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Dec 8th, 2019
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  1. Drachenlord. Drachenlord! Ein imposanter Titel, der kaum jemandem
  2. über vierzig in Deutschland etwas sagt, bei Menschen unter
  3. fünfundzwanzig aber recht bekannt ist. Drachenlord ist das Pseudonym von
  4. Rainer Winkler, einem 1989 geborenen Mann, der in einem winzigen Dorf in
  5. Franken allein im Haus seiner verstorbenen Eltern lebt. Er verwendet den
  6. Aliasnamen in sozialen Medien, zum Beispiel auf Youtube. Seit 2011
  7. veröffentlicht er Videos im Netz, er bespricht Videospiele und Musik, vor
  8. allem Heavy Metal, und kommentiert seinen Alltag. Für Außenstehende
  9. klingt das unspektakulär. Genau genommen ist es sogar grandios
  10. unspektakulär. Aber Winkler verfügt über einige Merkmale, die ihn
  11. vermeintlich oder tatsächlich anders machen. Er ist dick. Er hat einen
  12. fränkischen Akzent, seine Lieblingsmusik nennt er »Meddl«. Er spricht
  13. unbeschwert drauf los, manchmal zu unbeschwert. Er äußert im
  14. Überschwang unkonventionelle, kantige und auch krude Meinungen. Vor
  15. allem aber zeigt er seine Gefühle. Eine bestimmte bösartige Klientel im Netz
  16. betrachtet das als Einladung zum Mobbing.
  17. Rainer Winkler steht im Mittelpunkt eines neuen gesellschaftlichen
  18. Phänomens, das es inzwischen in vielen Ländern gibt: netzbasiertes
  19. Massenmobbing. Einige Tausend Menschen aus dem ganzen
  20. deutschsprachigen Raum, vor allem junge und sehr junge Männer, haben zu
  21. einer dezentralen Gruppierung zusammengefunden. Sie nennen ihr Mobbing
  22. spielerisch das »Drachengame«. Aber es ist kein Spiel, es ist eine ständige
  23. Hetzjagd mit Beleidigungen, Drohungen und bösartigen Attacken aller Art.
  24. Die Täter sehen darin eine Art Unterhaltung.
  25. Der häufigste Netzbegriff für diese Leute ist Troll; ihr Spektrum reicht von
  26. nervig, aber harmlos, bis zur lebensgefährlichen Bedrohung. Quälereien von
  27. Jugendlichen und Adoleszenten gibt es schon immer, selbst unter
  28. Menschenaffen kann Mobbing beobachtet werden. Mit dem Internet, speziell
  29. mit den sozialen Medien, hat sich etwas verändert. Die Geschichte der
  30. digitalen Vernetzung ist auch eine Geschichte der Skalierung. Das Internet
  31. eignet sich sehr gut, um bestimmte Inhalte, Verhaltensweisen oder
  32. Kulturtechniken exponentiell zu verbreiten, zu vergrößern oder zu verstärken.
  33. Der Realitätsschock der sozialen Medien: Wir sind plötzlich gezwungen,
  34. unsere Hilflosigkeit zu erkennen, angesichts des allzu dünnen Firnisses der
  35. Zivilisation, der in sozialen Medien sichtbar wird. Unsere Verstörung wird
  36. noch dadurch verstärkt, dass in liberalen Demokratien Debatten und
  37. Diskussionen ein so entscheidendes Instrument sind und Social Media dort
  38. nachweislich großen Einfluss entfaltet. Einerseits zeigen soziale Medien uns
  39. Nischen und Tiefen der Welt, die zuvor den meisten verborgen blieben.
  40. Andererseits verstärken und beschleunigen sie aber auch vieles, Skalierung
  41. eben. Für ein Kapitel möchte ich die positiven und wunderbaren Seiten der
  42. sozialen Medien beiseitelassen und die dunklen und schwierigen untersuchen.
  43. Fake News sind wie Mobbing nicht neu, aber mit Facebook sind sie zur
  44. vernetzten Gefahr für Leib, Leben und Demokratie geworden.
