H00 Mitgliedern. M i t anderen Worten: Die Materiallager von 1990 waren im Verhältnis zur effektiven Mitgliederzahl im Moment der Enttarnung überdimensioniert. Erst recht galt dies für Waffen und M u n i t i o n . Rico: «Das Verhältnis dieses Materials u n d der Waffen zu den rund 400 Mitglie- dern zur Zeit der Enttarnung wurde missverstanden.»
  408. DAS SYSTEM HARPOON Kico: «Eine Widerstandsbewegung braucht eine Verbin- dung zur politischen F ü h r u n g , egal, wo auf der Welt sich
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  412. diese befindet. Eine weltweite Verbindung ist nur über Kurzwellenfunk möglich.» Als Rico das Projekt 26 antrat, war zwar ein solches Gerät vorhanden, nämlich «Phönix», eine Eigenentwicklung des E M D , die zurückging auf den früheren Generalstabschef Paul Gygli (1965-1971). «Dieses System war aber schon re- lativ alt und allmählich etwas marode. Die Geräte wurden mit der Zeit immer pannenanfälliger. Wir sagten uns: Auf dieses System können wir uns nicht mehr verlassen, wir benötigen etwas, das tadellos funktioniert. Die zuständigen Stellen im E M D erklärten mir aber, eine erneute Eigenent- wicklung übersteige die Kapazitäten des E M D . Daraufhin erteilte der damalige Generalstabschef Eugen Lüthy den EMD-Leuten den Auftrag, herauszufinden, ob irgendwo im Ausland ein geeignetes Gerät auf dem Markt sei. Die Ab- klärungen dauerten lange,» Wie Untersuchungsrichter Pi- erre Cornu später festhielt (siehe Seite 117), hatten die Leute von der technischen Sektion der U N A die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet vermittelt; sie konnten die von den Spe- zialisten der betreffenden Länder durchgeführten Versu- che selber beobachten. «Nach vielleicht zwei Jahren», sagt Rico, «erhielt ich die Meldung: Jetzt komme ein System auf den Markt, das wieder einen Quantensprung bedeute und sehr erfolgversprechend sei. Das E M D verfolgte die Sache weiter. Entwickelt wurde das Gerät in Deutschland, und es wurde damals fast in allen westlichen Ländern eingeführt. Der Generalstabschef gab grünes Licht, u n d die Schweiz beschaffte die nötigen Zentraleinheiten und Funkgeräte.» Dieses Gerät mit der Bezeichnung «FS-5000», damals entwickelt von der Telefunken AG, lief unter dem Namen «Harpoon» und ist bis heute von schwer nachprüfbaren Legenden umrankt. Fest steht, dass es in den 1980er-Jah- ren speziell für die Bedürfnisse von Stay-behind-Organi-
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  416. sationen entwickelt wurde. Der Auftrag scheint vom A C C gekommen zu sein, dem sogenannten Allied Clandestine Committee unter Obhut der Nato, dessen Existenz indessen bis heute offiziell dementiert wird. Andere Quellen gehen davon aus, dass die Bedürfnisse des deutschen Bundes- nachrichtendienstes und der Spezialeinheiten der Bundes- wehr bei der Entwicklung im Vordergrund standen. Das 1985 verfügbare Harpoon-System, ein modulares Kurzwel- lensystem mit integriertem Sender und Empfänger, besass ziemlich spektakuläre Eigenschaften. Es konnte weltweit verschlüsselte Funkbotschaften senden und empfangen. Das hätte auch der Schweizer Widerstandsorganisation den Kontakt mit der Landesregierung und dem Führungsstab irgendwo im Ausland ermöglicht. Besonders interessant für verdeckte Einsätze war die Fähigkeit des Geräts, aus einem Versteck heraus ohne Anwesenheit eines Funkers zu arbei- ten. Das System konnte Meldungen entgegennehmen und gespeicherte Nachrichten auf Abruf der Zentrale senden. Nicht nur das: Unter Verwendung verschiedener Sende- und Empfangsfrequenzen war auch ein Halbduplexbetrieb möglich. Das gesamte System wog etwa 15 Kilogramm; es Hess sich in einem Aktenkoffer verstauen und unauffällig auch über die Grenze transportieren. Wie kam die Schweiz zu diesem modernen System? Rico: «Die Beschaffung lief nicht direkt von <Telefunken>, sondern über die Engländer. Die Engländer kauften das System in ihrem N a m e n u n d verkauften es auch an die Schweiz weiter: Das war eine unserer Zusammenarbeits- formen mit den Engländern. Ich selber verhandelte nie mit den Engländern, vielmehr liefen die Kontakte immer zwischen der zuständigen offiziellen EMD-Stelle u n d den Engländern. So k a m H a r p o o n zur Widerstandsorgani- sation, aber erst relativ spät. Es reichte nicht mehr dazu,
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  420. die Geräte in die die einzelnen Regionen zu verteilen. Alles Material war vorhanden, aber noch nicht verteilt, als wir enttarnt wurden. D e n n wir mussten ja zuerst un- sere eigenen Funkunterlagen u n d Frequenzen schaffen, unsere eigene Zentrale für den Kontakt mit den Funkern in den Regionen aufbauen, die feste ebenso wie die mobile. A l l das konnte nicht aus dem Ärmel geschüttelt werden, sondern benötigte Zeit. Bevor all dies vorhanden war, konnten wir auch nicht mit der Ausbildung der Funker auf dem neuen Gerät beginnen. So arbeiteten wir bis zur Auflösung eben mit den alten Geräten.» Das Harpoon-Gerät verschlüsselte Meldungen automa- tisch. Das war die erste, aber nicht völlig knacksichere Stufe. Rico: «Wir haben für unser Funknetz deshalb eigene Funkunterlagen entwickelt und quasi auf die Verschlüs- selung draufgesetzt. jedes einzelne Gerät hatte seine in- dividuellen Unterlagen, die auf der Zentrale des Netzes zusammengefasst wurden. Das dürften auch alle Benutzer in den anderen Ländern so gemacht haben, das war abso- lut üblich.» Die P-26 k a m auch nicht mehr dazu, die Verbindungen mit den Harpoon-Geräten zu testen. Im Prinzip ging Rico davon aus, dass das weltweit arbeitende Gerät auch funk- tioniere. Die Funkspezialisten im E M D hingegen hielten daran fest, dass nur eine erfolgreich ausgetestete Funkver- bindung eine richtige Funkverbindung sei. Weil er keine Hoheitsrechte anderer Staaten verletzen wollte, indem er ein Gerät irgendwo in einem weit entfernten Land in Be- trieb setzte, dachte Rico daran, die Funkverbindung mit Harpoon einmal von einem schweizerischen Hochseeschiff von irgendwo auf den Weltmeeren aus zu testen. Denkbar wäre auch das Boot eines vertrauenswürdigen Schweizer Hochseeseglers gewesen. Aber es blieb bei der Absicht.
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  424. Die Harpoon-Bestellung im Umfang von rund 200 Stück - ein Gerät für jede Widerstandsregion, genauer: eines für jede aktive u n d jede schlafende Region, plus die Zentral- einheiten - kostete die Schweiz stolze 15 M i l l i o n e n Fran- ken. Vor der grossen A n s c h a f f u n g informierte m a n den parlamentarischen Beirat, den Chef der F i n a n z k o n t r o l l e und den Chef der Finanzdelegation (siehe Seite 105). N a c h der E n t t a r n u n g der P-26 w u r d e n die Harpoon-Geräte den schweizerischen Militärattaches abgegeben. Der weitere Verwendungszweck der Geräte ist nicht bekannt.
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  426. BEWAFFNUNG
  427. Kaum ein Aspekt der «Geheimarmee» hat nach der Enttar- nung mehr Aufregung verursacht als das Waffenarsenai, das da in den Containern der geheimen Lager z u m Vorschein kam. Da gab es nicht nur Ordonnanzpistolcn, sondern schwereres Kaliber: Maschinenpistolen, Spezialgewehre mit Schalldämpfern, ja sogar Hohlpanzergranaten. Einigermas- sen fassungslos n a h m die Schweizer Öffentlichkeit die Bil- der dieser Waffen zur Kenntnis, die für eine Pressekonferenz fein säuberlich auf einem Tisch ausgebreitet worden waren, Bilder, die damals um die halbe Welt gingen - Kopfschütteln darüber war eine der zurückhaltenderen Reaktionen. Es war der aufgeheizten Atmosphäre jener Jahre zuzuschrei- ben, dass solche Waffen in einer 400-köpfigen Organisa- tion, die laut der PUKausserhalb jeder politischen Kontrolle zu stehen schien, Angst und Misstrauen provozierten. Nüchtern betrachtet, ist dieses Waffenarsenal etwas anders zu beurteilen. Rico: «Es versteht sich ja wohl von selbst, dass sich eine Widerstandsorganisation nicht nur mit Sackmes- sern u n d Steinschleudern begnügen k a n n . Eine gewisse
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  431. Bewaffnung war deshalb selbstverständlich. Die Pistolen dienten zur Selbstverteidigung. Schliesslich mussten un- sere Leute in der Lage sein, sich bei Ernstfalleinsätzen notfalls wehren zu können. Jedes Mitglied war deshalb an der Pistole ausgebildet, und in den Containern lag auch eine Pistole für jedes Mitglied zur Abgabe im Ernstfall be- reit. Diese Pistolen waren die ganze Zeit über eingelagert u n d befanden sich nie zu Hause beim Mitglied.» Eine Pistole zum Selbstschutz, das leuchtet ein. Was aber war mit jenen ominösen Spezialwaffen? Rico: «Wir benö- tigten für unseren sekundären Auftrag - Sabotage - auch andere Waffen. Die damalige Vorstellung, jedes unserer Mitglieder hätte diese Waffen zur Verfügung gehabt, ist absoluter Unsinn. Mit den Maschinenpistolen, Spezialge- wehren und Hohlpanzergranaten konnte nur ein kleiner Teil unserer Mitglieder umgehen, nämlich die Geniespe- zialisten. Das waren jene Leute, die im Sprengen und Brand- schatzen ausgebildet waren u n d die gezielten Sabotage- akte durchgeführt hätten, die gemäss unserer Konzeption subsidiär zur psychologischen Kampfführung vorgesehen waren. Wir hatten insgesamt etwa 200 Genisten, die mit diesen Waffen umgehen konnten. Diese 200 waren natür- lich auf den Sollbestand von 800 Mitgliedern gerechnet, es handelte sich also um einen Viertel des geplanten späteren Gesamtbestandes. Das hat die P U K damals nicht gewusst. Die Geniespezialisten arbeiteten mit diesen Waffen immer nur individuell und gezielt, nie in Kampfgruppen irgend- welcher Art und nie mit einem Kampfauftrag. Aber wir mussten damit rechnen, dass sie im Z u s a m m e n h a n g mit ei- nem Sabotageeinsatz in ein Feuergefecht verwickelt werden würden. Deshalb war uns klar: Unsere Genieleute müssen sich notfalls wirksamer zur Wehr setzen können als mit der Ordonnanzpistole.»
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  435. «Auch die Maschinenpistolen waren deshalb als Selbst- schutzwaffen gedacht. Sie verfügten über einen Schall- dämpfer. G r u n d : Falls es vor einer A k t i o n oder dem Hochgehen einer Sprengladung zu einem Feuergefecht käme, hätte der Schalldämpfer verhindert, dass Waffe und Schütze vom Gegner geortet werden konnten. Der Nach- teil des Schalldämpfers bestand aber in einer spürbaren Verkürzung der Einsatzdistanz! Ein zweiter Faktor k a m hinzu: Ein Schalldämpfer eliminiert zwar den Mündungs- knall einer Waffe, nicht aber den Überschallknall eines Geschosses. Soll eine Waffe also <still> sein, muss dafür gesorgt werden, dass das Geschoss mit Unterschallge- schwindigkeit («subsonic») fliegt. Das ist mit technischen Massnahmen an der Waffe erreichbar. Solche Mittel haben wir angewendet, aber wiederum mit dem Effekt, dass die Einsatzdistanz nochmals verringert wurde. Unsere spe- zielle Maschinenpistole besass darum nur noch eine Ein- satzdistanz von 50, höchstens 100 Metern. Somit konnte sie wirklich nur noch dem Selbstschutz dienen.» Und wozu dienten die Spezialgewehre? «Wir benötigten eine Präzisionswaffe, die auf grössere Distanzen wirken konnte und in der Lage war, zum Beispiel technische Anla- gen wie Überwachungskameras ausser Gefecht zu setzen. Wir suchten lange nach einem geeigneten Gewehr, fanden aber keines. Deshalb entschieden wir uns für die Eigen- entwicklung eines Gewehrs, wiederum mit Schalldämp- fer, Unterschall-Geschossgeschwindigkeit u n d natürlich Zielfernrohr. Einsatzdistanz: rund 200 Meter, mehr nicht. Die Waffe musste eine Präzision aufweisen, die es einem guten und geübten Schützen erlaubte, auf eine Distanz von 200 Metern Ziele von der Grösse eines Bierdeckels beim ersten Schuss zu treffen. Das E M D hat damals dieses Gewehr ausschliesslich für unsere Bedürfnisse komplett
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  439. neu entwickelt, ebenso die dazugehörige Munition. Irrtum vorbehalten haben wir etwa 200 Stück von dieser Waffe mit der Bezeichnung <G 150> angeschafft. D a r a n ausgebil- det waren ebenfalls ausschliesslich die Genisten.» Besonders irritierten damals die Hohlpanzergranaten, eine Waffe, die gegen Panzer wirken k a n n . Wozu also brauchte die P-26 so etwas? «Tatsächlich verfügten wir auch über Hohlpanzergranaten, mit denen etwa die Sprengung von gepanzerten Türen möglich gewesen wäre. Etwas ande- res als solche besonderen Einsätze wäre auch gar nicht denkbar gewesen, denn Raketenrohre wie in der Armee besassen wir keine. Vielmehr galt es, die Geschosse mit be- helfsmässigen Mitteln abzufeuern. M a n musste die Grana- te also in irgendein geeignetes Rohr stecken und mit einer Sprengkapsel zünden. Das Rohr musste gerichtet werden, so gut es eben ging - es handelte sich also um eine ziemlich improvisierte Sache. Die Idee war unter anderem inspiriert vom Sprengfallenbau des Vietcong, von dem man damals erfuhr. Diese Granaten spielten in unserer Ausbildung nur eine kleine Rolle.» Die Ausbildung der Genisten an diesen Waffen fand, wie die Sprengausbildung auch, im «Hager- bach» bei Sargans statt. Dort war auch Bundesrat Arnold Koller einmal zu Gast (siehe Seite 284). D a m i t wird klar: Die P-26-Führung wollte beim heiklen Thema «Sabotageakte» nichts dem Zufall überlassen und die Genieleute nicht nur mit wirkungsvollem Gerät ausstat- ten, sondern auch mit einem möglichst guten Selbstschutz. Ricos Erklärungen decken sich mit den Aussagen von Ehe- maligen, die andere Funktionen als die Geniearbeit hatten: Praktisch keiner von ihnen hat jemals eine dieser Waffen auch nur zu Gesicht bekommen, geschweige denn damit geschossen; einzig den Regionschefs wurde die Ausbildung der Genisten jeweils demonstriert.
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  443. Von einer Infanteriebewaffnung der P-26 u n d d a m i t von ernsthafter Offensivkraft k o n n t e keine Rede sein. Es exis- 1 ieren im Übrigen auch keinerlei Hinweise darauf, dass die Widerstandsregionen über gezielte Sabotageakte h i n a u s irgendwelche «richtigen» Kampfaufträge hätten erfüllen können. Sie waren d a z u weder ausgerüstet noch ausgebil- det. D o c h das w u r d e d a m a l s nicht verstanden: Beunru- higung oder gar Entsetzen war das einzige, was darüber empfunden wurde.
