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George Soros Die Ära der Fehlentscheidungen Part 2/2

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Jul 22nd, 2018
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  1. George Soros Die Ära der Fehlentscheidungen Part 2/2
  2.  
  3. ohne Kontrolle durch den Kongress oder die Gerichte. Obwohl dies ein nie dagewesenes Vorgehen ist, besteht die Gefahr, dass der Supreme Court, dessen kürzlich ernannte Richter alle der gleichen Denkrichtung angehören, dieses Ansinnen absegnet.
  4. Diese neue juristische Philosophie hat weitreichende Auswirkungen. Sie erhebt die Exekutive über die beiden anderen Gewalten und zerstört die Balance der Gewaltenteilung. Und sie bedeutet eine Abkehr von der Universalität der Menschenrechte zugunsten eines doppelten Standards, indem sie bestimmte Gebiete (zum Beispiel Guantänamo), bestimmte Gerichte (zum
  5. Beispiel die Militärgerichte!), bestimmte Personen (zum Beispiel feindliche Kämpfer) und bestimmte Praktiken (zum beispiel Entführungen in Drittländer) von der juristischen Prüfung ausnimmtDiese konstitutionelle Vision erzeugt eine wachsende Kluft zwischen US- Bürgern und Fremden und beschneidet die Bürgerrechte aller Bürger.13
  6. Der Krieg gegen den Terror stellt auch eine Gefahr für Amerikas Vormachtstellung in der Welt dar. Die führende Weltmacht hat neben dem Schutz des eigenen Landes vor Terror noch zahlreiche andere Verpflichtungen und Ziele. Indem die USA den Krieg
  7. gegen den Terror zu ihrer höchsten Priorität machen, vernachlässigen sie ihre anderen Aufgaben. Die führende Weltmacht kann sich nicht darauf beschränken, die eigene Zahl der Opfer so gering wie möglich zu halten, sie muss auch verhindern, dass andere Länder Opfer zu beklagen haben. Das ganze Verhalten und Vorgehen der US- Truppen im Irak - anfangs ihre Unfähigkeit, den Plünderungen ein Ende zu setzen, dann ihr Versagen beim Schutz der Bevölkerung, wobei sie allerdings durchaus in der Lage waren, zu ihrem eigenen Schutz von ihren Schusswaffen Gebrauch zu machen - hat den Aufständen Auftrieb gegeben und antiamerikanische Gefühle genährt.
  8. Nachdem Terroristen praktisch unsichtbar sind, werden sie auch nie verschwinden. Und da der Krieg gegen den Terror kontraproduktiv ist, wird er wahrscheinlich mehr Terroristen beziehungsweise Aufständische produzieren, als er liquidieren kann. Als Ergebnis befinden wir uns in einem dauerhaften Kriegszustand und vor dem Ende der USA als offener Gesellschaft. Alle rechtschaffenen Männer und Frauen müssen sich unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit zusammentun, um den Krieg gegen den Terror als falsche und gefährliche Metapher zu entiarven.
  9. Ich möchte klarstellen, dass ich mit
  10. meiner Verurteilung des Kriegs gegen den Terror keinesfalls die Gefahr leugne, die von Al-Qaida und ihren Splittergruppen ausgeht. Diese Bedrohung ist real und erfordert eine deut-liche Antwort. Aber die Antwort muss sich direkt an Al-Qaida und ihre Splittergruppen l ichten und nicht an eine Abstraktion. Um meiner These mehr Überzeugungskraft zu verleihen, sollte ich die korrekte Antwort ge-ben, aber das ist nicht so einfach. Die Realität ist wesentlich komplexer als ein eingängiger Slogan wie ,,Krieg gegen den Terror". Die Antwort sollte darin bestehen, Geheimdienstinformationen zu sammeln, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen und die Bevölkerung zu
  11. beruhigen, anstatt sie zu verängstigen. Außerdem sollten das Vertrauen und die Unterstützung der islamischen Bevölkerung gewonnen werden, und - wo angemessen - sollten natürlich auch militärische Streitkräfte eingesetzt werden. Ich muss diesen Punkt betonen, um mich gegen die unvermeidliche Anschuldigung zu verteidigen, ich ignoriere die Terroristen oder gebe ihnen nach und wolle, dass die USA wehrlos seien. Die Besetzung von Afghanistan habe ich befürwortet. Dort hielt sich Osama bin Laden auf und dort hatte die Al-Qaida ihre Trainingscamps. Afghanistan war ein gescheiterter Staat, der Terroristen Unterschlupf bot. Folglich war es ein legitimes
  12. Angriffsziel. Nach meiner Meinung sollten militärische Mittel sparsam eingesetzt und zivile Opfer so gering wie möglich gehalten werden. Kriegsfiihrung sollte immer das letzte Mittel und nicht die Hauptmethode der Terrorismusbekämpfung sein. Wenn wir es bei der Besetzung von Afghanistan belassen und das Land anschließend erfolgreich wieder aufgebaut hätten, wären wir in der Bekämpfung der Terroristen viel weiter als heute.
  13. In meinem vorhergehenden Buch habe ich den politischen Kurs der USA mit der Spekulationsblase am Aktienmarkt verglichen und den 11. September als den Moment identifiziert, in dem wir die
  14. Normalität verlassen und uns in den Zustand großen Ungleichgewichts begeben haben. Wir sind schon lange vor der Wahl von George W. Bush zum Präsidenten zu einer Wohlfuhlgesellschaft geworden. Auch die konservative Bewegung, die ihm zur Macht verholfen hat, hat sich schon viel früher formiert, aber bis zum 11. September bewegten sich diese Trends innerhalb der Grenzen der Sicherungssysteme, die normalerweise für die Stabilität unserer Demokratie sorgen. Der 11. September war eine Zäsur, die ,,alles veränderte", wie Präsident Bush zu sagen pflegt.Wie konnte das passieren? So wie ich es sehe, haben die Terroristen einen
  15. wunden Punkt in der nationalen Psyche berührtdie Angst vor dem Tod. Die Aussieht sterben zu müssen, ist das ultimative Gift für das Wohlbe finden. Eine Wohlfühlgesellschaft kann den Tod einfach nicht akzeptieren. Osama bin Laden hat diesen einen Aspekt, in dem der Islam der westiichen Zivilisation überlegen ist, sehr gut identifiziert: die Angst vor dem Tod. Die Terroristen vom 11. September hatten keine Angst zu sterben. Die Verdrängung des Todes ist ein charakteristisches Merkmal unserer Kultur, das ich schon lange vor dem 11. September erkannt habe. Aus diesem Grund habe ich, wie bereits erwähnt, die Initiative ,,Project on Death" als eines der ersten Projekte meiner Stiftung in
  16. den USA ins Leben gerufen. Allerdings habe ich nicht vorhergesehen, dass die Verdrängung des Todes derart weitreichende politische Konsequenzen haben würde. Der Einsturz der Zwillingstürme des World Trade Centers war ein traumatisches Erlebnis, das uns alle persönlich tief erschüttert hat, da wir über das Fernsehen direkte Zeugen dieser Katastrophe wurden. Die Bush-Regierung hat alles getan, um diese Erfahrung für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Das war eine verhängnisvolle Kombination, die das Land in die falsche Richtung geführt hat. Ein angsterfüllter Gigant, der wild um sich schlägt, ist eine gute Beschreibung für einen tyrannischen Rowdy. Nachdem die
  17. ganze Welt ihr tiefes Mitgefühl für das Leid der USA ausgedrückt hatte, hält sie ilie USA inzwischen für einen Rowdy, der andere drangsaliert. Und das ist genau das, worauf Osama bin Laden gehofft hatte.
  18. Wenn sich Menschen von ihrer Angst leiten lassen, verlieren sie die Vernunft. Dann sind sie zu Handlungen fähig, die gegen ihre Grundsätze verstoßen. Die Angst vor dem Tod ist ein besonders starkes Gefühl. Die Bush-Regierung hat diese Angst geschürt und an den Selbsterhaltungs- frieb appelliert. Dieser Appell war jedoch nicht gerechtfertigt. Schließlich hat der Terroranschlag, so tragisch und
  19. entsetzlich er auch war, die
  20. I xisten/ der Nation nie bedroht. Der japanische Angriff auf Pearl Harheim hat unserer militärischen Macht mehr Schaden zugefügt. Nach dem
  21. II September sind die l ISA nach wie vor die mächtigste Nation der Welt. Sic können immer noch in jedem Teil der Welt eine überwältigende mili- i,imm he Mai Iii ausüben.
  22. Die Regierung unlei Präsident Bush erklärte den Krieg gegen den Ter im, um ihn eigenen Ziele durchzusetzen Zu diesem Zweck hat sie dieGefahr aufgebauscht, anstatt sie in die richtige Perspektive zu rücken. Die Ereignisse
  23. des 11. September waren entsetzlich genug, aber die amerikanische Regierung suggerierte, die Terroristen könnten nun in den Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen. Um Präsident Bush zu zitieren: ,,Amerika darf die Gefahr, die sich über uns zusammenbraut, nicht ignorieren. Angesichts der eindeutigen Hinweise auf diese Gefahr können wir nicht auf den letzten Beweis warten - den rauchenden Gewehrlauf -, der in Form einer pilzförmigen Wolke auf uns zukommen könnte." Vergleichen Sie diese Worte mit Präsident Roosevelts Diktum: ,,Das Einzige, wovor wir uns fürchten müssen, ist die Furcht selbst."
  24. Hat es je einen Krieg gegen einen nicht identifizierten Feind, mit nicht definierten Zielen, unbekannten Regeln und von unbegrenzter Dauer gegeben? Und dennoch ist es der Bush-Regierung durch den Missbrauch der Ängste der Menschen gelungen, die amerikanische Bevölkerung dazu zu bewegen, diese Absurdität als natürliche und offensichdiche Antwort zu akzeptieren. Das geht so weit, dass die Menschen einfach nicht verstehen, wovon ich spreche, wenn ich sage, dass wir dem Krieg gegen den Terror als falscher Metapher abschwören müssen.
  25. Ich habe den starken Eindruck, dass wir unser Gleichgewicht nicht wieder
  26. erlangen können, bis wir den Krieg gegen den Terror ausdrücklich beenden. Eine stillschweigende Verhaltensänderung wird nicht ausreichen, weil unser vergangenes Verhalten uns wie ein böses Geheimnis verfolgt. Ich habe das in anderen Ländern beobachtet. Griechenland weigerte sich, Mazedonien (das immer noch die Bezeichnung ,,ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien" in seinem Namen trägt) anzuerkennen, weil es vor vierzig Jahren die Politik verfolgte, Menschen, die ihrer ethnischen Zugehörigkeit nach Mazedonier waren, zu Griechen zu machen. Die Türkei kann den Genozid an den Armeniern und die Misshandlung
  27. der Kurden nicht zugeben. In der Vergangenheit haben die USA als offene Gesellschaft mehr Bereitwilligkeit gezeigt, sich zu ihren vergangenen Sünden zu bekennen. Der Genozid an der amerikanischen Urbevölkerung ist Bestandteil der l.ehrpläne an Schulen geworden, so wie auch die Sklaverei. Im Krieg gegen den Terorr haben wir viele beschämende Taten begangen.Wir haben unseren Soldaten Leid zugefugt und sie für eine ungerechte Sache in den Tod geschickt. Wir haben die Integrität und Moral unserer Armee kompromittiert, die einst hohen moralischen Standards verlassen und unsere Vormachtstellung in der Welt gefährdet. Wer wird die Öffentlichkeit aufklären?
  28. Auf die Demokraten können wir nicht zählen, weil sie befürchten, als schwach oder defensiv zu gelten. Allerdings werden sie nicht in der Lage sein, sich aus der Schublade zu befreien, in welche die Bush-Regierung sie verbannt hat, ohne gegen den Krieg gegen den Terror zu opponieren. Sie müssen beweisen, dass ein militärischer Angriff - entgegen allem, was Bush behauptet - nicht die beste Verteidigung ist. Aber das ist eine Strategie, die mit hohen Risiken behaftet ist, und bisher haben sich die Demokraten nicht zu ihr durchringen können. Ich sehe auf der republikanischen Seite mehr Anlass zur Hoffnung. Senator John McCain hat den Kampf gegen die Folter angeführt und
  29. sich durchgesetzt. Andere republikanische Kongressabgeordnete sind bestrebt, sich von der Bush- Regierung zu dis- lanzieren. Das Weiße Haus hat zu einem großen Teil die Kontrolle über den Kongress verloren. Unsere demokratischen Institutionen leben offensichtlich noch.
  30. In den Jahren nach dem 11. September sind Macht und Einfluss der
  31. I ISA in der Welt stärker zurückgegangen als zu jeder anderen Zeit in der (ieschichte. Als die Terroristen zuschlugen, waren die USA die unbestrittene und einzige militärische Supermacht. Sie konnten ihre Macht in jedem Teil der Welt unter Beweis
  32. stellen, wie der erfolgreiche Einmarsch in Afghanistan und der Golfkrieg bewiesen haben. Amerikas Dominanz zu Wasser, in der Luft und im Weltraum sucht ihresgleichen. Aber seine Galligkeit, seine Macht zu Lande unter Beweis zu stellen, ist von dem Umstand behindert, dass seine bewaffneten Truppen überlastet sind und im Irak festsitzen.
  33. Die wirklic h massive Veränderung hat jedoch auf dem Gebiet der poli-schen Macht und des politischen Einflusses stattgefunden. Nach dem 11. September wurden uns beinahe ungeteiltes Mitgefühl und weltweite
  34. Unterstützung zuteil. Seitdem hat sich die öffentliche Meinung gegen uns gewendet. Fast jede Initiative, die von den USA unterstützt wird, wird von der übrigen Welt inzwischen misstrauisch beäugt und abgelehnt. Selbst ein flüchtiger Blick auf den Ist-Zustand enthüllt, dass der Niedergang der amerikanischen Macht größer ist, als irgendjemand hätte vorhersehen können. Als Ergebnis sind wir weniger sicher, und die Welt ist weniger stabil als zu dem Zeitpunkt des Terrorangriffs durch Al-Qaida.
  35. Die Unruhen im Nahen Osten
  36. Die USA haben die gesamte Region des Nahen Ostens durch ihren Einmarsch in den Irak destabilisiert. Die Aufgabe der
  37. Besatzungstruppen ist nicht länger darauf beschränkt, den Aufstand der Sunniten niederzuschlagen. Vielmehr müssen sie den kurz bevorstehenden Bürgerkrieg verhindern. Das Land hat sich entlang konfessioneller Linien gespalten, und jede Fraktion hat militärische Kapazitäten aufgebaut. Das Innenministerium befindet sich in den Händen einer radikal-schiitischen islamischen Partei, deren Todesschwadronen eigene Gefängnisse betreiben und Exekutionen außerhalb jeder Gerichtsbarkeit durchführen. Einige der zuverlässigsten Kampfeinheiten der Armee sind die kurdischen Peshmerga. Die kriegerischen Auseinandersetzungen
  38. halten sich durch die Präsenz der US- ame- rikanischen Truppen in Grenzen, aber das oberste Ziel der Besatzungstruppen ist der Selbstschutz, nicht der Schutz der Bevölkerung. Die zivile Bevölkerung sieht den Bürgerkrieg heraufziehen und sucht Schutz, indem sie sich auf die eine oder die andere Seite schlägt. Die Menschen ziehen aus ihren angestammten Orten weg oder emigrieren wenn irgend möglich ins Ausland. Die Immobilienpreise im jordanischen Amman haben schwindelerregende Höhen erreicht. Die Bevölkerung gemischter Gebiete und Städte wie Bagdad, Kirkuk und Mossul ist am meisten bedroht und leidet jetzt schon
  39. am stärksten. Während ich dies schreibe (April 2006), ist der politische Prozess ins Stocken geraten, und eine Lösung ist mangels eines fehlenden Dachabkommens mit dem Iran nicht in sicht. Selbst dann wäre es zweifelhaft ob der Irangenügend Einfluss auf die schiitischen
  40. Splittergruppen ausüben könnte. Auf der Seite der Sunniten lassen Al- Qaida und andere salafistische Splittergruppen nichts unversucht, konfessionell begründete Gewalt zu entfachen.
