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Der Turing-Test: eine wahre Begebenheit

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Oct 29th, 2016
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  1. Der Turing-Test
  2.  
  3. Steif, fast schon roboterhaft, schleppt sich Julian S. auf die Herrentoilette des Südtrakts. Es ist zehn Uhr, die Universität Bielefeld ist bereits voller widerwärtiger Studenten, und er fühlt sich ausgepowert, ausgelaugt. Mechanisch stösst er die Tür auf und stürzt zum Waschbecken, wo er sich mit seinen dünnen Drahtärmchen gerade noch so abstützen kann. Nur zögernd wagt Julian den Blick zu heben, riskiert den Blick in sein gespiegeltes Abbild und muss sein Entsetzen erst einmal herunterschlucken. Seine Augen liegen tief in den Höhlen, haben jeglichen Ausdruck verloren und es scheint fast so, als würde seine Haut an dem Schädel wie an einem Gestell herunterhängen. Ausserdem hat sein Gesicht so gut wie alle Farbe verloren. Es ist nun ein bleichbeiges Elendszeugnis seiner üblichen Erscheinung. Besonders seine Nase ist weiss wie das Toilettenporzellan, von Bräune keine Spur. Hat er sie nicht gestern noch absichtlich in die Sonne gehalten, um ihr ein wenig Farbe zu verleihen?
  4. Das muss der Vitaminmangel sein, ohne Zweifel. Schnell greift S. in seine Jackentasche und fischt eine kleine Dose mit klackerndem Inhalt heraus: Zinkkapseln. Ein weiterer Griff und auch die Vitamin D-Tabletten liegen vor ihm auf dem Waschbecken – dem Herrgott sei Dank hat er sie nicht zuhause vergessen. Es sind schliesslich genau diese Nahrungsmittelergänzungen, welche ihn am Laufen halten, sein Treibstoff sozusagen. Gar nicht vorzustellen, was er ohne sie tun würde.
  5. Er schüttet sich also zwei der Zinkkapseln in die hohle Hand, dazu eine Vitamintablette, und kippt sich die Ladung nach einem kurzen Moment des Innehaltens in den Schlund. Er schluckt sie ohne mit Wasser nachzuspülen herunter, und just in diesem Augenblick hört er seitlich hinter sich ein raschelndes Geräusch. Oh Schreck, ein Mensch hat dort bei dem Pissoir gestanden, und er hat ihn nicht bemerkt! S. schafft es gerade noch so, sich nicht an seinen Zusatzstoffen in seinem Hals zu verschlucken und zieht dabei eine Grimasse, der jegliche Menschlichkeit entflohen ist. Der Andere sieht ihn im Spiegel, und wenn er auch ob dem Gesichtsausdruck von S. entsetzt ist, so lässt er es sich zumindest kaum anmerken. Er ringt sich sogar ein Schmunzeln ab, während er sich den Hosenstall zumacht und nickt in Richtung Spiegelbild.
  6. „Alles klar, Brudi?“
  7. Er sagt es so lässig, um nicht zu sagen herablassend, dass S. sich zusammenreissen muss, um ihn überhaupt eines Blickes zu würdigen. Er hasst ihn jetzt schon, ohne dass er ihn richtig angesehen hat. Und nachdem S. ihn in einem Bruchteil einer Sekunde gemustert hat, kommt er zum Schluss, dass diese urtümliche Abneigung mehr als gerechtfertigt gewesen ist. Der Andere ist einer dieser seltenen Sorte Student, die es irgendwie fertigbringen, gestriegelt und cool zugleich aufzutreten. Nichtsdestotrotz sieht sich S. genötigt, seinem Peiniger eine Antwort schuldig zu sein.
  8. „Klar, alles halb so wild, kein Problem“, möchte S. sagen, doch stattdessen krächzt er nur ein ersticktes „Ja!“ hervor. Er ist selbst erschrocken, wie unmenschlich dieser Laut aus ihm herausgepresst kommt, wie blechern er sich anhört. „Das kommt vom Eisenmangel“, denkt er sich, obwohl er doch noch diesen Morgen seine Eisen- und Kupferwerte aufgefrischt hat. „Dieser verfluchte Eisenmangel!“
  9. Das Studentenmodel ist vermutlich nicht weniger verwundert von seiner Antwort, doch grinst er immer noch und tritt neben S. ans Waschbecken heran. Erst da wird S. bewusst, dass ja seine Zink- und Vitamindosen beide noch vor ihm auf dem Porzellan liegen. Der Andere sieht sie selbstverständlich auch, als er sich die Hände wäscht, und noch schlimmer: er spricht erneut.