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  446. Ein weiteres Bild ging E n d e 1990 durch die halbe Welt- presse: D e r d a m a l i g e Generalstabschef A r t h u r Liener (1993-1997) u n d ein Mitglied der P U K E M D aus dem Aargau besichtigten 1990 eines der vier b i s a n h i n hochge- heimen Waffen-, Munitions- und Materiallager der «Ge- heimarmee». G u t sichtbar sind auf dem Bild die Stahlcon- tainer mit der A u s r ü s t u n g für den Ernstfall, Liener hält ein Spezialgewehr mit Schalldämpfer u n d Zielfernrohr in der H a n d . Unschwer zu erkennen war auch, dass dieses Lager offenbar gut unterhalten war. D i e P U K E M D hielt 1990 denn auch ausdrücklich fest: «Diese Führungs- u n d Ausbildungsanlagen, Material- u n d M u n i t i o n s d e p o t s be- finden sich in einem technisch modernen Z u s t a n d , die In- s t a n d h a l t u n g ist tadellos.» Die Festlegung der Zentrallager in den 1980er-Jahren ging grundsätzlich nach folgendem Muster über die geheime Bühne: D i e F ü h r u n g der P-26 legte die ungefähren Stand- orte aller A n l a g e n fest. D a s B u n d e s a m t f ü r G e n i e u n d Festungen ( B A G F ) suchte geeignete bestehende Werke. Viel mehr aber durfte das B u n d e s a m t nicht wissen: « I m
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  450. Verlauf der Jahre 1987/88 w u r d e n die Werke, welche für diese Z w e c k e durch die P-26 verwendet werden sollten, der Kontrolle durch das damalige B A G F entzogen, das heisst, sie verschwanden aus dem Anlageninventar»: So beschrieb es 1992 der damalige Generalstabschef A r t h u r Liener. Im R a h m e n einer zentralen Projektleitung w u r d e n die entsprechenden baulichen A n p a s s u n g e n für die P-26 geplant u n d auch umgesetzt; in einem Fall k a m es gar zu einem Neubau. Nach der A u f l ö s u n g der P-26 w u r d e n alle A n l a g e n wieder dem B A G F zugeteilt. Geografisch verteilten sich die Ausbildungs- und Füh- rungsanlagen wie der Schweizerhof Gstaad in den zentra- len Landesteilen, die Material- und Munitionsdepots de- zentral in den drei Sprachregionen. Auf der Alpennordseite gab es drei Zentrallager: Im Wallis im alten Artilleriewerk Toveyres der Festung St. Maurice, in Stilli am Aareufer bei Brugg und in einem Artilleriewerk in der Linthebene. Diese drei Lager waren in etwa gleichwertig. Unterschiedlich war jedoch ihre Ausstattung u n d Bestückung, je nachdem, wie viele Widerstandsregionen vom jeweiligen Lager aus hätten bedient werden müssen. Weitergab es in der Flankiergalerie (eine Reihe von Artilleriestellungen) Gordola ein kleineres Lager, ausschliesslich für das Tessin. Rico: «Dieses Lager legten wir an, weil ein rechtzeitiger Transport von Spreng- u n d Z ü n d m i t t e l n durch den G o t t h a r d - also noch vor einer Besetzung oder einem Angriff auf die Schweiz - gegen das Strassenverkehrsgesetz Verstössen hätte; da wollten wir u n s nicht auf die Äste hinauslassen u n d schufen ein Lager vor Ort.» «In diesen Zentrallagern war alles vorhanden, was wir be- nötigt hätten, v o m M e d i k a m e n t bis zur Pistole. Dort lager- ten die Container für die Regionschefs, Container für die Funker mit den <scharfen> Chiffrierschlüsseln (zu Hause
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  454. hatten sie jeweils nur Übungsschlüssel), die Container der <3M>-Chefs enthielten nicht zuletzt das notwendige Karten- material. Die Container für die Genisten enthielten natür- lich Waffen und Zünder. Zu präzisieren ist: Um zu verhin- dern, dass etwas Unerwünschtes passieren konnte, wurden die Verschlüsse aller Waffen anderswo separat eingelagert. Diese Verschlüsse hätten im Dezentralisierungsfall zuerst zu den Containern gebracht und in die Waffen hineinmon- tiert werden müssen. Die in Friedenszeiten eingelagerten Waffen waren also gar nicht schussfertig! Auch die Zünd- kapseln für Sprengmittel waren aus Sicherheitsgründen an verschiedenen Orten separat eingelagert.» Ein Materialdepot benötigte in der Regel nur zwischen 30 und 60 Quadratmeter Platz. Das hatte den Vorteil, dass selbst ein kleines Festungswerk von der Truppe weiter- hin genutzt werden konnte, denn die für die Dienstleis- tenden nicht zugänglichen Depots fielen nicht besonders auf. Überdies blieben diese Werke nach dem Rückzug der 7,5-Zentimcr-Bunkerkanonen und der 9-Zentimeter-Pan- zerabwehrkanonen ohnehin ohne Besatzung. In den Zen- trallagern wurden für die Bedürfnisse der P-26 mit grossem Aufwand Anpassungsarbeiten betrieben. Liener beschrieb die Sache so: «Mehrere der bisherigen Mannschafts- und Munitionsräume wurden zu Materialdepots hergerichtet. Dies bedingte entsprechende Verbesserungen der Klima- anlage, zusätzliche Starkstrominstallationen, H e i z u n g und so weiter. Es versteht sich von selbst, dass diese De- pots nicht nur neu gestrichen, sondern auch noch neu ein- gerichtet wurden. In diesen Materialdepots waren Gestelle eingebaut - den Containern in den Munitionsdepots nicht unähnlich -, auf denen verschieden konfektionierte Behäl- ter lagerten, denn je nach Behältertyp variierte dessen In- halt, z u m Beispiel Zündvorrichtungen, Sanitätsmaterial,
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  458. Medikamente, Waffen, dazu passende Munitionsmagazine und so weiter. Ebenso gehörte eine gewisse Infrastruktur dazu, damit der Austausch des Materials problemlos erfol- gen konnte. Das Werk StIIii ist gekennzeichnet durch seine starke vertikale Aufteilung, also musste die Erschliessung durch eine sehenswerte Transporteinrichtung angepasst werden, n ä m l i c h durch eine Decken-Einschienenbahn! Diese diente dazu, die verschiedenen Behälter an Rollen z u m beziehungsweise vom entsprechenden Materialdepot zu- oder wegzuführen. Als Munitionszubringer zu dem ehemaligen Geschützstand war zudem ein rund 25 Me- ter langer Treppen-Schrägaufzug verfügbar. Dieser Stand diente als sogenanntes Munitionsdepot - gleichsam die Grundausrüstung der P-26. Hier lagerten vor allem 9-Mil- limeter-Pistolen und die Ordonnanz-Sprengmittel. Selbst- verständlich war dieser Raum weder klimatisiert noch be- sonders beleuchtet oder neu bemalt. Das Werk im R a u m Stilli zählt zu den grössten P-26-Anlagen; nicht zuletzt ist es wegen seiner verschiedenen Transporteinrichtungen (Vertikallift- Decken-Einschienenbahn - Treppen-Schräg- auf zug) von bleibendem Interesse.» Rico bestätigt diese Darstellung. Im Führungsstab der P-26 war für jedes Depot ein Mitar- beiterverantwortlich. Rico: «Nur er allein hatte Zugang zu den betreffenden Anlagen, zusammen mit zwei Festungs- wächtern, die im R a h m e n ihres Unterhaltsauftrags zu- s t ä n d i g w a r e n . Sonst niemand.» Auch die Feldmitglieder der P-26 wussten rein gar nichts über die Standorte und hatten erst recht keinen Zutritt. Im November 1990, nach Abschluss der Einlagerung, hätten die Schüssel zu allen Lagern in die H a n d des Generalstabschefs gelegt werden sollen, doch dazu k a m es nicht mehr. Ausschliesslich der Generalstabschef hätte im Neutralitätsschutzfall die De-
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  462. Zentralisierung von Waffen, Material u n d C o n t a i n e r n in die einzelnen Widerstandsorganisationen befehlen dürfen. Für die Verteilung des Materials w a r e n für jede Anlage zwei weitere Instruktoren bestimmt. Sie wussten, wo die Anlage sich befindet, hatten aber kein Zutrittsrecht. D e n Zugang hätten sie erst im Ernstfall erhalten, w e n n sie das Material hätten holen u n d verteilen müssen. Die Vertei- lung wäre auf der Strasse vor sich gegangen, mit Hilfe von P-26-eigenen Fahrzeugen: D r e i e i n h a l b t ö n n e r verschie- dener H e r k u n f t , alles zivile Fahrzeuge mit Allradantrieb. Rico: «Diese Fahrzeuge standen in verschiedenen A M P s und wurden dort von den Angestellten benutzt. Wir hatten jedoch eine Vorzugsberechtigung für die Benutzung.»
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  464. DER KP IM «LOCHBACH»
  465. Das unscheinbare H a u s steht im bernischen Oberburg, nicht weit von der E m m e entfernt. Das Areal gehört z u m heute noch bestehenden Armeemotorfahrzeugpark Burg- dorf. Wanderer, die der E m m e entlang spazierten und gern im lauschigen Wirtshaus Lochbach-Bad H a l t machten, hatten natürlich keine A h n u n g , was sich in dem Bauern- haus gleich neben der alten Beiz verbarg: die streng gehei- me K o m m a n d o z e n t r a l e der P-26. Das H a u s war geradezu der Inbegriff der Unauffälligkeit, eben genau das, was die P-26-Führung anstrebte. D a s zweigeteilte W o h n h a u s mit dem ortstypischen D a c h wur- de im vorderen Teil vom AMP-Abwart b e w o h n t , den hin- teren Teil belegte der Führungsstab der P-26. Die Tarnung war so gut, dass sich sogar die Weltwoche im Sommer 1991 eine leise A n e r k e n n u n g nicht verkneifen konnte: «Das Nest der illegalen Resistance ist so perfekt getarnt, dass
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  469. des Ausflüglers Auge die in die Erde gelassenen Pfropfen, die den diversen Geheimgängen und Stollen z u m nahen Berg Luft zuleiten, und die Betonunterbauten leicht über- sieht.» Es war dieselben beiden Weltwoche-Journalisten, die damals neben dem N a m e n des P-26-Chefs auch den Standort des KP herausfanden u n d publik machten. Das war ein weiterer Scoop. «Ja, aber angereichert mit fanta- sievollsten Revolvergeschichten», betont Rico heute. «Vor allem hiess es darin, der KP sei weitläufig unterkellert ge- wesen u n d habe sogar einen unterirdischen Zugang z u m A M P besessen. Das war von A bis Z erfunden! In unserem KP befanden sich Büroräumlichkeiten, sonst gar nichts. Was als E n t l ü f t u n g der geheimen Kellereranlagen sogar auf einem Foto gezeigt wurde, war in Tat u n d Wahrheit nichts anderes als die Entlüftung der Heizungs-Öltanks! Es stand unglaublicher Unsinn in diesem Artikel. Doch wir mussten ja schweigen.» Ursprünglich hatte die Organisation über gar keinen KP verfügt. Als Rico mit seiner Arbeit anfing, hatten die Leute vom damaligen Spezialdienst und vom Nachrichtendienst ihre Büros im sogenannten «Pentagon» an der Papiermüh- lestrasse in Bern, zu dem selbst ein Oberst Cattelan kei- nen Zugang hatte und nur in Begleitung einer berechtigten Person einmal hineindurfte. «Ich konnte meine Leute also nur konspirativ treffen. Das geschah manchmal an Auto- bahn-Polizeistützpunkten, etwa in Thun, Oensingen oder Oftringen. Das war äusserst mühsam. Generalstabschef Jörg Zumstein u n d sein Stabschef erklärten, da müsse et- was Besseres her, und sie kamen auf jenes alte Bauernhaus im <Lochbach> auf dem Areal des A M P Burgdorf.» Danach baute die P-26 das Haus für ihre Bedürfnisse um u n d zog die Führungstätigkeiten darin zusammen. Rico: «Alle im Führungsstab mitarbeitenden Beamten und Instruktoren
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  473. mussten damals ihre Büros in dieses Haus zügeln. D o r t hatte jeder Instruktor oder Beamte seinen persönlichen schweren Tresor. Die Pulte waren nicht abgeschlossen und durften nichts Geheimes enthalten.» Diese eiserne Regel überprüfte der Chef hin und wieder persönlich - es kam vor, dass er den einen oder anderen Stabsangehörigen wegen ungenügender Schubladen-Disziplin rüffeln musste. Selber war Rico aber nicht sehr oft auf der Zentrale anzutreffen. Vom Führungsstab der P-26 waren permanent auf dem KP im «Lochbach» anwesend: der Leiter der Administration, der Sicherheitschef, der Personalchef und Kassenwart, ebenso die Instruktoren, wenn sie nicht auswärts einen Kurs erteilten. Dies waren gleichzeitig die vollamtlich An- gestellten: zwei Offiziere u n d sieben Unteroffiziere plus dreiEMD-Beamte. D a z u kamen mehrere Miliz-Angestell- te: der Nachrichtenchef, der Propagandachef Hans-Rudolf Strasser, der «3M»-Chef mit ihren jeweils zwei bis drei Gehilfen, mit denen sie sich bei den Kursen abwechselten. Diese Personen bildeten den Führungsstab in Friedenszei- ten. Im Einsatzfall wäre dieser aufgeteilt worden in einen Hührungsstab Schweiz und einen Führungsstab Ausland. Die Verbindung der Regionschefs zum KP Burgdorf und umgekehrt verlief in Normalfall über die sogenannten Führungsoffiziere im Stab (die F u n k t i o n hiess nur so, es brauchten keine Offiziere zu sein). Dies waren ausschliess- I ich Instruktoren des Führungsstabs. Ein Führungsoffizier war jeweils für mehrere der rund 80 Widerstandsregionen zuständig. Es gab übers Jahr hinweg nicht wenig weiter- zuleben: etwa Aufgebote mit den Erkennungssätzen und zeichen, Vorschläge für Kurse u n d Daten oder Ausbil- dungsunterlagen. Rico war dabei jeweils nicht involviert, sondern der Weg ging von der Administration im Stab über den Führungsoffizier zum Regionschef.
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  477. N a t i i r ü c h k a m es vor, dass Leute wieder aus dem P-26- s t a b ausschieden: Die Berufsinstruktoren hatten ja eine andere militärische H a u p t f u n k t i o n u n d waren jeweils nur i ü r einen gewissen Z e i t r a u m z u Rico abkommandiert. « W e n n ich einen geeigneten Neuen benötigte, sprach ich das jeweils mit dem Stabschef des Generalstabschefs ab, der si c h nach geeigneten Kandidaten umsah, d a n n wurde es iTM Kreis der EMD-Instruktoren ausgeschrieben. M a n sagte i h n e n aber nicht, wofür. D i e Kandidaten w u r d e n vom Stabschef gesichtet, u n d mit den zwei oder drei Ge- eignetsten sprach ich d a n n jeweils selber.» Dass gleich gegenüber der Liegenschaft Lochbach 4 die Beiz lag, bildete natürlich ein gewisses Risiko. Auch wenn j e m a n d vom Stab beispielsweise am Freitag um 16 Uhr ei- nen Dienstwagen abholen ging (Ausbildungskurse dauer- ten oft von Freitagabend bis Sonntag), konnte das im A M P nicht u n b e m e r k t bleiben. Aber die Tarnung funktionierte. Für d i e Leute des Führungsstabs war die Beiz natürlich tabu. Hico: «Die AMP-Angestellten wussten einfach, dass da h i n t e n im Haus eine G r u p p e von Leuten v o m Stab der G r u p p e für Generalstabsdienste im E M D an einem gehei- men Projekt arbeitete. Der AMP-Chef wusste ein bisschen mehr, ^ h e r auch nicht viel; er war auch über meinen wah- ren N a m e n nicht im Bild, er k a n n t e mich nur unter dem N a m e n ß r ü l h a r t . Als ich i h n vor Jahren erstmals wieder traf, es W a r an einer Beerdigung, fragte er m i c h scherzhaft: Muss i c h jetzt Herr Cattelan sagen oder Herr Brülhart?» Für d r i n g e n d e Fälle war der KP im Prinzip rund um die U h r f ü r die Mitglieder der Organisation erreichbar. Sie verfügten über eine geheime N o t r u f n u m m e r in den Füh- r u n g s s t a b . Rico: «Auf einem A n r u f b e a n t w o r t e r konnte m a n jederzeit Mitteilungen hinterlassen, etwa die kurz- fristige Absage einer Kursteilnahme. M i t dem Anrufbe-
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  481. hntworter blieb der F ü h r u n g s s t a b einigermassen r u n d um die U h r erreichbar. An Feiertagen wie W e i h n a c h t e n / Neujahr war das allerdings ein Problem. W i r lösten es so, dass die in der N ä h e w o h n e n d e n Stabsmitglieder sich ab- wechslungsweise täglich in den KP begaben u n d den An- rufbeantworter abhörten.» Heim KP hatte die P-26 drei zugeteilte Z i v i l f a h r z e u g e des Bundes zur Verfügung, die im A M P Burgdorf in einer Garage standen. Rico: « D i e G a r a g e war eine ehemalige Sandstein kaverne, die w i r mit einer Türe abschlossen. Somit blieben die Autos einigermassen vor den Blicken der vielen Soldaten, die regelmässig im A M P Dienst ta- ten, verborgen; die AMP-Angestellten hingegen waren im Bild, dass die Autos zu einem geheimen Projekt gehörten. I Iherdies benutzten wir diese Garage für die Lagerung von Material für unsere Ü b u n g e n . Aber darunter waren weder Waffen noch M u n i t i o n noch Sprengstoff.»
