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- Drachenlord. Drachenlord! Ein imposanter Titel, der kaum jemandem
- über vierzig in Deutschland etwas sagt, bei Menschen unter
- fünfundzwanzig aber recht bekannt ist. Drachenlord ist das Pseudonym von
- Rainer Winkler, einem 1989 geborenen Mann, der in einem winzigen Dorf in
- Franken allein im Haus seiner verstorbenen Eltern lebt. Er verwendet den
- Aliasnamen in sozialen Medien, zum Beispiel auf Youtube. Seit 2011
- veröffentlicht er Videos im Netz, er bespricht Videospiele und Musik, vor
- allem Heavy Metal, und kommentiert seinen Alltag. Für Außenstehende
- klingt das unspektakulär. Genau genommen ist es sogar grandios
- unspektakulär. Aber Winkler verfügt über einige Merkmale, die ihn
- vermeintlich oder tatsächlich anders machen. Er ist dick. Er hat einen
- fränkischen Akzent, seine Lieblingsmusik nennt er »Meddl«. Er spricht
- unbeschwert drauf los, manchmal zu unbeschwert. Er äußert im
- Überschwang unkonventionelle, kantige und auch krude Meinungen. Vor
- allem aber zeigt er seine Gefühle. Eine bestimmte bösartige Klientel im Netz
- betrachtet das als Einladung zum Mobbing.
- Rainer Winkler steht im Mittelpunkt eines neuen gesellschaftlichen
- Phänomens, das es inzwischen in vielen Ländern gibt: netzbasiertes
- Massenmobbing. Einige Tausend Menschen aus dem ganzen
- deutschsprachigen Raum, vor allem junge und sehr junge Männer, haben zu
- einer dezentralen Gruppierung zusammengefunden. Sie nennen ihr Mobbing
- spielerisch das »Drachengame«. Aber es ist kein Spiel, es ist eine ständige
- Hetzjagd mit Beleidigungen, Drohungen und bösartigen Attacken aller Art.
- Die Täter sehen darin eine Art Unterhaltung.
- Der häufigste Netzbegriff für diese Leute ist Troll; ihr Spektrum reicht von
- nervig, aber harmlos, bis zur lebensgefährlichen Bedrohung. Quälereien von
- Jugendlichen und Adoleszenten gibt es schon immer, selbst unter
- Menschenaffen kann Mobbing beobachtet werden. Mit dem Internet, speziell
- mit den sozialen Medien, hat sich etwas verändert. Die Geschichte der
- digitalen Vernetzung ist auch eine Geschichte der Skalierung. Das Internet
- eignet sich sehr gut, um bestimmte Inhalte, Verhaltensweisen oder
- Kulturtechniken exponentiell zu verbreiten, zu vergrößern oder zu verstärken.
- Der Realitätsschock der sozialen Medien: Wir sind plötzlich gezwungen,
- unsere Hilflosigkeit zu erkennen, angesichts des allzu dünnen Firnisses der
- Zivilisation, der in sozialen Medien sichtbar wird. Unsere Verstörung wird
- noch dadurch verstärkt, dass in liberalen Demokratien Debatten und
- Diskussionen ein so entscheidendes Instrument sind und Social Media dort
- nachweislich großen Einfluss entfaltet. Einerseits zeigen soziale Medien uns
- Nischen und Tiefen der Welt, die zuvor den meisten verborgen blieben.
- Andererseits verstärken und beschleunigen sie aber auch vieles, Skalierung
- eben. Für ein Kapitel möchte ich die positiven und wunderbaren Seiten der
- sozialen Medien beiseitelassen und die dunklen und schwierigen untersuchen.
- Fake News sind wie Mobbing nicht neu, aber mit Facebook sind sie zur
- vernetzten Gefahr für Leib, Leben und Demokratie geworden.