  10. „Ah, nice.“ Er nickt bekennend in Richtung der Dosen. „Hält einen fit, ja? Richtig auf Trab, haha.“ Sein Lachen ist noch abscheulicher, als S. es sich vorgestellt hat. Voller Aufrichtigkeit und Lebensfreude. Es schaudert ihn.
  11. „J-ja. Genau“, antwortet S. Zwei Zahnräder, die sich ineinander verkeilen; eine Stahlverstrebung, die sich durchbiegt. Zumindest klingt es so in seinen eigenen Ohren. Das erwidernde Lachen, das er eigentlich an seine Antwort hat anhängen wollen, unterlässt er in seinem Entsetzen vollständig. Zurück bleiben das merkwürdige Schweigen im Raum und das Warten seines Gegenübers darauf, dass er noch etwas Weiteres sagt. Aber S. möchte nichts sagen, er möchte sich zusammenrollen und verkriechen, in der Toilettenkabine einschliessen oder einfach nur mit der Bahn nachhause fahren. Er ist nicht gemacht für diese Welt, für diesen Austausch mit Menschen, die er doch an sich so verachtet, dass es ihm zuweilen selbst ungeheuer wird. Und als ob es nicht schon schlimm genug ist, dass er hier auf der Unitoilette beim Einnehmen seiner doch so vitalen Zusatzstoffe gestört wird, beginnt der Sensenmann im Kleid eines gutgebräunten Studenten mit Hitlerjugendschnitt jetzt auch noch ein Gespräch. S. ist wie benommen und hört nur ganz am Rande mit, wie der Andere ihn darauf anspricht, dass sie ja eigentlich den gleichen Kurs besuchen.
  12. „…auch Mathematik… ja klasse…. und Informatik? Was für ein Zufall…“, vernimmt er ganz entfernt, und er kann sich nur darauf verlassen, dass sein Körper automatisch die richtigen Reaktionen liefert, während sein Verstand sich irgendwo in der Weite des Spiegelbilds verliert. Erst ein gewaltiger Schlag, der ihn durch Mark und Bein erschüttert, holt ihn zurück in die Wirklichkeit. Sein Peiniger hat ihm tatsächlich auf die Schulter geklopft, vermutlich sogar mit einer gewissen Zurückhaltung, doch ist sein klappriger Körper einen solchen Kontakt schlicht nicht gewöhnt. S. fährt vor Schreck und Schmerz zusammen, und obwohl es seinem Gegenüber wohl schon leidtut, ihn angefasst zu haben, wird er von diesem dennoch unverblümt gefragt: „Wie heisst du überhaupt?“
  13. Durch den Schlag noch so aus dem Konzept gerissen muss sich S. dabei ertappen, wie er seinem Gegenüber beinahe schon seinen echten Namen verrät. Gerade noch rechtzeitig schafft er es, die Kontrolle über sich zurückzuerlangen.
  14. „Aljoscha. Ich heisse Aljoscha“, ächzt er gequält, und ist insgeheim unendlich froh, dass seine letzte Barriere, die Absicherung seiner Existenz, doch noch aufrechterhalten werden konnte.
  15. „Aljoscha, nett. Ich bin Sargon“, sagt der Andere warmherzig und lächelt dabei wohlwollend. „Muss jetzt aber auch los. Man sieht sich doch bestimmt mal in der Vorlesung!“
  16. Während Sargon noch ungezwungen cool seine Hand zum Gruss erhebt und zur Tür hinaus verschwindet, wischt sich S. bereits den nasskalten Angstschweiss von der Stirn. Er ist gerade nochmal so davongekommen, aber um Haaresbreite hat er sich verraten. Das darf auf keinen Fall nochmal so vorkommen. Ab heute wird er die doppelte Ration an Eisen- und Kupferzusätzen zu sich nehmen. Nachfuhr der Zusatzstoffe nur noch in abgeschlossenen Toilettenkabinen.
  17. An den Besuch der heutigen Vorlesung ist gar nicht mehr zu denken. S. muss schleunigst nachhause, um sich zu regenerieren und das Erlebte zu verdauen. Sowieso wird er wohl die nächsten Vorlesungen Ausschau nach Sargon halten müssen, um nicht von diesem Ungeheuer überrascht zu werden. Nicht auszudenken, was geschehen könnte, wenn dieser widerliche Mensch hinter seine Fassade blickt und sein wahres Wesen errät. Julian S., der letzte Roboter seiner Art. Niemand darf dieses Geheimnis jemals lüften. Unter keinen Umständen.
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