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  484. Die P-26 benötigte für ihre taufenden A u s g a b e n ( L ö h n e , Entschädigungen, Mieten, Sold, Verpflegung, Unterkunft sowie kleinere A n s c h a f f u n g e n ) d u r c h s c h n i t t l i c h gegen 3 Millionen Franken pro Jahr, insgesamt rund 25 Millionen; die Tranchen schwankten zwischen 1,2 M i l l i o n e n (1985) und 10,7 M i l l i o n e n (1989). D i e Gelder s t a m m t e n gemäss PUK E M D aus verschiedenen Kreditrubriken des E M D , namentlich des Oberkriegskommissariates, für Sold, Ver- pflegung, Reisespesen u n d Unterkunft. Im Jahr 1989 wur- den über diese Rubriken r u n d 3 M i l l i o n e n verbucht. Die Beschaffung von Waffen, Ausrüstung u n d Sprengstoff lief dagegen z u m Teil über die G r u p p e für Rüstungsdienste,
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  488. vorab über die Rubrik «Persönliche Ausrüstung und Er- neuerungsbedarf». Diese Rubrik enthielt gemäss P U K E M D einen Sammelkredit, dessen einzelne Positionen den Finanzkommissionen der eidgenössischen Räte jähr- lich mitgeteilt wurden; in den Jahren zuvor hätten über- dies auch die Militärkommissionen begonnen, Einblick in diese Unterlagen zu nehmen. Eine dieser Kreditpositionen enthielt ihrerseits einen «jährlichen Sammelkredit (Dis- positionskredit) für unvorhergesehene, dringende, sich im Laufe des Jahres stellende Materialbegehren». Über diesen Dispositionskredit konnte der Generalstabschef zum Teil allein verfügen. Im Jahr 1989 wurden daraus insgesamt 5,2 Millionen für die geheimen Dienste P-26 und P-27 verwen- det. Darüber hinaus galt es auch Investitionen für Bauten (Schweizerhof, Waffen- u n d Materialdepots) sowie für umfangreichere Material- und Waffenbeschaffungen zu finanzieren. Die Bauprojekte w u r d e n jeweils der Rubrik «Bauten» des Stabs der Gruppe für Generalstabsdienste belastet. Im Bereich der Bauten gab es verschiedene, dem Parlament beziehungsweise den Kommissionen bekannte Rubriken wie Sperrstellungen, Führungsanlagen, Kampf- bauten. D a r i n wurde jeweils nicht jedes einzelne Objekt aufgeführt, sodass der Generalstabschef im R a h m e n der bewilligten Z a h l u n g s k r e d i t e selber b e s t i m m e n k o n n t e , was n o c h gebaut werden konnte u n d was nicht. Für um- fangreiche Materialbeschaffungen zog m a n die R u b r i k «Rüstungsmaterial» der Gruppe für Rüstungsdienste G R D heran. Für Rechnungsführung und Revision von P-26 gab es ein besonderes Reglement des Generalstabschefs von 1983, er- lassen im Einvernehmen mit dem Direktor der Eidgenössi- schen Finanzkontrolle. Das Reglement sah unter anderem vor, dass das Oberkriegskommissariat alle Belege über die
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  492. I'-26 nach der Revision zu vernichten habe. Im Übrigen war der P-26 gemäss dem Reglement auch ein sogenanntes «vorgeschobenes Inspektorat» zugeteilt, also ein besonde- rer Inspektions- und Revisionsdienst, wie es die Eidgenös- sische Finanzkontrolle auch in einigen anderen Ämtern einrichtete. Die EFK überprüfte dieses vorgeschobene Ins- pektorat vierteljährlich; an diesen Besprechungen war ne- ben dem verantwortlichen EMD-Personal sporadisch auch der Sekretär der Finanzkommissionen der eidgenössischen Käte anwesend. Dieser unternahm offenbar verschiedene Versuche, die Finanzdelegation der Räte über die Existenz und Finanzierung der P-26 ins Bild zu setzen, stellte aber gemäss eigener Aussage «wenig Bereitschaft zur Aufnahme dieser Hinweise» fest. Mindestens zwei Präsidenten der Finanzdelegation wurden über bestimmte wichtige Geschäfte zur P-26 unterrichtet. So etwa im Sommer 1986, als sich der Präsident der Finanz- delegation mit dem Geld für die Beschaffung der Goldplätt- chen einverstanden erklärte; der Direktor der EFK hatte ihn informiert, da er sich nicht als allein zuständig betrachtete. Hbenso unterrichtete der Chef der EFK im Jahr darauf den Präsidenten der Finanzdelegation über die Modernisierung des Funksystems (Harpoon) und erhielt «grünes Licht» von Letzterem. Gleichzeitig (Februar 1987) fand zwischen dem Generalstabschef, dem Präsidenten der Finanzdelegation, demEFK-Chef und dem Sekretär der Finanzkommissionen eine ausführliche Harpoon-Besprechung statt. Rico über all diese Kontrollen, die weitgehend an ihm vorbeiliefen: «Das war etwas, das ich gar nicht recht glauben konnte, weil es so anders lief als sonst in der Bundesverwaltung: Unsere Buchhaltung wurde monatlich vom Beauftragten lies Generalstabschefs für Finanzen kontrolliert, dem sie unterstellt war. Und zwar offen: Kurs soundso, so viele
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  496. Teilnehmer, so viele Spesen. Dieser Beauftragte hat sel- ber alle unsere Kurse besucht, war über alles im Bild und konnte beurteilen, ob unsere Rechnungen zutrafen. Nach drei Monaten legte er jeweils unsere Buchhaltung dem OKK-Vertreter vor, aber umgewandelt in Diensttage. Unter dem Strich ergab das die gleiche Z a h l . Der OKK- Vertreter kontrollierte es, und w e n n er es für in O r d n u n g befand, wurden alle Belege vernichtet. Es blieb nur jenes Papier, das er signiert hatte. W e n n er irgendwelche Zwei- fel hatte, besass er das Recht, das Detail zu erfragen, und wir mussten i h m das Original zeigen. Das war der grosse Unterschied zum Fall Bellasi! 1 Dieser Beauftragte für Fi- nanzen war dem Generalstabschef unterstellt, nicht mir, war aber ein kompletter Insider. Grundsätzlich wurden unsere Finanzen über sogenannte Diensttage beim O K K abgerechnet. Ein Diensttag kostet soundso viel Franken, unser Geld ergab einfach soundso viele Diensttage. Dieses Modell war im Bereich der U N A u n d bei derartigen Diensten absolut gängig, niemand zwei- felte daran. Die Kontrolle war gegeben, sie hätten jederzeit eingreifen können. Ich weiss nicht einmal, ob das jemals der Fall war. K a m das Okay, wurden die Akten vernichtet. So lief das mit unserem Budget von rund 3 Millionen im Jahr für den täglichen Bedarf. Darüber hinaus hatten der Generalstabschef, aber auch der Chef U N A Kredite, über die sie verfügen konnten, ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Über diese Kredite wurden alle gros- sen Investitionen finanziert wie der Ausbau des Schwei- zerhofs und anderer Anlagen, ebenso dergrösste Brocken, die A n s c h a f f u n g des Harpoon-Übermittlungssystems.
  497. 1 H a u p t m a n n D i n n Bellasi hat in seiner Funktion als militärischer Rechnungs- führer 1994-1999 mittels gefälschter Belege insgesamt rund 9 Millionen Fran- ken veruntreut. Die Affäre verursachte einen grossen Wirhel in der Öffentlich- keit.
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  499. FINANZIERUNG
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  501. Von diesem Geld habe ich selber nie etwas gesehen, diese Summen liefen über diese Kanäle direkt z u m Finanzbe- auftragten, eben jenem Vertrauensmann, der beglich die Rechnungen zu unseren Gunsten. Im EMD-Budget waren diese Kassen ausgewiesen. Hingegen weiss ich, u n d dies steht im Gegensatz z u m PUK-Bericht, dass m a n bei gros- sen Ausgaben in jedem Fall den parlamentarischen Beirat fragte, was er davon hielt und ob es so möglich sei; unser Vertrauensmann fragte sogar den Chef der Finanzkom- inission. Die parlamentarischen Schlüsselstellen waren also im Bild, aber natürlich schwiegen sie gegenüber den Kollegen.» Eine Besonderheit waren jene Goldplättchen, die der Wi- derstandsorganisation als «Kriegskasse» für den Ernstfall zur Verfügung gestellt wurden: 1986 bewilligte der Gene- ralstabschef 6 Millionen Franken; mit dem Geld wurden in den folgenden Jahren Goldplättchen angeschafft. Die Plättchen lagen auf verschiedenen Schweizer Banken und in den Containern für die Regionschefs. Grundlage dieser «Kriegskasse», so berichtete die PUK E M D , bildete eine Vereinbarung zwischen dem Generalstabschef und dem Direktor der Eidgenössischen Finanzkontrolle von 1986. Verfügungsberechtigt gegenüber den Banken waren der Chef des Stabs der Gruppe für Generalstabsdienste und der Finanzchef der P-26 mit Kollektivunterschrift. Die Unterlagen über die Depots lagen versiegelt im Tresor des Generalstabschefs, der selber aber keine Unterschriftsbe- rechtigung besass. Alles in allem haben die EMD-internen Kontrollen offen- bar funktioniert. Jedenfalls bemerkte Ex-Generalstabs- chef H a n s Senn bei der Pressekonferenz der P-26-Ver- antwortlichen am 7.Dezember 1990, die Aufsicht sei so rigoros gewesen, «dass sich Herr Cattelan bitter über den
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  505. M a n g e l a n jeglichem Freiraum beklagte». Die P U K E M D k a m damals aber z u m Schluss, die Z a h l u n g e n für die P-26 seien « o h n e hinreichende Beachtung» des damaligen Fi- nanzhaushaltsgesetzes erfolgt u n d deshalb «unzulässig» gewesen. Bei grösseren Investitionen wäre nach Ansicht der P U K die E i n h o l u n g v o n Verpflichtungskrediten nötig ge- wesen, vor allem für die «Kriegskasse» u n d das Harpoon- System. D i e leitenden parlamentarischen Finanzgremien, die sich d a n a c h über den PUK-Bericht beugten, bekunde- ten indessen mehr Verständnis für die Geheimhaltungsbe- m ü h u n g e n u n d zogen ein g a n z anderes Fazit. Im Grossen u n d G a n z e n das gegenteilige. Rico: «Die F i n a n z k o m m i s - sion hat ihre eigene Untersuchung angestellt u n d befand alles für rechtens; sie k a m zu einem viel positiveren Be- f u n d als die PUK.» In der Tat meinte die Finanzkommis- sion 1991, die geheimen Bereiche im E M D seien einer be- sonders häufigen Kontrolle unterworfen gewesen; d a m i t sei die Finanzaufsichtspflicht erfüllt worden. D i e Finanz- delegation der eidgenössischen Räte ihrerseits bestätigte, dass die F i n a n z k o n t r o l l e über die geheimen Dienste nach 1983, also in der Zeit Ricos, beträchtlich verstärkt worden seien. U n d nicht zuletzt meinte die Finanzdelegation zur Unlust der zuständigen Parlamentarier, mehr zu erfahren, dass «weniger die I n f o r m a t i o n s m ö g l i c h k e i t gefehlt hat als der Informationswille, u n d dies aus berechtigter Sorge, die G e h e i m h a l t u n g nicht zu gefährden».
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  507. DIE GRUPPE 4 2 6
  508. Zu reden gab 1990 a u c h der sogenannte parlamentari- sche Beirat, der s o w o h l die P-26 als auch der ausseror- dentliche Nachrichtendienst P-27 als eine A r t geheimes
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  510. DIE G R U P P E 426
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  512. politisches Konsultativorgan zugeordnet war. Die Aufga- ben des P-26-Beirats waren nicht schriftlich festgehalten. Sie enthielten wohl von allem ein bisschen: Gesprächs- partner u n d politisches Stimmungsbarometer für den Generalstabschef, Beratung, Mitdenken nach gesundem Menschenverstand, Verbindung z u m Parlament im Kri- senfall. Es ging offenkundig um einen kleinen Kreis von altgedienten, vertrauenswürdigen und angesehenen Par- lamentsmitgliedern, die ihre Berufung in dieses Gremium gern als Vertrauensbeweis betrachteten. Sie sollten aus ihrer Sicht als Politiker die Machbarkeit beziehungsweise die Vertretbarkeit der P-26 beurteilen. Der Generalstabs- chef folgte mit dem Einsetzen dieses Beirats einer Empfeh- lung der Arbeitsgruppe Delamuraz, die aufgrund der Er- fahrungen in der Affäre B a c h m a n n / S c h i l l i n g eine bessere und vor allem verwaltungsunabhängige Kontrolle über die beiden damaligen geheimen Dienste empfohlen hatte; be- reits der alten Widerstandsorganisation war seinerzeit ein solcher Beirat beigegeben worden (siehe Seite 254). Die Mitglieder dieser «Gruppe 426», wie sie in A n l e h n u n g an die Ziffer 426 des bundesrätlichen Sicherheitsberichtes von 1973 genannt wurde, erregten mit ihrer Bekanntgabe grosses Aufsehen, denn da kamen sehr bekannte N a m e n z u m Vorschein: der Baselbieter SVP-Nationalrat Hans- Rudolf Nebiker (der spätere Nationalratspräsident), die Zürcher FDP-Nationalrätin Vreny Spörri, der Zürcher SP-Nationalrat Sepp Stappung, der St. Galler CVP-Na- tionalrat Jakob Schönenberger und der liberale Genfer Nationalrat Jacques-Simon Eggly. Der «Konrat» der P-27 bestand aus dem Baselbieter SP-Regierungsrat Eduard Belser, den Nationalräten Paul Eisenring (CVP; Zürich) und Massimo Pini (FDP, Tessin) und dem Fraktionschef der Liberalen, François Jeanneret (Neuenburg).