  41. Die Bevölkerung furchtet die US- Truppen und die irakische Armee mehr als die Terroristen. Die Situation verschlechtert sich langsam, aber
  42. unaufhaltsam und könnte sich schließlich zu einem regionalen Flächenbrand zwischen Sunniten und Schiiten ausweiten, insbesondere wenn die USA ihre Truppen reduzieren oder gar abziehen.
  43. Der Iran hat ein großes Interesse daran, dass der Irak friedlich, schwach und in gewisser Hinsicht in Unordnung bleibt, aber auf keinen Fall will der Iran einen regionalen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten oder ein Auseinanderfallen des Irak. Schließlich war der Iran acht Jahre lang in einen brutalen Krieg mit dem Irak verstrickt, der im Iran unzählige Opfer gefordert hat.
  44. Iran ist der größte Nutznießer der Invasion in den Irak, die seinen Feind Saddam Hussein beseitigt und die US- Truppen in eine Aufgabe verstrickt hat, die sie nicht erfolgreich bewältigen können und die außerdem zu einer Olverknappung geführt hat. Was für eine Veränderung gegenüber der Situation vor dem 11. September! Damals waren viele Iraner mit den religiösen Machthabern ihres Landes unzufrieden. Mohammed Chatami wurde 1997 mit der Hoffnung auf Reformen zum Präsidenten gewählt. I Inglücklich erweise saßen die Hardliner an den Hebeln der Macht, und so konnte Chatami seine Versprechen nicht einlösen. Aber die Hardliner wurden zumindest in Schranken gehalten.
  45. Nach dem 11. September war alles anders. Präsident Bush bezeichnete den Iran als Mitglied der ,,Achse des Bösen", woraufhin sich die iranische Bevölkerung zur Verteidigung ihres Landes erhob. Die Besetzung Afghanistans und des Iraks verschaffte dem Iran einen stark wachsenden Hinfluss auf seine beiden Nachbarländern Irans Nuklearprogramme genossen breite öffentliche Unterstützung. Gleichzeitig machte der von der Bushregierung öffentlich geforderte Systemwechsel der iranischen Opposition des Leben schwerDie iranischen Wahlen im Jahr 2004 waren geschickt eingefädelt, sodass die Opposition ihre Stimme im
  46. Parlament verlor und ein rabiater Extremist zum Präsidenten gewählt wurde. Die Hardliner sind aufgrund ihrer Inkompetenz innenpolitisch nicht so stark, wie sie von außen erscheinen. Präsident Ahmadinedschad musste mit ansehen, wie drei seiner für das Amt des Ölministers nominierten Kandidaten von einem Hardliner- Parlament abgelehnt wurden, bevor er nachgab und einen Technokraten nominierte. Das war für ihn eine fürchterliche Demütigung und trieb ihn zu neuen Extremen in antizionistischer Rhetorik. Die Ölproduktion lässt nach. Nichtsdestoweniger sitzt Iran am längeren Hebel. Selbst der Rückgang der Ölproduktion spielt ihm in die Hände,
  47. weil er die globale Versorgung verknappt. Aber diese Bedingungen dauern vielleicht nicht lange an, und der Iran hat beschlossen, sie auszunutzen, indem er sein Nuklearprogramm beschleunigt. Das ist eine direkte Spiegelung der US- amerikanischen Schwäche und stellt für die Welt eine größere Gefahr dar als die vermeindiche Bedrohung durch Saddam Hussein.
  48. Wenn der Iran Nuklearwaffen entwickelt, wird das Land zu einer regionalen Supermacht. Als Folge wird die gesamte Golfregion bedroht sein, und die Existenz Israels gerät ernstlich in Gefahr. Es ist unwahrscheinlich, dass irgendwelche Abschreckungsmaßnahmen
  49. den Iran von seinem Kurs abbringen, weil sich das Regime in einer Win-Win- Situation befindet. Entweder bekommt es die Bombe, oder es wird bombardiert. Das Regime profitiert von beiden Alternativen. Ein Raketenangriff auf den Iran würde die antiamerikanischen Ressentiments verstärken, die Unterstützung der Bevölkerung konsolidieren und der Weltwirtschaft unsäglichen Schaden zufügen. Die Position der Besatzungstruppen im Irak kann dann durchaus unhaltbar werden.Den USA ist es gelungen, eine Deklaration des UNO-Sicherheitsrats zu erreichen - keine Resolution -, die den Iran verwarnt und einen sofortigen Stopp der Urananreicherung verlangt. Des
  50. Weiteren wird der Iran aufgefordert, den Inspektoren der Internationalen Atomenergiebchörde die Kontrolle dei Einhaltung dieser Aulflage zu ermöglichen Das ist das maximale Zugeständnis, das Russland und China zu leisten bereit waren, aber es reicht vielleicht nicht aus, um einem Raketenangriff den Anstrich von Legitimierung zu verleihen. Wir befinden uns auf Kollisionskurs, und die einzige Frage lautet, wie viel Zeit uns noch bleibt. Es gibt jeden Grund, die Entscheidung so lange wie möglich herauszuzögern, da keine der Alternativen attraktiv ist und sich die Umstände im Verlauf der Zeit möglicherweise verbessern. Diese Zeit
  51. könnte dazu genutzt werden, um einen neuen Ansatz zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu entwickeln, der die internationale Gemeinschaft im Umgang mit dem Iran stärken könnte. Ich werde dieses Thema im nächsten Kapitel noch ausfuhrlicher behandeln. Ich glaube an die Möglichkeit, zu einem Ubereinkommen mit dem Iran zu gelangen. Das ist unsere größte Hoffnung auf eine Vermeidung eines Konflikts, der noch katastrophalere Konsequenzen haben könnte als der Einmarsch in den Irak. Allerdings würde das eine umfassendere Neuausrichtung der US-amerikanischen Position erfordern, als die aktuelle Regierung zu
  52. leisten imstande ist.
  53. Wie jede große Religion enthält der Islam eine Reihe an Traditionen und lünstellungen. Unter dem Einfluss des Terrorismus und der amerikanischen Reaktion befindet sich die militante Tradition fast überall im Aufwind, und das gilt sowohl für die Sunniten als auch die Schiiten - die beiden großen Glaubensrichtungen des Islam. Das wird auch in den jüngsten Wahlergebnissen deutlich. Unter dem Druck der USA hielt Ägypten Wahlen mit mehreren Parteien ab, bei denen die extremistische Gruppierung Sunni Muslim Brotherhood, die Muslimische Bruderschaft, nicht zu den Wahlen zugelassen wurde. Trotzdem
  54. wurden viele ihrer Unterstützer als Einzelkandidaten gewählt.
  55.  
  56. Die von Syrien und dem Iran unterstützte militante Hisbollah schnitt im I .ihanon gut ab, wo sie die meisten Stimmen der Schiiten auf sich vereinigen konnte. In Palästina gewann die Hamas, eine militante sunnitische Organisation, die eng mit der Muslimischen Bruderschaft verbunden ist, und stellte die Regierung. Sowohl die Hamas wie auch die Hisbollah werden von den USA als terroristische Organisationen eingestuft, eine einschätzung, die von Arabern nicht geteilt wird
  57. Im Irak gewannen schiitische islamische Parteien mit der Unterstützung des Iran zwei Volkswahlen und dominieren nun die Regierung. Ihr Sieg verstärkte die sunnitisch geprägten Aufstände, die immer extremistischere Züge annehmen. Eine Gruppe der Aufständischen sind die salafistischen Glaubenskrieger - die sogenannten Jihadi Salafis -, die Terrorakte gegen die schiitische Zivilbevölkerung anzetteln. Sowohl die Erstarkung der radikalen schiitischen Bewegung als auch des Salafismus ist eine dramatische Hinterlassenschaft des von Saddam Hussein geführten Baath- Regimes.14 Das bedeutet, dass der
  58. islamische Radikalismus in einem Land, das zu den säkularsten arabischen Ländern gehört hat, zu einer beherrschenden politischen Kraft geworden ist.
  59. Unter diesen Umständen kann das Beharren der Bush-Regierung auf freien Wahlen die Alliierten der USA destabilisieren. Die Demokratisierung der Golfregion war eine der obersten Prioritäten der Regierung unter Präsident Bush, nachdem sich die anderen Argumente für eine Besetzung des Iraks als nicht haltbar erwiesen. Diese Politik ist mit dem Krieg gegen den Terror und dem Bedarf an Öl aus der Golfregion jedoch nicht kompatibel.
  60. Die Wahlen in Ägypten waren alles anderes als frei, dennoch haben die Ergebnisse das Regime in Nervosität versetzt. Nach den jüngsten Wahlen wurde der nicht religiöse Oppositionsführer auf der Grundlage fadenscheiniger Anklagen verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, und die versprochenen Lokalwahlen wurden um zwei Jahre verschoben. Der Sieg der Hamas in Palästina hat die internationale Gemeinschaft in Aufruhr versetzt. Saudi- Arabien geht sehr vorsichtig vor. Der pakistanische Präsident Pervez Musharraf widersetzt sich einfach dem Druck der USA, aber wegen Musharrafs prekärer Position hält die Regierung still. Ich fürchte, dass die
  61. Unvereinbarkeit einer Demokratisierung mit dem Krieg gegen den Terror darin enden wird, dass die Bush-Regierung ihre Politik der
  62. Demokratisierung heimlich, still und leise begräbt. Im folgenden Kapitel werde ich darlegen, dass das höchst unglücklich wäre.
  63. Etwas ist grundlegend falsch an Präsident Bushs Behauptung, er habe in den USA für mehr Sicherheit gesorgt, indem er den Krieg gegen den Terror ins Ausland getragen habe. Es gibt heute wesentlich mehr Menschen, die bereit sind, ihr Leben zu opfern, um Amerikaner zu töten, als vor dem 11. September. Auch wenn es den USA
  64. gelungen ist, Abu Mussab al- Sarkawi zu töten*, hat al-Sarkawi im Irak dennoch eine Basis geschaffen, die stark genug ist, um den Terrorismus zu exportieren - bisher nach Jordanien. Der militante Islam gewinnt auch in anderen Ländern an Boden, und moderate prowestliche arabische Regime sind in der Klemme. Sie sind zwischen dem Druck zur Demokratisierung und dem zunehmend militanten Islamismus ihrer Bevölkerung gefangen. Gleichzeitig werden sie in den USA selbst diskriminiert, wie der breite Widerstand gegen die schließlich vereitelten Pläne Dubais, verschiedene Hafenbetriebe von P&O Ports North America - einem anderen ausländischen Unternehmen
  65. zu kaufen, gezeigt hat. Die Rhetorik der Bush-Regierung über die terroristische Bedrohung hat sich als Bumerang erwiesen, denn nun ist die .imerikanische Bevölkerung gegenüber allen Arabern misstrauisch. Die arabische Elite, die bisher zur Ausbildung in die USA kam, fühlt sich nun woanders wohler.
  66. Die Regierung unter Präsident Bush zeigt keinerlei Bewusstsein für die Widersprüche ihrer Politik oder deren negative Konsequenzen. Ich füge hier Präsident Bushs Vorstellung der 2006 National Security Strategy (NSS) ein, damit sich die Leser selbst ein Urteil bilden können. Sie enthält einige
  67. Modifikationen und Änderungen der Betonung gegenüber dem einseitigen Ion des Dokuments aus dem Jahr 2002, aber alles in allem ist sie eine Wiederholung einer gescheiterten Politik.
  68. die Unterstrcichungen stammen von mir:
  69.  
  70. THE WHITE HOUSE
  71. washington
  72. Meine amerikanischen Mitbürger,
  73. Amerika befindet sich im Krieg. Dies ist eine nationale Sicherheitsstrategie fiir Kriegszeiten, die durch die große
  74. Herausforderung, vor der wir stehen, notwendig geworden ist - den zunehmenden Terrorismus, der von einer aggressiven Ideologie des Hasses und des Mordes genährt wird, und der sich der amerikanischen Bevölkerung am 11. September 2001 in seinem ganzen Ausmaß offenbart hat. Die vorliegende Strategie spiegelt unsere feierlichste Pflicht wider: die Sicherheit der amerikanischen Bevölkerung zu schützen.
  75. Amerika hat außerdem die nie da gewesene Chance, das Fundament fiir zukünftigen Frieden zu legen. Von den Idealen, die unsere Geschichte inspiriert haben - Freiheit, Demokratie und
  76. Menschenwürde -, lassen sich immer mehr Menschen und Nationen in der Welt leiten. Und weil freie Nationen dem Frieden zuneigen, wird die Verbreitung der Freiheit Amerika sicherer machen.
  77. Diese untrennbaren Prioritäten - den Terrorismus zu bekämpfen und zu besiegen sowie die Freiheit als Alternative zu Tyrannei und Verzweiflung zu fördern - haben die amerikanische Politik nun seit mehr als vier Jahren bestimmt.
  78. Wir sind offensiv gegen terroristische Netzwerke vorgegangen und haben unseren Feind geschwächt, aber noch nicht vollständig besiegt.
  79. Wir haben Seite an Seite mit dem afghanischen Volk gekämpft, um das Taliban-Regime - die Beschützer des Al-Qaida-Netzes - zu beseitigen, und dabei geholfen, es durch eine neue, demokratische Regierung zu ersetzen.
  80. Wir haben die weltweite Aufmerksamkeit auf die Verbreitung gefährlicher Waffen gelenkt, wenngleich die Herausforderungen auf diesem Gebiet nach wie vor groß sind.
  81. Wir standen und stehen für die Verbreitung der Demokratie im gesamten Nahen Osten - dabei gab es große Herausforderungen, und dennoch haben wir Fortschritte gemacht, die kaum
  82. jemand erwartet beziehungsweise vorhergesagt hätte.
  83. Wir haben stabile, kooperative Beziehungen zu allen einflussreichen Staaten in der Welt aufgebaut.
  84. ho
  85. Wir haben unsere Anstrengungen zur Förderung der wirtschaftlichen Iintwit Idung und der Hoffnung, die mit einer solchen Entwicklung einhergelil, dramatist Ii erweitert unc| uns bei diesen Anstrengungen au! die Förderung von Keiornien und die Erzielung von Ergebnissen konzenlrierl:.
  86. Wir haben eine internationale Koalition
  87. angeführt, um den irakischen Diktator zu stürzen, der sein eigenes Volk grausam unterdrückt, seine Region terrorisiert, die internationale Gemeinschaft herausgefordert und sich Massenvernichtungswaffen beschafft und eingesetzt hat.
