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Nov 19th, 2019
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  1. STAATSKAPITALISMUS? PROBLEME DER PLANBARKEIT DER KAPITALISTISCHEN GESELLSCHAFT - EIN RÜCKBLICK AUF DIE DISKUSSIONEN IN ALTEN FRANKFURTER INSTITUT FÜR SOZIALFORSCHUNG
  2. Kurt Martin (Kurt Mandelbaum)
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  4. Ich wurde eingeladen, hier über die Diskussionen unter den Mit¬ arbeitern des alten Frankfurter Instituts für Sozialforschung zu berichten, die sich vor ungefähr einem halben Jahrhundert (und später) mit dem Krisenproblem, den Aussichten der kapitalistischen Entwicklung und den Möglichkeiten einer planwirtschaftlichen Neuordnung beschäftigten. Die Debatten wurden angeregt in erster Linie durch die Aufsätze Dr. Pollocks, veröffentlicht zwischen 1932 und 1941, in denen er schließlich dazu gelangte, das Ende des Primats der Ökonomie über die Politik zu behaupten. Nicht davon zu trennen sind frühere Arbeiten und Diskussionen über die Planung in der Sowjetunion sowie die Studien Henryk Grossmanns, die in verschiedenen Aufsätzen und in seinem Buch über "Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz ..." (1929) enthalten sind.
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  6. Persönlich darf ich vorausschicken, daß ich als Student 1924 nach Frankfurt kam und nach meiner Promovierung 1926 Assistent von Pollock wurde. Formell war ich in der Emigration mit dem Institut bis zum Kriegsausbruch verbunden; aber von 1935 an war meine Verbindung sehr locker, da ich in Europa blieb, statt mit den anderen Institutsmitgliedern nach den Vereinigten Staaten zu gehen. Ich gehörte nie der Kerngruppe des Instituts an, die von ungefähr 1930 an, hauptsächlich in der Emigration, die "Kritische Theorie" entwickelte (Horkheimer, Adorno, Löwenthal, Marcuse und - für eine Zeitlang - Fromm). Intellektuell hatte ich mich mehr zuhause gefühlt in dem alten Institut unter Carl Grünberg, wo der Schwerpunkt des Interesses bei der Politischen Ökonomie und bei historischen Studien lag. Eng verbunden war ich auch mit der Adolph-Löwe-Gruppe (Dr. Burchardt und Gerhard Meyer), die Freunde und Mitarbeiter des Instituts waren, aber wenig oder nichts mit der "Kritischen Theorie" zu tun hatten.
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  8. Die Diskussionen, über die ich zu berichten habe, fanden auf verschiedenen Ebenen statt. Ausgangspunkt in jenen Jahren - ich denke an das Ende der zwanziger und die frühen dreißiger Jahre - war die Krisenanalyse unter der Annahme, daß die Dynamik der Kapitalakkumulation und daher des Wirtschaftsablaufs von der Profitabilität der Produktion, der Profitrate, abhängt. Für Grossmann entscheidend war die Marxsche Hypothese der zunehmenden "organischen Zusammensetzung" des Kapitals. Wenn man als annähernden Maßstab dieser "organischen Zusammensetzung" den Kapitalkoeffizienten nimmt, d.h. das Verhältnis zwischen dem Wert des in Produktions¬ mitteln angelegten Kapitals und dem Sozialprodukt, dann läßt sich leicht mit Marx und Grossmann folgern, daß, wenn die Entwicklung der Technologie die Tendenz hat, diesen Koeffizienten in die Höhe zu treiben, die Rate des Profits (berechnet auf den Kapitaleinsatz) fallen muß, solange der Anteil des Profits am Sozialprodukt - die Marxsche "Ausbeutungsrate" - konstant bleibt. Wann immer sich diese Tendenz durchsetzt, entsteht nach Grossmann eine Situation, in der der Profit nicht mehr ausreicht, um die Akkumulation auf alter Stufe fortzusetzen.