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  516. Die möglichen Mitglieder dieser geheimen Parlamenta- rier-Gruppen kontaktierte der Generalstabschef zum Teil jeweils persönlich, in einem informellen Gespräch; teils ergänzte sich die Gruppe auch selber. So war etwa Vreny Spoerry damals von Jörg Zumstein persönlich in dessen Büro gebeten worden. In anderen Fällen spielte der Ur- ner CVP-Ständerat u n d Bundesratskandidat Franz Mu- heim eine wesentliche Rolle. Er war selber noch dabei, als Rico erstmals vor dem Beirat auftrat. Später organisierte M u h e i m seine eigene Nachfolge und holte den Oberba- selbieter Hans-Rudolf Nebiker. Rico: «Als M u h e i m dem Generalstabschef u n d mir Hans-Rudolf Nebiker vorstell- te, sorgte es für Überraschung, dass Nebiker und ich per Du waren. W i r kannten uns von der Offiziersgesellschaft Baselland her.» Weil kein schriftliches Pflichtenheft existierte, legten die Mitglieder ihre Aufgabe «höchst unterschiedlich» aus, wie die Befragung durch die PUK E M D ergab. Die Gruppe traf sich etwa einmal pro Jahr zu einer Sitzung ohne Traktan- den und Protokoll, auch ohne Sitzungsgeld. Anwesend wa- ren jeweils der Generalstabschef, bisweilen auch der Chef des Stabs der damaligen Gruppe für Generalstabsdienste im E M D . «Wenn der Generalstabschef es für richtig hielt, n a h m auch ich an den Sitzungen teil», sagt Rico; die Gruppe kannte jedoch nur seinen Decknamen. Es k a m auch vor, dass Beiratsmitglieder ein- bis zweimal an Anlagenbesich- tigungen teilnahmen, so im Zentrallager Stilli und bei einer Demonstration der Genie-Ausbildung im «Hagerbach». D i e P U K kritisierte dieses G r e m i u m als u n a n n e h m b a r : «Es geht nicht an, dass sich irgendwer in der Bundesver- waltung, auch nicht ein Unterstabschef Nachrichtendienst u n d Abwehr, auch nicht ein Generalstabschef, einen ge- heimen parlamentarischen Hofrat hält. Es geht nicht an,
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  518. DIE G R U P P E 426
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  520. dass die Kontrollierten sich ihre Kontrolleure selbst aus- lesen», sagte Kommissionspräsident Carlo Schmid vor dem Ständerat. Die meisten Beiräte mussten sich nach der Aufdeckung auch persönliche Kritik anhören; im Fall der beiden Sozialdemokraten Stappung und Belser fiel sie im ersten Moment masslos aus, verebbte aber relativ rasch wieder. Belser wurde noch Ende 1990 von seiner Partei als Regierungskandidat bestätigt und danach problemlos wiedergewählt. Enttarnt als Rechtsberater der P-27 wurde damals Bernhard Wehrli, seines Zeichens Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Umweltschutz (SGU). Das sorgte natürlich ebenfalls für Aufsehen, Der SGU- Vorstand drückte Wehrli zwar weiterhin sein Vertrauen aus, allerdings mit dem Vorbehalt, dass die allgemeine Verunsicherung und der Vertrauensverlust in die E M D - Organe so gross sei, dass Rückwirkungen auf die SGU zu befürchten wären, wenn Wehrli Präsident bliebe. Wehrli trat deshalb einige Monate früher als geplant von seinem Amt als Präsident zurück. Von einer echten Kontrolle der P-26 durch diese neue Gruppe konnte sicher nicht die Rede sein: Die Parlamen- tarier wurden summarisch informiert u n d kannten die grundlegenden D o k u m e n t e wie Ricos Konzeption oder den Auftrag des Generalstabschefs an die Widerstands- organisation nicht, wie sie der P U K zu Protokoll gaben. Die PUK E M D k a m damals zum Befund, dass der Infor- mationsstand der «Gruppe 426» gering gewesen sei, und der Tages-Anzeiger spottete: «Die Beiräte Spoerry u n d Stappung plagte kein Wissensdurst.» Der Beirat habe insbesondere auf die Behandlung finanzieller Fragen ver- zichtet, kritisierte die PUK. Rico widerspricht: «In den Sitzungen, an denen ich teilnahm, ging es vorwiegend um Finanzfragen - wie k a n n m a n eine solche Organisation fi-
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  524. nanzieren, welche Wege stehen zur Verfügung? Es gelang immer, eine Lösung zu finden.» Die Atmosphäre sei «kon- struktiv» gewesen. Den damaligen Eindruck, die G r u p p e sei ganz unkritisch gewesen, lässt Rico nicht gelten: «Die Parlamentarier hielten mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. W i r haben i h n e n einmal das Zentrallager in Stilli gezeigt. Dabei monierten sie, dass die Verschlüsse und die Waffen wie auch die Z ü n d k a p s e l n u n d die Sprengladun- gen nicht voneinander getrennt gelagert wurden: Es sei zu riskant, jeweils beides beisammen zu lassen. D a r a u f h i n haben wir Verschlüsse und Z ü n d k a p s e l n an separaten Or- ten eingelagert.» Zu Diskussionen führte verständlicherweise der unkla- re Status dieser Parlamentsmitglieder und der Mangel an Transparenz: Waren sie als politikerfahrene Personen dabei, oder bildete der Beirat doch ein parlamentarisches Organ im eigentlichen Sinn? Offensichtlich war Letzteres nicht der Fall, andererseits wurden die Mitglieder bewusst in ihrer Eigenschaft als Volksvertreter und damit in einer amtlichen Eigenschaft in die G r u p p e berufen. Die P U K kritisierte, Parlamentarier seien der Öffentlichkeit Re- chenschaft schuldig, die Transparenz könne bei geheimen M a n d a t e n nicht gewährleistet werden. W e n n schon, d a n n müsse eine solche «Begleitung» durch echte parlamentari- sche Organe erfolgen, deren Zusammensetzung öffentlich bekannt ist, deren Tätigkeit aber der Amtsverschwiegen- heit unterliegen müsse. Die «Gruppe 426» war wie erwähnt keine Neuerfindung. Nach der Arbeitsgruppe Delamuraz der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission zur Affäre Bachmann 1981 doppelte die G P K des Nationalrats nach u n d regte beim damaligen EMD-Chef Chevallaz selber ein Gremium mit folgenden Eigenschaften an: «Die Z a h l der Personen müsste
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  528. klein sein, ihre N a m e n geheim bleiben u n d ihre Aufgabe so beschränkt werden, dass keine Gefahr für die Geheim- haltung, insbesondere den Quellenschutz, entstehen kann.» Die G P K stellte klar, dass diese Gruppe keinen Ersatz bilde für die Aufsichtskompetenzen der G P K über die U N A als Ganzes. Der Generalstabschef berief daraufhin eine fünf- köpfige geheime Parlamentariergruppe ein. Daran, dass diese Anregung von der Geschäftsprüfungskommission ausgegangen war, wollte sich 1990 indessen niemand mehr erinnern.
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  531. Nicht nur in der Region Basel erregte damals die Enthül- lung Aufsehen, dass der baselstädtische Polizeikomman- dant Markus H. F. M ö h l e r im G e h e i m e n mit der P-26 bei Observationsübungen zusammengearbeitet und die Poli- zei - wie in anderen K a n t o n e n auch - registermässige u n d interne Überprüfungen von Personen vorgenommen hatte, die für die P-26 rekrutiert werden sollten. Solche Koope- rationen der «Geheimarmee» mit Polizeiorganen säten natürlich neues Misstrauen oder zumindest Unbehagen, nicht nur auf der linken Seite des politischen Spektrums. Ursprünglich w u r d e vermutet, dass «Gruppierungen», sprich: Linksgruppen, observiert worden seien: ein Ver- dacht. der widerlegt werden konnte. Ans Licht k a m e n die Details, weil dem Basler SP-Grossrat Roland Stark mehrere Dokumente zugespielt wurden und die Regierung danach ausführlich zu seinem parlamentarischen Vorstoss Stellung nehmen musste. Der Vorschlag zur K o o p e r a t i o n mit M ö h l e r stammte v o n Rico; die beiden M ä n n e r hatten sich im Militärdienst ken-
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  535. nengelernt, als Rico das Baselbieter Regiment 21 führte. «Cattelan musste mir natürlich ein bisschen etwas sagen, w o r u m es bei seiner Organisation ging», sagt Möhler. «Ich hatte nicht gewusst, dass es das überhaupt gab.» Rico habe betont, dass die Organisation erst im Besetzungsfall ak- tiv würde und dass sein ständiger und einziger Ansprech- partner Generalstabschef Jörg Zumstein sei, den Möhler persönlich kannte und sehr schätzte. So kam die Zusam- menarbeit zustande. «Es ging um Ausbildung, und zwar gegenseitig», sagt Möhler weiter. «Wir stellten unsere Ob- servationsgruppe zur Verfügung, die mit jeweils mehre- ren Instruktoren der P-26 Ü b u n g e n auf Gegenseitigkeit durchführte.» In Basel simulierten die P-26-Leute - aus- schliesslich Mitglieder des Führungsstabs - geheime Ak- tionen wie Kurierdienste, Verschieben von Sprengstoff- attrappen, simulierte Anschläge (beispielsweise ging es einmal darum, das Seil einer Rheinfähre mit einer Spreng- ladung zu kappen). Die Spezialisten der polizeilichen Ob- servationsgruppe mussten versuchen, diese Aktionen der (ihnen natürlich nicht bekannten) P-26-Leute rechtzeitig zu entdecken u n d zu verhindern. Dies diente somit auch ihrer eigenen Ausbildung. Insgesamt gab es in den Jahren 1985,1987 u n d 1989 drei Observationsübungen dieser Art über jeweils 24 Stunden. Bei jeder Ü b u n g waren 4 bis 5 zu- künftige P-26-Ausbildner involviert. Rico: «Die Übungs- anlagen u n d -inhalte wurden jeweils von mir erarbeitet.» Möhler seinerseits erteilte d a n n aufgrund dieser Übungs- anlage seiner Observationsgruppe den Einsatzbefchl. In einer weiteren A k t i o n n a h m e n zwei Sprengstoff-De- laborier-Spezialisten der Basler Polizei an einem P-26- E i n f ü h r u n g s k u r s bei, um ihre Spezialkenntnisse über Sprengstoffmethoden beziehungsweise Entschärfung zu erweitern. In diesem Z u s a m m e n h a n g besuchten Möhler
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  539. und sein damaliger Stabschef vorgängig die Ausbildungs- stätte der Widerstandsorganisation im «Hagerbach». Da- neben n a h m die Polizei Sicherheits-Überprüfungen von P-26-Kandidaten vor, so wie sie auch in anderen Aufga- benbereichen bis heute üblich sind. Auch zwei Bewohner der Liegenschaft Bäumleingasse 2, die Adresse von Ricos Büro mit der Tarnfirma Consec in der Basler Altstadt, wurden auf diese Weise überprüft. Rico hätte auch gern die Einsichtsmöglichkeiten von gegenüberliegenden Häu- sern in sein Büro überprüfen lassen, ein Wunsch, der aber nicht habe erfüllt werden können, wie die Regierung da- mals schrieb. Hingegen wurden dem P-26-Kommandanten zwei Autokontrollschilder als D e c k n u m m e r n für Übungs- zwecke zur Verfügung gestellt. Rico: «Die Übungen fan- den jeweils gegen Ende der Instruktorenausbildung statt. Danach reisten unsere Instruktoren nach England für eine abschliessende grosse Übung» (siehe folgendes Kapitel). Möhlers politischer Chef, Regierungsrat Karl Schnyder, wusste nichts von all dem. Drei Wochen nach Erscheinen des PUK-Berichts wurde er von Möhler und zwei weite- ren Polizeioffizieren ins Bild gesetzt u n d n a h m die Sache gelassen. Möhler: «In erster Linie wollte er wissen, ob ich selber Mitglied der Widerstandsorganisation war, und war beruhigt, als ich verneinte. Meine berufliche Position als Polizeikommandant u n d meine militärische F u n k t i o n - ich war im Sicherheitsdienst der Armee eingeteilt - hätten eine Mitgliedschaft in der P-26 auf keinen Fall erlaubt.» Aufgrund der Schilderungen seiner Polizeioffiziere u n d des PUK-Berichts k a m der Vorsteher des damaligen Po- lizei- u n d Militärdepartements z u m Schluss, dass die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen sei u n d für eine Information des Gesamtregierungsrats keine Veranlas- sung bestehe. «Schnyder u n d die ganze Regierung haben
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  543. grossartig reagiert damals», sagt M ö h l e r heute. «Wenn die Schweiz den W i d e r s t a n d nicht mehr vorbereiten u n d zu diesem Z w e c k nicht m e h r ü b e n darf, d a n n gute Nacht: D a s war d a m a l s meine G r u n d h a l t u n g , die auch unsere Regierung teilte.» Der Interpellant hingegen erklärte sich d a m a l s nur teilweise befriedigt über die Erläuterungen der Regierung. D a n a c h war der kurze M e d i e n r u m m e l vorbei.
