Wer »die KI« sagt, ist schon reingefallen ========================================= Was da kommt, ist keine neue Kollegin. Es ist unsere kollektive Geistesarbeit, im Dienste von Krawattenidioten. Text: Dietmar Dath JACOBIN #17, S. 014ff 016 I. Vorspiel und Gleichnis ------------------------- Es war einmal eine kleine Gemeinschaft tapferer Menschen in einer entlegenen, unwegsam bergi- gen Gegend. Eine junge Frau dort hatte einen Un- fall und danach ein kaputtes linkes Bein. Sie konnte nicht mehr klettern, sammeln, jagen und kaum die wilden Kinder ihrer Verwandten hüten, denn diese Kinder liefen und kletterten ihr andauernd davon. Sie wurde natürlich Erfinderin. Ihre Maschinen aus Holz und Seilen erleichterten den anderen das Leben. Ein nicht unberechtigter Kult der Bewun- derung kam um sie auf. Als sie starb, fingen ihre Schülerinnen und Schüler an, links zu hinken. Sie pflegten das Erbe der Bewunderten auch, indem sie neue Erfindungen machten. Eines Tages kamen Menschen von woanders ins Gebirge. Die staunten über die technische Welt dort oben. Dann verrieten sie den Bergmenschen, dass jenseits der Berge die Technik noch viel weiter war. »Man hat bei uns Roboter«, sagten sie, »die den- ken, genau wie wir und ihr!« Da fragten die Bergmenschen: »Denken sie schon gut genug, dass sie hinken können?« 017 II. Facharbeit, Affen und Papageien ----------------------------------- Neuerdings bringen gewisse Personen, die schlecht denken, reden und schreiben, den Maschinen das Schreiben, Reden und Denken bei. Anders als die- jenigen, die in den Bergen hinkende Roboter bauen, können sie sich dabei aber nicht darauf herausreden, dass sie von Nachrichten isoliert leben, die sie auf bessere Ideen bringen könnten. Reden wir über qualifizierte, oder wie man frü- her sagte: geschickte Arbeit. Wird sie gerade abge- schafft? Die Behauptung steht vielfach im Raum: Wir haben jetzt ja künstliche neuronale Netze, bald sogar kosteneffizientes Quantencomputing, wozu brauchen wir da noch Fachpersonal? Umgekehrt aber fragt man auch: Ordnen sich um die neue Tech- nik vielleicht neue Fächer, entstehen da neue Quali- fikationswege für Lernwillige? Zwischen 2015 und 2017 haben Rune Åberg, Duncan Gallie und andere Gelehrte in Ländern wie Schweden und Großbritannien, also in arbeits-, verwaltungs- und überhaupt verfahrenstechnisch weit fortgeschrittenen Wirtschaftszonen, einige Untersuchungen angestellt, die zu Ergebnissen führten, aus denen sich schließen ließe, dass ein altbekannter Befund der an Marx geschulten Ka- pitalismuskritik nicht (mehr?) stimmt. Im dritten Band seines Hauptwerks Das Ka- pital behauptet Marx für das von ihm korrekt vorausgesehene Zeitalter der zunehmenden Kapi- talkonzentration eine Tendenz der Veränderung des Arbeitslebens, die wir heute zwar tatsächlich vorfinden, die aber im Zeichen der Digitalisierung von anderen Tendenzen konterkariert zu werden scheint. Modisches Managergeschwätz nennt jene von Marx entdeckte Tendenz mit pseudosportlichem Vokabular gern »Flexibilisierung«. Gemeint ist, dass Krawattenidioten im siebenundzwanzigsten Stock irgendeines Hochhauses in irgendeinem Bankendistrikt irgendeiner reichen Großstadt per Headset zahllose abhängig Beschäftigte willkürlich durch die Welt schubsen und ihnen dabei jede Chan- ce verwehren, sich unter Berufung auf ihre ausbil- dungsbedingte Unersetzlichkeit in qualifizierten Interessenverbänden zu organisieren. Das entspricht der Diagnose von Marx, die Übermacht des Kapitals neige zur »Aufhebung al- ler Gesetze«, »welche die Arbeiter hindern, aus ei- ner Produktionssphäre in die andre oder aus einem Lokalsitz der Produktion nach irgendeinem andern überzusiedlen.