  45. Verschwörungstheorien sind so alt wie die Sprache selbst, aber mit Youtube
  46. haben sie einen Turbolader zugeschaltet bekommen. Terroristen wollen
  47. schon immer Aufmerksamkeit erregen, aber soziale Medien haben ihnen
  48. einen neuen, effizienten Werkzeugkoffer bereitgestellt. So geht es immer
  49. weiter und weiter, fast kein katastrophales Thema, das nicht via Social Media
  50. zumindest größere Sichtbarkeit erführe. Zum Beispiel auch die jahrelange,
  51. zermürbende, gewalttätige Hetzjagd, die vor allem Kinder, Jugendliche und
  52. junge Männer betreiben. Die Geschichte des Drachenlords Rainer Winkler ist
  53. eine Multiplikation: »Herr der Fliegen« mal Social Media.
  54. Fast von Beginn an wird Winkler angegriffen. Anfangs waren es nur
  55. Beleidigungen, Provokationen, Drohgebärden. Er wird lächerlich gemacht,
  56. zum Beispiel, indem sein Gesicht in peinliche Fotos eingepasst und in
  57. sozialen Medien verbreitet wird. Winkler beschwert sich auf Youtube
  58. darüber, er wehrt sich verbal und wird dabei emotional. Das ist eines der
  59. wichtigsten Ziele aller Peiniger im Netz: emotionale Reaktionen des Opfers,
  60. die auf die Wirksamkeit der Angriffe hindeuten. Die Attacken beginnen sich
  61. zu häufen, spätestens seit 2013 erfolgen sie täglich. Seitdem wird Winkler
  62. buchstäblich jeden einzelnen Tag in seinem Leben von bösartigen Trollen
  63. belästigt. Die Aggressionen haben sich verselbstständigt, denn zum alten
  64. Element des Quälens kommen drei Qualitäten der digitalen Vernetzung
  65. hinzu:
  66. die Einfachheit in der Umsetzung, weil mit ein paar Klicks viel
  67. erreicht werden kann
  68. die erwähnte Skalierbarkeit, weil Kommunikation sich in sozialen
  69. Netzwerken sehr schnell verbreitet
  70. und Community-Mechanismen, denn aus den einzelnen Angriffen
  71. ist eine organisierte Troll-Gemeinschaft entstanden
  72. Der früh verstorbene Publizist Robin Meyer-Lucht hat schon 2009 hellsichtig
  73. die Existenz von »Anti-Fans« vorhergesagt. Die Erkenntnisse eines
  74. Medienwissenschaftlers und Fan-Forschers, dass zum Fantum »Produktivität
  75. und Partizipation« gehörten, übertrug er einerseits in die digitale Sphäre und
  76. andererseits ins Negative: »Genauso wie Fans sich dadurch abgrenzen und
  77. enthemmen, dass sie fanatisch für etwas sind, […] grenzen sich […] Troll-
  78. Anti-Fans dadurch ab (und enthemmen sich), dass sie […] fanatisch
  79. verachten.« Meyer-Luchts knapp beschriebene Beobachtung ist längst zur
  80. Netzrealität geworden. Anti-Fans und ihr feindseliges Gebaren gehören in
  81. den sozialen Medien zum Alltag. Es gibt heute Hassgemeinschaften, die mit
  82. ähnlicher Hingabe, Intensität und Kreativität auf ihr Ziel fixiert sind wie die
  83. Fans von Beyoncé oder Messi – nur eben negativ statt positiv.
  84. Winklers Anti-Fan-Community hat sich einen Namen gegeben, nämlich
  85. Haider. Winkler spricht von seinen Hatern, ein im Netz geläufiger Begriff.
  86. Hater sind Hasser, aber mit fränkischem Akzent werden daraus Haider,
  87. englisch ausgesprochen und mit weichem »d«. Die jahrelangen,
  88. organisierten, immer weiter eskalierenden Angriffe auf den Drachenlord sind
  89. das Fanal einer digitalen Gesellschaft, die zu scheitern droht. Das Beispiel
  90. zeigt, wie wenig Polizei, Politik und Zivilgesellschaft diesem feindseligen
  91. Treiben entgegenzusetzen haben. Auch über fünfzehn Jahre nach der
  92. Erfindung von Facebook mit inzwischen über zwei Milliarden Nutzern stehen
  93. wir in allzu vielen Fällen zerknirscht und hilflos vor den Nebenwirkungen
  94. aller Art. Wenn wir sie überhaupt bemerken. Der Realitätsschock der sozialen
  95. Medien ist auch eine Erinnerung, dass wir bisher kaum verstehen, was für
  96. Auswirkungen soziale Medien auf die Gesellschaften der Welt haben. Auch
  97. die Digitalkonzerne selbst nicht.
