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Feb 19th, 2013
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  1. Aus "FAZ 20.02.3013":
  2.  
  3. Twitter ist für mich gestorben / Von Christopher Lauer
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  5. Das Gezwitscher bringt nichts
  6.  
  7. Ich facebooke, ich google plusse, ich pod-caste, ich twittere, und neuerdings bin ich
  8. sogar auf ADN (App dot net). ADN ist so etwas wie Twitter, nur dass man dafür 36
  9. Euro im Jahr bezahlen muss. All diese Aktivitäten auf sozialen Medien betreibe ich,
  10. weil ich als Volksvertreter erreichbar sein will. Insbesondere twittere ich, weil es auch viele Journalisten tun. Die Direktnachricht auf Twitter dürfte gerade bei jüngeren Journalisten und Politikern die SMS abgelöst haben.
  11. Soziale Medien sind ein Versprechen:
  12. dauerhafte Verfüg- und Erreichbarkeit sowie die Möglichkeit, ein potentiell unendlich großes Publikum zu erreichen. Mittlerweile habe ich auf Twitter 22 500 Follower, was man beachtlich finden kann. Oder auch nicht. Der hauseigene Analysedienst Twitter Analytics brachte mich auf die Frage, ob Twitter überhaupt etwas bringt. Twitter Analytics zeigt mir an, wie oft ein Link, den ich verbreite, geklickt wird. Ernüchternde Erkenntnis: Mir mögen zwar 22 500 Menschen folgen, aber im besten Fall klicken 2000 auf einen Link, den ich verbreite. Im Durchschnitt irgendetwas um die 500. Große Tageszeitungen haben eine Auflage von mehr als
  13. 350 000 Exemplaren. Selbst bei der konservativsten Rechnung, dass nur ein Prozent der Leser überhaupt bis hierhin gekommen ist und diesen Gastbeitrag liest, wären das noch immer mehr, als auf meine Links auf Twitter klicken. Wenn ich in einer Talkshow des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sitze, erreiche ich sogar ein Millionenpublikum.
  14. Dafür kostet mich Twitter Zeit. Jeden Tag geht, seit Mitte 2009 grob gerechnet, mindestens eine Stunde dafür drauf. Das sind 166 Acht-Stunden-Arbeitstage seit 2009, die ich nur mit Twitter verbracht habe. Wenn jeder meiner 60 000 Tweets die Maximallänge gehabt hätte, käme ich auf ungefähr 800 Gastbeiträge zu je rund
  15. 10 000 Zeichen; das sind mehr als zwei Zeitungsspalten. Dafür kostet mich Twitter Nerven. Jeden Tag aufstehen und mindestens einen doofen Kommentar, eine Beleidigung lesen. Seit ich Abgeordneter bin, habe ich mehr als 500 Personen auf Twitter geblockt, das heißt, diese können mir nicht mehr folgen, und wenn sie mir schreiben, sehe ich es nicht. Man stelle sich vor, ich hätte in einem Jahr 500 einstweilige Verfügungen erwirken müssen, die es Menschen untersagt, sich mir zu nähern oder mit mir zu kommunizieren. Dafür entsteht sozialer Stress. Menschen twittern über ihre Depressionen, sie twittern im Affekt Unkluges, Dinge, die ich nicht lesen möchte. Wenn ich diese Menschen abkoppele, muss ich mich dafür ihnen gegenüber
  16. rechtfertigen. Jetzt wird ein Social-Media-Experte dazwischenrufen: „Aber du kannst sie doch für einen Zeitraum X stumm stellen!“ Ja, sage ich, aber will ich das? Warum soll ich als Empfänger auf einmal eine Filterleistung vollbringen, die ich mir eigentlich vom Absender wünsche? Ist es zu viel verlangt, dass sich alle, egal, in welcher Kommunikationsform, vorher folgende drei Fragen stellen: Muss es gesagt werden? Muss es jetzt gesagt werden? Muss es jetzt von mir gesagt werden? Und: Welcher Mehrwert entsteht denn durch diese permanente Nabelschau auf Twitter konkret und für wen?
