Guest User

Untitled

a guest
Oct 23rd, 2024
1,207
0
Never
Not a member of Pastebin yet? Sign Up, it unlocks many cool features!
text 26.54 KB | Writing | 0 0
  1. Das Geschäft mit den Roma vom Chemnitzer Sonnenberg: Wie aus Armut und Elend ein System wird
  2. Von Manuela Müller
  3. 35–42 Minuten
  4.  
  5. Auf dem Sonnenberg von Chemnitz leben kinderreiche Roma-Familien mit Junkies und Säufern unter einem Dach. Sie sind Teil eines deutschen Geschäftsmodells mit abgewohnten Mehrfamilienhäusern und Menschen, die niemand haben will. Immobilienbesitzer verdienen an ihnen.
  6.  
  7. Chemnitz.
  8.  
  9. Auf der Sonnenstraße steht ein Pärchen. Er beugt sich über ihren schwangeren Bauch, küsst ihn schmatzend durch das schwarze Kleid. Sie schaut in den Himmel. Eine intime Szene, wie vom Wohnzimmer auf die Straße gezerrt.
  10.  
  11. Er heißt Zdeno, sie Tamara. Sie sind Roma. Als sie zum ersten Mal Eltern wurden, hofften sie auf ein schönes Leben. Das ist zehn Jahre her. Ein Kuss, der sagt: Sollen doch alle sehen, dass sie immer noch aufs große Glück hoffen.
  12.  
  13. Zdeno, 28 Jahre alt, ist ein kleiner, muskulöser Mann mit gepflegtem Bart, der aussieht wie ein Zirkusartist. Tamara ist 26, trägt das schwarze Haar zum Zopf gebunden und hat ein hübsches Gesicht mit weichen Linien.
  14.  
  15. Um die Ecke liegt der Netto. Dort haben Zdeno und Tamara gerade einen Sixpack Blutorangenlimo gekauft, Windbeutel und zwei Großpackungen Pampers, weil zwei ihrer fünf Kinder noch Windeln tragen. Es ist ein lauwarmer Nachmittag im September. Die Herbstsonne lässt die Sonnenstraße schöner aussehen, als sie ist. Sie gehört zu den finstersten Straßen von Chemnitz.
  16.  
  17. Täglich leuchtet irgendwo Blaulicht, jaulen Martinshörner. Mal die Polizei, mal der Rettungswagen, mal die Feuerwehr. Zdeno und Tamara kennen es nicht anders. Ganz egal, wo sie gerade wohnen - friedlich ist es nie.
  18.  
  19. Mülltonnen quellen über wie heiße Milchtöpfe. Manchmal ist es auf der Sonnenstraße fußballplatzlaut. Zwischen den hohen Altbauten hallt das Wutgebrüll. Manchmal prügeln sich Erwachsene. Fast immer laufen Junkies herum, die wie Drogenabhängige aus Suchtpräventionsbroschüren aussehen. Und mittendrin spielen Kinder. Große, kleine, saubere, schmutzige. Einige betteln und stehlen, erzählen die Leute in der Nachbarschaft.
  20.  
  21. Zdeno und Tamara kratzen an manchen Tagen Kotze fremder Menschen aus dem Treppenhaus. Es ist eine Welt, in der sie zu Überleben versuchen, während andere mit Elend Geld verdienen. Sie sind Geldquelle eines Geschäftsmodells. Das Geschäft finanziert sich über Sozialleistungen für Menschen in prekären Lebenssituationen. Hier auf dem Sonnenberg von Chemnitz blüht es.
  22. Geschäfte mit Schrottimmobilien
  23.  
  24. Es begann mit abgewohnten Mehrfamilienhäusern. Ein deutscher Unternehmer kaufte eins nach dem anderen und vermietete an Menschen, die niemand haben will. Roma-Großfamilien, Drogenabhängige, Säufer, alle leben unter einem Dach. Zu den Sozialleistungen, die sie bekommen, gehört das Wohngeld. Für die Menschen das sichere Dach, für den Vermieter die sichere Miete.
  25.  
  26. Das Elend bekam ein Zuhause in dem ehemaligen Arbeiterviertel. Auch Zdeno und Tamara strandeten hier. Wenn sie von ihrem Vermieter und seiner Partnerin erzählen, sprechen sie vom Chef und der Chefin.
  27.  