  98. Als 2014 Winklers Schwester telefonisch belästigt und bedroht wird,
  99. nimmt er schreiend vor Wut einen Clip auf. Wer sich mit ihm anlegen wolle,
  100. solle seine Schwester in Ruhe lassen und stattdessen bei ihm vorbeikommen.
  101. Dann ruft er seine volle Adresse in die Kamera. Als einige Zeit später die
  102. Wut verflogen ist, löscht er den Clip, aber es ist zu spät. Seine Peiniger haben
  103. das Video längst gespeichert, laden es wieder und wieder auf verschiedenen
  104. Plattformen hoch. Und sie kennen jetzt seinen Wohnort. Aus dem Online-
  105. Martyrium wird ein quälender Sturm unter Einbeziehung der dinglichen
  106. Welt. Auf seinen Namen werden Unmengen Waren wie Kleidung oder Pizza
  107. bestellt, er wird in seinem Umfeld verleumdet und diffamiert, vor seinem
  108. Haus tauchen immer wieder Gruppen von Jugendlichen auf.
  109. Rainer Winkler wehrt sich. Die Mobber werden immer aggressiver. Eine
  110. sehr erfolgreiche Form von Youtube-Inhalten sind Pranks, das »Verstehen
  111. Sie Spaß« des 21. Jahrhunderts. Freunde oder Zufallsopfer wie Passanten
  112. werden meist grob hereingelegt, die Aufnahmen davon ins Netz gestellt.
  113. Schadenfreude bringt Klicks, also Ruhm und manchmal Geld. Weil soziale
  114. Medien als Sensationalisierungsmaschine funktionieren können, ist unter
  115. manchen ein Wettbewerb um immer extremere Pranks entstanden. In
  116. Hamburg wurde ein deutsch-afghanischer Youtuber zu sieben Monaten Haft
  117. auf Bewährung verurteilt, weil er einen Rucksack mit herausragenden Kabeln
  118. vor die Füße von Passanten geworfen hatte und schreiend so tat, als sei es
  119. eine Bombe. Auch in Großbritannien gab es Haftstrafen für ähnliche Fälle.
  120. Eine hoch kriminelle Variante des Pranks hat einen eigenen Namen
  121. bekommen: Swatting. Der Name stammt von den SWAT -Teams in den USA ,
  122. ein Akronym von »Special Weapons and Tactics«, schwerbewaffnete
  123. Spezialeinheiten.
  124. Dabei rufen Trolle bei Polizei oder Feuerwehr an und erzählen
  125. Lügengeschichten, um einen Einsatz zu provozieren. Im Netz kursieren
  126. Aufnahmen von Livestreams, bei denen die nichts ahnenden Opfer vor dem
  127. Rechner sitzen und ein Video aufnehmen, während im Hintergrund ein mit
  128. Sturmgewehren bewaffnetes Polizeikommando die Tür einschlägt. Im
  129. Dezember 2017 erschießt die Polizei in Kansas einen jungen Mann bei sich
  130. zu Hause, nachdem er arglos die Tür öffnet. Ein Troll aus Kalifornien hat
  131. zuvor am Telefon behauptet, dass dort eine Geiselnahme stattfinde. Er wird
  132. zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt.
  133. Auch Rainer Winkler wird per Swatting attackiert, im ersten in
  134. Deutschland überhaupt bekannt gewordenen Fall. Im Juli 2015 setzt ein
  135. dreiundzwanzigjähriger Mann einen Notruf ab, ein Großaufgebot der
  136. Feuerwehr rast los und ist schon bereit, das Haus Winklers zu stürmen. Im
  137. letzten Moment erkennen sie, dass es keinen Notfall gibt. Der Täter ist einer