  88. Wir kämpfen an der Seite des irakischen Volkes, um einen vereinten, stabilen und demokratischen Irak als neuen Alliierten im Krieg gegen den Terror im Herzen des Nahen Osten zu gewährleisten.
  89. Wir haben große Errungenschaften erzielt, haben uns Herausforderungen gestellt und unsere Vorgehensweise immer wieder an veränderte Bedingungen angepasst. Wir haben auch
  90. erfahren müssen, dass uns die Verteidigung der Freiheit Verlust und Trauer bringt, weil die Freiheit entschiedene Gegner hat. Wir haben immer gewusst, dass der Krieg gegen den Terror große Opfer verlangen würde. Und in diesem Krieg haben wir einige sehr gute Männer und Frauen verloren. Die Terroristen haben in dem Versuch, unseren Willen zu brechen, ihre Mordtaten dramatisch in Szene gesetzt, - von den Straßen der Stadt Falludscha bis zur Londoner U-Bahn. Der Kampf gegen diesen Feind - einen Feind, der gewissenlos und ohne Zögern unschuldige Menschen tötet - ist schwer. Und unsere Aufgabe ist noch lange nicht beendet.
  91. Amerika hat nun die Wahl zwischen dem Pfad der Angst und dem Pfad des Vertrauens. Der Pfad der Angst - Selbstisolierung und Protektionismus, Rückzug und Verbarrikadierung - erscheint denjenigen als richtige Lösung, die glauben, dass die Herausforderungen zu groß sind und die unsere Chancen nicht erkennen. Aber die Geschichte lehrt uns, dass jedes Mal, wenn Amerika diesen Weg eingeschlagen hat, die Herausforderungen noch größer geworden sind und die verpassten Chancen die Sicherheit zukünftiger Generationen beeinträchtigt haben.
  92. Diese Regierung hat den Pfad des Vertrauens gewählt. Wir haben Führung
  93. vor Sclbstisolierung und der Verfolgung eines freien und fairen Handels vor Protektionismus den Vorzug gegeben. Wir ziehen es vor, uns den Herausforderungen zu stellen, anstatt sie zukünftigen Generationen zu überlassen. Wir bekämpfen unsere I vi ndc im Ausland, anstatt darauf zu warten, dass sie zu uns ins Land kommen. Wir st ieben danach, die Welt zu formen und nicht allein von ihr geformt zu werden, und die (icschehnisse positiv zu beeinflussen, statt uns ihnen auszuliefern.
  94. I)er Wild, den wir gewählt haben, steht im Einklang mit der großen Tradition ame- l'ikanischer Außenpolitik- Wie die Politik von Harry Truman und Ronald
  95. Reagan ist .in« Ii unser Ansät/, idealistisch, was die nationalen Ziele betrifft, und realistisch, was die Mittel betrifft, mit denen wir diese Ziele erreichen wollen.
  96. Um diesem Pfad zu folgen müssen wir unsere nationale Stärke aufrechterhalten und ausdehnen, damit wir die Bedrohungen und Herausforderungen bewältigen koennen, bevor sie unserem Volk uns unseren Interessen schaden zufuegen. Wir muessen ein Militaer aufrechterhalten, das allen anderen überlegen ist. Aber dennoch gründet sich unsere Stärke nicht allein auf bewaffnete Streitkräfte . Sie beruht
  97. auf wirtschaftlichem Wohlstand und
  98. einer lebendigen Demokratie. Und sie beruht auf starken Allianzen, auf Freundschaft und internationalen Institutionen, die uns in die Lage versetzen, Freiheit, Wohlstand und Frieden in gemeinsamer Absicht mit anderen in die Welt zu tragen.
  99. Unsere nationale Sicherheitsstrategie stützt sich auf zwei Säulen:
  100. Die erste Säule fördert Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde. Sie ist darauf ausgerichtet, Tyrannei abzuschaffen, effektive Demokratien zu fördern und durch freien und fairen Handel sowie kluge Entwicklungspolitik fiir Wohlstand zu sorgen. Freie
  101. Regierungen sind ihrem Volk gegenüber rechenschaftspflichtig, regieren ihr Territorium effektiv und verfolgen wirtschaftliche und politische Maßnahmen, die zum Nutzen ihrer Bürger gereichen. Freie Regierungen unterdrücken weder ihr Volk noch greifen sie andere freie Nationen an. Frieden und internationale Stabilität gründen mit größter Zuverlässigkeit auf dem Fundament der Freiheit.
  102. George W. Bush Weißes Haus 16. März 2006
  103. Die zweite Säule unserer Strategie besteht darin, den Herausforderungen unserer Zeit durch die Führung einer wachsenden Gemeinde an Demokratien
  104. zu begegnen. Viele Probleme, mit denen wir konfrontiert sind - von der Bedrohung durch Pande- mien, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und dem Terrorismus bis zu Menschenhandel und Naturkatastrophen -, kennen keine Landesgrenzen. Effektive multinationale Anstrengungen sind zwingend notwendig, um diese Probleme zu lösen. Und dennoch zeigt die Geschichte, dass andere nur dann ihren Teil dazu beitragen, wenn wir unseren Part erfüllen. Amerika muss weiterhin fuhren.
  105.  
  106. Die Situation in der gesamten Golfregion
  107. ist finster. Iran droht eine Nuklearmacht zu werden. Der schwelende Bürgerkrieg im Irak droht sich zu einem regionalen Konflikt auszuweiten. Wir stehen vor einem Zusammenstoß der Zivilisationen und/oder einem bewaffneten Glaubenskrieg. Und all das in einer Region, aus der der größte Teil der weltweiten Öllie- ferungen stammt.
  108. Eine instabile Weltordnung
  109. Macht und Einfluss der USA schwinden auch außerhalb der Golfregion. China und Russland erleben einen zunehmenden regionalen Einfluss. Chinas Position gegenüber den Vereinigten Staaten ist gestärkt, weil die l JSA auf China als Vermitder im
  110. Konflikt mit Nordkorea angewiesen sind. Chinas Hilfsbereitschaft hat Grenzen, weil das Land von dem Fortbestand des Konflikts profitiert. Die Briten nannten das ,,Unterstützung ohne Hille". Nach meiner Auffassung gewinnt China viel schneller an politischer Macht und an Einfluss, als ihm gut tut. Gleichzeitig ist seine Führung durch die sogenannte Orange Revolution in Georgien und der Ukraine höchst aufgeschreckt. Unterm Strich wurden die Zügel der politischen Liberalisierung wieder angezogen
  111. Das Putin-Regime in Russland hat durch diese Revolution ebenfalls einen herben Rückschlag erlitten. Putins Beliebtheit
  112. beruhte zum großen Teil auf dem unausgesprochenen Versprechen der Wiederherstellung des russischen Reiches. Die Orange Revolution hat diese Pläne aber zunichte- gemacht. Putin reagierte darauf mit zunehmendem Autoritarismus; er si-cherte sich nicht nur die Macht über die Regierung, sondern auch über die Gerichte Medien, die politische Opposition und die Zivilgesellschaft. Abci Kussland ist schlicht und einfach zu groß, um vom Kreml aus regiert ·ii werden. Das Regime beging eine Reihe administrativer Fehler, und die Wirtschaft profiliert nicht in ausreichendem Maße von den hohen Gas und Oelpreisen. Putin nutzt die russische
  113. Kontrolle ueber die Gaslieferungen, um seine Gefolgsgenossen und Alliierten zu bereichern und.Russlands Einfluss auf seine Nachbarn zu stärken. Präsident Bush pries die Orange Revolution als Sieg der Freiheit, aber er ist nicht in der Position, Russlands autoritären Tendenzen Einhalt zu gebieten. Putins Macht ist durch die prekäre Energieversorgung noch gewachsen.
  114. Die 2001 gegründete Shanghai Cooperation Organization hat China und Russland mit den zentralasiatischen Republiken zusammengebracht. Eines der Hauptziele ist die Reduzierung des amerikanischen Einflusses in der Region. Nach der Orangen Revolution
  115. einigten sich Putin und die autoritären Machthaber von Zentralasien darauf, sich gegenseitig in der Unterdrückung sozialer Unruhen zu unterstützen. Das führte zu dem Massaker von Andijan, wo der usbekische Präsident, Islam Karimov, eine lokale Demonstration dazu nutzte, auf die Menge zu schießen und die fliehenden Menschen einfach niederzumähen. Anschließend wurde er in Peking gefeiert und von Russland unterstützt. Die USA waren gezwungen, ihren Luftwaffenstützpunkt in Usbekistan aufzugeben.
  116. Es gibt außerdem eine wachsende Kooperation zwischen China, Russland und dem Iran, insbesondere in
  117. Energiefragen, aber es ist noch zu früh, um von einem Gegenblock zu sprechen, da es sich China nicht leisten kann, die USA zu sehr gegen sich aufzubringen. Allerdings tritt Russland zunehmend bestimmt auf, wie man am Verkauf eines Raketenabwehrsystems an den Iran sieht. Es ist korrekter zu sagen, dass Präsident Bush den Nationalismus angekurbelt und der Rest der Welt sich ein Beispiel daran genommen hat. Fast überall dominiert der Nationalismus. Die Spannungen zwischen China und Japan haben zugenommen, und Japan hat sich auf die Seite der USA gestellt. Das Problem ist, dass der japanische Nationalismus den Unmut aller anderen Länder Asiens immer stärker anheizt.
  118. Unter Umständen finden sich die USA daher auf der falschen Seite wieder. China versucht, eine Allianz zwischen den ASEAN-Staaten (Association of Southeast Asian Nati- ons) und Chinajapan und Korea (ASEAN+3) zu forcieren. Die ASEAN- Staaten wiederum bestehen aus Angst vor einer chinesischen I Ibermacht auf der Einbindung von Indien und Australien (ASEAN+5) Interessant an beiden Formationen ist, dass sie die USAAausklammern
  119. Die Invasion in den Irak hat dazu beigetragen, die Erdölversorgung zu verknappen. Länder wie der Iran und Venezuela, die den USA feindlich
  120. gesinnt sind, konnten ihre Verhandlungspositionen stärken. China und Indien werden zunehmend nervös, was die Sicherung ihres Zugangs zu den Ölreserven betrifft. Die USA haben den Fehler gemacht, einem chinesischen Olkonzern den Kauf des US- Unternehmens Unocal zu verweigern, und das hat China erst recht dazu ermuntert, gemeinsame Sache mit autoritären Regimes zu machen. Eine korrekte Politik wäre gewesen, die Transaktion unter der Bedingung zu genehmigen, dass China mit der internationalen Gemeinschaft dabei kooperiert, Druck auf diktatorische Regimes wie das von Myanmar auszuüben. Stattdessen ist China zum
  121. Protektor von Myanmar geworden. China gewinnt außerdem immer mehr Hinfluss in Afrika und Südamerika.
  122. Venezuela hat sich zu einer feindlichen Macht in Südamerika entwickelt. Weil er von den hohen Olpreisen und den antiamerikanischen Ressentiments profitieren konnte, war Hugo Chavez in der Lage, seine heimische Position zu festigen und seinen Einfluss im Ausland zu vergrößern. Mit I lilfe billiger Ollieferungen ist es ihm gelungen, die Unterstützung der karibischen Länder zu kaufen. Mit Bolivien, wo Evo Morales, Führer des Verbands der Kokabauern, auf Basis einer amerika- und globalisierungs- feindlichen Strömung
  123. mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten des
  124. I andes gewählt wurde, hat Chavez einen Alliierten gewonnen. Die Unzu-
  125. II iedenheit über den langsamen wirtschaftlichen Fortschritt und die Des- illusionierung über die Demokratie nehmen auf dem gesamten Kontinent zu wobei Chile eine bemerkenswerte Ausnahme bildet und Amerikas Hinfluss schwindet zusehends.
  126. Die Schwäche der USA hat auch einen nachteiligen Effekt auf seinen Hauptverbündeten, die Europäische Union. Der amerikanische Einfluss, der in den Worten von Donald Rumsfeld
  127. über das ,,alte Europa" sehr deutlich zum Ausdruck kam, hat die Union gespalten und nationalistischen Strömungen Aufwind gegeben. Die Europäische Verfassung wurde von Frankreich und den Niederlanden abgelehnt; die EU befindet sich in dci Krise Allerdings kann man die Europäischen Probleme nicht der
  128. 1)1Bush-Regierung anlasten. Sie müssen separat behandelt werden. Europa ist eine offene Gesellschaft; seine Krise findet zwar zum selben Zeitpunkt statt wie die Krise der offenen Gesellschaft in den USA, aber inhaltlich unterscheiden sie sich voneinander.
  129. Ich will hier keine umfassende
  130. geopolitische Abhandlung über den Zustand der Welt schreiben. Die Auswahl der Fakten habe ich bewusst einseitig gegen die Regierung unter Präsident Bush getroffen. Zum Beispiel habe ich die Konvertierung von Muammar Gaddafi nicht erwähnt, ebenso wenig die verbesserten Beziehungen zu Indien oder John Howard, der sich zu einer australischen Ausgabe von George W. Bush entwickelt hat. Aber es wurden genügend Fakten zitiert, um sicherzustellen, dass keine Aufzählung der Gegenseite die Behauptung, die Position der USA habe nach dem 11. September schwer gelitten, schwächen könnte. Wenn Sie den wachsenden
  131. heimischen Widerstand gegen den Irakkrieg dazuneh- men, wird deutlich, dass die USA auf dem besten Wege sind, ihre Vormachtstellung in der Welt schneller einzubüßen, als es zum Zeitpunkt der Verkündung der Bush- Doktrin für möglich gehalten wurde. Das wäre nicht nur ein Verlust für die USA, sondern für die ganze Welt. Trotz der dunklen Flecken in ihrer Erfolgsgeschichte sind die USA von jeher eine stabilisierende Kraft in der Welt gewesen, und ihr Niedergang hat zu wachsender Instabilität gefuhrt.
  132. Das Konzept der Macht
  133. Die Verschlechterung der Stellung der USA kann fast in Gänze einer
  134. fundamentalen Missinterpretation der Natur der Macht zugeschrieben werden, welche die Bush-Regierung zumindest während der ersten Legislaturperiode geleitet hat. In der zweiten Amtszeit hat es Ansätze zu einer Kurskorrektur gegeben, aber diese haben nicht viel bewirkt, weil die Hinterlassenschaft der ersten Amtszeit einen zu großen Schaden angerichtet hat. Nehmen wir das Thema Folter und Entführung in Drittstaaten, für welche die USA den Begriff "extraordinary rendition" (aussergewöhnliche
  135. Auslieferung", A. d. Ü.) geprägt haben: Die meisten Vorfälle ereigneten sich während der ersten Amtszeit, aber sie
  136. haben in der zweiten Amtszeit die Beziehungen zu Europa vergiftet, weil die US-Regierung nicht bereit war, ihre Praktiken zuzugeben und auf sie zu verzichten. Die Gruppierung um Dick Cheney und Donald Rumsfeld, die für diese Praktiken verantwortlich ist, gehört noch immer der Bush-Regierung an.