  28. Das Geschäft gibt es überall in Deutschland, in Großstädten wie in der Provinz. Es ist ganz legal, die Sozialbehörden überweisen die Mieten oft direkt an die Hausbesitzer. Die Häuser sind oft kaum saniert, die Mieten überteuert. Aber das spielt keine Rolle, weil die Menschen sonst von Obdachlosigkeit bedroht wären. Die einzige Währung, die zählt, ist der ortsübliche Wohngeldsatz. Je mehr Menschen pro Wohnung, desto mehr Geld fließt.
  29.  
  30. Am Anfang schien es, als könnten Zdeno und Tamara Gewinner dieses Systems werden. Als sie aus der Slowakei flüchteten, landeten sie weich. Sie bekamen schnell eine Wohnung. Aber jetzt?
  31.  
  32. Ihre Haustür lässt sich nicht abschließen, weil sie eingetreten wurde.
  33.  
  34. Die Briefkästen sind verbeult, weil sie eingetreten wurden.
  35.  
  36. Es gibt Ratten und Mäuse, weil Müll und Essen auf der Straße liegt.
  37.  
  38. Es riecht nach Urin, weil es Leute gibt, die in den Hausflur pinkeln.
  39.  
  40. Eine blonde junge Frau tritt aus ihrem Haus. Sie wirkt wie ein dünnes Gespenst, das ein Fahrrad schiebt. Tamara beachtet sie nicht und setzt sich auf den roten Kunstlederhocker, der an der Hauswand steht. Ihr Bauch ist rund, obwohl das Kind erst im Februar kommen soll. Bestimmt ein Mädchen, sagt Tamara. Als sie mit den drei Söhnen schwanger war, habe sie Appetit auf Fleisch bekommen. Jetzt mag sie kein Fleisch.
  41.  
  42. Sie öffnet die Windbeutel, eine Fanta und wird von Kindern umschwärmt wie eine Löwenmutter von raufenden Jungtieren. Ein Älterer rennt einem Jüngeren hinterher. Der Jüngere weint. Er ist schmutzig und blutet überm Auge. „Der Ältere ist meiner“, sagt Tamara. Ihr Erstgeborener, er ist zehn Jahre alt und wäre einmal fast gestorben. Vor drei Jahren erwischte ihn ein Auto so schlimm, dass ihn der Hubschrauber ins Krankenhaus flog.
  43.  
  44. Täglich leuchtet irgendwo Blaulicht, jaulen Martinshörner. Egal, wo Zdeno gerade wohnt. Friedlich ist es nie.
  45.  
  46. Täglich leuchtet irgendwo Blaulicht, jaulen Martinshörner. Egal, wo Zdeno gerade wohnt. Friedlich ist es nie. Bild: kairospress
  47.  
  48. Täglich leuchtet irgendwo Blaulicht, jaulen Martinshörner. Egal, wo Zdeno gerade wohnt. Friedlich ist es nie.
  49.  
  50. Täglich leuchtet irgendwo Blaulicht, jaulen Martinshörner. Egal, wo Zdeno gerade wohnt. Friedlich ist es nie. Bild: kairospress
  51.  
  52. Sinti und Roma sind ein Volk, dessen Geschichte schwer zu fassen ist. Sie leben überall auf der Welt. Europa, Amerika, Australien, Neuseeland, Asien. Nicht einmal der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma weiß genau, wie viele von ihnen in Deutschland wohnen. Vielleicht 100.000, vielleicht eine Million. Viele leben unauffällig.
  53.  
  54. Seit Jahrhunderten werden Sinti und Roma verfolgt und vertrieben. Hunderttausende starben in Hitlers Vernichtungslagern. In der Slowakei ist der Antiziganismus, so heißt es korrekt, besonders stark, sagt Petra Cejdi vom sächsischen Roma-Verein Romano Sumnal. Was sie beschreibt, klingt nach Romanstoff von Charles Dickens. Großfamilien, die seit Generationen in abgezäunten Vororten leben, Kinder, die keine Schulen außerhalb ihrer Slums besuchen dürfen oder gar nicht zu Schule gehen. Eltern, denen niemand Arbeit gibt. „Wer seine Familie retten will, versucht, da rauszukommen“, sagt Sejdi.
  55. Das System Fitz-Immobilien
  56.  