  138. der giftigsten Mobber des Drachenlords, er wird wegen »Missbrauchs von
  139. Notrufen«, »Störung des öffentlichen Friedens« und »Bedrohung« zu drei
  140. Jahren und fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Auch um Nachahmer,
  141. insbesondere von Fehlalarmen, per Swatting, abzuschrecken. Aber die
  142. Angriffe hören nicht auf, im Gegenteil.
  143. Durch die überregionale Berichterstattung über das Swatting entsteht
  144. größere Medienresonanz zum Drachenlord und in der Folge auch für seine
  145. Anti-Fans. Die betrachten das als Aufmerksamkeits-Jackpot, die Haftstrafe
  146. schreckt sie nicht im Geringsten. Was lässt der sich auch erwischen, Idiot,
  147. selbst schuld, so schreiben die Trolle im Netz. Die deutsche Youtube-Szene
  148. ist groß, einigermaßen divers, was Interessen und Inhalte angeht, aber ein
  149. Teil erfüllt alle Klischees der aggressiven Rücksichtslosigkeit, die man
  150. jungen, unausgelasteten Männern nachsagt. Sie nutzen aus, dass im Netz
  151. Schadenfreude, Grenzüberschreitung und Quälerei verlässlich ein Publikum
  152. finden. Die Trolle denken sich immer boshaftere, ausgefeiltere Attacken aus,
  153. die sie auf ihren eigenen Youtube-Kanälen regelrecht vermarkten. Sie
  154. profitieren davon auch wirtschaftlich, ebenso wie Google, die Youtube-
  155. Mutter. Ein Prank oder eine Beschimpfungskanonade gegen Rainer Winkler
  156. garantiert viele Abrufe und neue Abonnenten, die wiederum mehr Ruhm und
  157. Geld bringen. Drachenlord wird zu einer Marke digitaler Verächtlichkeit,
  158. Hate-Brand ist der englische Fach-Slang dafür.
  159. Der Prank, der Rainer Winkler vor riesigem Internet-Publikum weinen
  160. lässt, zielt auf die größtmögliche Demütigung ab. Eine junge, attraktive Frau
  161. mit dem Pseudonym Erdbeerchen1510 baut über Monate vermeintlich eine
  162. emotionale Beziehung zu ihm auf. In Chats und per Privatnachrichten
  163. scheinen sich die beiden näherzukommen. Schließlich bringt sie Winkler
  164. dazu, ihr während eines Livestreams mit mehreren Tausend Zuschauern einen
  165. Heiratsantrag zu machen. Erdbeerchen reagiert anders, als der Drachenlord
  166. hofft, ganz anders. Sie lacht ihn aus, verhöhnt ihn und sagt: »Du bist der
  167. fetteste, dümmste Idiot, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.«
  168. Dann stößt sie vor laufender Kamera mit dem niederträchtigen Youtuber an,
  169. der alles lange geplant hatte. Bis heute sind Dutzende Kopien dieser
  170. Demütigung auf allen Plattformen. Es sind Taten, dazu geeignet, einen
  171. jungen Mann in den Selbstmord zu treiben. Man kann unterstellen, dass ein
  172. nicht geringer Teil der Mobber ein solches Ergebnis nicht nur in Kauf
  173. nehmen, sondern begrüßen würde. Wenn auch alles andere an den Trollen
  174. Fake, Trug und Täuschung sein mag, der Hass ist echt. Mehrfach ist Winkler
  175. auch tätlich angegriffen worden.