  137. Die Cheney-Clique der Verfechter der amerikanischen Vormachtstellung glaubt, dass internationale Beziehungen auf Macht und nicht auf Gesetzen basieren. Ihrer Auffassung nach dienen internationale Gesetze lediglich zu einer Ratifizierung dessen, was die Macht bereits durchgesetzt hat, wobei sie
  138. Macht als Mlitärmacht definiert. Diese Ideen sind völlig fehlgeleitet. Macht ist ein trügerischer Begriff. Er gehört in' den Bereich der Naturwissenschaften, wo Macht - beziehungsweise Kraft - präzise definiert und gemessen werden kann. Wenn der Begriff ,,Macht" auf menschliches Tun angewendet wird, wird er im metaphorischen Sinne verwendet. Ein Nobelpreisträger in den Naturwissenschaften kann von einem Schläger- typen und Analphabeten niedergeschlagen werden, ein mächtiger Diktator kann von einem Quacksalber ausgenutzt oder Wachs in den Händen seiner Frau oder Geliebten sein. Macht ist eher so etwas wie ein Kinderspiel wie ,,Papier, Schere, Stein": Das Papier
  139. wickelt den Stein ein, der Stein macht die Schere stumpf, und die Schere schneidet das Papier.
  140. Macht mit einem Kinderspiel zu vergleichen klingt nach einem Scherz, aber dieser Vergleich bietet Einsichten in die Beschränkungen der Macht, die der Aufmerksamkeit unserer Führer entgangen sind. Wenn jemand über die absolute Vorherrschaft verfügt und diese missbraucht, dann lassen sich andere Wege finden, diese Überlegenheit anzugreifen. Ohne damit irgendetwas entschuldigen zu wollen, kann der Terrorismus durchaus als Antwort auf die militärische Übermacht angesehen werden: Das Papier umwickelt den
  141. Stein.
  142. Befürworter der amerikanischen Vormachtstellung haben Macht in eine falsche Metapher verwandelt nicht unähnlich dri anderen falschen Metapher nämlich dem Krieg gegen den Terror. tatsächlich stellen diese beiden falschen Metaphern die zwei Seiten derselben verzerrten Weltsicht dar. Es mag eine Überraschung sein, wie viel Schaden falsche Metaphern anrichten können, aber es lässt sich schwerlich eine andere Erklärung für den steilen Niedergang der Macht und des Einflusses der USA finden. Schließlich konnten sich materielle Bedingungen - wie die Marxisten sie nennen würden -, also die
  143. militärische, wirtschafdiche und finanzielle Stärke, in fünf Jahren nicht so grundlegend verändern. Es ist der ideologische Überbau, der den ganzen Schaden verursacht hat. Das gibt Grund zur Hoffnung. Denn falsche Ideen können leichter korrigiert werden als materielle Bedingungen. Unglücklicherweise dauert es eine Zeit, bis sich die Effekte einer Verzerrung der Wirklichkeit bemerkbar machen. Und was noch schlimmer ist: Eine falsche Metapher kann sehr effektiv darin sein, versteckten Absichten zu dienen. Der Krieg gegen den Terror hat Bush zum Beispiel im eigenen Land zu größerer Popularität verholfen. In anderen Worten: Falsche Metaphern tendieren anfangs zur Selbstverstärkung,
  144. aber später, wenn ihre Fehlkonstruktion für alle offensichtlich wird, werden sie selbstzerstörerisch. In diesem Stadium befinden wir uns jetzt.
  145. Materielle Bedingungen
  146. Seit 2001 haben sich auch die materiellen Bedingungen in den USA verschlechtert, aber das ist ein schleichender Prozess und keine abrupte Veränderung wie die der Politik. Wie bereits dargelegt, verfügen die USA nach wie vor über eine unbestrittene militärische Überlegenheit. Zwar können die USA ihre Macht nicht mehr in jedem Winkel der Welt ausüben, aber in der Luft, auf See und im Weltraum sind sie immer noch beherrschend. Sie werden
  147. sich auf absehbare Zeit auf keinen weiteren Bodenkrieg einlassen, aber sie können immer noch jederzeit Raketen einsetzen.
  148. An der Wirtschaftsfront wächst das Leistungsbilanzdefizit, das im letz ten Quartal des Jahres 2005 6,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreicht hat, munter weiter. Aber auch das ist ein Trend der schon einige Zeit vor der Präsidenteschaft Bushs eingesetzt hat. Das
  149. Haushaltsdefizit beträgt 2,6 Prozent des BIP. Das steht im Gegensatz zu dem beachtlichen Uberschuss, den das Land am Ende der Amtszeit Bill Clintons
  150. verzeichnete. Beide Defizite lassen sich auf die Konsummentalität und unsere Wohlfühlgesellschaft zurückfuhren. George W. Bush hat den Wohlfühlfaktor bedient, indem er Clintons Vermächtnis des Haushaltsüberschusses für eine drastische Steuersenkung verwendet hat. Bush hat weder den Krieg gegen den Terror noch den Irakkrieg bezahlt.
  151. Die US-amerikanische Konsummentalität hat die Weltwirtschaft zusammen mit Asiens Merkantilismus am Laufen gehalten. Wann immer eine Finanzkrise oder ein anderes Problem in der Weltwirtschaft auftrat, injizierten die Finanzinstitutionen der Vereinigten Staaten dem Markt eine weitere
  152. Geldspritze. Dann lockerten die amerikanischen Kreditinstitute die Zinsschraube um eine weitere kleine Umdrehung. Die asiatischen Finanzautoritäten sind gern bereit, das daraus resultierende Leistungsbilanzdefizit der USA durch den Kauf von US-Anleihen und Banknoten zu finanzieren. Zwischen dem amerikanischen Konsumbedürfnis und der asiatischen Sparmentalität herrscht eine Symbiose, die das Handelsun- gleichgewicht auf ewige Zeit weiter anwachsen lassen könnte. Dennoch glaube ich, dass die Musik kurz vor ihrem Ende steht - nicht wegen des Leistungsbilanzdefizits, sondern weil die amerikanischen Verbraucher ein-fach
  153. keine weiteren Kredite mehr aufnehmen können.
  154. die Schuldenlast hat ihre Grenzen erreicht. Autos können ohne Anzahlung über einen Finanzierungszeitraum von fünf Jahren gekauft werden. I l.inser können über Hypotheken finanziert werden, bei denen bis zum Fmk' der Laufzeit keine Tilgungsraten fällig werden und für die kein Ei- gcnkapital erforderlich ist. Kreditinstitute gewähren Kredite ohne jede Bonitätssprüfung, wobei für einen Zeitraum von 18 Monaten Zinsen berechnet werden, die unter dem Marktniveau liegen. Sogenannte Lockzinsangebote. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie die
  155. Kreditkonditionen noch weiter gelockert werden könnten (Inzwischen hab eich erfahren, dass man die Autofinanzierung auf 94 Monate ausdehnen kann. Damit ist das Eigenkapital des Autobesitzers immer negativ))
  156. Der Stimulus niedriger Zinsraten und die überaus günstigen Kreditkonditionen ließen einen Immobilienboom entstehen, der alle Merkmale einer Blase aufweist. Angesichts von Häuserpreisen, die mit zweistelligen Prozentraten bei einstelligen Zinssätzen ansteigen, wurden viele Häuser gekauft und zu Spekulationszwecken gehalten. Gleichzeitig hat der Anstieg der Häuserpreise den Konsum angekurbelt.
  157. Die Menschen refinanzierten ihre Häuser und zogen ihr Eigenkapital ab. Der Abzug des Eigenkapitals erreichte 2005 eine jährliche Rate von mehr als 800 Milliarden Dollar; das ist mehr als das Leistungsbilanzdefizit. Man schätzt, dass ungefähr die Hälfte davon ausgegeben wurde. Die Sparrate der Privathaushalte ist bis zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Manuskripts (April 2006) auf - 0,5 Prozent gesunken und liegt damit weit unter dem historischen Durchschnitt. Das kann so nicht weitergehen.
  158. Wir stehen vor einer Gezeitenwende. Die Federal Reserve Bank hat den Leitzins von 1 Prozent auf derzeit fast 5
  159. Prozent erhöht. Außerdem hat sie eine Weisung zur Verschärfung der Konditionen erlassen, zu denen Kreditinstitute Hauskäufe finanzieren können. Der Anstieg der Häuserpreise hat sich bereits verlangsamt. Es bleibt abzuwarten, ob den Finanzinstitutionen eine ,,weiche Landung" gelingt. Nach meiner Meinung werden wir etwas erleben, das wie eine weiche Landung aussieht, aber so lange anhält, bis es sich tatsächlich als harter Aufprall entpuppt. Ich kann nicht erkennen, wie der zweistellige prozentuale Anstieg der Häuserpreise sanft gebremst werden könnte, denn der riesige Angebotsüberhang muss irgendwie abgebaut werden. Wenn der
  160. Wohlstandseffekt der Immobilienblase nachlässt, werden die Privathaushalte mehr sparen und weniger ausgeben. Ich gehe zudem davon aus, dass sich die US- Wirtschaft 2007 abkühlt, und das wird sich in Form eines schwächeren Dollars auf den Rest der Welt übertragen. Weder die Bevölkerung noch die Regierungsbehörden machen den Eindruck, als ob sie darauf angemessen vorbereitet wären.Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Anlass zur Sorge, nämlich die Situation der Energieversorgung. Dieses Problem hat viele Facetten: die Abhängigkeit der USA von Oelimporten, die globale Klimaerwärmung und politische Anfälligkeiten. Die Regierung unter
  161. Bush ver drängt alles. In seinem letzten Bericht zur Lage der Nation hat sich Bush zwar kritisch über die Abhängigkeit der USA vom Ol geäußert, aber seine Politik straft seine Worte Lügen.
  162. Wie kann die Öffentlichkeit davon überzeugt werden, dass sich das Land unter dieser Regierung auf einem direkten Weg in die Katastrophe befindet? Die Botschaft ist ganz einfach: Die USA können nicht mächtig und reich bleiben, wenn sie darauf bestehen, eine Wohlfühlgesellschaft zu bleiben.
  163. Wir müssen lernen, unangenehmen Realitäten ins Auge zu sehen, wenn wir die führende Nation in der Welt bleiben
  164. wollen. Wird irgendein Politiker aufstehen und diese Botschaft verkünden? Und wenn es überhaupt einen solchen Politiker gibt, wird die Bevölkerung auf ihn hören? Schließlich will eine Wohlfühlgesellschaft keine schlechten Nachrichten iiberbracht bekommen.
  165. Wie ich zuvor schon gesagt habe, ist es nicht damit getan, die Regierung iiuszuwechseln. Unsere Einstellungen und Verfahrensweisen müssen umfassend auf den Prüfstand gestellt werden.
  166. Kapitel 5:
  167. Was stimmt nicht
  168. mit der Weltordnung?
  169. Im letzten Kapitel habe ich die Folgen der Politik der Bush-Regierung insbesondere den Krieg gegen den Terror - für die USA untersucht. Aber das ist nur ein Teil meiner Besorgnis. Ich wurde in Ungarn geboren, iils Jude verfolgt, zog nach London, bevor ich nach New York ging, begeisterte mich für die universelle Idee der offenen Gesellschaft, spekulierte in den globalen Finanzmärkten und gründete meine Stiftungen - zunächst in der ehemaligen Sowjetunion und dann in der übrigen Welt. Meine Hlauptsorge gilt der Weltordnung und der Zukunft der Menschheit.
  170. Die I ISA sind heute die einzige weltweite Supermacht. Sie bestimmen die Agenda, und alle anderen Länder müssen sich danach richten. Präsident Bush hat die falsche Agenda gesetzt. Seine Regierung lässt sich von der
  171. überzeugung leiten, dass internationale Beziehungen auf Macht gründen und nie und nicht auf Gesetzen. Da die USA die derzeit einzige Supermacht sind,
  172. erheben sie einen Anspruch darauf, dem Rest der Welt ihren Willen aufzudrücken. Diese fehlgeleitete Auffassung hat nicht nur für die USA selbst,
  173. sondern auch für die ganze Welt
  174. katastrophale Folgen.
  175.  
  176. Die Wellordnung basiert auf der Souveränität der Staaten. Die Souveränität ist ein anachronistisches Konzept, das in einer Zeit entstand, als Gesellschaften aus Herrschern und Untertanen bestunden nicht aus Bürgern Die Souveränität wurde mit dem im im Jahr 1648 geschlossenen Vertrag von Westfalen zum Eckpfeiler der internationalen Beziehungen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg einigte man sich darauf, dass der Herrscher das Recht hatte, den religiösen Glauben seiner Untertanen zu bestimmen: Cuius regio eius religio. Die Französische
  177. Revolution stürzte König Ludwig XVI., und die Souveränität fiel in die Hände des Volkes. Im Prinzip hat die Souveränität seitdem immer beim Volk gelegen.
  178. Es hat seit jeher Regeln gegeben, welche die Beziehungen zwischen den Staaten bestimmt haben, aber diese Regeln konnten stets durch die Anwendung überlegener Gewalt gebrochen werden. Keine Weltordnung hat es je geschafft, einen Krieg zu verhindern, auch wenn einige Abkommen zufriedenstellender waren als andere. Dennoch ist die Vorstellung, es gebe keine andere Weltordnung als den Einsatz von Gewalt, ein Trugschluss - eine
  179. Begleiterscheinung der Fehlinterpretation der Natur der Macht. Diese Vorstellung behagte den Verfechtern der amerikanischen Vormachtstellung, weil sie den USA erlaubt hätte, ihren Willen der ganzen Welt aufzuzwingen. Aber das hat nicht funktioniert. Als der Terroranschlag vom 11. September der Bush-Regierung die Gelegenheit gab, ihre Vorstellung in die Praxis umzusetzen, stellte sich heraus, dass das Ergebnis ganz und gar nicht den Erwartungen entsprach.
  180. Die Ideologie der amerikanischen Vormachtstellung fand ihren Ausdruck in der Bush-Doktrin als Bestandteil des Berichts über die nationale Sicherheit
  181. aus dem Jahr 2002. Dessen beide zentralen Glaubenssätze besagen, dass die USA die absolute militärische Überlegenheit in jedem Teil der Welt bewahren müssen, und dass die USA das Recht auf einen militärischen Erstschlag besitzen. Zu der Zeit, als diese Doktrin verkündet wurde, befanden sich die USA in der Tat in der Position, dass sie ihre Macht in jedem Winkel der Welt ausüben konnten. Das traf prinzipiell auch auf Nordkorea zu. Was eine militärische Aktion jedoch unsinnig machte, war die Tatsache, dass die Hauptstadt von Südkorea, Seoul, innerhalb der Reichweite der nordkoreanischen Artillerie liegt und Millionen von Süd- koreanern
  182. umgekommen wären, bevor die USA die militärischen Anlagen Nordkoreas hätte zerstören können
  183. IM)
  184. Aber wie bereits erwähnt, büßten die USA mit dem Präventivkrieg gegen den Irak diese Vormachtstellung ein. An den Zielen der Bush-Regierung gemessen, war der Irakkrieg eine kolossale Niederlage.
  185. Die Welt kann nicht von Militärgewalt regiert werden. Militärische Macht ist nur eines der vielen Elemente, die ein Land braucht, um Einfluss auf andere auszuüben. Imperiale Macht ist nie allein durch den Einsatz von
  186. Waffengewalt erfolgreich gewesen. Das Ottomanische Reich, das auf Eroberungsfeldzügen gründete, verfügte über ein ausgefeiltes System zur Wahrung des Friedens und der Gerechtigkeit. Als dieses System zusammenbrach, zerfiel auch das Imperium.