  57. Zdeno erzählt, dass sie damals oft hungrig waren, er, seine fünf Brüder und vier Schwestern. Zdeno und Tamara stammen aus dem Dorf Zehra in der Ostslowakei, schliefen in löchrigen Holzhütten mit Ofen. Als sie vor elf Jahren nach Deutschland flüchteten, war Tamara 15 und zum ersten Mal schwanger. Etliche aus ihren Familien zogen nach Sachsen. Als Bürger der Europäischen Union dürfen sie arbeiten und leben, wo sie möchten. Bedingung ist, dass sie Arbeit suchen oder arbeiten. Man braucht Kontakte.
  58.  
  59. Dreimal zogen Zdeno und Tamara um in Sachsen. Chemnitz, Plauen, Reichenbach, Chemnitz. Auf dem Sonnenberg leben ungefähr fünfzig Verwandte, sagt Zdeno. Sie sind nicht die einzige Roma-Großfamilie hier. Offiziell sind 257 slowakische Staatsbürger im Viertel gemeldet. Wie viele Roma, weiß niemand.
  60.  
  61. Zdenos Vermieter, den er Chef nennt, ist ein Chemnitzer. Seine Firma heißt Fitz-Immobilien. Nach Recherchen der Freien Presse besitzt er zehn Häuser auf dem Sonnenberg, nicht alle sehen so verkommen aus wie das von Zdeno und Tamara. Warum tut die Stadt nichts?
  62.  
  63. Die Pressestelle der Stadtverwaltung schreibt: „Er wurde darauf hingewiesen, dass nachweislich insbesondere die in seinem Besitz befindlichen Häuser die Orte sind, in deren Umfeld es zu erhöhter Kriminalität kommt. Bisher wird durch die Firma Fitz-Immobilien jegliche Stellungnahme dazu abgelehnt… Er bestreitet, dass er überhaupt eine Verantwortung dafür hätte, wie sich seine Mieter verhalten. Gemeinsame Maßnahmen sind deshalb nicht möglich und liegen offensichtlich auch nicht im Interesse des Vermieters.“
  64.  
  65. Fitz-Immobilien beantwortet die E-Mails der „Freien Presse“, lässt sich aber nicht auf ein persönliches Gespräch ein. Unter den E-Mails steht nicht, wer sie geschrieben hat, deshalb ist hier nur die Rede von Fitz-Immobilien. Fitz-Immobilien schreibt: „Meine Häuser sind ordnungsgemäß und davon geht keine erhöhte Kriminalität aus.“ Und verweist auf andere Immobilienfirmen, die mit ausländischen Mietern viel Geld verdient hätten. Fitz-Immobilien schreibt: „Ich kann vermieten, an wen ich will, und ich vermiete ganz sicher nicht nur an Bürgergeldempfänger…“
  66.  
  67. Aus den E-Mails lässt sich lesen, dass Fitz-Immobilien seine Mieter gut kennt. Zum Beispiel lebe auf der Sonnenstraße eine Frau, die mit ihrem arabischen Freund Drogengeschäften nachgehe. Der habe man fristlos gekündigt. Ihre Kunden hätten Probleme gemacht. Drogenabhängige würden die Türen ihrer Dealer eintreten, wenn sie nichts bekommen, schreibt Fitz-Immobilien. Sobald sie raus ist, könne man die Schlösser reparieren.
  68.  
  69. Der Sonnenberg war einmal ein Arbeiterviertel. 17.000 Menschen leben hier.
  70.  
  71. Der Sonnenberg war einmal ein Arbeiterviertel. 17.000 Menschen leben hier. Bild: kairospress
  72.  
  73. Der Sonnenberg war einmal ein Arbeiterviertel. 17.000 Menschen leben hier.
  74.  
  75. Der Sonnenberg war einmal ein Arbeiterviertel. 17.000 Menschen leben hier. Bild: kairospress
  76.  
  77. Die Stadt wollte im neuen Jahrtausend einen modernen Sonnenberg erschaffen, der seinen Namen verdient. Sie wollte das Viertel neu erfinden, das in den Nachwendejahren ein berüchtigter Kiez voller Gewalt war. Häuser wurden saniert, Spielplätze gebaut, ein Garten angelegt, ein Späti eröffnet. Jetzt scheinen all die bunten Visionen weit weg. In einem Teil des Viertels droht wieder etwas zu kippen. Auf den Straßen liegen Flaschen, DVDs, Zeitungen, Schuhe, Pappschachteln, Kleiderbügel, Chipstüten. Nirgendwo in Chemnitz ist die Kinderarmut größer und der Anteil an Migranten höher. 17.000 Menschen leben auf dem Sonnenberg. Aber die ganze Stadt schaut auf Häuser wie das, in dem Zdeno lebt.