« Die Monopole streben, heißt es da weiter, die totale »Gleichgültigkeit des Arbeiters gegen den Inhalt seiner Arbeit« an, mittels umfassender »Re- duzierung der Arbeit in allen Produktionssphären auf einfache Arbeit«, also auf etwas, das zur Not auch ein dressierter Affe machen kann (oder im Call-Center: ein Papagei). Der »Wegfall aller professionellen Vorurteile bei den Arbeitern«, von dem in der betreffenden Marx- Passage die Rede ist, mag bei oberflächlichem Lesen hübsch weltoffen klingen. Doch in dem Fall, dass dabei vormalige »Fachkräfte« gemeint sein sollten, ist das keineswegs ein Merkzeichen der Emanzipa- tion von etwas, das der freien Entfaltung mensch- licher Subjektivität hinderlich wäre, sondern bloß eine besonders wirkungsvolle Spielart der »Unter- werfung des Arbeiters unter die kapitalistische Produktionsweise«. 018 Manch ein Aufmacher im Wirtschaftsteil einer Qua- litätszeitung, die immer mehr Rechtschreib- und Grammatikpatzer zulässt, weil sie die menschliche Korrekturarbeit spart, trötet selbst in diesem Zu- sammenhang von »Chancen«, aber dahinter steckt nur das Kommando: »Heute hier, morgen da, wie das Kapital es will.« Ein Berufsleben unter dieser Fuchtel wird schnell zum irren Wechsel von War- terei und atemloser Eile für alle, die kein Kapital besitzen. Die Arbeitsmedizin darf dann, wenn sie über- haupt zu Wort kommt, nur noch vorwurfsvoll konstatieren, dass so etwas den Homo sapiens kei- neswegs langsamer oder angenehmer verschleißt als das Hacken und Herumkriechen in Minenschäch- ten oder das vierzig Jahre lang währende Ausführen hirnloser Handbewegungen am Fließband. Im Bannkreis der Informationstechnologie- branche (»IT«), also auf demjenigen Zweig der Gesamtökonomie, an dem die Treibmittel der Di- gitalisierung reifen, kann man aber auch Vorgän- ge ganz anderer Art erleben. Wer dieses Business kennt, wird nicht nur die Ersetzung geschickter Arbeit durch einfache kennen, sondern umgekehrt auch die Ersetzung einfacher Arbeit vieler Leute durch die geschickte Arbeit Einzelner. Im Frühjahr 2024 zum Beispiel machte eine Ge- schichte im Netz die Runde, die unter anderem auf der britischen Tech-Webseite The Register zu lesen war und von einem Profi erzählte, der bei einem Anbieter für teure Speicher-Arrays (also Daten- schatztruhen) unter Vertrag stand. Den holte ein Klient per Flugzeug in eine europäische Stadt, wo er das Wochenende in einer Hotelsuite für 5.000 Dollar pro Nacht verbrachte, »auf Abruf«, plus Gefahrenzulage, nur um am Ende ein Problem zu lösen, dessen Beseitigung nicht mehr als fünf Mi- nuten konzentrierten Nachdenkens und fachkun- digen Handelns erforderte. Wenn das Lohnarbeit ist, dann jedenfalls eine komfortable, für die Lenins Wort von der »Arbeiteraristokratie«, die am Klas- senkampf kein Interesse hat, fast eine Verniedli- chung darstellt. Wer die Wochenend-Hotelgeschichte als bloße Anekdote abtun will, sollte sich den Studien von Åb- erg, Gallie und ihresgleichen stellen, die ich bereits erwähnt habe: Während sich in den produktions- technisch weitestfortgeschrittenen Gegenden die Zahl der in klassischer Industrieproduktion Be- schäftigten seit den 1960er Jahren stark verringert, ja teils sogar halbiert hat, ist bis 2010 der Anteil der Hochqualifizierten