  187. Die USA wurden auch nicht durch militärische Mittel zu einer dominanten Weltmacht. Auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg folgte die Gründung der Vereinten Nationen, der Institutionen von Bretton-Woods (der Internationale Währungsfonds und die Weltbank) und der Marshallplan. 1 )as Verhalten der USA war weiß Gott nicht immer
  188. vorbildlich. Die CIA schmiedete Komplotte, plante gezielte Morde und organisierte Staatsstreiche. Aber die meisten dieser Aktivitäten geschahen heimlich, und wenn sie enthüllt wurden, wurde die CIA in ihre Grenzen verwiesen. Als der Vietnamkrieg in einer Niederlage endete, zerstörte er die ,,Alles- is( machbar"-Mentalität, welche die USA bis dahin charakterisiert hatte. (Präsident Lyndon Johnson hatte sein Projekt der Großen Gesellschaft initiiert, bevor er wegen des Vietnamkriegs auf eine Kandidatur zur Wiederwahl verzichtete.) Die Vereinigten Staaten fuhren fort, Stellver- trclerkriege zu führen und autoritäre Regime zu stützen. Erinnern Sie sich
  189. noch an die lran-Contra-Affäre? Aber all das waren einzelne Verir- rungen. Alles in allem erfüllten die USA ihre Rolle als Führer einer freien Well ziemlieh gut. Die restliche Welt akzeptierte bereitwillig die ame- rikanische Führerschaft im Kampf gegen die kommunistische Bedrohung, und die USA unterstützten ihre Alliierten. Zum Beispiel spielten su eine konstruktive Rolle bei der Entwicklung der Europäischen Union und förderten die wirtschaftliche Entwicklung in Japan und einigen Tigerstaten Ostasiens. Die USA konnten gleichzeitig Supermacht undFührer der freien Welt sein. Die kommunistische Bedrohung diente in einer Gesellschaft, die von der
  190. Verfolgung von Eigeninteressen und der eigenen Befriedigung geprägt ist, als Kohäsionskraft.
  191. Diese komfortable Identität wurde durch den Zusammenbruch des Sowjetsystems zerstört. Die einzige Supermacht und der Führer der freien Welt zu sein, war nicht mehr länger ein und dieselbe Sache - was die USA nicht erkannten. Die Vereinigten Staaten nutzten ihre Vormachtstellung aus, um ihre nationalen Interessen in jedem Bereich - ob militärisch oder wirtschaftlich - durchzusetzen. Das ist nicht das, was eine Weltmacht tun sollte. In einer Weltordnung, die aus souveränen Staaten besteht, ist es die Aufgabe der USA als
  192. Supermacht, sich neben der Verfolgung von Eigeninteressen um das Wohlergehen der Menschheit insgesamt zu kümmern. Diese einzigartige Verantwortung leitet sich aus der privilegierten Position ab, welche die USA in der Welt einnehmen. Sie können der Welt nicht einseitig ihren Willen aufzwingen. Auf der anderen Seite ist keine kollektive, kooperative Aktion ohne ihre Führung oder aktive Mitarbeit möglich. Die USA können jede internationale Institution blockieren. Sie verfügen über ein Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und sind die einzige Nation mit Sperrminorität im Internationalen Währungsfonds (IWF) und der
  193. Weltbank. Washington bestimmt die Richtung, in die sich die Welt bewegt, aber der Rest der Welt hat keine Stimme im Kongress. Daher ist es die Verantwortung der amerikanischen Regierung, neben den nationalen Interessen der USA auch den gemeinsamen Interessen der Menschheit angemessenes Gewicht beizumessen.Als die USA erstmalig zur Weltmacht aufstiegen, erkannten sie diese einzigartige Verantwortung an. Präsident Franklin Roosevelts Worte und Taten drückten eine echte Sorge über die Zukunft der Menschheit aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten sich die USA gegenüber ihren besiegten Feinden großherzig und entwarfen eine bessere
  194. Weltordnung, damit sich die Schrecken des Krieges nicht mehr wiederholen konnten. Präsident Roosevelts Vision wurde nicht umgesetzt, flößte aber Respekt ein. Die USA waren zu erfolgreich und zu wohlhabend, um geliebt zu werden, aber sie waren in der Lage, ihre Vormachtsstellung zu halten, zum Teil deswegen weil sie so bewundert und imitiert wurden. Seit dem Marshallplan haben sich die Einstellungen der USA grundlegend geändert. Als die Sowjetunion zusammenbrach, konnte die Idee eines Marshallplans für das ehemalige Sowjetimperium nicht einmal diskutiert werden. 1988 brachte ich das Thema bei einer internationalen Konferenz in
  195. Potsdam, das damals noch zur DDR gehörte, zur Sprache und wurde buchstäblich ausgelacht. Ich erwähnte es erneut gegenüber Robert Zoellick, einem der wichtigsten Berater von Bush senior, woraufhin er mir antwortete, zuerst müsse Michail Gorbatschow mit Fidel Castro brechen. Als Russland endlich alle Forderungen erfüllt hatte, hatte das Land einen Zustand völliger Auflösung erreicht und schien nicht mehr zu retten. Bei einem Dinner zum Jahrestag von Thomas Jefferson im Jahr 1993 versuchte ich, Präsident Clinton davon zu überzeugen, dass Russland einen ähnlichen Prozess durchmachte wie die Vereinigten Staaten zujeffersons Lebzeiten, und dass Russland unsere
  196. Unterstützung brauchte und verdiente - vergeblich. Präsident Clintons Schwerpunkt lag auf Wettbewerb, nicht auf Großherzigkeit.
  197. Das Entstehen einer neuen Haltung, die von der abwich, die den Mar- shallpian inspiriert hatte, kann mit der Wahl von Ronald Reagan in Zusammenhang gebracht werden. Ich habe das als ,,Marktfundamentalismus" bezeichnet - die Uberzeugung darüber, dass den gemeinsamen Interessen am besten gedient ist, wenn jeder seine Eigeninteressen verfolgt. Dieser Sicht zufolge erscheint die einzigartige Verantwortung, von der ich gespro- i hen habe, überhaupt keinen Sinn zu haben:
  198. Es gibt keine Notwendigkeit, dass der Starke sich um den Schwachen kümmert. Diese Überzeugung basiert auf einer Fehlinterpretation des Marktmechanismus. Man geht davon aus, dass Märkte stets ein Gleichgewicht anstreben, das zur optimalen Allokation aller Ressourcen führt. Aber so funktionieren Märkte - und insbesondere Finanzmiirkte - nicht. Sie streben nicht nach Gleichgewicht und sind auc h nicht darauf ausgerichtet, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen l Inregulierte Märkte sind sehr effizient in der Allokation von Ressourcen .ml konkurrierende private Bedürfnisse beziehungsweise auf die viellalligen Kon,suniwün,sehe, die mit dci
  199. zunehmenden Konsummentalität entstanden sind. Darüber hinaus gibt es aber kollektive Bedürfnisse wie die Wahrung von Frieden und Ordnung, Umweltschutz und die Wahrung der Marktmechanismen selbst, um die sich die Marktkräfte nicht kümmern. Kollektive Bedürfnisse können durch die Schaffung der richtigen Anreize und Sanktionen in Marktkräfte verwandelt werden, aber das erfordert eine politische Intervention. Eigentlich ist die Übersetzung kollektiver Bedürfnisse in Marktkräfte oft der beste Weg, um Erstere zu erfüllen, wohingegen ihre Ignorierung einige unglückselige Konsequenzen mit sich bringt. Die Ignorierung kollektiver Bedürfnisse führt
  200. nicht nur zu einer Begünstigung der Reichen auf Kosten der Armen - ein Ergebnis, das die Marktfundamentalisten begrüßen -, sie lässt außerdem einige Themen wie die globale Klimaerwärmung völlig außer Acht, und das kann für die Reichen dieser Welt auch nicht gut sein.
  201. Die Globalisierung, die ich auf den Einfluss von Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien Anfang der 1980er-Jah- re zurückführe, ist ein marktfundamentalistisches Projekt gewesen. Die Erleichterung des internationalen Kapitalverkehrs hat einzelnen Ländern die Besteuerung
  202. beziehungsweise Regulierung des Kapitals erschwert. Da Kapital ein grundlegender Produktionsfaktor ist, müssen Regierungen den Erfordernissen des internationalen Kapitalverkehrs mehr Aufmerksamkeit schenken als ihren eigenen Bürgern.
  203. Die aktuelle Form der Globalisierung hat dazu geführt, dass die Weltordnung in Schieflage geraten ist. Die Entwicklung internationaler Institutionen hat mit dem Wachstum der globalen Finanzmärkte nicht Schritt gehalten. Private Kapitalbewegungen übersteigen die Möglichkeiten des IWFs und der Weltbank bei Weitem. Die Entwicklungsländer lechzen danach,
  204. Kapital anzulocken, die Ersparnisse dieser Welt wandern jedoch weiterhin in die Finanzierung des exzessiven Konsums der USA.Ich habe stets die Auswüchse der Globalisierung angeprangert, aber meine Aufmerksamkeit verlagerte sich, als die Befürworter der amerikanischen Vormachtstellung in der Bush Regierung die Oberhand gewannen. Das l Iberleben des Stärksten in der Wirtschaft ist eine Sa che, eine ganz andere Sache aber ist , wenn sich diese überzeugung in militärischen Handlungen ausdrückt. Das hat mich zu der Analogie der Blasenbildung veranlasst. Als Antwort auf den Terrorangriff vom 11. September hat die Bush-Regierung einen
  205. Weg eingeschlagen, der zunächst selbstverstärkend wirkte, aber schließlich selbstzerstörerisch wurde. Der Sinneswandel setzte zu spät ein, um die Wiederwahl von Präsident Bush zu verhindern, aber immerhin kam er überhaupt. Es waren erst der Krieg gegen den Terror und der Einmarsch in den Irak nötig, um unsere einstigen Alliierten gegen uns aufzubringen. Nun, da sich auch die amerikanische Bevölkerung gegen den Krieg auflehnt, hat die Bush-Regierung den Rückwärtsgang eingelegt.
  206. Meine Hauptsorge gilt hier der Verdeutlichung der gesamten Auswirkungen der Fehlinterpretationen,
  207. die unsere Politik seit dem 11. September bestimmt haben. Nicht nur haben Macht und Einfluss der USA massiv gelitten, auch die Weltordnung ist erschüttert. In einer Welt der souveränen Staaten führt das Fehlen einer Supermacht, welche die übergeordneten gemeinsamen Interessen der Menschheit verfolgt, zu Instabilität und Kon- llikten. Die Menschheit hat eine gewaltige Macht über die Natur erlangt. I )iese Macht kann sowohl für konstruktive als auch fiir destruktive Zwecke eingesetzt werden. Die Behauptung, dass unsere Zivilisation von einem bewaffneten Konflikt oder schon von der Vernachlässigung gemeinsamer ubergeordneter Interessen wie dem
  208. Kampf gegen die globale Klimaerwärmung ausgelöscht werden könnte, ist keine Übertreibung. Deswegen ist < ine Korrektur unserer Fehlinterpretationen dringend notwendig.
  209. Es reicht nicht aus, den Status quo vor dem 11. September wiederherzu- ,icllcn. Wir müssen Amerikas Rolle in der Welt grundlegend überdenken. erst nach dem 11 September traten die USA in den Zustand großen Ungleichgewichts ein. Allerdings machten sich die Folgen dieser Verirrung schon weitaus früher bemerkbar, nämlich als sich der Marktfundamentalismus als dominante Ideologie durchsetzte und die US-
  210. Führerschaft der Globälisierung ihre jetzige Ausprägung verlieh. Das geht auf die Präsi-dientschaft Ronald Reagan zurück. Die Weltordnung muss gründlich überholt werden. Es steht viel mehr auf dem Spiel als die Wiedergewinnung der privilegierten Stellung der USA. Ohne dramatisch klingen zu wollen: Ich glaube wirklich, dass der Bestand der Menschheit auf dem Spiel steht.
  211. Ohne Führung oder zumindest die Beteiligung der USA ist eine solche Überholung nicht möglich. Aus diesem Grund müssen wir gründlich über unsere Rolle in der Welt nachdenken. Es reicht nicht aus, uns aus dem Irak zurückzuziehen; wir müssen darüber
  212. hinaus dem Krieg gegen den Terror abschwören. Es genügt nicht, zu der Außenpolitik zurückzukehren, die wir vor dem 11. September verfolgt haben; wir müssen unsere einzigartige Verantwortung als Führer der freien Welt anerkennen und diese Verantwortung aktiv wahrnehmen. Eine offene Gesellschaft sollte in der Lage sein, aus ihren Fehlern zu lernen und effektivere Wege der Bekämpfung des Terrorismus zu finden.
  213. Ich plädiere nicht für eine radikal andere Weltordnung, sondern lediglich für eine Veränderung der Einstellung, und zwar von einer einseitigen Konzentration auf nationale Interessen zu einer Sorge um
  214. die gemeinsamen Interessen der Menschheit. Selbst diese Idee mag sich als Utopie entpuppen. Ich möchte noch einmal wiederholen, dass eine Wohlfühlgesellschaft nicht mit unangenehmen Fakten konfrontiert werden will. Unsere Politiker sind unfähig, den Krieg gegen den Terror in Frage zu stellen. Werden sie den Wählern gegenüber unsere einzigartige Verantwortung für die Welt erwähnen? Wie werden sie sich den Eigeninteressen ihrer jeweiligen Anhängerschaft entgegenstellen? Ich fürchte, dass die USA noch weitere Niederlagen einstecken müssen, bevor die Bevölkerung bereit ist, sich wieder den Prinzipien der offenen Gesellschaft
  215. zu widmen. Es kann sehr gut sein, dass die USA ihre Vormachtstellung dann bereits eingebüßt haben werden.Ich nehme die herrschende Weltordnung als Ausgangspunkt für meine Überlegungen, wie sie sich verbessern lässt. Eine umfassende Überprüfung sprengt den Rahmen dieses Buches. Ich werde mich daher auf einige wenige Themen konzentrieren, die ich als die Probleme ansehe, die am dringendsten einei lösung bedürlen Wie können wir die Demokratie in der Welt verbreiten und mit Diktatoren wie Saddam Hussein umgehen? Wie können wir mit der Verbreitung von Nuklearwaffen umgehen, und was können wir gegen die Klimaerwärmung tun? Wie können wir
  216. mit den knappen Energieressourcen umgehen? Wie können wir für eine gleichmäßige Entwicklung der Weltwirtschaft sorgen und ihre Auswüchse verhindern? Wie ich zuvor bereits erwähnt habe, spiegelt die Auswahl der Problemfelder bereits meine persönliche Meinung wider. Nun werde ich mich jedem einzelnen Problem widmen.
  217. Die Verbreitung der Demokratie
  218. I )er Bush-Ansatz
  219. In seiner Ansprache anlässlich der Amtseinführung nach seiner Wiederwahl machte Bush die Verbreitung der Demokratie in der Welt
  220. zum Kern- slück seines Regierungsprogramms. Wie der Leser weiß, verfüge ich über i in Netzwerk an Stiftungen, die sich der Förderung offener Gesellschaften widmen. Aus diesem Grund hätte ich dieses neue Interesse unseres Präsi- ilenten begrüßen sollen. Zunächst war ich versucht das zu tun, aber bald stellte ich fest, dass seine Anstrengungen wie so viele andere auf der Vor- I >iegclung falscher Tatsachen und einer Fehlinterpretation der Realität be-
  221. ruhten. So wie der Irakkrieg einen angemessenen Umgang mit Diktatoren w ie Saddam Hussein erschwert hat, wird sich Präsident Bushs Rhetorik als I
  222. Icrlich für eine echte Förderung demokratischer Bestrebungen erwei-sen. Die amerikanische Forderung nach einem Systemwechsel im Iran hat sich zum Beispiel als äußerst nachteilig für die Befürworter einer offenen Gsellschaft im Land selbst erwiesen.