  78.  
  79. Anwohner schicken E-Mails ans Rathaus, schreiben von Angst und Gewalt. Manche zogen weg. Hausbesitzer, die vor ein paar Jahren begeistert renovierten, fürchten sich vor leeren Häusern.
  80.  
  81. Zdeno sagt: „Die Deutschen denken, wir sind an allem schuld.“ Vielleicht ist seine große Familie nicht unschuldig. Der Müll, der Lärm. Es ist schwer, in Slums ein gutes Leben zu führen. Soziologen sprechen von der Theorie der zerbrochenen Fenster. Wer hier lebt, wohnt in einer Spirale aus Zerstörung und Gewalt.
  82. Auf der Flucht vor brennenden Häusern
  83.  
  84. Zdeno sagt, er habe nichts zu verbergen, er spreche mit seinem Herzen. Früher habe er Drogen genommen und gestohlen. Er habe seine Strafe verbüßt und suche einen Ort, an dem Kinder friedlich aufwachsen. Aber hier stehen Häuser wie faule Zähne.
  85.  
  86. Fragt man Zdeno, wie es ihm geht, erzählt er irre Geschichten. Seit sie in Deutschland sind, flüchten sie vor brennenden Häusern.
  87.  
  88. Fitz-Immobilien ist nicht Zdenos erster Chef. Er hatte auch in Plauen einen. Andere Stadt, dasselbe Prinzip. Es war ein älterer Herr mit Doktortitel, ein Rechtsanwalt aus den alten Bundesländern. Beim ersten Feuer wohnte Zdenos Familie in Plauen. Zdeno sprang aus dem dritten Stock, weil die Flammen das Treppenhaus versperrten. Von Zdenos Cousine und ihrem zweijährigen Sohn verbrannten Arme, Beine und Bauch. Sie lagen im Koma. Später wurde Zdenos Nachbar verhaftet, ein Deutscher. Er soll den Brand aus Wut auf den Vermieter gelegt haben, hieß es vor Gericht.
  89.  
  90. Der zweite Brand passierte fünf Wochen danach. Wieder in Plauen, der Chef hatte ihnen eine neue Wohnung gegeben. Zdenos Leute kamen heil davon, aber zwei aus der Drogen-WG im Dachgeschoss starben. Ein Mitbewohner hatte im Chrystal-Rausch einen Klamottenberg angezündet. Er war fast noch ein Junge und hieß Basti. Zdeno saß kurz danach mit Basti im Gefängnis, weil er beim Klauen erwischt wurde.
  91.  
  92. Es gab noch einen Brand und nun einen auf der Sonnenstraße, Anfang September, mitten am Tag. Zdenos Leute brachen die Wohnungstür auf, aus deren Ritzen es qualmte, löschten selbst. Wie ein Lagerfeuer habe es ausgesehen. Es passierte nichts, aber nun haben Zdeno und Tamara wieder Angst. Nebenan spielten ihre Kinder. Das Feuer ist ihr größter Albtraum. Zdeno sagt, er wisse nicht, wer in der Feuerwohnung wohnte. Er habe den Überblick verloren, wer ein- und ausgeht.
  93.  
  94. Roma als Teil eines Geschäftsmodells. Ein deutscher Unternehmer kaufte auf dem Sonnenberg abgewohnte Mehrfamilienhäuser und vermietet an Menschen, die niemand haben will. Roma-Großfamilien, Drogenabhängige, Säufer, alle leben unter einem Dach.
  95.  
  96. Roma als Teil eines Geschäftsmodells. Ein deutscher Unternehmer kaufte auf dem Sonnenberg abgewohnte Mehrfamilienhäuser und vermietet an Menschen, die niemand haben will. Roma-Großfamilien, Drogenabhängige, Säufer, alle leben unter einem Dach. Bild: kairospress
  97.  
  98. Roma als Teil eines Geschäftsmodells. Ein deutscher Unternehmer kaufte auf dem Sonnenberg abgewohnte Mehrfamilienhäuser und vermietet an Menschen, die niemand haben will. Roma-Großfamilien, Drogenabhängige, Säufer, alle leben unter einem Dach.
  99.  
  100. Roma als Teil eines Geschäftsmodells. Ein deutscher Unternehmer kaufte auf dem Sonnenberg abgewohnte Mehrfamilienhäuser und vermietet an Menschen, die niemand haben will. Roma-Großfamilien, Drogenabhängige, Säufer, alle leben unter einem Dach. Bild: kairospress
  101.  