- Verschwörungstheorien sind so alt wie die Sprache selbst, aber mit Youtube
- haben sie einen Turbolader zugeschaltet bekommen. Terroristen wollen
- schon immer Aufmerksamkeit erregen, aber soziale Medien haben ihnen
- einen neuen, effizienten Werkzeugkoffer bereitgestellt. So geht es immer
- weiter und weiter, fast kein katastrophales Thema, das nicht via Social Media
- zumindest größere Sichtbarkeit erführe. Zum Beispiel auch die jahrelange,
- zermürbende, gewalttätige Hetzjagd, die vor allem Kinder, Jugendliche und
- junge Männer betreiben. Die Geschichte des Drachenlords Rainer Winkler ist
- eine Multiplikation: »Herr der Fliegen« mal Social Media.
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- Fast von Beginn an wird Winkler angegriffen. Anfangs waren es nur
- Beleidigungen, Provokationen, Drohgebärden. Er wird lächerlich gemacht,
- zum Beispiel, indem sein Gesicht in peinliche Fotos eingepasst und in
- sozialen Medien verbreitet wird. Winkler beschwert sich auf Youtube
- darüber, er wehrt sich verbal und wird dabei emotional. Das ist eines der
- wichtigsten Ziele aller Peiniger im Netz: emotionale Reaktionen des Opfers,
- die auf die Wirksamkeit der Angriffe hindeuten. Die Attacken beginnen sich
- zu häufen, spätestens seit 2013 erfolgen sie täglich. Seitdem wird Winkler
- buchstäblich jeden einzelnen Tag in seinem Leben von bösartigen Trollen
- belästigt. Die Aggressionen haben sich verselbstständigt, denn zum alten
- Element des Quälens kommen drei Qualitäten der digitalen Vernetzung
- hinzu:
- die Einfachheit in der Umsetzung, weil mit ein paar Klicks viel
- erreicht werden kann
- die erwähnte Skalierbarkeit, weil Kommunikation sich in sozialen
- Netzwerken sehr schnell verbreitet
- und Community-Mechanismen, denn aus den einzelnen Angriffen
- ist eine organisierte Troll-Gemeinschaft entstanden
- Der früh verstorbene Publizist Robin Meyer-Lucht hat schon 2009 hellsichtig
- die Existenz von »Anti-Fans« vorhergesagt. Die Erkenntnisse eines
- Medienwissenschaftlers und Fan-Forschers, dass zum Fantum »Produktivität
- und Partizipation« gehörten, übertrug er einerseits in die digitale Sphäre und
- andererseits ins Negative: »Genauso wie Fans sich dadurch abgrenzen und
- enthemmen, dass sie fanatisch für etwas sind, […] grenzen sich […] Troll-
- Anti-Fans dadurch ab (und enthemmen sich), dass sie […] fanatisch
- verachten.« Meyer-Luchts knapp beschriebene Beobachtung ist längst zur
- Netzrealität geworden. Anti-Fans und ihr feindseliges Gebaren gehören in
- den sozialen Medien zum Alltag. Es gibt heute Hassgemeinschaften, die mit
- ähnlicher Hingabe, Intensität und Kreativität auf ihr Ziel fixiert sind wie die
- Fans von Beyoncé oder Messi – nur eben negativ statt positiv.
- Winklers Anti-Fan-Community hat sich einen Namen gegeben, nämlich
- Haider. Winkler spricht von seinen Hatern, ein im Netz geläufiger Begriff.
- Hater sind Hasser, aber mit fränkischem Akzent werden daraus Haider,
- englisch ausgesprochen und mit weichem »d«. Die jahrelangen,
- organisierten, immer weiter eskalierenden Angriffe auf den Drachenlord sind
- das Fanal einer digitalen Gesellschaft, die zu scheitern droht. Das Beispiel
- zeigt, wie wenig Polizei, Politik und Zivilgesellschaft diesem feindseligen
- Treiben entgegenzusetzen haben. Auch über fünfzehn Jahre nach der
- Erfindung von Facebook mit inzwischen über zwei Milliarden Nutzern stehen
- wir in allzu vielen Fällen zerknirscht und hilflos vor den Nebenwirkungen
- aller Art. Wenn wir sie überhaupt bemerken. Der Realitätsschock der sozialen
- Medien ist auch eine Erinnerung, dass wir bisher kaum verstehen, was für
- Auswirkungen soziale Medien auf die Gesellschaften der Welt haben. Auch
- die Digitalkonzerne selbst nicht.