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  546. K u r z vor dem Erscheinen des PUK-Berichts im Jahr 1990 erfuhr eine konsternierte europäische Öffentlichkeit von der Existenz geheimer Stay-behind-Widerstandorganisa- tionen in den meisten westlichen Nato-Ländern. Das Stich- wort « G l a d i o » beherrschte n u n längere Zeit die Schlagzei- len u n d schien die E n t h ü l l u n g der P-26 in der Schweiz um eine brisante europäische D i m e n s i o n zu erweitern. D i e Existenz einer geheimen, mit der N a t o vernetzten Forma- tion in Italien w u r d e im S o m m e r 1990 vom italienischen Richter Feiice Casson enthüllt, der seine E n t d e c k u n g dem Senat eröffnete u n d Premierminister G i u l i o A n d r e o t t i z w a n g , die Existenz v o n « G l a d i o » z u bestätigen. N i c h t nur das: A n d r e o t t i erklärte öffentlich, dass geheime Stay- behind-Formationen in allen westlichen B ü n d n i s l ä n d e r n existieren w ü r d e n . «Stay behind» heisst, dass diese Wider- standsorganisationen «hinter den Strukturen» von Armee u n d Behörden geschaffen w u r d e n , um im Fall einer feind- lichen Besetzung den Widerstand zu führen. D i e Geheimdienste dieser L ä n d e r koordinierten ihre Wi- derstandsvorbereitungen eng, wie der Bericht C o r n u fest- hält (siehe unten). Zu diesem Zweck w u r d e n sogenannte Komitees geschaffen. Bis heute sehen Kritiker in den Stay-
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  550. behind-Formationen weniger die möglichen Anführer im Widerstand als vielmehr eine antikommunistische Solda- teska unter Nato-Schirmherrschaft. N o c h viel schwerer wiegt der nie bewiesene und nie widerlegte Verdacht, Stay- behind-Kräfte könnten an schweren Attentaten beteiligt gewesen sein, so etwa an jenem im B a h n h o f Bologna 1980, das über 80 Todesopfer forderte und umgehend den Roten Brigaden in die Schuhe geschoben wurde. Weil der sofort aufkommende Verdacht einer schweizeri- schen Beteiligung an diesen Stay-behind-Strukturen für neue E m p ö r u n g sorgte, beauftragte der Nationalrat per Motion die Landesregierung, in dieser Hinsicht mögliche Beziehungen zu untersuchen; er folgte damit einer Forde- rung der P U K E M D . Der Bundesrat beauftragte daraufhin den Neuenburger Untersuchungsrichter Pierre Cornu, der schon Experte der PUK E M D gewesen war, mit einer Ad- ministrativuntersuchung. Sein Bericht brachte wesentliche Klärungen, aber keine abschliessende Gewissheit. Cornu enthüllte vor allem wichtige Details der P-26 und ihrer Vorgängerorganisatio- nen zur bilateralen Zusammenarbeit mit den Engländern, die 1990 bekannt geworden war und nie bestritten wurde. Eine Kooperation mit der N a t o hingegen bestreiten die P-26-Verantwortlichen bis heute mit aller Entschiedenheit. Cornu stiess jedenfalls auf kein D o k u m e n t , das solche Verbindungen erwähnt hätte. Die Schweiz habe die Nato gar nicht nötig gehabt, meinte Cornu lakonisch: Ihre Zu- sammenarbeit mit Grossbritannien habe ausgereicht, um ihre Bedürfnisse abzudecken. Natürlich wollte Cornu im Zuge seiner Ermittlungen offi- ziell mit den Engländern über die Sache reden - er stiess i n London indessen auf verschlossene Türen: Damals wurde in Grossbritannien noch nicht einmal die Existenz des Ge-
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  554. heimdienstes M I 6 offiziell zugegeben; über «security mat- ters» pflegt L o n d o n bis heute jeden Kommentar zu verwei- gern. Die Schweiz stand zweifellos unter einem gewissen Druck Londons, nicht allzu viel über die geheimen Netz- werke preiszugeben. Cornu Hess sich nicht beirren u n d berichtete d a n n doch recht detailliert. W o h l deshalb ent- schied der Bundesrat, nur eine 17-seitige Zusammenfas- sung des Berichts zu veröffentlichen und den Löwenanteil als «streng geheim» zu klassifizieren. Das führte natürlich im Parlament u n d in den Medien zu Kritik. E M D - C h e f Kaspar Villigcr versicherte jedoch, auch der öffentliche Bericht gehe im internationalen Vergleich recht weit und habe deshalb «gewisse Irritationen» verursacht. Fest steht, dass die Instruktoren aus dem Führungsstab der P-26 regelmässig mit den Briten Kontakt hatten u n d von ihnen zusätzlich ausgebildet wurden, sowohl in Grossbri- tannien als auch in der Schweiz. Rico: «Das betraf aus- schliesslich unsere Militärinstruktoren, mit einer einzigen Ausnahme: Unser 3M-Chef, ein Milizler, war ebenfalls in England, für die Spezialausbildung Nachschub aus der Luft, mit jener Technik, für welche die Engländer welt- weit bekannt sind.» Die P-26-Kaderleute wie auch ihre Vorgänger n a h m e n jeweils gegen Ende ihrer Ausbildung an Kursen und Übungen in Grossbritannien teil, vor allem im konspirativen Verhalten: In seit etwa 1973 regelmäs- sig stattfindenden mehrtägigen Übungen lernten sich die Schweizer Kader auf feindbesetztem Gebiet zu verschie- ben, heimliche Treffen zu organisieren u n d verschiedene Missionen, insbesondere Sabotageakte, auszuführen. Ge- übt wurde weiter der Transport von Material, Menschen u n d Meldungen: M a n führte die anzuwendende Technik in der Praxis vor, etwa Fallschirmabwürfe mit Nachschub. Britische Verantwortliche wirkten immer wieder auch an
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  558. der Vorbereitung, der D u r c h f ü h r u n g und der Beurteilung von Stabsübungen in der Schweiz mit. Beim beteiligten britischen Dienst handelte sich um den Geheimdienst MI6, jene Einrichtung, die auch mit den Stay-behind-An~ gelegenheiten befasst war. Der Historiker Daniele Ganser bezeichnet sie deshalb als den L i n k der Schweiz zur Nato während des Kalten Kriegs. Rico: «Die Kontakte zu den Briten stammen bereits aus den 1940er-Jahren, also aus der Kriegszeit. Die Briten bc- sassen grosse Erfahrung mit Widerstandsorganisationen, man konnte wirklich viel von ihnen lernen. Vor allem drei Dinge: konspiratives Verhalten, Sabotage, Versorgung aus der Luit. Beispielsweise Hessen wir unsere Leute in England auch einmal unter Spionageverdacht verhaften und verhören, damit sie lernten, mit solchen Situationen umzugehen. Unsere Leute mussten in fremder Umgebung einen toten Briefkasten anlegen oder ein Vcrsteck leeren. Unter erschwerten Bedingungen, denn bei unseren Übun- gen erhielt die lokale Polizei Fahndungsfotos unserer Leu- te. Die nicht eingeweihten Sicherheitskräfte glaubten, ein Sabotagetrupp sei unterwegs. P-26-Angehörige hatten bei- spielsweise den Auftrag, eine Raffinerie zu sprengen - und trugen dafür Sprengstoffattrappen auf sich.» War das nicht ziemlich riskant? Rico: «Wir verfolgten die Sache aus der Nähe und hätten jederzeit eingreifen können. Richtig hei- kel wurde es nie. Nach solchen Übungen in ganz anderer Umgebung u n d Sprache, also unter erschwerten Bedin- gungen, waren unsere lnstruktoren d a n n ihren Schülern mindestens eine Nasenlänge voraus. Darin bestand unse- re Zusammenarbeit mit den Engländern.» Es scheine, befand Cornu, dass im Wesentlichen die rich- tigen Kaderleute nach England geschickt worden seien und der Unterrichtsstoff im Wesentlichen den tatsächli-
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  562. chen Bedürfnissen des P-26-Kaders entsprochen habe; die Schweizer hätten bisweilen auch Wünsche äussern kön- nen, denen Rechnung getragen worden wäre. D e n umgekehrten Fall, die Besuche von Briten in der Schweiz, beurteilt Rico nicht nur positiv: Das habe in der Regel nicht sehr viel gebracht. «Es gab zu B a c h m a n n s Zei- ten einmal eine Stabsübung mit den Briten in der Schweiz, eine Ü b u n g mit dem D e c k n a m e n <Cravat>, die mich gar nicht überzeugte, weil an sich unmögliche Dinge darin vorkamen, etwa das Durchgeben ganzseitiger chiffrierter Berichte über Funk. Deshalb liess ich die gleiche Ü b u n g nochmals durchführen, mit anderen Leuten aus England; diese Stabsübung («Cravat II>) wollte ich selber miterleben. Sie hatte etwas mehr Substanz. D a n a c h fragte ich die Eng- länder: was erwartet ihr von einer Widerstandsorganisa- tion, aus eurer Sicht? Daraus entstand dann die Stabs- übung «Mont d'Or>: Es gab Nachrichtenarbeit, Propaganda, einen Sabotageakt. Letzteres habe ich noch im Kopf: Ich musste drei Flugplätze bezeichnen, ich meldete Schupfart, Collombier und Ascona. Die Aufgabe hiess: Verhindern, dass w ä h r e n d einer gewissen Zeit von diesen Flugplätzen Flugzeuge aufsteigen, weil die Organisation in jenen Ge- genden Nachschub-Abwürfe aus der Luft erwartet. Jetzt waren intelligente u n d unauffällige Wege zu ersinnen, um das Ziel zu erreichen. Die Nachrichtenleute hätten alle nötigen Informationen beschaffen müssen, d a n n war zu überlegen, ob m a n speziell für diesen Einsatz bestimmte Informanten brauchte und wie m a n an sie herankommt, und so fort. D a n n ging es darum, ob die Genisten z u m Zug k o m m e n sollten oder andere. Das war eine gute Übung.» Bisweilen n a h m e n die Briten auch an bestimmten Ausbil- dungen teil und erhielten Einblick in Unterlagen. Vor allem wussten sie einiges über die schweizerische Widerstands-
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  566. Organisation, kannten die Identität des Chefs und der Inst- ruktoren und die Ausbildungsanlagen wie den Schweizer- hof und «Hagerbach», wo die Stabsübungen stattfanden. Mithin erhielten sie auch klassifizierte Informationen. «Die Tatsache, dass die britischen Dienste zahlreiche Ein- zelheiten über die schweizerische Widerstandsorganisation kannten, mehr als der Bundesrat oder die EMD-Chefs, ist zu beanstanden», schrieb Cornu damals. Rico: «Es lag in der Natur der Sache, dass die Briten mehr wussten als der Bundesrat, der ja tatsächlich fast gar nichts wusste. Aber die Briten erfuhren von uns keine geheimen Dinge wie etwa Führungsstandorte, Lage der künftigen Widerstandsgrup- pen, die Orte der Materialdepots und so weiter.» Cornu monierte damals, die Verantwortlichen des E M D hätten mindestens in groben Zügen über die Zusammen- arbeit mit den britischen Diensten informiert sein müssen, «was ihnen erlaubt hätte, die Sache aus politischer Sicht zu würdigen». EMD-Vorsteher Georges-Andre Chevallaz (1980-1983) hatte Kenntnis von den Kursen, seine Nach- folger Koller und Vill iger offenbar nicht. Der Bundesrat sel- ber bezeichnete die Tatsache, dass die Briten mehr über die P-26 wussten als die Landesregierung, als «bedenklich». Ursprünglich funktionierte diese Zusammenarbeit mit informellen Vereinbarungen von Fall zu Fall, es lief alles über die U N A . Rico: «Es gab absolut nichts Klares. Das passte Generalstabschef Zumstein nicht. Er war selber einmal in England, sein Stabschef danach auch, bei den Leuten von MI5 oder MI6, Spezialisten für Stay-behind. 1984 handelten der Generalstabschef und sein Stabschef mit den Briten ein <Memorandum of understanding> aus, das festhielt, wer wofür zuständig war.» Bei diesem of- fenbar nicht unterzeichneten «Joint Working Agreement» «ging es darum, dass die Zusammenarbeit absolut offi-
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  570. ziell war», betont Rico. «Weiter wurde festgelegt, dass jene Seite, die reist, auch die Reisekosten übernimmt; der Auf- enthalt hingegen war gratis. Das war im Prinzip alles.» Rico selber hat lediglich einmal Einblick in dieses Schrift- stück erhalten. 1987 wurde das M e m o r a n d u m durch ein bilaterales «Technical Support Memo» ergänzt, das rein technische Inhalte gehabt haben soll. Beide D o k u m e n t e konnte Cornu nicht auffinden; sie sollen 1989 den briti- schen Diensten übergeben worden sein, ohne Kopie für die Schweiz. Diese Frage ist bis heute nicht geklärt. Wellen warf damals eine weitere Bemerkung Cornus, die bis heute nachwirkt: Die Kooperation mit den britischen Diensten habe die Entwicklung der schweizerischen Wi- derstandsorganisation besonders zwischen 1967 und 1979 «stark beeinflusst». D a m i t war vorab die Zeit von Oberst B a c h m a n n gemeint. Rico ärgert sich: «Es gab absolut kei- nen Einfluss, ich weiss nicht, wie Cornu daraufkommt. Ich habe immer gesagt: Eine Widerstandsorganisation ist im Prinzip immer ähnlich organisiert. Es braucht die Führung, es braucht eine Verbindung nach oben und untereinander, es braucht Nachrichten, Propaganda, Transport, Genie. Das ist im Grundsatz alles. Diese paar Elemente sind im- mer da, auch in anderen Ländern - Briten hin oder her. Aus dieser Tatsache darf m a n natürlich nicht schliessen, wie Cornu das tat, dass wir auf Anraten oder Geheiss der Briten handelten!» Insgesamt k a m der Bundesrat damals aufgrund des Cor- nu-Rapports z u m Fazit: «Das Ausmass der Zusammenar- beit mit den britischen Diensten ging zu weit. Es ging n icht bloss um Ausbildung - es wurden auch Absichtserklärun- gen formuliert und Investitionen getätigt.»
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  573. KOOPERATION MIT DEN BRITEN
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  575. MOIMTGOMERY IM BERNER OBERLAND
  576. Diese geheime Kooperation zwischen schweizerischen Spezialdienst- und P-26-Ausbildnern und den Briten ist nicht zu verwechseln mit der jahrzehntelangen britisch- schweizerischen Zusammenarbeit in der militärischen Ausbildung. Die Aipin-Kurse britischer Marines im Ber- ner Oberland sind allgemein bekannt, die Übungen bilde- ten «einen offiziellen Bestandteil unserer Ausbildung. Die Schweizer Behörden wurden informiert», sagte 2002 der Sprecher der britischen Royal Marines gegenüber Schwei- zer Medien. Weniger bekannt sind die engen und vertrau- ten Kontakte des ranghöchsten britischen Militärgastes, Heldmarschall Bernard Montgomcry, von 1951 bis 1958 stellvertretender Nato-Obcrkommandierender. «Monty», der Sieger der Schlacht von El Alamein und Co-Chef der Invasion von 1944, genoss in schweizerischen Militärkrei- sen hohes Ansehen und war regelmässig im winterlichen Berner Oberland zu Gast; als skifahrender Tourist führte er intensive Gespräche mit Exponenten der politischen und militärischen F ü h r u n g der Schweiz, vor allem mit Verteidigungsministern. Wie der Historiker Mauro Mantovani herausfand, kam es im Frühjahr 1952 zu einer militärischen Vereinbarung, dem «Montogomery-de Montmollin-Agreement» (Louis de Montmollin war von 1945 bis 1957 schweizerischer General- stabschef): Darin wurden für den Fall eines Angriffs der Koten Armee Kontakt-, Anschluss- oder Scharnierpunkte der Natotruppen mit schweizerischen Truppen im Grenz- raum definiert. Das ging ziemlich weit und erinnert, wie der Historiker Hans Rudolf Fuhrer meint, stark an General Gui- sans Vereinbarungen von 1939/40 mit den Franzosen über die gemeinsame Rolle des Gempenplateaus bei Basel im Fall einer Neutralitätsverletzung durch die Achsenmächte.
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  580. Bereits 1949 hatte «Monty» bei einem seiner Gespräche die Berechenbarkeit der neutralen Schweiz im Kriegsfall aus- zuloten versucht, und 1956 kam es, wie Mantovani 1995 nachwies, zu einem geheimen M e m o r a n d u m zwischen Montgomery und dem damaligen Verteidigungsminister, Bundesrat Paul Chaudet. D a r i n ist die Rede davon, dass die Schweiz im Kriegsfall der westlichen Allianz beitreten würde! Das müsse, so habe Chaudet gemäss Montgomery gesagt, ganz geheim bleiben; er, Montgomery, sei der ein- zige, mit dem er diese Sache je diskutiert habe. Der Grad der Neutralitätsproblematik dieses Dokuments ist bis heute umstritten. Konkrete Hinweise auf die Aufgabe der Neutra- lität und auf den beabsichtigen Beitritt zu einer präventiven Militärallianz, sprich der Nato-Anschluss, sind, abgesehen von Chaudets Bemerkung, in der Zeit des Kalten Kriegs jedenfalls nicht vorhanden.