  17. Darüber hinaus zerfasert Twitter meine Kommunikation. Journalisten stellen mir Anfragen in einer privaten Nachricht auf Twitter. Ein Statement hierzu, wie ich dieses und jenes einschätze. Es würde auch in eine SMS oder E-Mail passen, aber Twitter bietet sich halt an, denn es suggeriert meine dauerhafte Verfügbarkeit. Dabei sind einzig und allein Tweets Kalorien für die mediale Fressmaschine. Sie sind der heilige Graldes Verlautbarungsjournalismus, denn es gibt nicht einmal mehr einen Kontext, aus dem sie
  18. gerissen werden müssen, sie hatten von Anfang an keinen. So füllen seit dem Erfolg der Piraten-Partei Schlagzeilen wie „XY hat dieses und jenes getwittert“ den Boulevard.
  19. Wo aber sind die behaupteten Vorteile der Online-Kommunikation angesichts solcher medialer Kollateralschäden? Vom Vertrauensverlust, der durch eine salopp formulierte Unflätigkeit auf Twitter entsteht, gar nicht zu sprechen. Und weiß ich, Stichwort Brüderle, ob nicht in drei Jahren irgendein Tweet rausgekramt wird, den ich 2010 möglicherweise im betrunkenen Zustand veröffentlicht habe? Kann ich sagen, wie prüde die Gesellschaft im Jahr 2020 sein wird und in welchem Lichte meine Tweets von 2012 dann betrachtet werden?
  20. Überhaupt: In was für ein Menschen- und Gesellschaftsbild lasse ich mich durch
  21. die Nutzung von Twitter eigentlich pressen? Ist es ein Wert, unbedarft jeden Gedanken, der vermeintlich in 140 Zeichen passt, in die Welt zu blasen? Soll jeder immer alles kommentieren? Möchten wir eine Diskussions- und Aufmerksamkeitskultur des Rauschens, das nur durch besonders laute und plakative Themen unterbrochen wird? War das nicht lange Zeit
  22. die Kritik an den klassischen Medien? In seiner Einfachheit bedient Twitter sicher ganz grundlegende menschliche Bedürfnisse nach Freundschaft, Anerkennung und Lob, den Wunsch, bekannt zu sein, gehört zu werden. Diese Bedürfnisse sind kein Selbstzweck, verkommen auf Twitter aber dazu. Was bliebe mir denn von meiner gefühlten sozial-medialen Macht übrig, wenn morgen jemand bei Twitter den Stecker zöge, der ganze Dienst und all seine Informationen weg wären? Nichts. Am Ende summieren sich bei mir verlorene Zeit und Nerven, sozialer Stress und
  23. zerfaserte Kommunikation sowie mediale Super-GAUs zu verlorener Produktivität. Nicht ich bestimme meinen Alltag, mein Alltag wird von Twitter zumindest mitbestimmt. Dem gegenüber steht für mich ein Mehrwert, der genau zu messen und äußerst beschränkt ist. Selbst wenn mir alle deutschsprachigen Twitternutzer folgen würden, dann stünden 800 000 Follower gegen die 27 Millionen eines Barack Obama oder 34 Millionen eines Justin Bieber. Die Frage, ob ich Twitter weiter nutzen möchte, habe ich für mich beantwortet. Die entsprechende App wurde von meinem Smartphone verbannt. Ganz löschen werde ich den Account nicht; zum Verbreiten von Links auf meinen Blog reicht er noch. Aber als Kommunikationsmedium ist Twitter für mich gestorben. Wer etwas von mir möchte, der möge mir ganz klassisch eine E-Mail schreiben.
  24.  
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  26. Christopher Lauer ist innen- und kulturpolitischer Sprecher sowie Vorsitzender der Piraten-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus.
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