von 7 bis 15 Prozent auf 32 bis 40 Prozent angewachsen. Seit den 1990er Jahren ver- mehren sich in besagten Zentren sowohl die beson- ders hoch- wie die besonders niedrigqualifizierten Jobs anteilig relativ zum Gesamtbeschäftigungsvo- lumen. Man spricht von »Polarisierung«: mehr Bil- ligjobs, mehr Elitejobs, weniger Mittelfeld. Sogar im legendär sozialstaatlichen Schweden lässt sich das seit der Jahrtausendwende nachweisen. Hat Marx sich mit seiner These der kapitalge- triebenen Nivellierung aller Qualifikationen also geirrt? 019 III. Woher kommt die Klickerei? ------------------------------- Im März 2024 nahm ich als journalistischer Be- obachter an der Frühjahrstagung der American Chemical Society (ACS) in New Orleans teil. Der ungarische Wissenschaftler Oldamur Hollóczki hielt dort einen Vortrag über seine Forschungen zur Frage der Verbreitung von Mikroplastikteilchen in lebenden Organismen. Er berichtete von Computersimulationen, die unter anderem der (mittlerweile auch experimen- tell bestätigten) Vermutung nachspüren sollen, dass solche künstlichen Partikel sogar die Schran- ke zwischen dem Blutkreislauf und dem Hirn über- winden, obwohl diese Schranke eigentlich zu den bestgesicherten Firewalls der Biosphäre zählt. Im Zuge seiner Ausführungen ließ Hollóczki die Be- merkung fallen, er bevorzuge Modelle, in denen die Mikroplastikfetzen möglichst klein ausfallen. Aus dem Publikum wollte jemand wissen, wes- halb. »Weil kleinere Bruchstücke weniger Moleküle enthalten als große. Dann muss die Maschine we- niger komplizierte Wechselwirkungen berechnen«, erklärte der Wissenschaftler. Im Anschluss an den Vortrag fiel einer Kolle- gin in kleinerer Runde dazu etwas Bemerkenswer- tes ein: »Je mehr in allen Medien von intelligenten Systemen, von KI und so weiter geredet wird, desto kleinteiliger wird meine Arbeit am Rechner. Flie- ßende Abläufe werden zerstückelt, dauernd gene- riere ich per Klicks Daten und Metadaten, kreuze an und fülle aus. Ich frage mich, ob dabei irgendwer meine Arbeit so erforscht wie Herr Hollóczki den Plastikmüll, den er studiert.« Empirisch konnten wir anderen in der Runde das Bild bestätigen, und zwar quer durch die Be- rufslandschaft: Einen Zeitungsartikel so druckfer- tig zu machen, dass er auch online publiziert werden kann, verlangt zum Beispiel von der Redakteurin heute in manchen Redaktionen dreimal so viele Schritte wie vor zehn Jahren. Vergleichbares er- zählen Leute aus der Schwimmbad-Eintrittskar- ten-Datenverarbeitung, aus der Lagerabteilung im Möbelmarkt, aus dem Sekretariat der Arztpraxis… Alle stöhnen: Bürokratie! Aber anders als in den typischen modernen Bü- ros der Verwaltung, von denen dieses Wort »Bü- rokratie« abgeleitet ist, entsteht bei der ganzen Klickerei eine gigantische Detailaufnahme mensch- licher Arbeit, an der die Automaten lernen, was wir wann, wo und wie tun. Ein großes Medienhaus plaudert das im Früh- jahr 2024 in einer Mitteilung an die Belegschaft so- gar ganz offen aus. Vorgestellt wird darin ein »Tool«, also eine KI-Anwendung, die »inhouse« entwickelt worden sei, »mit Fokus auf den Einsatz in Redak- tion und Verlag«. Stolz vermeldet man, »dass das Tool praktisch den gesamten Arbeitsablauf abbil- den kann«. Diejenigen, denen solche Tools gehören, werden sich aller Erfahrung nach die Gelegenheit (wenn beispielsweise die Geschäftszahlen schlecht genug sind) kaum entgehen lassen, damit zu drohen, je- de Arbeit zu automatisieren, die von