  581. EINBINDUNG DER P - 2 6 IN NATO-STRUKTUREN?
  582. Im Z u s a m m e n h a n g mit der Widerstandsorganisation sorg- te die Frage der Einbindung in umstrittene Nato-Struktu- ren für Schlagzeilen. Der Verdacht wog viel schwerer als die Ausbildungszusammenarbeit mit den britischen Ge- heimdienstleuten. War die P-26 direkt oder indirekt Teil des westeuropäischen «Gladio»-Netzes und damit von inoffi- ziellen, keineswegs lupenreinen Nato-Strukturen? Das wäre neutralitätspolitisch unhaltbar gewesen. Im Mittelpunkt des Verdachts stand das Harpoon-Funkgerät, das in fast allen westeuropäischen Staaten für Stay-behind-Zwecke angeschafft worden war und auch in die Schweiz geliefert wurde. Die Widerstandsorganisation besass das Gerät, konnte es aber nicht mehr benutzen (siehe Seite 90). Na- türlich wusste die P-26-Führung, dass das Gerät in den Nachbarstaaten eingesetzt wurde. Rico: «Verschwörungs-
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  586. I lieorien sind unsinnig. Aber wenn jemand böse will, k a n n er Parallelitäten wie die erwähnten Strukturen noch und noch herstellen. Aber auch die Funkgeräte sind noch lange keine Connection.» Für den Laien aber lag der Verdacht relativ nahe. Cornu beurteilte zwar weder die Anschaffung des Geräts mit Hilfe der Briten noch die Zusammenarbeit mit ihnen auf diesem Gebiet als neutralitätspolitisch problematisch, so- lange es sich lediglich um «strikt technische Zusammenar- beit» handle, «Bedenklich» sei jedoch, «dass de facto eine Hinbindung in ein internationales Übermittlungsnetz, das sich ganz oder zum Teil auf Mitglieder der Nato oder auf Dienste, die Mitglieder der internationalen Komitees wa- ren, stützt, möglich gewesen wäre.» Und weiter: «Die Be- schaffung des Systems Harpoon verwirklichte, was auch immer der Wille der schweizerischen Verantwortlichen gewesen sein mag, eine Voraussetzung zu einer möglichen künftigen Integration der Organisation P-26 in ein euro- päisches Stay-behind-Netz.» Die Harpoon-Geschichte schien perfekt in all die Vermu- tungen und Verdächtigungen hineinzupassen, ja das Bild der P-26 als Teil einer internationalen Widerstandsorganisa- tion endgültig und plausibel abzurunden. Rico widerspricht auch hier mit aller Klarheit: «Absoluter Unsinn. Aus der Beschaffung des Systems auf eine Einbindung schliessen können nur Leute, die von Funk keine A h n u n g haben oder böswillig etwas in die Welt setzen. Wenn die Nato-Staaten und die Schweiz das gleiche Gerät besitzen, heisst das noch lange nicht, dass sie auch miteinander kommunizieren kön- nen. Damit die Verbindung klappt, müssen zusätzlich auch die gegenseitigen Funkunterlagen übereinstimmen, sonst läuft rein gar nichts. Die Nato-Länder hatten unseren Funk- schlüssel natürlich nicht. Das Flarpoon-Gerät ist bloss eine
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  590. Kiste, eine Hardware; zum Funktionieren benötigt sie zu- erst eine entsprechende Software. Das k a n n Ihnen übrigens jeder Armeefunker bestätigen.» Anders gesagt: Hätte man beispielsweise die Harpoon-Funknetze der Länder A, B, C u n d D zusammenhängen wollen, hätte dies vorausgesetzt, dass alle beteiligten Länder über alle Funkunterlagen der anderen beteiligten Länder verfügt oder gemeinsame Un- terlagen besessen hätten. Erst dann wäre das gemeinsame Netz funktionsfähig gewesen. Rico zieht einen Vergleich, um die Frage zu illustrieren: «Wir haben oder hatten in der Schweiz amerikanische Kampfflugzeuge und französische Kampfflugzeuge. Alle verfügen über Funkverbindungen, aber natürlich weder nach Amerika noch nach Frankreich, sondern nur innerhalb der Schweiz.» Im Cornu-Bericht taucht weiter der Hinweis auf, dass eine schweizerische Harpoon-Funkzentrale in England geplant gewesen sei, beziehungsweise die Installation einer Harpoon-Zentraleinheit in einem englischen Über- mittlungszentrum. Rico verneint eine solche Absicht: M a n habe bewusst nicht so weit gehen wollen, Entscheide der Landesregierung zu präjudizieren. W o h e r die Aussage Cornus stammt, ist nicht klar. Rico: «Tatsächlich haben die Engländer uns angeboten, unsere Funkzentrale an die ihrige in Südengland a n z u h ä n g e n . Aber genau das wollte ich aus G r ü n d e n der Neutralitätsproblematik nicht. Frü- her war m a n da gar nicht zimperlich: B a c h m a n n s Funk- verbindungen von der Schweiz in den von ihm geplanten Exilstandort in Irland waren eingespielt. Dergleichen k a m für mich nicht in Frage.» Klare Beweise für eine wie auch immer geartete Einbin- dung der P-26 in Nato-Strukturen gibt es bis heute keine. Der Verdacht widerspricht auch jeder Logik: Der in der P-26 geltende G e d a n k e der Abschottung in Kleingruppen
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  592. KOOPERATION MIT D E N BRITEN
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  594. war ganz zentral und galt nicht nur in der Schweiz. Die Re- gionen und Gruppen der schweizerischen Widerstandsor- ganisation hatten ganz bewusst keine Querverbindungen, aus Sicherheitsgründen: Je weniger jemand weiss, desto weniger k a n n er unter Folter preisgeben. Dasselbe Prinzip galt auch bei den ausländischen Stay-behind-Gruppen, die schliesslich genau dieselben Sicherheitsbedürfnisse hat- ten u n d deshalb ä h n l i c h strukturiert waren. Es ist nicht einzusehen, weshalb die lebenswichtige Abschottung erst recht nicht für die zwischenstaatliche Ebene gegolten ha- ben soll, wo es noch um viel mehr ging. In Friedenszeiten ein geheimes internationales Funknetz voller Querver- bindungen aufzubauen, wäre von der Sicherheit her kaum mehr kontrollierbar gewesen - es hätte allen Grundregeln der G e h e i m h a l t u n g widersprochen, ein derartiges Netz unter B e s a t z u n g s b e d i n g u n g e n zu unterhalten, selbst wenn sämtlich Meldungen chiffriert gewesen wären. Rico: «Jeder Staat, der das Harpoon-System beschaffte, erarbei- tete sich seine eigenen Chiffrierunterlagen für seine Gerä- te u n d konnte keine Verbindung zu Partnern herstellen. Bin internationales Netz existierte nicht. Das gehörte zum Harpoon-Konzept.» Irgendwelche Hinweise auf einen in- ternationalen «Masterschlüssel» gibt es in der Tat keine. Cornu k a m damals «mit an Sicherheit grenzender Wahr- scheinlichkeit» z u m Schluss, die P-26 habe keine Bezie- hungen mit der Nato oder mit Nato-Organen gehabt. Der Historiker Daniele Ganser, der die ganze «Gladio»-The- matik aufgearbeitet hat, bleibt trotz dem Fehlen jeglicher Beweise skeptisch und fordert weitere Untersuchungen. Cornu selber lieferte Hinweise, weshalb eine Einbindung als nicht besonders plausibel erschien: «Die schweizeri- sche Organisation hatte es nicht nötig, das - politische - Risiko von Verbindungen zur Nato einzugehen; ihre Zu-
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  598. sanunenarbeit mit Grossbritannien reichte aus, um ihre Bedürfnisse abzudecken.» Und weiter: «Die Mentalität der Verantwortlichen der schweizerischen Organisation spricht eher gegen Verbindungen zur Nato: ein m a n c h m a l etwas übersteigerter Patriotismus, Misstrauen gegen ge- wisse der Nato angehörenden Staaten, starker Wille, das Geheimnis der Organisation zu wahren .» W ä h r e n d Cat- telans Vorgänger B a c h m a n n in sehr weitgehender Art mit Briten und Iren kooperiert hatte (siehe Seite 252), tendier- te Rico mit der Zeit dazu, den Einfluss der Briten eher zu- rückzuschrauben. D o c h dazu ist es nicht mehr gekommen. Werden die verblieben P-26-Akten nach Aufhebung der Schutzfrist irgendwelche neuen Aufschlüsse über eine all- fällige Zusammenarbeit mit der Nato geben? Rico: «Nein. Es gab da nichts. Rein nichts.» Schon 1990 hatte Rico an der Pressekonferenz mit Senn gesagt: O h n e mögliche wei- tere Untersuchungen vorwegnehmen zu wollen, k ö n n e er verbindlich erklären, «dass wir keine Beziehungen mit diesen Nato-Organisationen gehabt haben». Auch PUK- Präsident Carlo Schmid hatte den Eindruck, dass hier die Wahrheit gesagt werde. Von Cornu ist nichts Weiteres zu erhoffen. Der geheime Teil seines Berichts, so erklärte Villiger 1991 vor dem Par- lament, enthalte zahlreiche Angaben über fremde Geheim- dienste und Widerstandsorganisationen, über Strukturen, Hierachien und Verbindungen. Es könne nicht Sache des Bundesrats sein, geheime Angelegenheiten fremder Staaten zu enthüllen. Natürlich stiess diese Haltung teilsauf schar- fe Kritik, aber Villiger gab nicht nach. Und so wird es blei- ben. Denn selbst nach der Aufhebung der Schweigepflicht für d ie Ehemaligen im Herbst 2009 war der Bundesrat nicht bereit, diesen geheimen Teil zu veröffentlichen: Zwischen der Veröffentlichung von amtlichen Akten und der Schil-
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  600. DIE AKTIVIERUNG IM ERNSTFALL
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  602. derung von persönlichen Diensterlebnissen bestehe «ein sehr wesentlicher Unterschied», liess der Bundesrat im Fe- bruar 2010 Motionär Jo L a n g wissen. Die schutzwürdigen privaten u n d öffentlichen Interessen würden nach wie vor überwiegen, weshalb die A k t e n nicht freigegeben werden sollen. Der Bericht Cornu unterliegt einer Sperrfrist von 50 Jahren. D a n n wird m a n das Jahr 2041 schreiben.
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  604. DIE AKTIVIERUNG IM ERNSTFALL
  605. Natürlich gab es in der P-26 konkrete Überlegungen dazu, wie der Übergang von der Kaderorganisation in Friedens- zeiten zur aktiven Widerstandsorganisation im Beset- zungsfall stattfinden sollte, welche Schritte folgen müssten und welche Instanz für welchen Schritt verantwortlich war. Den detaillierten M a s s n a h m e n k a t a l o g für die Erstellung der operativen Bereitschaft im Ernstfall schildert Rico so: «1. Der Generalstabschef legt im Ernstfall fest, zu welchem Zeit- punkt Material und Waffen dezentralisiert, d.h. an die einzelnen Mitglieder in den Widerstandsregionen verteilt werden. Dies wäre ein irreversibler Schritt gewesen: Wenn das Material einmal verteilt ist, kann man es praktisch nicht mehr zurückholen, weil es allzu sehr verzettelt wird und in den Regionen oft an Standorten verbor- gen wird, die die Führung gar nicht kennt. Dieser Befehl musste zwingend vom Generalstabschef kommen! Ich selber durfte das nicht befehlen. Meine Leute wussten das, auch wenn es vielleicht nicht ganz allen so klar bewusst war.
  606. 2. Im zweiten Schritt kommt der Bundesrat zum Zug: Er wählt den Chef der aktiven Widerstandsorganisation, einen in der Öffentlich- keit bekannten, charismatischen Mann. Der Bevölkerung wäre die- se Wahl natürlich mitgeteilt worden. Bis zu dieser Wahl hätte ich die Verantwortung getragen, wäre aber selber gewiss nicht dieser
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  610. Chef geworden. Für diese Aufgabe hätte es eine der Öffentlichkeit bekannte Persönlichkeit von hohem Ansehen gebraucht.
  611. 3. In einem weiteren Schritt (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge) befiehlt der Bundesrat die Ausweitung der Kader- zur operativen Widerstandsorganisation, also den Aufwuchs, wie ich ihn geschil- dert habe [siehe unten im Anschluss]. 4. Der letzte, entscheidende, Schritt besteht in der Aufnahme des Widerstandes auf Befehl des Bundesrats.
  612. So wäre das vor sich gegangen. Es hätte also eines Befehls des Generalstabschefs bedurft, einer öffentlich bekanntgemachten Wahl und zweier Befehle der obersten Landesbehörde.»
  613. «Hätte die Organisation aktiviert werden müssen, wären grundsätzlich zwei Wege zur Verfügung gestanden: Entwe- der hätten wir die Regionschefs durch die Verbindungsof- fiziere des Stabs benachrichtigt und aktiviert (in einer Phase noch vor einer Besetzung hätte wohl noch genügend Bewe- gungsfreiheit bestanden) oder aber über Funk. Die Funkver- bindungen zwischen den Regionen und dem Führungsstab waren ja eingespielt und wurden regelmässig getestet. Eine dritte Möglichkeit, die nur angedacht, aber nicht organisiert war, hätte in Codesätzen über das Radio bestanden; die Stichworte hatten wir aber noch nicht erarbeitet. Für den einzelnen Regionschef hätte der Aktivierungsbefehl entwe- der «Aufwuchs einleiten> bedeutet oder aber: den Widerstand mit den jetzt zur Verfügung stehenden Mitteln bereits führen, in der Hoffnung, es verbleibe doch noch etwas Zeit für den Aufwuchs.» Der bestehende Führungsstab wäre aufgeteilt worden, der «Führungsstab Ausland» hätte sich rechtzeitig ins Ausland abgesetzt, ausgerüstet mit Diplomatenpässen, um vom Exil aus in Kooperation mit dem Bundesrat - der wahrscheinlich ebenfalls im Exil gewesen wäre - den Wider- stand in den besetzten Landesteilen zu koordinieren.
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  615. DER AUSBAU DER ORGANISATION IM ERNSTTALL
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  617. DER AUSBAU DER ORGANISATION IM ERNSTFALL
  618. Als die P-26 enttarnt wurde, befand sie sich nicht in je- nem Z u s t a n d , der für den Ernstfalleinsatz am Tag X nötig gewesen wäre. Die P l a n u n g sah vor, dass die Kaderorga- nisation P-26 sich im Besetzungsfall auf Befehl der poli- tischen Behörde zur operativen Widerstandsorganisation ausbaut. D a s bedeutet, dass die Organisation mindestens phasenweise erheblich über den Friedens-Soll bestand von 8ÜÜ Angehörigen h i n a u s gewachsen wäre. Dieser Ausbau lässt sich einigermassen mit dem Begriff « A u f w u c h s » um- schreiben, wie er aus der heutigen Armeedebatte bekannt ist. Der Prozess hätte mehrere Monate, vielleicht gegen ein Jahr in Anspruch g e n o m m e n . D e n A u f w u c h s muss m a n sich aber als einen uneinheitlichen, a m o r p h e n Prozess ohne zuvor quantifiziertes Ziel vorstellen. D e n n auch im Ernstfall wäre die P-26 nie als Einheit und schon gar nicht als «Armee» aktiv geworden. D i e Regionen hätten auch unter der Besatzungsmacht a u t o n o m gearbeitet, aber ko- ordiniert durch den Führungsstab. W i e gross die ganze P-26 im Besetzungsfall geworden wäre, lässt sich nicht genau beziffern, weil dies von den A k t i v i t ä t e n der einzelnen Regionen a b h ä n g i g gewesen wäre. M a n muss sich die Unterschiede etwa so vorstellen: Die eine Region hätte sich verstärken müssen, die andere wäre auf ihren Kern geschrumpft, je nach Aufgabe. Rico nennt ein einfaches Beispiel aus dem Propagandabereich (psychologische Kriegführung): «Eine Region plant eine A k t i o n mit überraschend auftauchenden Plakaten u n d Flugblättern. D a z u braucht es einen Texter oder Redaktor, der klar, einfach u n d plakativ formulieren k a n n , falls der Propagandachef der Region nicht selber d a z u imstande ist. Es braucht jemanden, der das erforderliche Papier bringt
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  622. und Leute, die die fertigen Produkte verteilen. Wenn die A k t i o n vorbei ist, <verschwinden> der Texter und der Pa- pierbeschaffer wieder.» Auch bei Sabotageakten hätte es sich ä h n l i c h verhalten: «Nehmen wir an, eine Gruppe wolle in E r f a h r u n g bringen, wo eine bestimmte Bahn- linie unterbrochen werden k a n n . M a n muss also zuerst einmal jemanden finden, der sich bei der B a h n auskennt u n d geeignete P u n k t e angeben k a n n . D a z u braucht es noch jemanden, der die Schwachstellen an diesen Orten kennt u n d dazu vielleicht noch das Wissen von jemand anderem benötigt. Das sind schon drei. D a n n braucht es wahrscheinlich noch jemanden, der den Zugang zu die- sen Orten verschafft, also einen <Türöffner». Jetzt sind es bereits vier. W e n n die Aufgabe gelöst ist, «verschwinden» diese Leute wieder, es bleibt nur ein einziger übrig.» Zu den Überlegungen in Friedenszeiten erklärt Cattelan weiter: «Wir haben damals festgelegt, dass der Nachrich- tenchef ein bis zwei Leute permanent zur Seite haben soll, schon nur aus G r ü n d e n der Stellvertretung; Gleiches gilt für den Propagandachef, denn Ideen finden zu zweit oder zu dritt ist fruchtbarer. A u c h der Transportchef konnte einen oder zwei Spezialisten bei sich haben, etwa einen M a n n von der B a h n oder von einer Busgesellschaft, damit er einen permanenten Z u g a n g hat. All die Weiteren wa- ren, um ein treffendes Wort von Ruedi Moser zu benutzen, <Einmalsoldaten>.» Die operative Grösse der P-26 im Besetzungsfall wäre also die S u m m e ihrer autonomen Teile gewesen und hätte sich den Umständen und Aufträgen entsprechend immer wie- der etwas verändert, nach oben wie nach unten. Das Ziel lautete: Jede Region ist in der Lage, sich konspirativ (d.h. nicht erkennbar) zu verhalten, in der eigenen Gegend ei- nen Nachrichtendienst zu betreiben, gefährdeten Mitbür-
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  626. gern zu helfen, effektvolle P r o p a g a n d a a k t i o n e n zur Zer- niürbung der Besatzer u n d E r m u t i g u n g der Bevölkerung auszuhecken u n d d u r c h z u f ü h r e n , später auch zu gezielten Sabotageakten mit grösstmöglicher Breitenwirkung über- zugehen. Vor allem aber gilt: Von einem Ausbau zu einer bewaffneten K a m p f t r u p p e konnte nicht die Rede sein. Iis gab auch nie einen militärischen Kampfauftrag. An- gesichts ihrer starken Fragmentierung auch im Ernstfall stellt sich sogar die Frage, ob die Widerstandsorganisation denn überhaupt zu mehr als bloss p u n k t u e l l e n , lokalen Aktionen oder Nadelstichen imstande gewesen wäre. Die Antwort lautet: ja. Landesweite A k t i o n e n , namentlich P r o p a g a n d a a k t i o n e n aller Art, w ä r e n möglich gewesen: Der Bundesrat u n d der Führungsstab im Exil hätten d a n k leistungsfähigem F u n k die Aktivitäten der einzelnen Re- gionen zentral f uhren u n d wirksam koordinieren k ö n n e n .