  102. Zdeno sucht einen Job. Zuletzt ging er in großen Firmen putzen. Er und sein Schwager arbeiteten für denselben Betrieb, der Schwager nahm ihn im Auto mit. Als der Schwager gekündigt wurde, ging auch Zdeno, weil er nicht wusste, wie er zur Arbeit kommen soll. Ein Domino-Effekt. Ein Stein wackelt, alles fällt. Solche Arbeitsbiografien hört man hier häufig. Sie putzen, erledigen Teilzeit-Hilfsarbeiterjobs in Fabriken. Zdeno macht nun den Führerschein in Tschechien, weil es da billiger ist.
  103.  
  104. Nach fünf Jahren in Deutschland dürfen Roma bleiben, so wie alle EU-Bürger. Es klingt einfach. Aber die Regeln, die Jobsuche, die Behördenformulare. Das alles ist selbst dann kompliziert, wenn man nicht aus einer kleinen Holzhütte in die große Welt aufgebrochen ist. Manche brachten sich Lesen und Schreiben selbst bei. Wer hilft ihnen durch die ganze Bürokratie?
  105.  
  106. Nach Paragraf 13, Absatz 1 des Sozialgesetzbuches 10 darf man jemanden für alle Behördengeschäfte bevollmächtigen. Miete, Bürgergeld, Kindergeld. Jeder Cent kann über den Tisch des Bevollmächtigten laufen.
  107.  
  108. Auf Nachfrage der „Freien Presse“ schildert die Stadtverwaltung von Chemnitz, was sie zusammengetragen hat. Die betreffenden Familien, so heißt es, würden das deutsche System nicht kennen, seien allein oft hilflos. Zu den Vollmachten heißt es: „Anwohnende berichten, dass in den Häusern der Familie Fitz regelmäßig Besuche von Personen erfolgen, die die Schlussfolgerung nahelegen, dass es eine Betreuung durch die Firma geben könnte.“
  109.  
  110. Ein Bevollmächtigter darf unendlich viele Vollmachten besitzen, was Sachbearbeiter als problematisch einschätzen. Wann wird der Freundschaftsdienst zum kalten Geschäft? Grundlage ist ein Bundesgesetz, aber im Bundesministerium für Arbeit und Soziales besteht kein Interesse, das zu ändern. Eine Sprecherin erklärt: „Es steht in einem Rechtsstaat jedem Bürger frei, zu entschieden, wem er eine Bevollmächtigung ausstellt. Aufgrund eines möglichen Fehlverhaltens einiger weniger besteht kein Rahmen dafür, Rechte aller Bürger generell einzuschränken.
  111.  
  112. Fitz-Immobilien schreibt: „Ich habe keine Vollmachten für Mieter und wenn ich diese hätte, hätte das auch keine Relevanz, denn Rechtswidrigkeiten kommen für mich niemals in Frage.“
  113.  
  114. Hier lebt Zdenos Bruder Kevin. Er ist obdachlos.
  115.  
  116. Hier lebt Zdenos Bruder Kevin. Er ist obdachlos. Bild: kairospress
  117.  
  118. Hier lebt Zdenos Bruder Kevin. Er ist obdachlos.
  119.  
  120. Hier lebt Zdenos Bruder Kevin. Er ist obdachlos. Bild: kairospress
  121.  
  122. Das Geschäft mit Schrottimmobilien schafft Parallelgesellschaften mit eigenen Gesetzen. Mehrmals am Tag fährt ein Streifenwagen durch Zdenos Viertel. Als wolle der Staat demonstrieren, dass er nicht aufgibt.
  123.  
  124. Die rechtsextreme Partei Freie Sachsen macht aus dem Elend Politik. Im Frühjahr verbreitete sie ein Video von der Sonnenstraße, in dem man vor allem zwei Dinge sieht: streitende Menschen und Müll. Die Freien Sachsen fordern einen Staat, der mit Menschen wie Zdeno und Tamara kurzen Prozess macht. Solche Szenen spielen ihnen in die Hände.
  125.  