  223. Demokratie lässt sich nicht mit Waffengewalt einführen. Deutschland und Japan sind zwar mich dem Zweiten Weltkrieg Demokratien geworden, .aber der Krieg an sich winde nicht geführt, um Demokratie einzuführen. Deutschland und Japan waren Aggressoren; nachdem sieden Krieg verloren hatten, waren sie jedoch zu einem Sinneswandel bereit. Die gross
  224. Ifi7
  225. herzige Behandlung seitens der Siegermächte, die beide Länder erfuhren, verstärkte ihre Bereitschaft, ein neues politisches System zu installieren. Das ist im Irak nicht der Fall.
  226. Der Ansatz meiner Stiftungen
  227. Die Einführung der Demokratie von außen ist eine dornige Angelegenheit, weil die herrschende Weltordnung auf der Souveränität der Staaten beruht, und Staaten haben das Recht, sich die Einmischung von außen zu verbitten. Meine Stiftungen zögern nicht, sich in innere Angelegenheiten der Länder einzumischen - und Demokratie ist eine
  228. innere Angelegenheit -, aber sie tun das als Bürger des betroffenen Landes. Das Netzwerk besteht aus lokalen Stiftungsniederlassungen, deren Vorstand und Mitarbeiter überwiegend einheimische Bürger sind, die für die Aktivitäten der Stiftung auch die Verantwortung tragen.
  229. Jede Stiftung hat ihren eigenen Weg eingeschlagen - manche erfolgreicher als andere -, aber es gibt einige gemeinsame Merkmale. Wir verfolgen eine zweigleisige Strategie, indem wir die Zivilgesellschaft unterstützen und der Regierung dabei helfen, demokratischer und effektiver zu werden. Die offene Gesellschaft wird oft mit der
  230. Zivilgesellschaft verwechselt, aber sie braucht auch eine funktionierende Regierung, mit der die Zivilgesellschaft interagieren kann. Wenn wir uns in der Entwicklung dieser Kompetenzen engagieren, geschieht das immer in Kooperation mit der Regierung, sodass eine Verletzung der Souveränität ausgeschlossen ist. Wo die Regierungen für unsere Initiativen empfänglich sind, kann die Stiftung mehr bewirken. Wo sie uns eher ablehnend gegenüberstehen, wird die Stiftung stärker gebraucht, und ihre Mitglieder haben dort üblicherweise einen ausgeprägteren Sinn für deren Zweck.
  231. Manchmal müssen beide Gleise getrennt
  232. voneinander verfolgt werden: Die lokale Stiftung konzentriert sich auf die Zivilgesellschaft, und ich als Repräsentant einer ausländischen Stiftung spreche mit der Regierung. Manchmal isi das zweite Gleis völlig blockiert. Wo die lokale Stiftung beide Gleise verfolgt, kann die Beziehung zu einer bestimmten Regierung zu einem Problem werden, nämlich wenn die nächste Regierung alles rückgängig machen will, was die Vorgängerregierung initiiert hat. Das ist in Ungarn und Bulgarien passiert. Die Stiftungen wurden als Verbündete einer bestimmten Parteikoalition gebrandmarkt und zogen den Hass der ()pposition auf sich.
  233. Schon sehr früh erkannte ich, dass einer der wichtigsten Beiträge darin bestand, die Regierungskapazitäten auf lokaler und zentraler Ebene aufzubauen. Die Zivilgesellschaft ist gut in Kritik und Überwachung, aber es muss etwas geben, das überwacht und zur Rechenschaft gezogen werden kann. Wir haben Mitarbeiter der Regierung geschult und Bürgern, die im Ausland studierten, Stipendien beziehungsweise sogenannte Fellowships .ingeboten, damit sie in ihr Land zurückkehrten und in der Regierung mitarbeiteten. Außerdem haben wir der Regierung ausländische Exper- len zur Verfügung gestellt. Diese Strategie füllte eine Lücke. Die Länder, in denen wir aktiv
  234. waren, quollen vor ausländischen Experten über, die von verschiedenen Nationen und internationalen Institutionen entsandt worden waren, aber sie fanden keinen geeigneten Gegenpart in der loka- en Regierung, mit dem sie hätten arbeiten können. Wir boten den Regierungen ausländische Experten an, die im Auftrag der Regierung tätig wurden und nicht im Auftrag der Entsender. Auf diese Weise konnten sie den Repräsentanten internationaler Institutionen auf gleicher Augen- höhe begegnen und Dinge vorantreiben. Länder wie die Ukraine haben \ i in diesem Ansatz sehr profitiert. Das einzige Problem mit dem Einsatz ausländischer Experten besteht
  235. darin, dass sie kommen und gehen. Um iihr Expertenwissen dauerhaft nutzen zu können, gründeten wir politische Institute mit einheimischen Mitarbeitern, die als Assistenten der Experten arbeiteten. Auf diese Weise hofften wir, einen Wissenstransfer erzeugen ii können, sodass das Wissen im Land blieb, wenn die ausländischen Experten wiedergingen.
  236. Während der chaotischen Anfangszeit handelten wir auf eigene Faust, und in der Regel war ich dabei persönlich involviert Das war in normalen Z.eiten allerdings nicht der richtige Weg, sodass wir Partnerschaften
  237. Ifi'j
  238. gründeten, unter anderem mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), und unsere Unterstützung institutionalisierten. Die UNDP verfolgte in verschiedenen Ländern ähnliche Projekte auch in Eigenregie. Ihre vielleicht erfolgreichste Initiative war die in Nigeria, wo Präsident Olusegun Obasanjo eine Vertreterin der Weltbank, Ngozi Okonjo- Iweala, zurückholen und zur Finanzministerin machen wollte. Für eine Übergangsphase zahlte ihr die UNDP ein Gehalt in Höhe ihrer Bezüge bei der Weltbank (ihre Kinder gehen auf eine Privatschule in den USA, für die Okonjo-Iweala bezahlen muss).
  239. Bestimmte Interessengruppen, deren Agenda durch die anstehenden Reformen bedroht waren, nahmen diese Vereinbarung zum Anlass für heftige Kritik, dabei hätte man Ngozi mit Gold aufwiegen können.
  240. In Zusammenarbeit mit der UNDP habe ich in verschiedenen Ländern Capacity- Building Funds (relativ neues Strategiekonzept, das von Australien und Kanada entwickelt wurde. Organisations und Persolnalentwicklung, Ressourcenzuweisung, Aufbau von Führungspotzenzial und partnerschaftliche Zusammenarbeit) gegründet, darunter auch in Georgien, und zwar nach der Rosenrevolution von
  241. 2003, mit der das Regime von Eduard Schewardnadse beendet wurde. Der Fonds zahlte den Regierungsministern 1200 Dollar und den Polizisten 100 Dollar Monatsgehalt. Das ermöglichte Präsident Michail Saakashwili, qualifizierte Leute in die Regierung zu holen und die Straßensperren abzuschaffen, die von den Polizisten regelmäßig errichtet wurden, um Autofahrer abzukassieren. Beides vermittelte der Bevölkerung den Eindruck, dass sich die Dinge zum Besseren wendeten. Auch wenn das Ganze der Verwaltung der UNDP unterstand, wurde ich Opfer einer bösartigen Propagandakampagne, die von Russland initiiert wurde. Man
  242. bezichtigte mich, die georgische Regierung auf meiner Gehaltsliste zu führen. Die UNDP und ich sind der Überzeugung, dass derartige Fonds sehr effektiv sein können, aber sie müssen in Institutionen mit fest etablierten Regeln und Verfahren verwandelt werden, um eine Kritik, wie sie in der Vergangenheit stattgefunden hat, zu vermeiden. Liberia ist der erste Kandidat für einen solchen Fonds.
  243.  
  244. Die Warschauer Erklärung von 2000
  245. Private Initiativen wie meine sind eine Sache, Regierungsinterventionen in innere Angelegenheiten anderer Länder
  246. eine ganz andere. Die gegenwärtige Weltordnung ist auf den zwei Prinzipien Souveränität und Nichteinmischung aufgebaut, obwohl diese Prinzipien oft nur bei Verstößen beachtet werden. Wir müssen die Dinge einmal klarstellen.
  247. Das fest zu etablierende Prinzip lautet, dass es im kollektiven Interesse aller Demokratien ist, die Entwicklung der Demokratie in allen anderen Ländern zu fördern. Dieses Prinzip wurde sogar in der Warschauer Erklärung von 2000 festgehalten und von 107 Staaten (weit mehr als die Zahl der tatsächlichen Demokratien auf der Welt) unterzeichnet, aber wie die meisten Deklarationen blieb auch sie eine leere
  248. Geste.
  249. das erwähnte Prinzip lässt sich in verschiedener Hinsicht begründen.
  250. erstens können die inneren Angelegenheiten eines Landes in unserer Welt der zunehmenden Interdependenzen die grundlegenden Interessen ande- rc r Länder berühren. Al-Qaida und die Taliban in Afghanistan stellten i ine Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA dar.
  251. Zwetens sind Freiheit und Demokratie universelle menschliche Bedürfnisse
  252. Drittens sind sie überdies grundlegende Elemente der wirtschaftlichen
  253. Entwicklung, wie Amartya Sen in seinem Buch Developmental Freedom dargelegt hat.16
  254. Viertens benötigt die Demokratie oft Unterstützung von außen, auch wenn sie eigentlich eine innere Angelegenheit ist. Einige Regierungen haben nicht die Kapazitäten, andere wollen unbedingt an der Macht festzuhalten Die Menschen sind oft nicht in der Lage, sich vor Repression zu schützen; eine Intervention von außen ist möglicherweise ihreeinzige Rettung. Welche Regeln sollen aber für Interventionen von außen gelten?
  255. Die Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung
  256. Wir müssen zwischen konstruktiven Interventionen und Strafinterventionen unterscheiden. Konstruktive Interventionen, für die meine Stiftungen ein Beispiel sind, stehen mit dem Prinzip der nationalen Souveränität nicht im Konflikt, weil die betroffenen Regierungen sie freiwillig akzeptieren. Die Probleme beginnen dann, wenn eine Regierung eine Unterstützung von außen, über die sie keine Kontrolle hat, ablehnt.
  257. Es ist eine Doktrin entstanden, um Strafinterventionen zu rechtfertigen. Sie wird als ,,die Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung" bezeichnet. Sie besagt, dass die Souveränität in den Händen des
  258. Volkes liegt und das Volk die Souveränität der Regierung lediglich anvertraut hat. Wenn die Regierung dieses Vertrauen missbraucht und die Menschenrechte der Bevölkerung verletzt, hat die internationale Gemeinschaft die Pflicht, die Menschen zu schützen.
  259. Diese Doktrin hat begonnen, in den Vereinten Nationen eine gewisse Akzeptanz zu gewinnen - wenngleich sie noch nicht vollständig anerkannt ist -, aber sie wirft zwei Probleme auf: Erstens stellt sich die Frage, wer die internationale Gemeinschaft ist? Und zweitens: Die Doktrin kann nur auf Fälle schwerster Menschenrechtsverletzungen
  260. angewandt werden. Was kann in weniger schweren und somit hoffnungsvolleren Fällen getan werden?
  261. Da die Doktrin ihren Ursprung in der UNO hat, liegt es auf der Hand, dass diese die internationale Gemeinschaft repräsentiert. Unglücklicherweise können sich die in dieser Institution vertretenen Nationen selten einigen. Deshalb ist es durchaus vorstellbar, dass eine Koalition außerhalb der UNO im Namen der internationalen Gemeinschaft aktiv wird. Das war im Kosovo der Fall. die NATO die Führerschaft übernahm. Das funktionierte, weil sie die stillst hweigenilc Unterstülzung Kusslands genoss, das sich andernfalls
  262. gezwungen gesehen hätte, im Sicherheitsrat sein Veto einzulegen. Russland spielte eine Schlüsselrolle bei der Überredung Slobodan Milosevics, sich kampflos zu ergeben.
  263. Ich habe das Einschreiten der NATO zuerst in Bosnien und dann im Kosovo unterstützt, eigendich habe ich sogar aktiv dazu aufgerufen, aber ich war strikt gegen den Einmarsch im Irak. Und zwar, weil die USA einseitig Lind parteiisch agierten und dadurch für zukünftige Interventionen die Legitimation durch die internationale Gemeinschaft verspielt haben. Schon der Kosovo war ein Grenzfall, aber die Invasion in den Irak war eindeutig eine Verletzung
  264. internationalen Rechts und diskreditierte das gerade aufkeimende Prinzip der Verantwortung, andere zu schützen.
  265. Iis ist eine Ironie, aber die Invasion in den Irak hat den zukünftigen Umgang mit Diktatoren wie Saddam Hussein erschwert. Saddam war ein grausamer Tyrann, und die meisten Menschen würden zustimmen, dass es gut ist, dass er gestürzt wurde. Aber es gibt noch viele andere Tyrannen in der Welt: Kim Jong-il in Nordkorea, Tan Shwe in Myanmar, Robert Mugabe in Zimbabwe, Saparmurat Niyazov in Turkmenistan, Islam Kari- inov in Usbekistan und Bashar Assad in Syrien, um nur die schlimmsten Verbrecher gegen die
  266. Menschenrechte zu nennen. Was wir mit solchen Diktatoren tun sollen, ist eines der größten ungelösten Probleme der herr-schenden Weltordnung, und die Invasion in den Irak hat uns noch weiter von einer Lösung entfernt.
  267.  
  268. Die internationale Gemeinschaft ist seitdem in Aufruhr. Was immer die I ISA auch vorschlagen, wird mit dem größten Misstrauen betrachtet und stösst bei anderen Ländern fast reflexartig auf Ablehnung. Gleichzeitig werden die I ISA in der UNO von John Bolton repräsentiert, einem Protégé von Dick Cheney , der die UNO zu einem US- gesteuerten Instrument machen will Als
  269. Ergebnis ist die UNO praktisch zum Stillstand gekommen. Es hat keinerlei Fortschritt bei den Millennium Entwicklungszielen gegeben, der vorschlag einen Rat der Menschenrechte einzurichten, ist nur mit den grössten Schwierigkeiten gegen die einsame Opposition der USA verabschiedet worden, und zahlreiche administrative Reformen wurden wiederum abgelehnt, weil die Vorschläge von den USA kamen. Amerika muss einen grundlegenden Wandel vollziehen, bevor die Verantwortung, andere zu schützen, wieder richtig erfüllt werden kann.
  270. Konstruktives Engagement
  271. Selbst wenn es den USA gelingt, ihre Stellung als Führer der internationalen Gemeinschaft wiederherzustellen, würde das zweite Problem bestehen bleiben. Die Verantwortung zum Schutz anderer ist nur auf extreme Fälle anwendbar. Wie kann bei weniger schweren Fällen Druck ausgeübt werden?