- Als 2014 Winklers Schwester telefonisch belästigt und bedroht wird,
- nimmt er schreiend vor Wut einen Clip auf. Wer sich mit ihm anlegen wolle,
- solle seine Schwester in Ruhe lassen und stattdessen bei ihm vorbeikommen.
- Dann ruft er seine volle Adresse in die Kamera. Als einige Zeit später die
- Wut verflogen ist, löscht er den Clip, aber es ist zu spät. Seine Peiniger haben
- das Video längst gespeichert, laden es wieder und wieder auf verschiedenen
- Plattformen hoch. Und sie kennen jetzt seinen Wohnort. Aus dem Online-
- Martyrium wird ein quälender Sturm unter Einbeziehung der dinglichen
- Welt. Auf seinen Namen werden Unmengen Waren wie Kleidung oder Pizza
- bestellt, er wird in seinem Umfeld verleumdet und diffamiert, vor seinem
- Haus tauchen immer wieder Gruppen von Jugendlichen auf.
- Rainer Winkler wehrt sich. Die Mobber werden immer aggressiver. Eine
- sehr erfolgreiche Form von Youtube-Inhalten sind Pranks, das »Verstehen
- Sie Spaß« des 21. Jahrhunderts. Freunde oder Zufallsopfer wie Passanten
- werden meist grob hereingelegt, die Aufnahmen davon ins Netz gestellt.
- Schadenfreude bringt Klicks, also Ruhm und manchmal Geld. Weil soziale
- Medien als Sensationalisierungsmaschine funktionieren können, ist unter
- manchen ein Wettbewerb um immer extremere Pranks entstanden. In
- Hamburg wurde ein deutsch-afghanischer Youtuber zu sieben Monaten Haft
- auf Bewährung verurteilt, weil er einen Rucksack mit herausragenden Kabeln
- vor die Füße von Passanten geworfen hatte und schreiend so tat, als sei es
- eine Bombe. Auch in Großbritannien gab es Haftstrafen für ähnliche Fälle.
- Eine hoch kriminelle Variante des Pranks hat einen eigenen Namen
- bekommen: Swatting. Der Name stammt von den SWAT -Teams in den USA ,
- ein Akronym von »Special Weapons and Tactics«, schwerbewaffnete
- Spezialeinheiten.
- Dabei rufen Trolle bei Polizei oder Feuerwehr an und erzählen
- Lügengeschichten, um einen Einsatz zu provozieren. Im Netz kursieren
- Aufnahmen von Livestreams, bei denen die nichts ahnenden Opfer vor dem
- Rechner sitzen und ein Video aufnehmen, während im Hintergrund ein mit
- Sturmgewehren bewaffnetes Polizeikommando die Tür einschlägt. Im
- Dezember 2017 erschießt die Polizei in Kansas einen jungen Mann bei sich
- zu Hause, nachdem er arglos die Tür öffnet. Ein Troll aus Kalifornien hat
- zuvor am Telefon behauptet, dass dort eine Geiselnahme stattfinde. Er wird
- zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt.
- Auch Rainer Winkler wird per Swatting attackiert, im ersten in
- Deutschland überhaupt bekannt gewordenen Fall. Im Juli 2015 setzt ein
- dreiundzwanzigjähriger Mann einen Notruf ab, ein Großaufgebot der
- Feuerwehr rast los und ist schon bereit, das Haus Winklers zu stürmen. Im
- letzten Moment erkennen sie, dass es keinen Notfall gibt. Der Täter ist einer
- der giftigsten Mobber des Drachenlords, er wird wegen »Missbrauchs von
- Notrufen«, »Störung des öffentlichen Friedens« und »Bedrohung« zu drei
- Jahren und fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Auch um Nachahmer,
- insbesondere von Fehlalarmen, per Swatting, abzuschrecken. Aber die
- Angriffe hören nicht auf, im Gegenteil.