  176. Schon lange sind die Nachbarn Winklers in seinem Wohnort mehr als nur
  177. genervt. Sie haben begonnen, den Drachenlord für alles verantwortlich zu
  178. machen, für seine Anti-Fans und deren Belästigungen. Immer wieder lungern
  179. kleinere und mittelgroße Gruppen Jugendlicher im Ort herum, schmieren
  180. Parolen auf Wände und schreien betrunken ihre Pöbeleien in die Nacht
  181. hinaus. Das italienische Restaurant in der Nähe bekommt vierzig bis fünfzig
  182. Anrufe mit Fake-Reservierungen und Pizza-Bestellungen – am Tag.
  183. Und doch erreicht im heißen Spätsommer 2018 die Eskalation eine neue
  184. Ebene. Ausgehend von der Mobilisierung einiger Youtuber treffen sich
  185. immer wieder Menschen manchmal über hundert Personen starke Gruppen,
  186. vor Rainer Winklers Haus. Für den 20. August planen die Trolle eine
  187. Veranstaltung, zu der sich 10000 Menschen auf Facebook anmelden. Es
  188. kommen fast 800 junge Männer und ein paar Frauen am Abend dieses Tages
  189. in das Dorf, in dem Winkler lebt. Es hat 41 Einwohner. Aus der Menge
  190. werden Eier, Böller, Steine auf das frei stehende renovierungsbedürftige
  191. Haus geworfen. Die Terrassentüren gehen zu Bruch, eine Wiese wird in
  192. Brand gesetzt, es hat Wochen kaum geregnet. Vor Rainer Winklers Haus
  193. randaliert ein Mob. Er ist drin, und man kann sich vorstellen, dass er
  194. Todesängste durchstehen muss. Die Polizei ist schließlich mit einem
  195. Großaufgebot vor Ort und spricht 300 Platzverweise aus. Einige Teilnehmer
  196. des Mobs kommen aus Hamburg, Österreich, der Schweiz. Über den Angriff
  197. wird bundesweit berichtet, die meisten Älteren hören den Namen
  198. Drachenlord zum ersten Mal und vergessen ihn vermutlich gleich wieder. Die
  199. Hatz geht weiter, wiederum heftiger als zuvor.
  200. Im März 2019 ermordet ein islamistischer Attentäter mehrere Menschen in
  201. Utrecht. Wie bei fast jedem Attentat werden von den Hasstrollen in einer
  202. konzentrierten und konzertierten Aktion vor allem über Twitter manipulierte
  203. Fotos und Videos geteilt, die den Anschein nahelegen sollen, der
  204. Drachenlord sei der Täter. Im Fall von Utrecht fällt ein türkischer
  205. Nachrichtensender darauf herein und verbreitet vor Millionenpublikum Fotos
  206. von Rainer Winkler als Mordverdächtigem.
  207. Es wird von vielen Anti-Fans als »witzig« empfunden, Teil des
  208. gewalttätigen Massenmobbings namens »Drachengame« zu sein. Wenn man
  209. die Kommentare betrachtet, lassen sich im Wesentlichen drei Gruppen
  210. ausmachen. Erstens eher passive Schaulustige, zweitens Mitläufer, die selbst
  211. hier und da mitklicken oder einen boshaften Kommentar absondern. Den
  212. Kern bilden drittens die organisierten Trolle, die eine Subkultur des Hasses
  213. mit eigenen Sprachcodes, Netzritualen und Community-Treffen entwickelt
  214. haben. Sie verbreiten das Gerücht, angereichert mit geschickten Montagen
  215. und Falschzitaten, das »Drachengame« würde mit einer Art stillem
  216. Einverständnis von Rainer Winkler gespielt. Er sei in Wahrheit froh, dass
  217. sich so viele Leute für ihn interessierten. Das dient der Masse von
  218. Schaulustigen und Mitläufern als Rechtfertigung. Das ist falsch, und es ist
  219. gefährlich. Winkler sagt im Gespräch mit der Zeit: »Für mich war das nie ein
  220. Spiel. Mit dem Leben eines anderen Menschen zu spielen, ist für mich nicht
  221. lustig. Viele kommen hierher mit dem Ziel, mich so weit fertigzumachen,
  222. dass ich mich irgendwann umbringe.« Winklers Vater ist in der Nähe
  223. begraben, die Erbarmungslosigkeit der Mobber kennt auch davor keine
  224. Scheu. Es kommt auf dem Friedhof zu Grabschändungen, die teilweise
  225. gefilmt werden.
  226. In vielen Medienberichten ist die Rede davon, dass Winkler auch selbst
  227. schuld sei. Manchmal scheint es nur durch, manchmal wird es offen
  228. behauptet. Er mache schließlich weiter Videos und streame live. Im Spiegel
  229. kommt eine Cyberpsychologin zu Wort, die vom »Drachengame« als einem
  230. »komplexen Konflikt« spricht und als Lösung vorschlägt, Winkler solle sich
  231. vorübergehend aus dem Internet zurückziehen. Die Nachbarn haben ihn oft
  232. gebeten, keine Videos mehr ins Netz zu stellen. Die Provokationen nicht zu
  233. erwidern. Diese Reaktionen von Profis und Nachbarn, diese Berichte und
  234. Artikel zeugen von einem Unverständnis der Materie. Nicht nur wird damit
  235. ignoriert, dass Rainer Winkler sein Geld mit seiner Online-Präsenz verdient
  236. (er bekommt wie viele Youtuber einen Teil der Werbeerlöse ausgezahlt). Sie
  237. lassen auch auf ein veraltetes Netz- und Gesellschaftsverständnis schließen.