  272. Ein einfaches Prinzip bietet sich von allein: Wir sollten mehr auf der konstruktiven Seite tun. Ein konstruktives Engagement verletzt keine Souveränitätsprinzipien und - noch wichtiger -, auch die Verweigerung von Unterstützung verletzt sie nicht. Je mehr wir auf der konstruktiven Seite unternehmen, desto zahlreichere
  273. Optionen bieten sich uns, um Sanktionen zu verhängen. Zudem benötigt die demokratische Entwicklung dringend eine Unterstützung von außen. Ich habe diese These immer wieder vorgetragen, seit ich in die Förderung offener Gesellschaften involviert bin, aber stets vergeblich. Ich habe meine Stiftungen in Ländern wie der Ukraine gegründet, in der Hoffnung, dass andere mit ähnlichen Initiativen folgen würden, aber wenn ich mich umschaute, folgte mir nie jemand. Ich schreibe das der Vorherrschaft des Marktfundamentalismus zu. Unterstützung zu bieten, geht gegen den Kern dieser Ideologie, die Durchsetzung von Marktdisziplin hingegen steht mit ihr im Einklang.
  274. Ein grundlegender Sinneswandel der USA wird mehr beinhalten als die Akzeptanz der Tatsache, dass eine Weltmacht eine einzigartige Verantwortung hat. Es wird ein Überdenken der Rolle der Märkte erfordern und der Rolle der US- Regierung im eigenen Land. Die USA können kein konstruktives Engagement im Ausland anführen, wenn sie es in ihrem eigenen Land nicht tun.Ein fundamentaler Irrtum
  275. Das wirft die Frage auf: Welche Rolle sollten Regierungen in der Wirtschaft spielen? Marktfundamentalisten wollen die Regierungen völlig aus der Wirtschaft heraushalten, und sie hassen
  276. internationale Institutionen noch mehr als die Institutionen im eigenen Land. Das Problem ist, dass die Marktfundamentalisten Recht haben, wenn sie sich auf den Standpunkt stellen, dass Regierungen zur Lenkung der Wirtschaft ungeeignet sind. Und das gilt für die internationale Ebene noch mehr als für die nationale. Hilfe aus dem Ausland ist bekanntermaßen ineffektiv. Ganz allgemein sind es die Defizite einer staatlich gelenkten Wirtschaft, die dem Marktfundamentalismus einen solchen Auftrieb gegeben haben. Soll das heißen, dass ich für eine Rückkehr zu staatlichen Interventionen auf internationaler Ebene plädiere?
  277. Ich glaube, es ist ein Fehler, dies als Entweder-oder-Frage zu stellen. Es gibt Bedarf an gewissen staatlichen Interventionen, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, auch wenn Regierungen zur Steuerung der Wirtschaft ungeeignet sind. Die Verzerrungen und Ineffizienzen, die staatliche Regulierungen verursacht haben, können durch Anreize und Sanktionen, die über den Marktmechanismus fünktionieren, auf ein Minimum reduziert werden. Lassen wir die Märkte tun, was sie am besten können, nämlich Ressourcen zuzuweisen. Dabei sollte allerdings sichergestellt werden, dass die kollektiven Bedürfnisse, die von Märkten
  278. normalerweise als markt fremder Faktor ignoriert würden, im Prozess der Ressourcenallokation angemessen berücksichtigt werden.
  279. staalliche Regulierungen und Märkte haben beide ihre Stärken und 'Schwächen Die Tatsache, dass das eine unvollkommen ist, heißt nicht, dass das andere perfekt ist. Das ist der Irrtum aller Fundamentalismen: Ihre Verfechter lechzen nach Sicherheit, Gewissheit und perfekten Lösungen ii Wenn eine Idee fehlschlägt, erwarten sie, dass ihr Gegenteil perfekt ist Ii h bin sowohl gegen den Marktfundamentalsmus als auch gegen Staatseigentum an den produktiven Ressourcen
  280. beziehungsweise staatliche Kontrolle darüber. Ich glaube jedoch dass das Pendel inzwischen zu weit in Richtung Marktfundamentalismus ausschlägt. Wie ich zuvor erwähnt habe, ist die Globalisierung ein marktfundamentalistisches Projekt. Der Kommunismus und selbst mildere Formen der Regierungskontrolle sind in Misskredit geraten. Aus diesem Grund schenke ich ihren Defiziten weniger Beachtung.
  281. Die Schwächen der Auslandshilfe
  282. Die Schwächen des konstruktiven Engagements von Regierungen können am besten eingeschätzt werden, wenn man sie mit meinen Stiftungen
  283. vergleicht. Zwei Merkmale stechen dabei hervor. Regierungen neigen dazu, ihre nationalen Interessen beziehungsweise die Interessen ihrer Bevölkerung höher zu bewerten als die Interessen der Menschen, denen sie helfen sollen. Das lässt sich an der Art und Weise ablesen, wie Auslandshilfe geleistet wird: Die Interessen der Hilfeleistenden stehen über den Interessen der Hilfsempfänger. Regierungen sind außerdem eher bereit, mit anderen Regierungen zu verhandeln als mit Nichtregierungsorganisationen (NGO). Die Weltbank und der IWF sind laut ihrer Statuten dazu verpflichtet, Regierungsgarantien einzuholen. Als Ergebnis tendieren sie in ihrer
  284. Unterstützung dazu, die Rolle der Regierungen in der Wirtschaft aufzuwerten - mit dem Ergebnis, dass die Hilfe vielleicht nie bei den Menschen ankommt, insbesondere, wenn es sich um repressive, korrupte oder unfähige Regime handelt.Das soll nicht heißen, dass meine Stiftungen perfekt sind. Sie tasten sich durch Versuch und Irrtum vor, und die Irrtümer sind zahlreich. Ich bin bereit, Fehler zu akzeptieren und Projekte aufzugeben, wenn sie sich nicht bewähren. Das verschafft uns einen Vorteil gegenüber anderen Einrichtungen. Bürokratien fällt es schwer, Fehler zuzugeben. Dadurch werden sie risikoscheu. Wir können Risiken tolerieren, daher ernten wir die
  285. größeren Erfolge. Ein anderer wichtiger Faktor zu unseren Gunsten ist, dass die Menschen, die sich in den Stiftungen engagieren, ehrlich am Wohlergehen der Hilfsempfänger interessiert sind. Diese Higenschalt könnte von offiziellen Organisationen kopiert werden. Wenn sich eine Organisation einer bestimmten Mission widmet, lassen sich die Menschen, die daran mitwirken, im Allgemeinen von der Mission leiten. Das gilt für den IWF und auch für die UNO-nahe Organisation Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria - kurz ,,Global Fund". Der Schlüssel liegt in einer überzeugenden Definition der Mssion und darin, dass man der Institution die nötige Unabhängigkeit und
  286. die nötigen Ressourcen verschafft.
  287. Dem Global Fund bin ich besonders zugetan. Er hat eine klar definierte und wertvolle Mission und nutzt viele der Methoden, mit denen meine Stiftungen arbeiten. Der Global Fund arbeitet mit einer kleinen Mannschaft, er ruft Nichtregierungsorganisation und Regierungsquellen gleichermaßen zu Vorschlägen auf, und die Entlohnung richtet sich nach den Verdiensten und nicht nach Quoten. Er hat den Mut, Projekte zu suspendieren, wenn die Bedingungen nicht eingehalten werden, und ist bereit, seine eigenen Aktivitäten in Abständen immer wieder zu analysieren und zu verbessern. leider
  288. verfügt er nicht über adäquate Geldmittel. Anfangs überwand die BushRegierung ihre Aversionen gegen internationale Institutionen und unterstützte den Global Fund. Das ging auf den bemerkenswerten Erfolg des Rocksängers Bono zurück, der religiöse Gemeinschaften mobilisieren konnte, sich am Kampf gegen AIDS zu beteiligen. Aber dann stellte die Regierung ihr eigenes Programm auf - PEPFAR (President's Emergency Ilm for HIV/AIDS Relief). Die Gesamtsumme, die für den Kampf gegen AIDS ausgegeben wird, ist gestiegen, aber die Bush-Regierung leistet keinen angemessenen Beitrag mehr zum Global Fund.
  289. die Steigerung der Effektivität konstruktiver Interventionen ist ein komplizieres Thema. Ich will mich hier nicht in Details verstricken, vor allem, \weil ich das Thema schon an anderer Stelle behandelt habe. Was ich hier zum Ausdruck bringen will, ist, dass wir mehr und frühzeitigere konstruktive Interventionen brauchen. Die gegenwärtige Weltordnung ist mehr auf Nichtinterventionen und Strafaktionen ausgelegt.
  290. Ein Plädoyer für die Förderung offener Gesellschaften
  291. Zu dem Zeitpunkt, da Strafmaßnahmen erwogen werden, ist es meist schon zu spät. Wenn ein Regime schon eine ganze
  292. Weile den Weg der Unterdrückunggegangen ist, bleiben der internationalen Gemeinschaft wenig Druckmittel. Denken Sie zum Beispiel an Robert Mugabe in Zimbabwe oder Islam Karimov in Usbekistan. Sie begehen fortwährend Grausamkeiten, und die internationale Gemeinschaft ist dagegen absolut machtlos. Weniger repressive Regime können durch Revolutionen gestürzt werden. Das ist die Lektion der sogenannten Orangen Revolutionen in Georgien, der Ukraine und in Kirgisistan: Wenn ein Regime der Unterdrückung an der Macht bleiben will, ist es am besten gnadenlos. Damit sich diese Lektion nicht in der Welt verbreitet, müsste eine konstruktive
  293. Intervention früher beginnen und ihre Wirkung auf wesentlich breiterer Ebene spüren lassen. Da es in den Anfangsphasen unmöglich ist vorherzusagen, welche Situation zu einem Regime führt, das nicht mehr aufgehalten werden kann, ist das beste Rezept die Förderung einer demokratischen Entwicklung wo immer möglich.
  294. Die Politik der Bush-Regierung ist voller Widersprüche. Präsident Bush argumentierte in der Fernsehdebatte anlässlich der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 gegen den ,Wiederaufbau von Ländern", und Wiederaufbau war auch das Letzte, was er im Sinn hatte, als
  295. er den Befehl zur Besetzung Afghanistans gab. Wir hatten die Chance, in Afghanistan erfolgreich eine demokratische Entwicklung zu demonstrieren, aber wir haben die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen. Und dennoch schwingen wir uns auf, für eine Demokratisierung in anderen Ländern zu plädieren.
  296. In einem Artikel, der in der Washington Post veröffentlicht wurde, versuchte ich zu erklären, was man in Afghanistan hätte tun können. Wir hätten unsere Hilfe direkt an die Kommunen verteilen und den Lehrern, Richtern und anderen Vertretern offizieller Behörden im Namen der
  297. Zentralregierung Gehälter bezahlen sollen. Die UNO war in Afghanistan mit mehreren hundert Mitarbeitern reichlich vertreten, die sich mit den lokalen Verhältnissen auskannten. Wenn wir unter der Ägide der UNO Truppen entsandt hätten, um die Geldverteilung zu beaufsichtigen, wären diese Truppen willkommen gewesen, und die Autorität der Zentralregierung wäre gefestigt worden. Aber dieses Denken war der Bush-Regierung fremd. Tatsächlich bildeten wir Allianzen mit Warlords und halfen deren Autorität zu stärken. Auf diese Weise konsolidierten wir ein wirtschaftliches und politisches System, das auf illegalem Drogenanbau basiert. Ich leitete praktische Maßnahmen ein,
  298. um meine Ansichten zu untermauern. Meine Stiftung stellte einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Ashraf (Ihani, einem afghanischen Vertreter der Weltbank, und Barney Rubin, einem US-amerikanischen Afghanistan-Experten, sogenanntes Seed Money zur Verfügung, um Pläne für einen politischen Übergang zu entwickeln. Heide spielten eine wichtige Rolle in der Vorbereitung der Konferenz von Bonn und der Loya Jirga, welche die rechtlichen Fundamente für einen demokratischen Staat legten. Ashraf Ghani wurde anschließend Finanz- minister, und wir richteten einen kapazitätsbildenden Fonds unter seiner Leitung ein, um andere Exilafghanen
  299. dazu zu bewegen, nach Afghanistan zurückzukehren und in der Regierung mitzuarbeiten. Als Ashraf Ghani nach den Wahlen sein Amt verlor, beendeten wir das Programm, aber wir unterstützen die Zivilgesellschaft nach wie vor über die Stiftung Foun-dation for Culture and Civil Society. Natürlich haben diese mageren Bemühungen die dann folgenden Entwicklungen nicht aufhalten können. Gihani ist inzwischen Rektor der Universität von Kabul.
  300. In l'i.isident Bushs Kopfherrscht Verwirrung über die Bedeutung von Denn okralie. Wenn er sagt, dass sich die Demokratie durchsetzen wird, meint er eigentlich, dass sich die USA
  301. durchsetzen werden. Eine demokratische Regierung braucht jedoch den Rückhalt der Wähler und das ist nicht unbedingt dasselbe wie der Rückhalt der USA. Der Widerspruch wurde in den Wahlen, die vor kurzem in ägypten stattgefunden habne, offensichtlich. Und noch offensichtlicher wurde er in Palästina . Nach dem Sieg der Hamas wird die Bushregierung wahrscheinlich ihr Programm der
  302.  
  303. Demokratisierung der gesamten Region des Nahen Ostens überprüfen und aufgeben. Das wäre ein Jammer, weil mehrere Länder dieser Region in einem Dilemma gefangen sind, aus dem sie sich
  304. ohne eine Demokratisierung nicht befreien können.
  305. Der Sieg der Hamas wird als Niederlage für die Politik zur Förderung der Demokratie angesehen. Ich habe dazu eine andere Meinung. Freie Wahlen helfen dabei, die Dinge zu klären, selbst wenn sie den falschen Leuten an die Macht helfen.
  306. Ich bin nicht sehr eng in die israelischen Angelegenheiten involviert gewesen, aber einmal habe ich Israel auf Einladung des Premierministers Jitzhak Rabin besucht, als die Friedensgespräche gerade ihren Höhepunkt erreicht hatten. Während des
  307. Dinners sprach Rabin mit Jassir Arafat über Mobiltelefon, und die Stimmung war euphorisch. Ich fragte Rabin, ob es irgendeine Chance gäbe, die Hamas in das Abkommen einzubeziehen. Ich erzählte ihm von meiner Erfahrung in Polen, wo ich anlässlich der Gründung einer lokalen Stiftung ein privates Abendessen mit Wojciech Jaruzelski hatte, und zwar vor der Einigung mit Solidarnosc. Jaruzelski sagte mir, er würde mit jedem sprechen außer mit Solidarnosc, weil dessen Führer Verräter seien, die Handelssanktionen gefordert hatten, die wiederum dazu führen würden, dass Kinder hungern müssten. Ich antwortete ihm, er irre sich: Die Führer von Solidarnosc seien
  308. Patrioten, die bereit wären, ihr höchstes Gut - die Schwerindustrie - zur Rettung Polens zu opfern (die Schwerindustrie würde in einer Marktwirtschaft am meisten leiden). Es kann keine Einigung geben, außer mit der Organisation, die die Bevölkerung repräsentiert. Ich konnte sehen, dass mein Argument aufJaruzelski Eindruck machte. Mit diesem Erfahrungshintergrund komme ich nicht umhin zu glauben, dass ein Abkommen mit der Hamas dauerhafter wäre als eines mit einer palästinensischen Autorität, die nicht das Vertrauen der Bevölkerung genießt. Das Abkommen mit Arafat war jedenfalls nicht von langer Dauer.