den noch vor- handenen Menschen nicht in stiller Demut und für wenig Geld geleistet wird. Ein Beispiel: Eine Call-Center-Beschäftigte konnte bis zur Ausrufung des KI-Zeitalters in der Stunde sechs Gespräche mit hilfsbedürftigen Kun- dinnen und Kunden erledigen – mehr nicht, da sie außerdem gehalten war, zwischen den Dialogen Protokolle des Besprochenen anzufertigen. Sie mag sich jetzt denken: Wenn KI mir die Protokolltippe- rei in Zukunft abnimmt, dann werden die sechs Gespräche, die ich pro Stunde führe, vermutlich nützlicher und befriedigender, auch für mich, weil ich mehr Zeit für die einzelne Unterhaltung habe. Es ist ja doch frustrierend, Menschen mit Floskeln abfertigen zu müssen. Aber die Rechnung des Kapitals geht anders: Ab jetzt schaffst du sieben oder sogar acht Gespräche in der Stunde, und falls du sie nicht schaffst, fliegst du raus, was übrigens auch dann passiert, wenn die toolgestützte Überwachung deiner Arbeit uns ir- gendetwas über deine Leistungen verrät, das uns nicht passt. 020 Es gibt eine absolut hilflose Sorte Protest gegen das alles: die humanistische Sorte. Sie legt etwa dar, dass eine Maschine, die einen Haufen Wörter irgendwie verarbeitet, vielleicht nicht die ideale Instanz ist, um ein Gespräch durchzuführen und zu kontrollieren, das nicht einfach ein zielloses Schwätzchen sein soll. Denn oftmals lässt sich dabei ein Problem nicht so lösen, wie man in der Schule eine Textaufgabe löst, da das in Rede stehende Pro- blem erst einmal formuliert werden muss. Eine derartige Tätigkeit, sagt der Neo-Humanis- mus etwa in Gestalt eines der bedeutendsten Infor- matiker unserer Zeit, Judea Pearl, verlangt kausales Denken, wozu die nach Gewichtungen und soge- nannten Temperaturen aufgeschlüsselte Sprach- verarbeitung bei den jetzt so beliebten Chatbots und ihren rechenarchitektonischen Verwandten nicht in der Lage ist. Denn sie hängt an Wahrschein- lichkeitskalkülen, die sich zwar verfahrenslogisch nicht grundsätzlich von der Art und Weise unter- scheiden, in der auch das Menschenhirn Sprache prozessiert, aber eben keine selbständige Verallge- meinerung von als Wahrscheinlichkeitsverteilun- gen vorliegenden Datenmengen zu Kausalschlüssen zustande bringt. Nun sind Kausalschlüsse zwar ohnehin nur Nä- herungen, sofern nicht sämtliche Informationen zu allen Determinanten einer Angelegenheit be- kannt sind. Aber wir Menschen denken nun mal in solchen Näherungen, und etwas, das nicht in ih- nen denken kann, liefert folglich kein funktionales Modell unseres Denkens und kann es deshalb auch nicht ersetzen. Mehr noch: Nicht mal unsere allergewöhnlich- ste Sprachpraxis wird von den Maschinenlernme- thoden, die jetzt im Schwange sind, sachadäquat modelliert. Das jedenfalls haben in mühevoller Kleinarbeit wissenschaftliche Aufsätze in Publi- kationen wie Trends in Cognitive Sciences, Neu- roscience and Biobehavioral Reviews oder Cortex nachgewiesen, verfasst von Leuten namens Noam Chomsky, Johan J. Bolhuis, Andrea Moro und vielen anderen. Angezweifelt wird, ganz abgesehen von Kausalschwäche und Sprachmodelluntauglichkeit, inzwischen sogar, ob das, was man bei Computern jetzt »Lernen« nennt, diesen Namen überhaupt verdient. Auch darüber gibt es ausführliche Lite- ratur, zum Beispiel Gradient Expectations: Struc- ture, Origins, and Synthesis of Predictive Neural Networks von Keith L. Downing. Das Problem dieser ganzen humanistischen Schule der systematischen KI-Kritik als Vergleich von Computerleistungen mit menschlichen Ma- ßen ist ihre Flughöhe. Die Frage »Sind die neuen Systeme überhaupt in der Lage, menschliche Ar- beit bedarfsgerecht zu ersetzen (oder auch nur zu ergänzen)?