- Durch die überregionale Berichterstattung über das Swatting entsteht
- größere Medienresonanz zum Drachenlord und in der Folge auch für seine
- Anti-Fans. Die betrachten das als Aufmerksamkeits-Jackpot, die Haftstrafe
- schreckt sie nicht im Geringsten. Was lässt der sich auch erwischen, Idiot,
- selbst schuld, so schreiben die Trolle im Netz. Die deutsche Youtube-Szene
- ist groß, einigermaßen divers, was Interessen und Inhalte angeht, aber ein
- Teil erfüllt alle Klischees der aggressiven Rücksichtslosigkeit, die man
- jungen, unausgelasteten Männern nachsagt. Sie nutzen aus, dass im Netz
- Schadenfreude, Grenzüberschreitung und Quälerei verlässlich ein Publikum
- finden. Die Trolle denken sich immer boshaftere, ausgefeiltere Attacken aus,
- die sie auf ihren eigenen Youtube-Kanälen regelrecht vermarkten. Sie
- profitieren davon auch wirtschaftlich, ebenso wie Google, die Youtube-
- Mutter. Ein Prank oder eine Beschimpfungskanonade gegen Rainer Winkler
- garantiert viele Abrufe und neue Abonnenten, die wiederum mehr Ruhm und
- Geld bringen. Drachenlord wird zu einer Marke digitaler Verächtlichkeit,
- Hate-Brand ist der englische Fach-Slang dafür.
- Der Prank, der Rainer Winkler vor riesigem Internet-Publikum weinen
- lässt, zielt auf die größtmögliche Demütigung ab. Eine junge, attraktive Frau
- mit dem Pseudonym Erdbeerchen1510 baut über Monate vermeintlich eine
- emotionale Beziehung zu ihm auf. In Chats und per Privatnachrichten
- scheinen sich die beiden näherzukommen. Schließlich bringt sie Winkler
- dazu, ihr während eines Livestreams mit mehreren Tausend Zuschauern einen
- Heiratsantrag zu machen. Erdbeerchen reagiert anders, als der Drachenlord
- hofft, ganz anders. Sie lacht ihn aus, verhöhnt ihn und sagt: »Du bist der
- fetteste, dümmste Idiot, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.«
- Dann stößt sie vor laufender Kamera mit dem niederträchtigen Youtuber an,
- der alles lange geplant hatte. Bis heute sind Dutzende Kopien dieser
- Demütigung auf allen Plattformen. Es sind Taten, dazu geeignet, einen
- jungen Mann in den Selbstmord zu treiben. Man kann unterstellen, dass ein
- nicht geringer Teil der Mobber ein solches Ergebnis nicht nur in Kauf
- nehmen, sondern begrüßen würde. Wenn auch alles andere an den Trollen
- Fake, Trug und Täuschung sein mag, der Hass ist echt. Mehrfach ist Winkler
- auch tätlich angegriffen worden.
- Schon lange sind die Nachbarn Winklers in seinem Wohnort mehr als nur
- genervt. Sie haben begonnen, den Drachenlord für alles verantwortlich zu
- machen, für seine Anti-Fans und deren Belästigungen. Immer wieder lungern
- kleinere und mittelgroße Gruppen Jugendlicher im Ort herum, schmieren
- Parolen auf Wände und schreien betrunken ihre Pöbeleien in die Nacht
- hinaus. Das italienische Restaurant in der Nähe bekommt vierzig bis fünfzig
- Anrufe mit Fake-Reservierungen und Pizza-Bestellungen – am Tag.
- Und doch erreicht im heißen Spätsommer 2018 die Eskalation eine neue
- Ebene. Ausgehend von der Mobilisierung einiger Youtuber treffen sich
- immer wieder Menschen manchmal über hundert Personen starke Gruppen,
- vor Rainer Winklers Haus. Für den 20. August planen die Trolle eine
- Veranstaltung, zu der sich 10000 Menschen auf Facebook anmelden. Es
- kommen fast 800 junge Männer und ein paar Frauen am Abend dieses Tages
- in das Dorf, in dem Winkler lebt. Es hat 41 Einwohner. Aus der Menge
- werden Eier, Böller, Steine auf das frei stehende renovierungsbedürftige
- Haus geworfen. Die Terrassentüren gehen zu Bruch, eine Wiese wird in
- Brand gesetzt, es hat Wochen kaum geregnet. Vor Rainer Winklers Haus
- randaliert ein Mob. Er ist drin, und man kann sich vorstellen, dass er
- Todesängste durchstehen muss. Die Polizei ist schließlich mit einem
- Großaufgebot vor Ort und spricht 300 Platzverweise aus. Einige Teilnehmer
- des Mobs kommen aus Hamburg, Österreich, der Schweiz. Über den Angriff
- wird bundesweit berichtet, die meisten Älteren hören den Namen
- Drachenlord zum ersten Mal und vergessen ihn vermutlich gleich wieder. Die
- Hatz geht weiter, wiederum heftiger als zuvor.