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  10. Auf der Pollockschen Seite war man nicht überzeugt, daß die Tendenz zur Erhöhung der organischen Zusammensetzung stärker ist als die (auch von Grossmann behandelten) Gegentendenzen. Stattdessen ging Pollock in seiner Krisenanalyse von der "Anarchie" der Produktion und den daraus entstehenden Dispropotionen zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen aus. Genauer gesagt, er argumentierte, daß die Selbststeuerung der Wirtschaft, die im klassischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts noch verhältnismäßig gut funktionierte, heute durch die Konzentration und Zentralisation des Kapitals und durch das Wachstum der fixen Kosten so geschwächt ist, daß es unausweichlich zu immer größeren Fehlinvestitionen und Zirkulationstörungen kommt - es sei denn, daß die Tendenz, den Markt durch Planung zu ersetzen, die Überhand bekommt. Für Grossmann war diese Analyse nicht akzeptierbar; für ihn waren Fehlinvestitionen und Realisierungsschwierigkeiten reine Sekundärerscheinungen, die möglicherweise durch die Wirtschaftspolitik kontrollierbar seien, ohne daß das an den fundamentalen Krisenursachen etwas ändern würde.
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  12. Im Pollocklager gab es viele Diskussionen über die Möglichkeit einer Planung im Rahmen der kapitalistischen Ordnung. Noch 1932 schrieb Pollock, daß kapitalistische Eigentümer eine Wirtschaftsplanung nie dulden könnten, da sie dann alle entscheidenden Funktionen an eine zentrale Planstelle abtreten müßten und zu bloßen Rentnern degradiert würden. "In keiner Gesellschaftsordnung hat sich bisher der bloße Bezug von Renten auf Kosten der Gesellschaft ohne sichtbare Gegenleistung auf die Dauer aufrecht er¬ halten lassen." (Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang 1, 1932, S. 27). Ein Jahr später - das war nach der nationalsozialistischen Machtergreifung - begann er seine Einstellung zu revidieren, wie u.a. aus einer Anmerkung hervorgeht, die er seinem Aufsatz "Bemerkungen zur Wirtschaftskrise" zufügte (Z.f.S., Jahrgang 2, 1933, S. 349); ich erinnere mich an die Diskussion, die mein Freund Gerhard Meyer und ich darüber mit Pollock hatten: wir waren nicht überzeugt. Aufgrund seiner weiteren Studien und besonders seiner Analyse des Nationalsozialistischen Regimes gelangte Pollock schließlich zu seiner Konzeption des "Staatskapitalismus" (1941), einer Klassenordnung, in der eine machtvolle Bürokratie, verbunden mit den Spitzenmagnaten der Industrie, die Wirtschaft zentral und effizient nach einem Generalplan steuert. In dieser neuen Ordnung, deren Elemente und Umrisse in Europa und zum Teil auch in Amerika bereits beobachtbar seien, würden mit dem Verschwinden des autonomen Marktes alle sogenannten Wirtschaftsgesetze ihre Geltung verlieren. Die großen Privatunternehmungen werden dann als Regierungsagenturen funktionieren und für den geplanten Gebrauch arbeiten, statt Profitinteressen den Vorrang zu geben. Mit dem Primat der Politik wird die Wirtschaft total kontrollierbar und durch Anwendung ingenieurmäßigen Denkens auf den ökonomischen Prozeß wird es nach Pollock dann möglich sein - jedenfalls im Prinzip - alle Wirtschaftsprobleme technokratisch-rational zu lösen. Die These vom Ende des Primats der Ökonomie war Pollocks spezifischer Beitrag zur Entwicklung der Kritischen Theorie. Für die oben genannte Kerngruppe des Instituts (zu der er selbst gehörte) war Pollocks Wirtschaftsanalyse offenbar überzeugend; viele seiner übrigen Mitarbeiter dagegen, vor allem diejenigen, die von der Wirtschaftswissenschaft herkamen, blieben skeptisch.