  238. In der Frühzeit des Netzes gab es die stehende Empfehlung »Don’t feed
  239. the trolls«, füttere nicht die Trolle. Dann würden sie schon aufhören. Diese
  240. Worte sind potenziell zerstörerisch, sie sind die Grundlage für eine
  241. Schuldumkehr. Wenn jemand online gequält wird, kann es aus Gründen der
  242. psychischen Belastung zwar kurzzeitig sinnvoll sein, sich zurückzuziehen.
  243. So, wie man aus einem brennenden Haus erst einmal hinauslaufen sollte.
  244. Aber das ist keine Generallösung, die für alle Betroffenen funktioniert. Und
  245. so wie das Verlassen des Hauses das Feuer nicht löscht, ändert der bloße
  246. Rückzug wenig. Schlimmer noch, dieses Vorgehen lastet dem Opfer des
  247. Mobbings die Verantwortung auf. Wenn weiter gemobbt wird, hat das Opfer
  248. Schuld, weil es zu früh oder überhaupt wieder ins Netz gegangen ist. Solche
  249. Ratschläge beruhen auf der Selbstverständlichkeit einer Zeit, in der man noch
  250. die Wahl hatte, ob man ins Netz geht oder nicht. Diese Zeit ist für die meisten
  251. jüngeren Menschen vorbei. Unter 25-Jährige organisieren ihr Privatleben
  252. heute so weitgehend über das Netz, dass die Wahl nur noch theoretisch ist.
  253. Von der beruflichen Perspektive ganz zu schweigen, weil die meisten Jobs
  254. der Zukunft Beherrschung und Nutzung digitaler Instrumente voraussetzen.
  255. Ein Nachbar im Dorf ruft den grölenden Trollen zu, sie sollten
  256. verschwinden, aber das Haus Winklers könnten sie vorher ruhig anzünden.
  257. Solche Formen der Schuldumkehr, das Opfer für die Gewalt an ihm selbst
  258. verantwortlich zu machen, sind sehr alte und trotzdem vollkommen
  259. inakzeptable menschliche Verhaltensweisen. »Wenn ich mich jetzt drücken
  260. würde, dann würde ich vermutlich endgültig zerbrechen«, sagt Winkler 2018
  261. einer Regionalzeitung. Dass er weitermacht, weiter Videos ins Netz stellt, ist
  262. seine legitime Form der Bewältigung. Es ist nicht seine Schuld, dass genau
  263. diese Unbeugsamkeit die gewalttätigen Anti-Fans anstachelt. Es ist das
  264. Versagen einer Gesellschaft, die längst in weiten Teilen eine digitale ist, aber
  265. noch nicht verstanden hat, was daraus folgen sollte.
  266. Cybermobbing wie auch Stalking sind viel zu lange nicht ausreichend ernst
  267. genommen worden. Immer wieder werden zum Beispiel Opfer nach Hause
  268. geschickt, wenn sie Anzeige erstatten wollen und der Polizei mitteilen, der
  269. Tatort sei das Internet. Selbst als in Deutschland im März 2017, zehn Jahre
  270. nach der explosiven Verbreitung sozialer Medien, eine gesetzliche
  271. Verschärfung der »Nachstellung« erfolgt, reicht das für viele Opfer nicht aus.
  272. Von der Polizei über die Staatsanwaltschaften bis zu den Gerichten ist noch
  273. immer die Haltung weit verbreitet, man könne als Gegenmittel doch einfach
  274. das Internet meiden. Dass eine ganze Generation inzwischen ihr Sozialleben
  275. und vieles andere ins Netz verlagert hat, ist in vielen Köpfen nicht
  276. angekommen. Es ist, als würde man Leuten als Schutz vor Straßenüberfällen
  277. empfehlen, nicht mehr aus dem Haus zu gehen. Durch diese Unkenntnis wird
  278. eine Vielzahl von Opfern allein gelassen. Darunter leiden insbesondere
  279. gefährdete Gruppen, junge Frauen, nicht-weiße und geschlechtlich nicht-
  280. binäre Personen, Menschen mit sichtbarer Behinderung, Minderheiten aller
  281. Art. Facebook wird 2004 gegründet. Die ersten fünfzehn Jahre des Netzwerks
  282. sind ein ökonomischer Siegeszug, mit dem soziale Medien zur
  283. Selbstverständlichkeit werden. Diese Phase ist aber auch eine Eskalation
  284. einer digitalen Hetzjagd auf ohnehin marginalisierte Gruppen.