- Im März 2019 ermordet ein islamistischer Attentäter mehrere Menschen in
- Utrecht. Wie bei fast jedem Attentat werden von den Hasstrollen in einer
- konzentrierten und konzertierten Aktion vor allem über Twitter manipulierte
- Fotos und Videos geteilt, die den Anschein nahelegen sollen, der
- Drachenlord sei der Täter. Im Fall von Utrecht fällt ein türkischer
- Nachrichtensender darauf herein und verbreitet vor Millionenpublikum Fotos
- von Rainer Winkler als Mordverdächtigem.
- Es wird von vielen Anti-Fans als »witzig« empfunden, Teil des
- gewalttätigen Massenmobbings namens »Drachengame« zu sein. Wenn man
- die Kommentare betrachtet, lassen sich im Wesentlichen drei Gruppen
- ausmachen. Erstens eher passive Schaulustige, zweitens Mitläufer, die selbst
- hier und da mitklicken oder einen boshaften Kommentar absondern. Den
- Kern bilden drittens die organisierten Trolle, die eine Subkultur des Hasses
- mit eigenen Sprachcodes, Netzritualen und Community-Treffen entwickelt
- haben. Sie verbreiten das Gerücht, angereichert mit geschickten Montagen
- und Falschzitaten, das »Drachengame« würde mit einer Art stillem
- Einverständnis von Rainer Winkler gespielt. Er sei in Wahrheit froh, dass
- sich so viele Leute für ihn interessierten. Das dient der Masse von
- Schaulustigen und Mitläufern als Rechtfertigung. Das ist falsch, und es ist
- gefährlich. Winkler sagt im Gespräch mit der Zeit: »Für mich war das nie ein
- Spiel. Mit dem Leben eines anderen Menschen zu spielen, ist für mich nicht
- lustig. Viele kommen hierher mit dem Ziel, mich so weit fertigzumachen,
- dass ich mich irgendwann umbringe.« Winklers Vater ist in der Nähe
- begraben, die Erbarmungslosigkeit der Mobber kennt auch davor keine
- Scheu. Es kommt auf dem Friedhof zu Grabschändungen, die teilweise
- gefilmt werden.
- In vielen Medienberichten ist die Rede davon, dass Winkler auch selbst
- schuld sei. Manchmal scheint es nur durch, manchmal wird es offen
- behauptet. Er mache schließlich weiter Videos und streame live. Im Spiegel
- kommt eine Cyberpsychologin zu Wort, die vom »Drachengame« als einem
- »komplexen Konflikt« spricht und als Lösung vorschlägt, Winkler solle sich
- vorübergehend aus dem Internet zurückziehen. Die Nachbarn haben ihn oft
- gebeten, keine Videos mehr ins Netz zu stellen. Die Provokationen nicht zu
- erwidern. Diese Reaktionen von Profis und Nachbarn, diese Berichte und
- Artikel zeugen von einem Unverständnis der Materie. Nicht nur wird damit
- ignoriert, dass Rainer Winkler sein Geld mit seiner Online-Präsenz verdient
- (er bekommt wie viele Youtuber einen Teil der Werbeerlöse ausgezahlt). Sie
- lassen auch auf ein veraltetes Netz- und Gesellschaftsverständnis schließen.