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  14. Rückblickend auf die Diskussionen, die es vor 40 oder 50 Jahren im alten Frankfurter Institut gab, was läßt sich heute dazu sagen? Was das allgemeine Krisenproblem anlangt, so erinnere ich daran, daß die entwickelten kapitalistischen Länder in der Nachkriegszeit eine lange Phase der Prosperität hatten, die bis in die 70er Jahre anhielt; die Arbeitslosigkeit war gering, zyklische Störungen waren mild. Was immer die historischen Umstände waren, die diese Prosperität ermöglichten, es bedurfte dazu keiner zentralen Planung im Pollockschen Sinn. Für eine Zeitlang schien es genügend, daß die kapitalistischen Regierungen bereit waren, periodisch zusätzliche Nachfrage a la Keynes zu schaffen, um Störungen zu mildern. Inzwischen ist das wieder anders geworden. Schon seit der Mitte der 60er Jahre sind in den meisten reichen Ländern die Profitraten zurückgegangen und in den 70er Jahren hat ein allgemeiner tiefer Wirtschaftsrückgang eingesetzt, der viele Symptome klassischer Krisen zeigt. Großmanns Analyse hilft uns wenig zur Erklärung: aus vielen Untersuchungen wissen wir, daß die organische Zusammensetzung des Kapitals (zum Unterschied von der technischen Zusammensetzung) wegen der relativen Verbilligung der Elemente des "konstanten" Kapitals keinen definitiven Trend gezeigt hat. Die meisten Untersuchungen stimmen überein, daß unter den vielen Faktoren, die am Werk waren und schließlich zum Wirtschaftsrückgang führten, die Abnahme des Profitanteils am Sozialprodukt wahrscheinlich entscheidend war. Die Ausbeutungsrate - um mit Marx zu sprechen - hat sich in den entwickelten Kapitalistischen Ländern sehr verringert, da als Folge der langen Periode annähernder Vollbeschäftigung die offensive und defensive ökonomische Macht der Arbeiterschaft gewachsen ist. (1) Ich kann mich nicht erinnern, daß in den vielen Diskussionen, die wir vor einem halben Jahrhundert im Institut über die kapitalistischen Entwicklungsaussichten hatten, irgendjemand davon sprach, daß das Wirtschaftswachstum - die Kapitalakkumulation - wegen ungenügender oder sinkender Ausbeutung der Arbeiter in Schwierigkeiten geraten würde; an so etwas konnte man damals kaum denken. Gegenwärtig bemühen sich alle Regierungen, die Entwicklung, die zu einer Abnahme der Profitquote geführt hat, zu bremsen und wenigstens teilweise rückgängig zu machen.
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  16. Was die Pollocksche Konzeption einer Planung im "Staatskapitalismus" anlangt, so setzt dieses Modell voraus, daß die private Verfügungsgewalt in allen entscheidenden Bereichen an den Staat übergeht und daß die Wirtschaft dann weitgehend zentral gesteuert wird. Eine Aufspaltung staatlicher Entscheidungen zwischen einer Mehrzahl von Agenturen, die ihre eigenen Informationen (und vielleicht Sonderinteressen) haben, ist nach Pollock mit einer Planwirtschaft, mit einer wirklich einheitlichen WirtSchaftslenkung, kaum vereinbar. Die Problematik und die Grenzen einer solchen zentralen Planung sind in Pollocks Aufsätzen nur kurz berührt, und es ist klar, daß - wie er selbst feststellt - die Sowjetunion in vielen technischen Hinsichten seiner Idee einer staatskapitalistischen Planung am nächsten kommt. (2) Die Nachkriegsentwicklung in den reichen Ländern zeigt jedoch wenig Ähnlichkeit mit den charakteristischen Zügen des Pollockschen Modells, auch wenn man die bewußt ideal-typische Zuspitzung des Modells in Rechnung stellt.
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  18. Abschließend möchte ich sagen, daß kein Zweifel bestehen kann an der säkularen Zunahme der Staatstätigkeit in der Wirtschaft, die zur Folge hat, daß es heute schwerer ist, als es vielleicht vor 100 Jahren war, den Bereich des ökonomischen eindeutig vom Bereich des Politischen abzugrenzen und starr an dem Bild von der ökonomischen Basis und dem politischen Überbau festzuhalten. Das nun einfach umzukehren und vom Primat der Politik zu sprechen, ist ebensowenig überzeugend. Aber es ist das bleibende Verdienst Dr. Pollocks, frühzeitig mit Hinblick auf sehr konkrete Probleme betont zu haben, daß es nötig ist, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft neu zu erforschen.
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  20. Anmerkungen
  21. (1) In der anschließenden Diskussion wurde eingewandt, daß die Abnahme der Profitquote nicht so sfekr dem Lohnanteil zugute kam, als aus dem Wachstum des Staatsanteils hervorging. Dieser Punkt ist wichtig, aber es läßt sich wohl zeigen, daß in der Nachkriegszeit höhere Sozialversicherungsleistungen und Zugang zu anderen sozialen Diensten, die das Arbeitseinkommen ergänzen, sehr wesentlich zum Wachstum der Staatsausgaben beigetragen haben.
  22. (2) S. F. Pollock, Stadien des Kapitalismus. Herausgegeben und eingeleitet von Helmut Dubiel. S. 129 (Anmerkung 16 zu "Staatskapitalismus").
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