« interessiert nämlich Leute, die sich »Arbeitgeber«, »Unternehmer« oder »Venture Capitalists« schimpfen, also Herrn Bill Gates und ähnliche Microschufte, leider gar nicht. Sie ist ih- nen schlicht zu hoch. Zum Wesen des Monopolkapitalismus gehört, dass die Mehrheit der Menschen in seinem Pro- duktions- und Reproduktionsbann nicht nur vom philosophischen, sondern überhaupt von jedem einigermaßen voraussetzungsreichen Denken ab- geschnitten dahinvegetiert. Die herrschenden Gedanken sind gröber als der platteste Vulgärmar- xismus und funktionieren rein polit-ökonomisch, auf unterstem Niveau. An sie aber wird die gesam- te einigermaßen reichweitenstarke öffentliche De- batte über Arbeitsbelange angepasst. 021 IV. Verdeckte Klassenkämpfe offen führen ---------------------------------------- Wer »die KI« sagt, ist schon reingefallen. Denn das klingt, inklusive grammatisches Geschlecht, als gin- ge es um eine neue Kollegin. Stattdessen hat das Ka- pital hier eine sehr clevere Art gefunden, bereits vorhandene Kolleginnen und Kollegen so zu ver- netzen, dass sie die in jeder Vernetzung liegende Chance zum solidarischen kollektiven Handeln gar nicht mehr erkennen können. Ein ehemaliger Microsoft-Programmierer und jetziger Sprachwissenschaftler am Data Science Ins- titute der Columbia University in New York namens Dennis Yi Tenen hat Anfang 2024 in seinem her- vorragenden Buch Literary Theory for Robots. How Computers Learned to Write dazu eine Losung aus- gegeben, die schnell weitestmögliche Verbreitung verdient: »Artificial Intelligence is collective labor.« Als kollektive Arbeit müsste KI eine entspre- chende Bezahlung der Menschen bedingen, die die- se Arbeit geleistet haben und weiter leisten, nicht obwohl, sondern weil sich diese Arbeit in teuren und sehr energiehungrigen Automaten vergegen- ständlicht. Die Archive, an deren Beständen gene- rative KI trainiert wird, sind ja in letzter Instanz von Menschen angelegt, wenn auch oft schon ma- schinell kollationiert, gefiltert, organisiert. »Die KI« bringt das, was andere anderswo wissen oder an- derswann wussten, zu denen, die es hier und jetzt wissen wollen oder sollen, damit sie es weiterver- arbeiten können. »Die KI« als Leerformel aber ähnelt eher als einem Netz dem von Marx entdeckten »Warenfe- tisch«, der ein gesellschaftliches Verhältnis (etwas wird verkauft und gekauft) für eine Eigenschaft der jeweiligen Sache hält (das Verkaufte und Gekaufte »ist« eine Ware) und obendrein auch noch die Ver- kehrsformen des betreffenden Verhältnisses für Attribute besagter Sache ausgibt: Waren »haben« Preise, jedes Ding »braucht« »daher« einen Preis. Der Fetisch macht das Verhältnis als Ganzes un- sichtbar. Erkennbar sind dann nur noch Haufen von Einzelheiten: die »ungeheure Warensammlung« zum Beispiel, als die nach Marx der menschliche Reichtum im Kapitalismus verkürzt wahrgenom- men wird. Das betrifft auch die Ware Arbeitskraft, deren Realität dann nur noch als unvermitteltes Nebeneinander von Dequalifizierung, Tagelöhnerei und Minijobs auf der einen Seite und Luxus-Hotel- Bereitschaftsdienst in First-Class-Debugging-Jobs oder anderen Vorzugstätigkeiten auf der anderen Seite aufgefasst werden kann. Die »Schere« dieses Nebeneinanders ist gar nicht so neu, sondern eine klassische