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  628. DIE SCHWEIZ UNTER BESETZUNG
  629. Manöver von grossen Verbänden der A r m e e basieren im- mer auf A n n a h m e n über Stärke, Möglichkeiten und Vorge- hen der feindlichen Streitkräfte. Eine m a n c h m a l k n a p p e , oft aber detaillierte «taktische Lage» fasst diese A n n a h - men jeweils z u s a m m e n . W ä h r e n d die «taktische Lage» in den M a n ö v e r n die bewaffneten K a m p f h a n d l u n g e n z u m Gegenstand hatten, drehten sich die entsprechenden G r u n d l a g e n bei der P-26 um den Fall einer totalen militä- rischen Besetzung des Landes und der U n t e r d r ü c k u n g der Bevölkerung nach der K a p i t u l a t i o n der Schweizer A r m e e und der Landesbehörden. Diese Papiere sind aussagekräftig: Die darin geschilderten Bedrohungsbilder zeigen am anschaulichsten das Selbst-
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  633. Verständnis der P-26, den S i n n u n d Z w e c k der Wider- standsorganisation u n d die Art und Weise, wie sie sich die U m s t ä n d e ihres m ö g l i c h e n Einsatzes vorzustellen ver- suchte.
  634. «DIE SCHWEIZ UNTER BESETZUNGSBEDINGUNGEN» D a s Schriftstück mit diesem Titel diente in der P-26-Zeit (möglicherweise schon in der Vorgängerorganisation) als Basis für mehrere grosse Stabsübungen mit dem Deckna- m e n «Cravat». Eine mögliche (sowjetische) Besetzungs- Situation nach B e e n d i g u n g des militärischen Kampfs und nach der A b d a n k u n g der Landesbehörden wird darin mit detaillierten A n n a h m e n geschildert: «1. Militärische Garnisonen stehen in den meisten grösseren und mittleren Gemeinden, die Besetzungstruppen wohnen in La- gern, vorwiegend in ehemaligen Kasernen und Schulhäusern. Die Grösse dieser Lager variiert; sie beträgt meistens ungefähr die Grösse eines verstärkten Kampfbataillons. In jedem Lager befindet sich eine verstärkte motorisierte Schützenkompanie als Bereitschaftstruppe, die jederzeit sofort eingesetzt werden kann.
  635. 2. Eine Anzahl von Sperrzonen wurde in der Nähe der Grenzgebiete bezeichnet, wobei nicht klar ist, was in diesen Zonen geschieht. 3. Viele der früheren Kasernen und Polizeiunterkünfte werden als Internierungslager, Einvernahme-Zentren und Gefängnisse gebraucht. Unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen fanden spontane Verhaftungen statt, welchen dann eine zweite Kategorie von Verhaftungen folgte, in denen Leute aus dem Beziehungskreis der zuerst Verhafteten erfasst wurden. In diesem Zusammenhang spielen die nationalen Datenbanken sowie die zentralen Personenregister, in denen persönliche Daten über die Bürger gespeichert sind, eine zentrale Rolle als Waffe in den Händen der sowjetischen Einvernahmebeamten.
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  640. 4. Massengräber mit den Leichen von Hunderten von Opfern (alle mit Genickschüssen), z. B. frühere Offiziere, Regierungsbeamte, als Kapitalisten bekannte Personen, Antikommunisten, Aufrührer etc., sind in bewaldeten Gebieten entdeckt worden. 5. Die Bevölkerung ist mit den verschiedensten Beschränkungen konfrontiert worden, welche alle zum Ziel hatten, sie unter abso- lute Kontrolle zu bringen; z.B. Beschränkungen der persönlichen Freiheit. Die Abschaffung persönlicher und politischer Rechte wie die Bewegungsfreiheit, die Redefreiheit, die Presse- und Ver- sammlungsfreiheit etc.
  641. 6. Es besteht eine Ausgangssperre, die rigoros gehandhabt wird. Tagsüber führen Militär- und Polizeipatrouillen unvermittelt und oft ohne erkennbaren Anlass Stichproben und Razzien durch, wobei einzelne Bürger in den Strassen, zu Hause, auf dem Arbeitsweg, in Eisenbahnen und anderen öffentlichen Orten überprüft werden. 7. Die Rationierung und Lebensmittelknappheit haben zum Auf- kommen von Schwarzmarktaktivitäten geführt. 8. In der Industrie wurden die normalen durchschnittlichen Ar- beitszeiten erhöht; zusätzliche Schichten sind eingeführt worden. Gewisse industrielle Installationen werden demontiert und wegge- schafft. Für gewisse Spezialisten und Techniker wird ein «freiwilli- ges« Obligatorium für Arbeit im Heimatland des Feindes eingeführt. 9. Die Nachrichtenmedien: Private Radioempfänger mussten kurz nach Beendigung der Kampfhandlungen abgegeben werden {viele nicht deklarierte Geräte wurden versteckt).
  642. Die Besetzungstruppen haben eine Anzahl starker Störsender eingerichtet. Das für den zivilen Gebrauch zugelassene Radio hat nur eine beschränkte Bandbreite oder ist durch Kabel mit dem offiziellen Rundfunknetz verbunden. Offizielle Zeitungen, Rundfunk und Televisionssendungen etc. sind voll von Propaganda. Alle Verbindungswege ins Gebirge sind überwacht. Die Sowjets reali- sieren, dass jeder Ausbrecher oder Widerstandskämpfer in diesen Gebieten Hilfe und Fluchtwege sucht.
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  646. 10. Clubs und Vereine: Alle Schützen-, Fussball- oder Sportver- eine, Pfadfinderorganisationen sind aufgelöst worden. Auf Ini- tiative des KGB wird eine Jugendbewegung, vergleichbar mit der Hitlerjugend im 2. Weltkrieg, unter dem Namen «Junge Pioniere» gegründet. Mitglieder dieser Bewegung mit roten Armbinden und roten Halstüchern tauchen täglich in Städten und Dörfern auf.
  647. 11. Miliz/Polizei: Die Besatzungstruppen haben erste Schritte zur Bildung einer Miliz realisiert: die Schweizer Volksmiliz.
  648. Es ist nicht bekannt, wie weit diese Bemühungen fortgeschritten sind, da den Rekruten kein Ausgang gewährt wird und sie somit bisher von der Öffentlichkeit ferngehalten worden sind. Viele höhere Offiziere der Polizeikräfte wurden verhaftet, aber ein Grossteil der Unteroffiziere und Polizisten sind im Dienst behalten worden, soweit sie in den KGB-Verhören standgehalten haben. Alle wurden zur Rapporterstattung über ihre Kollegen verpflichtet. Angehörige der Polizeikorps, welche sich als Agenten und Infor- manten anwerben liessen, wurden mit Beförderungen belohnt.
  649. 12. Von den ersten Tagen der Besetzung an wurde die schweizeri- sche Bevölkerung mit einer Nonstop-Kampagne berieselt, um die hervorragenden Eigenschaften eines kommunistischen Regimes zu demonstrieren. In vielen Primarschulen wurde die russische Sprache zum obligatorischen Schulfach erklärt. Sofortige und unerbittliche Strafen wurden gegen Personen, die als Kapitalisten oder Unruhestifter bekannt waren, verhängt. Jede Art von Wider- stand oder Disziplinlosigkeit wurde rücksichtslos bestraft. Unter diesen Bedingungen entwickelt sich eine egoistische Tendenz jedes Einzelnen, die nur noch auf Selbsterhaltung gerichtet ist. Hoffnungsvolle Gerüchte werden in Umlauf gebracht mit dem Ziel, die Verbreiter anschliessend zu bestrafen. Die Kunst der Denun- ziation wird perfektioniert und überall gebraucht. Das Endresultat ist eine widerwärtige Unterwerfung der von Besetzern angeord- neten Kontrollen durch die Bevölkerung. Es besteht ein Gefühl «Lieber rot als tot>.»
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  654. NACHRICHTENBESCHAFFUNG UNTER BESATZUNGS- BEDINGUNGEN
  655. Noch viel detaillierter und didaktisch geschickter schilder- te ein anderes Szenario die Bedingungen einer rigorosen Besatzungspolitik. Dieses Schriftstück diente der Ausbil- dung im Nachrichtendienst der P-26 und hielt die Schüler dazu an, sich unter den angenommenen, massiv erschwer- ten Umständen, Möglichkeiten zur Beschaffung von Infor- mationen über die Zustände im Land auszudenken. Dieses über 20 Seiten lange, im Folgenden zusammen- gefasste Szenario versuchte die Zeit zwischen rund drei Wochen und drei Monaten nach einer militärischen Ok- kupation bis und mit Einsetzung einer Militärverwaltung zu beschreiben. Vorausgegangen sei ein kurzer, nicht allzu heftiger militärischer Konflikt, hiess es einleitend darin. Die Besetzung sei möglich geworden als Folge von Faktoren wie politische Erpressung, indirekte Kriegführung (d.h. Subversion), strategischer Überfall, materielle Überlegen- heit der Besatzungsmacht, kein Einsatz von Atomwaffen, wohl aber örtlich beschränkte Einsätze von chemischen Kampfstoffen. Bevölkerung,: Das Kriegsrecht auferlegt der Bevölkerung drastische Bewegungseinschränkungen, Ausgangssper- ren, Spezialbewilligungen für Reisen; private Autos sind beschlagnahmt und nur mit besonderem «Fahrbefehl» und auf vorgeschriebenen Routen benutzbar. Die Bevölkerung wird systematisch kontrolliert und unterdrückt: Weitver- zweigtes Spitzelsystem, Verhaftung und Verschleppung wichtiger Exponenten der Bevölkerung (Politiker, Intellek- tuelle, Geistliche, Offiziere, Unternehmer etc.). Jede Person muss sich mit umfassenden Fragebögen über jeden Aspekt ihres Lebens registrieren lassen, falsche Angaben werden streng geahndet. Nur wer sich korrekt meldet, erhält das
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  657. Dit: ORGANISAIION
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  659. Lebensnotwendige. Für alles und jedes braucht es einen Ausweis oder eine Bewilligung, ständig müssen Formulare ausgefüllt werden, die die Besatzer auf Unstimmigkeiten oder Hinweise auf verdächtiges Verhalten durchkämmen. D a z u finden immer wieder überraschende Anhaltungen, Kontrollen, Durchsuchungen, Razzien statt. Es besteht Pflicht zum Arbeitseinsatz in überwachten «Arbeitsbriga- den». Auch in der Freizeit sind die Einwohner ständiger politischer Propaganda ausgesetzt. Nach dem Verbot aller Parteien und Vereinigungen werden neue, von den Macht- habern kontrollierte Parteien gebildet; Mitgliedschaft ist Voraussetzung für die Besetzung wichtiger Posten. Repression: Bei Verdacht oder Beweis für verbotenes re- gimekritisches Verhalten - Sachbeschädigungen, aufrüh- rerische Inschriften, Bildung «illegaler» Gruppen et ce- tera - wird mit drakonischen Strafen eingegriffen, oft mit Exekution nach summarischem Verfahren gemäss Kriegs- recht. Verdächtige verschwinden manchmal spurlos. Die Besatzungsmacht schürt so ein Klima der Angst und Un- gewissheit, der ständigen Bedrohung von Leib und Leben, Arbeitsplatz und Eigentum, es herrscht ein Klima des all- gemeinen Misstrauens u n d der gegenseitigen Denunzia- tion. Machtstrukturen: Das unter Kriegsrecht stehende Land wird neu in reine Administrativeinheiten eingeteilt. Obers- te Macht ist der Militärgouverneur. Die neue Zivilverwal- tung wird von kommissarischen Beamten wah rgenommen, die von den Besatzern teils schon vorher für diese Aufgabe vorgesehen waren; regelmässig handelt es sich um frühe- re politische Parteigänger der Besatzungsmacht. Als Ver- antwortliche der Zivilverwaltung werden auch Leute mit «dunkler Vergangenheit» eingesetzt: Diese sind von der Gnade der Machthaber abhängig, erpressbar und können
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  661. DIE S C H W E I Z U N T E R BESETZUNG
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  663. leicht auch als «Sündenböcke» gebraucht werden. Beispiele von ersten Massnahmen der Zivilverwaltung: Registrierung aller Einwohner mittels Fragebügen, Registrierung aller verwendbaren Sachwerte; Konfiskation des Eigentums von Vertriebenen, Umgesiedelten, Verurteilten, Verschleppten, Geflüchteten; Zuweisung von Wohnraum an die Bevölke- rung; Aufbau eines Kontroll- und Spitzelsystems; Ausgabe von Lebensmittelmarken und anderer Versorgungsgüter (Benzin, Heizbrennstoffe etc.). Zusätzlich zur Registrie- rung müssen die Einwohner alles Mögliche abgeben, dar- unter auch Fotokopierer, Landeskarten, Aufnahmegeräte, PCs, Batterien und vieles mehr. Infrastruktur, Medien: Die Infrastruktur im Land ist be- schädigt, das Verkehrsnetz vielerorts unterbrochen, ein durchgehender Bahnverkehr ist unmöglich, ein Telefon- Automatennetz existiert nicht mehr. Die Medien unter- liegen straffer Kontrolle; Agcntunueldung und politische Artikel werden zentral aufbereitet und verteilt. Das ein- zige offizielle Radioprogramm und das auf den Abend be- schränkte TV-Programm dient lediglich Propagandazwe- cken; der Besitz von starken Radio- oder TV-Empfängern ist verboten. Wirtschaft: Wirtschaftlich entwickelt sich parallel zur knappen Versorgung mit dem Grundbedarf (die Lebens- mittelmarken dienen als Disziplinierungsmittel) bald ein ausgedehnter Schwarzmarkt mit Tauschhandel und allem, was dazugehört. Die Wirtschaft wird vollständig einer zentralen Planung unterstellt, alle grösseren Betriebe und Dienstleistungsunternehmen sind verstaatlicht; viele Tätig- keiten werden aufgehoben (z. B. private Banken und Versi- cherungen). Das neue Wirtschaftssystem ist gekennzeich- net durch ungeheure Schwerfälligkeit, riesigen Papierkrieg, viele Engpässe und Verteilungsprobleme; dies schafft die
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  665. Dit: ORGANISAIION
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  667. Voraussetzungen für eine allumfassende Korruption und den Aufbau einer Schattenwirtschaft. Besatzungstruppen: All dies wird gesichert durch die Präsenz der Besatzungstruppen, in der Stärke von vier bis zehn stationierten Divisionen. Anstelle der Kantone u n d Bezirke gibt es nur noch Militärbezirke und -kreise; die Besatzungstruppen sind aufgeteilt auf die Ebene der Bezirke und Kreise u n d markieren dauernd Präsenz mit demonstrativen Aufmärschen oder Anwesenheit bei Ver- anstaltungen der Machthaber, aber auch durch überra- schende Kontrollen, Razzien und Gefechtsübungen. Willerstand: Es ist vor allem im Anfangsstadium mit spon- tanen Aktionen gegen die Besatzer zu rechnen (Sabotage, Maueraufschriften, Proteste, Angriffe). Die Besatzungs- macht wird mit schärfsten Mitteln antworten: brutale Be- strafung von aufgespürten oderauch nur vermuteten Tätern. Führen die Ermittlungen zu nichts, wird mit Verhaftungen, Geiselnahmen und Geiselexekutionen zurückgeschlagen. Die Besatzungsmacht versucht, jede Widerstandsregung schon im Keim zu ersticken und einen Keil zu treiben zwi- schen die schweigende Mehrheit der Bevölkerung und die Angehörigen von Widerstandsgruppen. Die Bildung einer Widerstandsorganisation wird mit allen Mitteln zu verhin- dern versucht: umfassendes Nachrichten- und Spitzelsys- tem, Provokationen, Versuch der Unterwanderung, Auf- forderung an die Bevölkerung. Verdächtige zu melden, mit Strafandrohung im Unterlassungsfall. In der Bevölkerung wird in dieser ersten Phase die Sorge um das physische Überleben dominieren, die Mehrheit wird sich nicht aktiv an Aktionen beteiligen, hingegen ist mit versteckter Bil- ligung u n d Unterstützung von Widerstandsaktionen (Ge- heimhaltung, Weitergabe von Informationen, Beteiligung an Aktionen des passiven Widerstandes etc.) zu rechnen.