  285. Mit neuen Kulturpraktiken gehen neue Formen des Mobbings einher, wie
  286. etwa »Revenge Porn«. Es handelt sich nur vordergründig um Pornografie,
  287. und mit dem beschönigenden Begriff der Rache hat das wenig zu tun. Auf
  288. diese Weise werden junge Frauen gedemütigt, meist von ihren Exfreunden,
  289. die Nacktfotos oder selbst gemachte pornografische Aufnahmen ins Netz
  290. stellen: eine neue Form der sexuellen Belästigung. Auch Erpressungen finden
  291. statt. In Kalifornien ist 2017 ein Gesetz gegen »Revenge Porn« erlassen
  292. worden, in Europa tut man sich damit noch schwer. In Deutschland ist es,
  293. Stand Sommer 2019, nicht einmal verboten, Frauen in der Öffentlichkeit mit
  294. dem Smartphone unter den Rock zu fotografieren.
  295. Die nicht-digital geprägten Generationen haben für Fälle wie der
  296. bösartigen Veröffentlichung von Nacktfotos oft die Antwort: Selbst schuld,
  297. warum lässt du solche Aufnahmen von dir machen? Dieser Vorwurf weist
  298. den Opfern die Verantwortung für das Handeln der Täter zu und entlastet
  299. diese damit. Wer eine solche Schuldumkehr betreibt, verkennt auch die
  300. Größenordnungen, in denen sich Sexualität digitalisiert hat. Eine Befragung
  301. amerikanischer Jugendlicher kommt 2018 zu dem Schluss, dass einer von
  302. vier Teenagern Nacktfotos von sich verschickt. Einige Experten halten diese
  303. Zahlen für stark untertrieben, schon 2015 gab es Untersuchungen, dass selbst
  304. acht von zehn Erwachsenen »Sexting« betreiben, also intime, delikate Inhalte
  305. verschicken. In jedem Fall aber handelt es sich bei Jugendlichen um ein
  306. Massenphänomen, das meist abseits der Erziehungsverantwortlichen
  307. gewachsen ist und deshalb oft ignoriert wird.
  308. Falls sich Kinder und Jugendliche wegen verschickter oder bereits
  309. veröffentlichter Fotos aller Art sorgen, wäre die schlechteste
  310. Vorgehensweise, sie damit allein zu lassen, weil sie angeblich selbst schuld
  311. seien. Der Fachbegriff dafür lautet Victim Blaming, das Opfer für die
  312. Handlungen des Täters verantwortlich zu machen. Dieser Fehlschluss ist
  313. altbekannt, etwa bei sexueller Gewalt gegen Frauen. Digitales Victim
  314. Blaming aber, wie gegenüber Rainer Winkler oder den Opfern der Nacktbild-
  315. Veröffentlichung, ist sogar bei Leuten salonfähig, die es in der dinglichen
  316. Welt ablehnen. Das ist symptomatisch für die Hilflosigkeit der Gesellschaft
  317. gegenüber neuen, extremen Phänomenen der digitalen Welt. Als in den USA
  318. 2014 Dutzende weibliche Prominente gehackt werden und daraufhin ihre
  319. privaten, oft delikaten Fotos ins Netz gestellt werden, erklärt der damalige
  320. Digitalkommissar der EU Günther Oettinger, dass man die Menschen nicht
  321. »vor ihrer Dummheit bewahren« könne.
  322. Rainer Winkler ist das Opfer eines boshaften, gewalttätigen Mobs, es ist
  323. allein seiner inneren Stärke und einer Mischung aus Trotz und Zähigkeit zu
  324. verdanken, dass er sich bisher nichts angetan hat. Wenige andere Menschen
  325. hätten auch nur einen Tag ausgehalten, was der Drachenlord über Jahre
  326. erdulden muss. Winklers Leiden steht exemplarisch dafür, dass Staat und
  327. Gesellschaft ratlos vor einem digitalen Problem stehen und versuchen, die
  328. Sache entweder mit falschen, weil vordigitalen Instrumenten in den Griff zu
  329. bekommen. Oder gar nicht. Im Jahr 2019 ist, anders als Stalking, das
  330. Cybermobbing in den meisten Ländern der EU nicht einmal ein eigener
  331. Straftatbestand. Wir haben bisher kaum geeignete Rezepte gegen die
  332. negativen Auswirkungen der sozialen Medien gefunden, obwohl eine ganze
  333. Generation mit und in ihnen aufwächst.
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