Folge von Verschiebungen des Kräfteverhältnisses zwischen denen, die schuften, und denen, die kommandieren. Organisiert wird dergleichen schon immer gern als produktionstechnische Umwälzung. Wer die Ga- leerensklaverei einführt, schafft nicht nur niedrig qualifizierte und schlecht behandelte Ruderknech- te, sondern auch den neuen Posten der Person, die den Takt trommelt, zu dem gerudert werden soll. Die darf ruhig ein bisschen länger ausschlafen, sie muss ja fit sein zum Trommeln. Das Wesen hinter der Erscheinung heißt Klas- senkampf. Aber selbst die Thinktanks der herr- schenden Klasse erkennen manchmal nur noch die Erscheinung, nicht das Wesen. Ein instruktives Beispiel bietet das sogenannte »Produktivitätspa- radox« der vier Dekaden zwischen 1960 und 2000, das diese Thinktanks heute breit diskutieren. Die erste Welle der Computerisierung verlang- samte damals die Zuwächse der Produktivität der Ausgebeuteten zunächst, statt sie zu beschleuni- gen. Wenn das Kapital derzeit überhaupt noch vor irgendetwas Angst hat, dann davor, dass sich ein solcher Effekt bei den jüngsten Rechnertechnolo- gien wiederholen könnte. Figuren wie der »Innovationsforscher« Chan- der Velu oder der Fachmann für Industrie-Inge- 022 nieurswesen Fathiro H. R. Putra erklären jenes vermeintliche Paradox zu einem naturgesetzlich auftretenden Faktor. Er gehöre, so lehren sie, ein- fach zu den Kosten der Integration neuer Technik in die Arbeitsabläufe. So kommt etwas Wichtiges bei ihnen nicht vor: der kleine und große Widerstand der Ausgebeute- ten gegen die Intensivierung der Ausbeutung. Die In- novationsdenker ignorieren den Bummelstreik und die Sabotage, an denen nichts auszusetzen ist als der geringe Organisations- und Bewusstseinsgrad. Vor- sätzlicher Kampf, überall und immer, wäre schöner. V. Nachspiel und Perspektive ---------------------------- Computer könnten vielen Menschen langweilige, stumpfsinnige oder allzu speicherintensive kognitive Arbeit abnehmen, genau wie andere Maschinen un- sere Körperkraft dergestalt ergänzen können, dass wir uns weniger schinden müssen. Besser noch: Was manche Kritik den in künstlichen neuronalen Net- zen implementierten Sprachmodellen heute ankrei- det, nämlich dass sie unter bestimmten Umständen ein Sprachverhalten zeigen, das vom menschlichen bedeutend abweicht und dem Umriss nach »unmög- liche Sprachen« ahnen lässt, könnte vom Makel zum Vorzug dieser Systeme werden, wenn man sie nicht mehr als Taktgeber menschlicher Arbeit einsetzen würde, sondern als Generatoren des Unbekannten. Allerdings war in der historischen Realität schon die Dampfmaschine primär ein Werkzeug der Men- schenquälerei in der Fabrik und eben kein Gerät, an dem man die Befreiung von Plackerei und Not hätte üben können. Computer erschließen der Ausbeutung jetzt die letzten Nischen in den Köpfen. Alle Produktionsmittel im Joch der Klassengesell- schaft kann man mit Hilfsmitteln der Freiheit in ei- nem gerechten Gemeinwesen vergleichen. Aber der Vergleich hinkt. Das tut er allerdings nicht von Natur. Es ist da auch kein Unfall passiert. Das Monopolkapital hat dem Vergleich sein Spiel- bein gebrochen. Dafür wird es bezahlen müssen. --- Dietmar Dath ist Publizist, Pop- und Filmkritiker bei der FAZ und Schriftsteller. Er hat zahlreiche Romane (Die Abschaffung der Arten, 2008, Gentzen oder: Betrunken auf- räumen, 2021) und Sachbücher (Maschinenwinter, 2008, Der Implex, 2012) geschrieben. Zuletzt erschien Miley Cyrus (2024).