- In der Frühzeit des Netzes gab es die stehende Empfehlung »Don’t feed
- the trolls«, füttere nicht die Trolle. Dann würden sie schon aufhören. Diese
- Worte sind potenziell zerstörerisch, sie sind die Grundlage für eine
- Schuldumkehr. Wenn jemand online gequält wird, kann es aus Gründen der
- psychischen Belastung zwar kurzzeitig sinnvoll sein, sich zurückzuziehen.
- So, wie man aus einem brennenden Haus erst einmal hinauslaufen sollte.
- Aber das ist keine Generallösung, die für alle Betroffenen funktioniert. Und
- so wie das Verlassen des Hauses das Feuer nicht löscht, ändert der bloße
- Rückzug wenig. Schlimmer noch, dieses Vorgehen lastet dem Opfer des
- Mobbings die Verantwortung auf. Wenn weiter gemobbt wird, hat das Opfer
- Schuld, weil es zu früh oder überhaupt wieder ins Netz gegangen ist. Solche
- Ratschläge beruhen auf der Selbstverständlichkeit einer Zeit, in der man noch
- die Wahl hatte, ob man ins Netz geht oder nicht. Diese Zeit ist für die meisten
- jüngeren Menschen vorbei. Unter 25-Jährige organisieren ihr Privatleben
- heute so weitgehend über das Netz, dass die Wahl nur noch theoretisch ist.
- Von der beruflichen Perspektive ganz zu schweigen, weil die meisten Jobs
- der Zukunft Beherrschung und Nutzung digitaler Instrumente voraussetzen.
- Ein Nachbar im Dorf ruft den grölenden Trollen zu, sie sollten
- verschwinden, aber das Haus Winklers könnten sie vorher ruhig anzünden.
- Solche Formen der Schuldumkehr, das Opfer für die Gewalt an ihm selbst
- verantwortlich zu machen, sind sehr alte und trotzdem vollkommen
- inakzeptable menschliche Verhaltensweisen. »Wenn ich mich jetzt drücken
- würde, dann würde ich vermutlich endgültig zerbrechen«, sagt Winkler 2018
- einer Regionalzeitung. Dass er weitermacht, weiter Videos ins Netz stellt, ist
- seine legitime Form der Bewältigung. Es ist nicht seine Schuld, dass genau
- diese Unbeugsamkeit die gewalttätigen Anti-Fans anstachelt. Es ist das
- Versagen einer Gesellschaft, die längst in weiten Teilen eine digitale ist, aber
- noch nicht verstanden hat, was daraus folgen sollte.
- Cybermobbing wie auch Stalking sind viel zu lange nicht ausreichend ernst
- genommen worden. Immer wieder werden zum Beispiel Opfer nach Hause
- geschickt, wenn sie Anzeige erstatten wollen und der Polizei mitteilen, der
- Tatort sei das Internet. Selbst als in Deutschland im März 2017, zehn Jahre
- nach der explosiven Verbreitung sozialer Medien, eine gesetzliche
- Verschärfung der »Nachstellung« erfolgt, reicht das für viele Opfer nicht aus.
- Von der Polizei über die Staatsanwaltschaften bis zu den Gerichten ist noch
- immer die Haltung weit verbreitet, man könne als Gegenmittel doch einfach
- das Internet meiden. Dass eine ganze Generation inzwischen ihr Sozialleben
- und vieles andere ins Netz verlagert hat, ist in vielen Köpfen nicht
- angekommen. Es ist, als würde man Leuten als Schutz vor Straßenüberfällen
- empfehlen, nicht mehr aus dem Haus zu gehen. Durch diese Unkenntnis wird
- eine Vielzahl von Opfern allein gelassen. Darunter leiden insbesondere
- gefährdete Gruppen, junge Frauen, nicht-weiße und geschlechtlich nicht-
- binäre Personen, Menschen mit sichtbarer Behinderung, Minderheiten aller
- Art. Facebook wird 2004 gegründet. Die ersten fünfzehn Jahre des Netzwerks
- sind ein ökonomischer Siegeszug, mit dem soziale Medien zur
- Selbstverständlichkeit werden. Diese Phase ist aber auch eine Eskalation
- einer digitalen Hetzjagd auf ohnehin marginalisierte Gruppen.