  126. Zdeno weiß kaum etwas von den Freien Sachsen. Er weiß aber, dass die Sonnenstraße nicht der Ort ist, an dem er für immer bleiben will. Er lebt mit Tamara und den Kindern in einer Zweizimmerwohnung, in die keiner mehr hineinpasst. Die Kinder schlafen im Schlafzimmer, die Eltern und das neun Monate alte Baby im Wohnzimmer. Abends ziehen sie das Sofa aus und werfen ein Laken drüber. Knapp 900 Euro zahle das Amt für ihre Miete. Man bekommt größere, modernere, billigere Wohnungen in der Gegend. Tamara erzählt, dass sie bei der städtischen Gebäudewirtschaft GGG nach einer Wohnung gefragt habe. Niemand habe ihr helfen können.
  127.  
  128. Und dann ist da noch Kevin. Zdenos jüngerer Bruder, der in ihren Erzählungen immer wieder auftaucht. Zdeno sagt, um den Rest seiner Probleme könne er sich erst kümmern, wenn sein größtes Problem gelöst ist: Kevin.
  129.  
  130. An einem Nachmittag will Zdeno zeigen, wo Kevin lebt. Er betritt ein unbewohntes Haus auf der Sonnenstraße. Es riecht nach Kot und Urin. Zdeno hält den Arm vor die Nase und steigt über Bretter, Papier und Töpfe. Im Treppenhaus liegt ein schwarzgerußtes Silberpapierblättchen. „Heroin“, sagt Zdeno.
  131.  
  132. „Kevin?“ Zdeno steigt über zertretene Möbel, Dämmwolle und Kackhaufen. „Kevin?“ Im dritten Stock, zwischen Scherben und einer Herz-9-Skatkarte, liegt eine Matratze. Darauf liegt ein schwarzgelockter Mann, eingerollt wie ein Baby. Zdeno zieht ihm die Decke vom Kopf und fragt: „Liebst du mich, Bruder?“ Lachend steht Kevin auf, ohne zu antworten, schaut orientierungslos herum. Zdeno lüftet, den Gestank verdünnen. Als er nach einer Zigarette das Haus verlässt, hat er feuchte Augen.
  133.  
  134. Kevin, erzählt er, sei 20 und im Winter aus dem Jugendgefängnis gekommen, wo er wegen Diebstahls gesessen habe. Seitdem sei er ein anderer Mensch. Er verweigere Schuhe, rede mit niemandem und lache andauernd, als wäre er verrückt geworden. Wahrscheinlich das Crystal, das er früher genommen habe. Als ihre Mutter im Frühling starb, zog Kevin zu Zdeno. Sie mussten die Polizei rufen, weil Kevin randaliert habe. Einmal habe Kevin mit einem Messer herumgefuchtelt. So erzählt es ein anderer Bruder.
  135.  
  136. Katapult-Gründer Benjamin Fredrich. Er eröffnete einen Buchladen auf dem Sonnenberg und beschrieb in einem Newsletter die Zustände.
  137.  
  138. Katapult-Gründer Benjamin Fredrich. Er eröffnete einen Buchladen auf dem Sonnenberg und beschrieb in einem Newsletter die Zustände. Bild: kairospress
  139.  
  140. Katapult-Gründer Benjamin Fredrich. Er eröffnete einen Buchladen auf dem Sonnenberg und beschrieb in einem Newsletter die Zustände.
  141.  
  142. Katapult-Gründer Benjamin Fredrich. Er eröffnete einen Buchladen auf dem Sonnenberg und beschrieb in einem Newsletter die Zustände. Bild: kairospress
  143. Katapult-Gründer Benjamin Fredrich: „Ein gefundenes Fressen für Rechtsextreme“
  144.  
  145. Ganz in der Nähe gibt es seit zwei Monaten einen Buchladen mit kleinem Café dran. Er befindet sich in einem schönen, schwarzen Haus auf der Zietenstraße und gehört zu „Katapult“, einem Magazin, das 2015 in Greifswald gegründet wurde. „Katapult“ experimentiert mit Journalismus und Aktivismus. Benjamin Fredrich, der Gründer, verteilte vor den Landtagswahlen im Osten Zeitungen gegen die AfD. Als er einen Ort für einen Buchladen suchte, blieb er in Chemnitz hängen, der zukünftigen Kulturhauptstadt.
  146.  
  147. An einem Samstagnachmittag riecht es im Buchladen nach frischen Waffeln. Fredrich arbeitet, als Zdenos zehnjähriger Sohn und ein jüngeres Mädchen auftauchen und etwas trinken wollen. Zdenos Sohn trägt eine nachgemachte Dior-Jacke und frisch geschnittenes Haar, das Mädchen einen Blümchen-Jumpsuit und Pferdeschwanz. Sie gehen heute in ihre Gemeinde, die nebenan ist.