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  669. DIE SCHWEIZ UNTER BESETZUNG
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  671. Möglichkeiten: Aufgrund dieser Lagebeschreibung mit den einschneidenden Einschränkungen und Hemmnis- sen, der umfassenden Kontrolle und Repression, ortet das Szenario auch mögliche Freiräume für die Nachrichten- Beschaffung: Ineffizienz des Verwaitungs- und Kontroll- apparats, Unvertrautheit mit örtlichen Gegebenheiten, Fehlen vollständiger Informationen, Sprachprobleme, mangelnde Erfahrungen der Militärorgane in Wirtschafts- und Verwaltungsfragen, Mängel und Lücken des umfas- senden «Papierkriegs», das heisst Unübersichtlichkeit an- gesichts des Übermasses an Ausweisen, Bewilligungen, Kontrollen etc., Schwierigkeiten durch Bestechlichkeit und Korruption, mögliche Unzuverlässigkeit von Personen in der Verwaltung, Bereitschaft der Bevölkerung zu mindes- tens passiver Kooperation mit dem Widerstand: Schwarz- markt und Schattenwirtschaft eröffnen Möglichkeiten für Versorgung und Infrastruktur des Widerstandes. Aufgaben und Ziele: Der Nachrichtendienst: muss primär eine erste Übersicht über die Verhältnisse und Lebensbe- dingungen in ihrer jeweiligen Region gewinnen. Zentral ist der Aufbau einer «Beschaffungsorganisation», die imstande sein muss, der Leitung der Organisation die notwendigen Informationen zur Führung des Widerstandes vor allem im psychologischen Bereich zu liefern. Die Bevölkerung ihrer- seits wird unter den geschilderten Bedingungen einen gros- sen Informationsbedarf haben, vor allem über Ereignisse ausserhalb der engsten Umgebung, aber auch über militä- risch-politische Entwicklungen im Ausland (Stand der Sa- che der Freiheit). Ebenso will die Bevölkerung verlässliche Informationen über die Verhältnisse im eigenen Land: aus- geführte oder geplante Aktionen der Besatzungsmacht; Ent- larvung von Spitzeln, Aufdeckung von Korruptionsfällen, Nachrichten über verschwundene oder verschleppte Perso-
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  673. Dit: ORGANISAIION
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  675. nen; Hinweise über die Persönl ichkeit von Kollaborateuren und Mitgliedern der neuen Elite; Anweisungen u n d Hin- weise auf mögliche Erleichterungen der Lebensumstände unter der Besatzung. Soweit die Z u s a m m e n f a s s u n g des Szenarios. Es zeigt: Hier w u r d e m i t aller K o n s e q u e n z u n d Ernsthaftigkeit der Besetzungsfall theoretisch durchgespielt. Aus heutiger, friedlicher Sicht m ö g e n gewisse Schilderungen befremd- lich wirken. Sie sind indessen durch E r f a h r u n g e n in be- setzten L ä n d e r n mehr als ausreichend belegt. D a s zweite Szenario basiert vor allem auf der Lage im besetzten Os- ten Deutschlands 1945. Die Widerstandsorganisation ver- suchte, die wahrscheinlichsten Besetzungsbedingungen bis in die bitteren Details d u r c h z u d e n k e n . Das gehörte z u m Auftrag. Erst die schonungslose «Lageanalyse» er- m ö g l i c h t e es, konkrete, der Situation angepasste Ideen u n d Strategien zu entwickeln mit dem Ziel, den Durchhal- te- u n d Widerstandswillen in der unterdrückten Bevölke- rung zu stärken u n d der Besetzungsmacht durch gezielte Sabotageakte das Leben schwer zu machen.
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  677. EINE ILLEGALE ORGANISATION?
  678. «Il manque la légalité.» («Es fehlt die Legalität.»)
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  680. D i e k u r z e Schlussfolgerung des französischsprachigen PUIC-Experten Professor Etienne Grisel, w o n a c h der P-26 die formelle Rechtsgrundlage fehle, hat damals Furore ge- macht und im PUK-Bericht tiefe Spuren hinterlassen. Es schien offenkundig: D i e P-26 stand ausserhalb von Recht u n d Gesetz. Diese in epischer L ä n g e dargelegte Auffas- sung der P U K war keineswegs z w i n g e n d - die Rechtsge-
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  682. EIME ILLEGALE ORGANISATION?
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  684. lehrten waren sich nicht einig -, setzte sich aber vor dem Hintergrund der damals herrschenden S t i m m u n g sofort durch. In der Öffentlichkeit und den Medien wurde nicht lange gefackelt: Der kurze Satz Grisels bedeutete bald «illegal». Das scheint auf den ersten Blick klar und nach- vollziehbar. Allerdings bezog sieh der Satz Grisels auf das Verwaltungsrecht und nicht auf das Strafrecht - ein grund- legender Unterschied. Aber solche Nuancen interessierten damals niemanden. «Fehlende Legalität» war gleichbedeu- tend mit: So etwas ist nicht erlaubt, wer das tut, verstösst gegen unsere Rechtsordnung, er hat somit keine lauteren Beweggründe und gehört vor Gericht gestellt. W e n n Rico über die Konsequenzen dieser Verkürzung spricht, ist ihm auch 20 Jahre danach nicht zum Lachen zumute. «Im Volksmund ist der Schritt von «illegal» zu <kri- minell> sehr klein. Wir wurden in die kriminelle Ecke ge- drängt. Das hat mir und meinen Leuten schwer zu schaffen gemacht.» Dass sich die P-26 rein rechtlich in einer Grau- zone bewegte, ist klar. Vielleicht bildete sie auch eine Art juristischen Zwitter. Sie war formell weder Teil der Armee noch der Bundesverwaltung. In der Konvention, die jedes Mitglied jährlich neu zu unterzeichnen hatte, war festgehal- ten, dass die Organisation kein Teil der Armee sei, sondern «eine Organisation für sich». Die P-26 bildete nach Ansicht der PUK deshalb eine private Organisation, die sich ohne formelle Rechtsgrundlage und demokratische Kontrolle eine vitale Staatsaufgabe - den Widerstand - anmasste. Wie ein roter Faden zieht sich die Überzeugung durch die ju- ristischen Erläuterungen der PUK, wonach die P-26 wahr- scheinlich von sich aus hätte aktiv werden können, womög- lich auch gegen innen, jedenfalls ohne oder sogar gegen die Anordnungen der politischen Behörde (siehe Seite 274ff.).
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  687. Dit: ORGANISAIION
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  689. Es lohnt sich, die Frage nach der Legalität oder Illegalität der P-26 etwas näher zu betrachten. Die ganze Problema- tik war ein Jahrzehnt früher ganz anders beurteilt worden. Im Januar 1981 veröffentlichte die Arbeitsgruppe der na- tionalrätlichen Geschäftsprüfungskommission unter dem späteren Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz ihren Untersu- chungsbericht zur Affäre Bachmann/Schilling, die damals die Schweiz erschütterte. Die Kommission hatte Einblicke erhalten in die laufenden Aktivitäten in Sachen Wider- standsorganisation und ausserordentlicher Nachrichten- dienst. Im Bericht der Arbeitsgruppe Delamuraz erfuhren Parlament und Öffentlichkeit erstmals von der Existenz zweier geheimer Dienste. Die Arbeitsgruppe k a m damals zum Schluss: «Aufgabe und Stellung der Widerstandsorga- nisation und des besonderen Nachrichtendienstes entspre- chen heute den Anforderungen, die vom Standpunkt des Rechtsstaates und der Demokratie zu stellen sind.» Dieses Fazit steht in klarem Gegensatz zu jenem von Pro- fessor Grisel. Die PUK wollte vom damaligen Fazit nichts mehr wissen. Der Widerspruch sei nur ein scheinbarer: Die Arbeitsgruppe Delamuraz habe sich nur auf die «alte» Widerstandsorganisation zu B a c h m a n n s Zeiten beziehen können, deren Struktur eine wesentlich andere gewesen sei, indem sie einer Bundesstelle (der U N A ) unterstand. Die P U K hingegen habe sich zur Legalität der «neuen» Organisation, eben der P-26, auszusprechen. Rico wider- spricht dieser Sicht der D i n g e entschieden: « Z u m Zeit- p u n k t des Berichts der Arbeitsgruppe Delamuraz waren die Arbeiten am Projekt 26 längst im Gang, und die Kom- mission D e l a m u r a z war darüber im Bild. Es k a n n keine Rede davon sein, dass zwischen damals u n d 1990 eine neue Organisation entstanden wäre.» Als Argument für ihre Sichtweise machte die P U K demgegenüber geltend,
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  691. EIME ILLEGALE ORGANISATION?
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  693. dass z u m Z e i t p u n k t der Abfassung des Berichts der Ar- beitsgruppe Delamuraz «noch nicht einmal die Grundla- gen geschaffen waren» für die neue Organisation; das G r u n d l a g e n d o k u m e n t des Generalstabschefs zur P-26 trage das D a t u m vom 7. September 1981. Und, so ist anzu- fügen, Ricos darauf basierende G r u n d k o n z e p t i o n war vom April 1982 datiert. Rein von den Daten her könnte die PUK-These also zu- treffen, räumt Rico ein. Aber die Daten sagten nicht alles aus: «Die Vorbereitungen für die Entflechtung der beiden Dienste und für die Schaffung von P-26 und P-27 waren 1981 natürlich längst im Gang; die Arbeiten haben län- gere Zeit vor meinem Engagement eingesetzt. Aufgrund dieser Entflechtungs-Idee wurden ich und P-27-Chef Hug 1979 überhaupt erst engagiert. Die personelle Entflech- tung wurde dann 1980/81, in jener Zeit, die ich <dröle de guerre> nenne, sehr weitgehend vollzogen. Dasselbe gilt für die Ausgliederung der Organisation P-26 aus der Ar- mee. Der Übergang von der alten Organisation zur P-26 war fliessend.» Im Übrigen habe auch der Auftrag an die Widerstandsorganisation vor und nach 1981 nie geändert, betont Rico: «Von Generalstabschef Jörg Zumstein wurde er lediglich redaktionell überarbeitet, nicht materiell ver- ändert.» Ricos Fazit: «Von einer <neuen> Widerstandsorganisation mit verändertem Charakter konnte inhaltlich keine Rede sein. Die PUK aber brauchte diesen Kunstgriff: Generalstabschef Jörg Zumstein habe eine neue Organisation geschaffen, an welche eben strengere rechtliche Anforderungen zu stellen seien. Die PUK behauptete einfach, die Äusserung der Arbeitsgruppe Delamuraz könne für die <neue> Organisation nicht gelten, vielmehr hätte es für diese eine explizite Gesetzesgrundlage gebraucht. Auf diese Weise konnte sie uns einen juristischen Strick drehen und die Organisation als illegal
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  696. Dit: ORGANISAIION
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  698. darstellen. Das wollte und musste sie: Die PUK konnte sich in der Atmosphäre jener Jahre politisch nicht leisten, ohne «Fleisch am Knochen» öffentlich aufzutreten. Man musste uns unbedingt den Meister zeigen!»
  699.  
  700. So eindeutig die P U K die fehlende formelle Gesetzes- grundlage kritisierte, so wenig stellte sie indessen die Ver- fassungsmässigkeit der Organisation in Frage. Die Ver- antwortlichen im E M D wie auch die P-26-Spitze hatten immer die Auffassung vertreten, der Widerstand sei eine inhärente Staatsaufgabe, die sich auf die Verfassung stüt- ze u n d im bundesrätlichen Sicherheitsbericht von 1973 eine hinreichende Konkretisierung erfahren habe. Nur war diese Konzeption der Gesamtverteidigung natürlich kein rechtsverbindlicher Akt, sondern das, was m a n einen politischen, staatsleitenden Plan nennt. Die bundesrätli- che Konzeption der Sicherheitspolitik von 1973 erwähnt das Thema Widerstand u n d die Notwendigkeit der Vorbe- reitung schon in Friedenszeiten relativ ausführlich. Die eidgenössischen Räte n a h m e n damals diesen Bericht zu- stimmend zur Kenntnis. Nach den politischen Usanzen konnte der Bundesrat deshalb davon ausgehen, dass das Parlament seine diesbezüglichen Auffassungen mittrug. Z u r Konzeption der Gesamtverteidigung erklärte das E M D 1990 an die Adresse der PUK: «Politische oder staatsleitende Pläne imperativen Charakters erheischen Befolgung. Die involvierten Staatsorgane haben sich da- nach auszurichten. Verlangen die Pläne ein Handeln ir- gendwelcher Art, ist es aufzunehmen. Sonst missachten die im Plan angesprochenen oder gemeinten Organe ihre Verpflichtungen.» Diese Sicht der Dinge stellte der PUK- Gutachter Professor Grisel in Frage: «Die in einem solchen Bericht geäusserten Regierungsabsichten werden in unse-
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  702. EIME I L L E G A L E O R G A N I S A T I O N ?
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  704. ivm System nicht einfach im Nachhinein zu verbindlichen Weisungen, lediglich weil das Parlament sie vorbehaltlos zur Kenntnis genommen hat.» Auch die PUK bezeichnete die Abstiitzung der Widerstandsvorbereitungen auf die- sen Bericht als «nicht ausreichend». In Kurzform hiess das: Die Sicherheitskonzeption hatte für das Parlament die Tragweite einer wertvollen Entscheidungsgrundlage, über nicht eines Gesetzes. KMD, Generalstabschefs und P-26-Führung aber waren der Auffassung, dass sie nichts anderes taten, als was die von der Räten gutgeheissene Konzeption der Gesamtver- leidigung von ihnen verlangte: den Widerstand vorberei- ten. Doch so einfach sah die PUK die Sache mitnichten. Die Verfassungsmässigkeit des Widerstandes bejahte sie zwar und kam zum umständlich formulierten Schluss, «dass die Führung des Widerstandes in feindbesetztem Gebiet zum Zwecke der Wiederherstellung der Souveränität des Lan- des als Teilaspekt des allgemeinen Bundeszweckes, der Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes (Art. 2 Bundesverfassung), zweifellos eine Staatsaufgabe dar- stellt, für die der Bund [...] eine hinreichende Verfassungs- grundlage hat». D o c h das «aber» folgte auf dem Fuss: Da- von zu trennen sei die Frage, ob der Bund befugt sei, ohne besondere Verfassungsgrundlage die W a h r n e h m u n g die- ser Staatsaufgabe einer ausserhalb von Bundesverwaltung und Armee stehenden Organisation zu übertragen. Oder noch deutlicher: ob dem B u n d die Kompetenz zustehe, «für die Vorbereitung und D u r c h f ü h r u n g des Widerstan- des eine private Organisation zu schaffen u n d diese unter Ausschluss der parlamentarischen Kontrolle, namentlich der Finanzaufsicht, zu unterhalten, auszurüsten, auszu- bilden und zu besolden». In Übereinstimmung mit ihrem Gutachter Grisel vertrat die P U K die Auffassung, dass die
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  706. Ende von Teil 1/2
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