- Mit neuen Kulturpraktiken gehen neue Formen des Mobbings einher, wie
- etwa »Revenge Porn«. Es handelt sich nur vordergründig um Pornografie,
- und mit dem beschönigenden Begriff der Rache hat das wenig zu tun. Auf
- diese Weise werden junge Frauen gedemütigt, meist von ihren Exfreunden,
- die Nacktfotos oder selbst gemachte pornografische Aufnahmen ins Netz
- stellen: eine neue Form der sexuellen Belästigung. Auch Erpressungen finden
- statt. In Kalifornien ist 2017 ein Gesetz gegen »Revenge Porn« erlassen
- worden, in Europa tut man sich damit noch schwer. In Deutschland ist es,
- Stand Sommer 2019, nicht einmal verboten, Frauen in der Öffentlichkeit mit
- dem Smartphone unter den Rock zu fotografieren.
- Die nicht-digital geprägten Generationen haben für Fälle wie der
- bösartigen Veröffentlichung von Nacktfotos oft die Antwort: Selbst schuld,
- warum lässt du solche Aufnahmen von dir machen? Dieser Vorwurf weist
- den Opfern die Verantwortung für das Handeln der Täter zu und entlastet
- diese damit. Wer eine solche Schuldumkehr betreibt, verkennt auch die
- Größenordnungen, in denen sich Sexualität digitalisiert hat. Eine Befragung
- amerikanischer Jugendlicher kommt 2018 zu dem Schluss, dass einer von
- vier Teenagern Nacktfotos von sich verschickt. Einige Experten halten diese
- Zahlen für stark untertrieben, schon 2015 gab es Untersuchungen, dass selbst
- acht von zehn Erwachsenen »Sexting« betreiben, also intime, delikate Inhalte
- verschicken. In jedem Fall aber handelt es sich bei Jugendlichen um ein
- Massenphänomen, das meist abseits der Erziehungsverantwortlichen
- gewachsen ist und deshalb oft ignoriert wird.
- Falls sich Kinder und Jugendliche wegen verschickter oder bereits
- veröffentlichter Fotos aller Art sorgen, wäre die schlechteste
- Vorgehensweise, sie damit allein zu lassen, weil sie angeblich selbst schuld
- seien. Der Fachbegriff dafür lautet Victim Blaming, das Opfer für die
- Handlungen des Täters verantwortlich zu machen. Dieser Fehlschluss ist
- altbekannt, etwa bei sexueller Gewalt gegen Frauen. Digitales Victim
- Blaming aber, wie gegenüber Rainer Winkler oder den Opfern der Nacktbild-
- Veröffentlichung, ist sogar bei Leuten salonfähig, die es in der dinglichen
- Welt ablehnen. Das ist symptomatisch für die Hilflosigkeit der Gesellschaft
- gegenüber neuen, extremen Phänomenen der digitalen Welt. Als in den USA
- 2014 Dutzende weibliche Prominente gehackt werden und daraufhin ihre
- privaten, oft delikaten Fotos ins Netz gestellt werden, erklärt der damalige
- Digitalkommissar der EU Günther Oettinger, dass man die Menschen nicht
- »vor ihrer Dummheit bewahren« könne.
- Rainer Winkler ist das Opfer eines boshaften, gewalttätigen Mobs, es ist
- allein seiner inneren Stärke und einer Mischung aus Trotz und Zähigkeit zu
- verdanken, dass er sich bisher nichts angetan hat. Wenige andere Menschen
- hätten auch nur einen Tag ausgehalten, was der Drachenlord über Jahre
- erdulden muss. Winklers Leiden steht exemplarisch dafür, dass Staat und
- Gesellschaft ratlos vor einem digitalen Problem stehen und versuchen, die
- Sache entweder mit falschen, weil vordigitalen Instrumenten in den Griff zu
- bekommen. Oder gar nicht. Im Jahr 2019 ist, anders als Stalking, das
- Cybermobbing in den meisten Ländern der EU nicht einmal ein eigener
- Straftatbestand. Wir haben bisher kaum geeignete Rezepte gegen die
- negativen Auswirkungen der sozialen Medien gefunden, obwohl eine ganze
- Generation mit und in ihnen aufwächst.
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