  148.  
  149. Die Kinder lächeln Fredrich an, als hätten sie diesen Mann zum Sozialarbeiter gewählt. Fredrich stellt ihnen zwei Gläser Wasser hin. Die Kinder kommen mehrmals am Tag, manchmal bleiben sie vor der Tür des duftenden Ladens sitzen. Fredrich hatte schon welche mit Schnuller und Schlafzeug hier, die noch auf den Beinen wackelten. Einige haben Kartenspiele mitgehen lassen, was ihn ärgert.
  150.  
  151. Fredrich hat mitbekommen, dass sich nebenan Bordellwohnungen befinden und dass sich Drogenabhängige anschreien, während Kleinkinder daneben spielen.
  152.  
  153. Er beschrieb den Sonnenberg in seinem Katapult-Newsletter, der 120.000 Abonnenten in ganz Deutschland hat. Was hier passiere, schrieb Fredrich, sei ein gefundenes Fressen für Rechtsextreme, die eine Minderheit für alles verantwortlich machen, was auf dem Sonnenberg falschläuft.
  154.  
  155. Fredrich sammelt einmal pro Woche mit ein paar Roma Müll von der Straße. Vielleicht wird es besser, wenn das Viertel ein bisschen sauberer ist. Aber am nächsten Tag ist der Müll wieder da, wie frisch gefallenes Laub.
  156.  
  157. Aus der Stadt heißt es, wenn das Jugendamt nach den Kindern schaue, seien die Kinder sauber und die Kühlschränke voll. Behörden müssen ihre Kontrollen fast immer anmelden. Mehrere Kinder heißen gleich. Manchmal fehlen Geburtsurkunden. In den Jugendklubs hätten einige Kinder Hausverbot. Längst nicht alle Schulen würden melden, wenn ein Roma-Kind häufig fehlt. Ein Sachbearbeiter sagt: „Wir ziehen uns Straßenkinder groß.“ Schulen sind ein empfindlicher Punkt. Wenn die Kinder nicht zur Schule gehen, kann das Kindergeld gestrichen werden.
  158.  
  159. Petra Sejdi von Romano Sumnal weiß, was allen helfen würde. Sozialer Wohnungsbau, ein Antidiskriminierungsgesetz. An erster Stelle müsse stehen, dass jeder Mensch eine Sozialwohnung bekommt. Damit kein System wachsen kann, das Wohnungsnot und Armut ausnutzt.
  160.  
  161. An einem Mittwochabend, als es dämmert, stehen fünf, sechs junge Männer vor Zdenos Haus. Einer stopft Cannabis in ein weißes Zigarettenblättchen. „Ist legal“, sagt er. Als der Joint herumgeht, diskutieren sie, wie viele Cannabispflanzen jeder besitzen dürfe. Crystal mache hässlich, sagen sie. Suchtberater der Diakonie in Chemnitz berichten von einer zunehmenden Angst vor Crystal unter Jugendlichen. Stattdessen experimentieren Jugendliche mit Gras und Beruhigungstabletten, bevor sie vielleicht doch den nächsten Schritt gehen.
  162.  
  163. Irgendwann schwankt ein dünner Mann mit fettigem Haar und Jack-Daniel’s-Dose vorbei. „Wo ist Netto?“, fragt er. Die Jungs lachen, der Joint ist aufgeraucht. „Da ist Netto!“, ruft einer und zeigt nach links. Der Alte frage das fast jeden Tag.
  164.  
  165. Läuft man abends ein bisschen herum, sieht man, wie E-Roller umgekickt werden, hört man, wie Verkehrsschilder nach einem kräftigen Tritt scheppern, findet man eine Spritze mit klarer Flüssigkeit auf der Straße. Gespritzt wirkt Crystal am schnellsten.
  166.  
  167. Läuft man abends ein bisschen herum, sieht man, wie E-Roller umgekickt werden, hört man, wie Verkehrsschilder nach einem kräftigen Tritt scheppern, findet man eine Spritze mit klarer Flüssigkeit auf der Straße. Gespritzt wirkt Crystal am schnellsten. Bild: kairospress
  168.  
  169. Läuft man abends ein bisschen herum, sieht man, wie E-Roller umgekickt werden, hört man, wie Verkehrsschilder nach einem kräftigen Tritt scheppern, findet man eine Spritze mit klarer Flüssigkeit auf der Straße. Gespritzt wirkt Crystal am schnellsten.
  170.  
  171. Läuft man abends ein bisschen herum, sieht man, wie E-Roller umgekickt werden, hört man, wie Verkehrsschilder nach einem kräftigen Tritt scheppern, findet man eine Spritze mit klarer Flüssigkeit auf der Straße. Gespritzt wirkt Crystal am schnellsten. Bild: kairospress
  172. Hausverbote
  173.  
  174. Zu diesem Netto, auf dessen Parkplatz Trinker auf Klappstühlen sitzen, sagt man hier Assi-Netto oder Säufer-Netto. Vielleicht haben in keinem anderen Supermarkt in der Umgebung so viele Menschen Hausverbot wie hier. Darunter eine ganze Reihe Roma.
  175.  
  176. Dann taucht Kevin auf wie ein Dämon. Barfuß tritt er aus seiner Tür, die Füße schwarz, die Hände krustig. Kevin riecht wie sein Haus. Zdeno gibt ihm eine Kippe und sagt vielleicht das Einzige, was Sinn macht: „Ich liebe dich, Bruder.“ Kevin zittert am ganzen Körper. Zdeno schaut auf den Boden. Etwas später scrollt er durch Kevins Facebook-Profil, wo man einen hübschen Jungen mit BVB-Käppi und weitem T-Shirt sieht. Kevin hat keine Ähnlichkeit mehr mit diesem Jungen.
  177.  
  178. Im Dunkeln wird umgezogen auf dem Sonnenberg. Fast jeden Abend rollen die Kleintransporter an, und Männer laden Möbel ein und aus. Läuft man ein bisschen herum, sieht man, wie E-Roller umgekickt werden, hört man, wie Verkehrsschilder nach einem kräftigen Tritt scheppern, findet man eine Spritze mit klarer Flüssigkeit auf der Straße. Gespritzt wirkt Crystal am schnellsten.
  179.  
  180. Ab und zu explodiert irgendwo ein Böller. Es geht die Geschichte um, das Feuerwerk habe etwas mit Crystal Meth zu tun. Ein wildes Gerücht besagt, dass dann Stoff verfügbar wäre. Aber dafür knallt es zu oft. Etwa die Hälfte des Crystal, heißt es, werde selbst gekocht. Der Grammpreis beginne bei 40 Euro.
  181.  
  182. An Zdenos Haus ist die Hölle los. Zwei deutsche Frauen brüllen sich an wie keifende Katzen. Dann stürmen junge Männer ins Haus. Acht vielleicht oder zehn. Man hört das Scheppern der Briefkästen. Zdeno ist längst oben und bei Tamara.
  183.  
  184. Kurz vor Ladenschluss sind die Säufer vorm Netto verschwunden. Nur der Wachmann steht noch am Eingang wie ein Sheriff, der sein Revier beschützt. Nebenan liegt ein kleiner Platz, wo sich die Russen, die Letten, die Deutschen und die Araber anschreien. Eine weinende Frau brüllt mitten hinein: „Wegen euch haben wir AfD gewählt!“ Alles wie immer, sagt der Wachmann. Ein paar Tage später holt Zdeno gute Nachrichten aus dem zerbeulten Briefkasten. Er hat einen Termin im Jugendamt wegen Kevin. Er soll Kevins Betreuer werden, wurde ihm vorgeschlagen.
  185.  
  186. Tamara sitzt in der sauberen, aufgeräumten Wohnung und hält das Baby im Arm. Der Zehnjährige und der Zweijährige spielen am Handy, die anderen beiden sind nicht da. Die Sechsjährige ist meistens bei Tamaras Schwester, der Dreijährige ist bei ihrer Mutter in der Slowakei. Das Baby weint, sobald es Tamara ablegen will. Tamara sagt, heute habe sie den Frauenarzttermin verpasst, weil das Baby so schrie. Sie hätte erfahren sollen, welches Geschlecht das Kind in ihrem Bauch hat.
  187.  
  188. Tamara erzählt, sie habe mit der Chefin wegen einer Wohnung gesprochen. Die Chefin habe was, aber sie könnten noch nicht rein.
  189.  
  190. Tamara kann wieder hoffen. (manu)
  191.  
  192. Tamaras Name wurde auf Wunsch der jungen Frau in diesem Text geändert, auf den Familiennamen zu ihrem Schutz verzichtet.
  193.  
Add Comment
Please, Sign In to add comment