  309. Ich bin mir darüber im Klaren, dass meine Behauptung rein theoretisch ist. Chancen auf ein Abkommen mit der Hamms sind gleich null dieHamas ist nicht Solidarnosc, sondern eine militante islamische Organisation, und Israel ist nicht gewillt, Risiken einzugehen. Dennoch glaube ich, dass man mit geschickter Diplomatie einen Keil treiben könnte zwischen die einheimischen Hamas-Führer als Wahlsieger - welche die Verpflichtung haben, die Lebensbedingungen des palästinensischen Volkes zu verbessern - und die expatriierte Führung mit Basis in Syrien und Loyalität gegenüber dem Iran.
  310. Oder denken Sie an Pakistan - ein weiterer komplizierter Fall. Präsident Pervez Musharraf ist ein äußerst wankelmütiger und unzuverlässiger Verbündeter. Die Führungsspitze der Al- Qaida hält sich in Pakistan versteckt, und auch das Wiedererstarken der Taliban wird von bestimmten Kräften in Pakistan unterstützt. Präsident Musharraf sagt, wir hätten nur die Wahl zwischen ihm und den islamischen Fundamentalisten. Nachdem Pakistan über Nuklearwaffen verfügt, bleibt eigentlich keine Wahl. Aber Musharraf bat sich mit den religiösen Parteien verbündet. Das macht es ihm schwer, I )ruck auf sie auszuüben. Die Bemühungen, die Koranschulen -
  311. sogenannte Madrasas - zu reformieren, sind bisher sehr mager; der Staat gibt weniger als zwei Prozent seines Haushalts für Bildung und Erziehung aus. doch selbst wenn dies mehr wäre, würden die Religionsparteien in freien Waiden nur wenige Stimmen erhalten. Die beiden moderaten Parteien, die sich gegenseitig an der Macht abwechselten, als das Militär Wahlen zuließ, sind tief in der Gesellschaft verwurzelt, trotz aller Bemühungen der Militärdiktatur, sie aufzulösen. Musharraf wirft ihnen vor, korrupt zu sein, aber das Militär ist keineswegs besser. Musharraf selbst ist weit weniger beliebt als seine Anhänger uns glauben machen wollen. Aus diesem Grund weigert er sich auch, sein
  312. Versprechen einzulösen, sich freien Wahlen zu · teilen und verlässt sich nach wie vor auf die religiösen Parteien. Dies ist in l all, bei dem freie Wahlen ein offensichtlich komplexes Problem lösen könnten, Das wahre Problem besteht jedoch darin, das Militär dazu zu überredeni den, freie Wahlen abzuhalten.
  313. Ägypten weist gewisse Ähnlichkeiten mit Pakistan auf, wobei ein großer Unterschied darin bestellt, dass die extremistisch« islamische Gruppe Muslimische Bruderschaftt bei freien Wahlen die Mehrheit erhalten
  314. INIwürde. Und dann ist da noch das Rätsel Saudi-Arabien: Wer weiß, was
  315. man dort vorfände, wenn sich dieses Land öffnen würde? Tatsache ist, dass der gesamte Nahe Osten von einer langen Geschichte westlicher Interventionen ins Chaos gestürzt wurde, die alle auf die Kontrolle über die Bodenschätze - insbesondere Öl - abzielten, und nicht auf den Aufbau demokratischer Strukturen. Das ist nur einer der Gründe, warum man dort so wenige Demokratien vorfindet.
  316. Die Situation lässt sich natürlich nicht über Nacht verändern. Die Schaffung offener Gesellschaften ist ein langer und mühsamer Prozess, und der beginnt nicht notwendigerweise mit freien Wahlen. Solange die Bevölkerung ungebildet ist
  317. und wertvolle Bodenschätze im Zentrum des Interesses stehen, können freie Wahlen sogar zu Instabilität führen. Länder mit großen Bodenschätzen und freien Wahlen, aber ohne einen Rechtsstaat, weisen geringere Wachstumsraten auf als Länder mit autokratischen Regimes.19 Die Bush- Regierung hat aus den falschen Gründen die falsche Lösung gewählt. In dem Maße, wie sich die negativen Auswirkungen bemerkbar machten, ist damit zu rechnen, dass die Regierung ihre Politik still und heimlich aufgibt. Das wäre äußerst bedauerlich: Die Schaffung offener Gesellschaften ist nach wie vor der einzige Erfolg versprechende Weg.Selbst wenn das
  318. Ziel der Förderung demokratischer Strukturen die Bush-Regierung überleben sollte, wird die Politik dieser Regierung langfristigen Schaden angerichtet haben. Der Krieg gegen den Terror und die Invasion in den Irak haben Amerikas moralische Überlegenheit unterminiert. Zudem wurden dadurch die schweren Defizite der USA als Vorbild offenbar. Die übrige Welt hält das Plädoyer der Bush- Regierung für Demokratie und Menschenrechte als fadenscheinige Ausrede für US-amerikanischen Imperialismus und Doppelbödigkeit. Das wird es den USA in Zukunft sehr schwer machen, Freiheit und Demokratie zu predigen. Der Wunsch nach Freiheit
  319. und Demokratie wird anhalten, wobei die Menschen diesen Kampf trotz der Rhetorik von Präsident Bush weiterkämpfen werden.
  320. Die Verbreitung von Nuklearwaffen
  321. Ich möchte noch zwei weitere ungelöste Probleme der gegenwärtigen Weltordnung erwähnen: die Verbreitung von Nuklearwaffen und die globale Klimaerwärmung. Während des Kalten Kriegs waren die klügsten Köpfe auf beiden Seiten damit beschäftigt darüber nachzudenken, wie sich sicherstellen ließe, dass Nuklearwaffen nicht eingesetzt würden. Die Strategen erkannten schließlich, dass die Existenz großer Arsenale .in Nuklearwaffen einen
  322. Atomkrieg unmöglich machten, weil er garantiert in einer gegenseitigen Auslöschung resultieren würde. Die anschließenden internationalen Abkommen beschränkten Nukleartests und versuchten, einen weltweiten Verzicht auf die Verbreitung von Atomwaffen zu erreichen. Und trotzdem standen wir einige Male kurz vor einem Atomkrieg.I )as Problem, das seit dem Ende des Kalten Kriegs entstanden ist, ist viel komplizierter, und es ist absolut keine Lösung in Sicht. Zwar gibt es Verträge und Abkommen, um zu verhindern, dass weitere Länder in den Besitz von Atomwaffen gelangen, aber es gibt für solche Länder erhebli- i he Anreize zur Beschaffung von
  323. Atomwaffen. Inzwischen ist ein Zwei- klasscnsystem entstanden, das die Welt in Besitzer und Nichtbesitzer von Nuklearwaffen unterteilt. Der Atomwaffensperrvertrag erlaubt nur den liiul Staaten, die vor dem I.Januar 1967 Atomtests durchgeführt haben, den Besitz von Nuklearwaffen. Allen anderen Staaten ist die Entwicklung von Nuklearwaffen verboten, aber sie haben das ,,unveräußerliche Recht" zur friedlichen Nutzung von Kerntechnologie. In der Praxis haben die drei Staaten, die das Abkommen nicht unterzeichnet haben (Indien, Pakistan und Israel), es geschafft, dass ihr Status als Atomstaat akzeptiert wurde. Indien und Pakistan waren zwar für eine Weile
  324. geächtet, aber die Welt hat das fait accompli schliesslich akzeptiert. Der gleiche Prozess könnte sich nun bei denjenigen Staaten wiederholen, die aus dem Atomwaffensperrvertrag ausgetreten sind - wie Nordkorea. Und auch der Iran könnte versucht sein, auszutreten.
  325. Die Bush-Doktrin selbst, die das amerikanische Recht auf einen militärischen Erstschlag verteidigt, hat noch einmal deutiich gemacht, welche Vorteile es hat, eine Atommacht zu sein. Indem die USA in das einzige Land der sogenannten Achse des Bösen einmarschierten, das keine Nuklearwaffen besitzt, hat Bush gezeigt,
  326. dass der Besitz von Nuklearwaffen ein Land offenbar von der Bush-Doktrin verschont.
  327. Zwar gibt es eine effiziente und bestens organisierte Internationale Atomenergiebehörde, aber deren Aufgabe ist durch die Verbreitung kerntechnologischen Know-hows keineswegs leichter geworden. Der leichte Zugang zu Nukleartechnologie, der von einem Netzwerk von Leuten wie dem pakistanischen Nuklearwissenschafder A. Q. Khan (leiter des pakist. Atomwaffenprogramm, hatte ein Verbreitungsnetz aufgebaut, das u.a. mit Nordkorea, Iran und Lybien
  328. zusammenarbeitete) auf breiter Front ermöglicht wurde, macht es Staaten leicht, die internationalen Bestimmungen zu umgehen. Die mangelnde Entschlossenheit auf internationaler Ebene, Aktivitäten zur Verbreitung von Atomwaffen entschieden entgegenzutreten, trägt ebenfalls zur Schwächung des Atomwaffensperrvertrages bei. Unter diesen Umständen sind die Anreize stärker als die Hindernisse. Je mehr Länder über Atomwaffen verfügen, desto stärker wächst der Druck auf andere Länder, es ihnen gleich zu tun. Regionale Spannungen und atomare Aufrüstung in Süd- und Ostasien machen Atomwaffen für Nachbarländer
  329. interessant. Die Bestrebungen der beiden größten Atommächte der Welt, ihr nukleares Waffenarsenal zu modernisieren, erhöhen zudem die wahrgenommene Bedeutung von Nuklearwaffen für die nationale Sicherheit. Die Verfuhrung mag noch nicht groß genug sein, als dass die Länder derzeit den Atomvertrag brechen würden, aber sie haben jeden Grund, sich in die Startlöcher zu begeben. Und genau das tun einige Länder gerade. Neben Nordkorea und Iran zählen Argentinien, Brasilienund Japan zu den Staaten, von denen man annimmt, dass sie jederzeit über die Kapazitäten verfügen, ihre friedlich genutzte Atomtechnologie dazu zu nutzen,
  330. Atomwaffen zu produzieren. Man schätzt, dass abgesehen von den neun Ländern, die bereits Atomwaffen hergestellt haben, bis zu 40 weitere Länder dazu in der Lage wären, wenn sie sich dazu entschließen würden, die nötigen Ressourcen dafür bereitzustellen. Allein das immer brüchiger werdende Tabu des Besitzes von Nuklearwaffen hält sie im Moment noch davon ab.
  331. Wenngleich die Verbreitung von Nuklearwaffen eine Bedrohung für die Menschheit darstellt, werden die Argumente für eine Nichtverbreitung von der Tatsache unterminiert, dass die Atomstaaten ihre Verpflichtungen gemäß
  332. dem Atomvertrag nicht erfüllt haben: Sie haben nur sehr kleine Schritte in Richtung einer völligen Abrüstung unternommen, wie sie der Artikel VI des Atomwaffensperrvertrags vorschreibt. Zudem behalten sich die USA die Option vor, neue Atomwaffen zu entwickeln und mischen in ihrer nationalen Verteidigungspolitik und der Neuen Triade (Mischung aus offensiven Angriffssystemen (nuklear und konventionell), aktien und passiven Verteidigungssystemen und Verteidigungsinfrastruktur mit Rakentenabwehr. Mit der neuen Triade wolen die USA ihre Abhängigkeit von Atomwaffen reduzieren)atomare und konventionelle Waffen, womit sie die
  333. Hürden für eine Entscheidung zum Einsatz von Nuklearwaffen deutlich herabsetzen. Die USA bestehen außerdem nach wie vor auf ihrem Recht zum Einsatz von Atomwaffen nach eigenem Ermessen.
  334. Die Situation ist heute viel gefährlicher als zu Zeiten des Kalten Kriegs, und dennoch werden heute viel weniger Gedanken daran verschwendet als damals. Heute beschäftigen sich nicht die besten Köpfe mit diesem Problem. Soweit es überhaupt eine öffentliche Diskussion darübergibt, in lud sie sich darauf zu verhindern, dass Massenvernichtungswaffen in die Hände von Terroristen fallen. Das ist eine
  335. Verschleierung der wahren Probleme. Allein der Begriff ,,Massenvernichtungswaffen" ist schon irrefuehrend weil er Waffen mit sehr unterschiedlichen Merkmalen in
  336.  
  337. einen Topf wirft. Die massivste Bedrohung besteht meiner Ansicht nach darin, dass Massenvernichtungswaffen in die Hände von Regierungen gelangen. Und diese Bedrohung erhält bei Weitem nicht die nötige Aufmerksamkeit.
  338. Es gibt wenig Hoffnung auf eine Lösung, solange die USA ihr strategisches Waffenarsenal modernisieren und mit ihren Plänen zum Einsatz von
  339. Atomwaffen fortfahren. Eine Lösung könnte es nur geben, wenn ein neues Abkommen gegen die Verbreitung dieser Waffen ausgehandelt würde, das alle Nuklearprogramme unter internationale Überwachung stellen würde. Das würde die USA und andere Atomstaaten nicht ihrer Waffen berauben, aber diese unter internationale Beobachtung stellen, damit sich sofort feststellen ließe, wenn ein Land plant, sie einzusetzen. Aber nachdem es bereits riesige Mengen an hoch angereichertem Uran gibt, können interessierte Länder spaltbares Material kaufen, ohne es selbst herstellen zu müssen. Eine weitere notwendige Komponente eines neuen Abkommens müsste daher eine internationale
  340. Kontrolle der Produktion und Verfügbarkeit spaltbarer Materialien installieren. Ein solches Abkommen würde der herrschenden Auffassung zuwiderlaufen, dass die amerikanische Souveränität sakrosankt ist, aber sie könnte die Welt - uns eingeschlossen - zu einem sichereren Lebensraum machen.
  341. Die USA sind der Überzeugung, dass der Iran alles daransetzen wird, in den Besitz von Nuklearwaffen zu kommen, und der Iran unternimmt nichts, um diese Befürchtungen zu entkräften. Die Welt steuert gerade auf eine neue Eskalation zu. Nur der Zeitpunkt ist noch nicht klar. Wie ich in dem vorhergehenden Kapitel
  342. angesprochen habe, glaube ich, dass eine Einigung mit dem Iran möglich ist. Diese sollte allerdings ausschließen, dass Iran ein Atomstaat wird. Der Iran ist der größte Nutznießer des Irakkriegs, aber wenn er den Bogen überspannt, wird er möglicherweise alle Vorteile verspielen. Wenn sich die Situation im Irak weiter verschlechtert und ein regionaler Krieg zwischen Sunniten und Schiiten ausbric ht, wird der Iran wahrscheinlich mit hineingezogen. Die Zusage der USA, seine Truppen aus dem Irak abzuziehen, könnte beiden als Drohung dienen (weil ein Rückzug den USA die Möglichkeit geben würde, dir iranischen
  343. IHfi
  344. Nukleareinrichtungeo zu bombardieren) und gleichzeitig als Angebot, an einer politischen Lösung mitzuwirken (weil sie die Gewinne konsolidieren würde, die der Iran bereits realisiert hat, ohne sie in einem Krieg zu riskieren). Der Iran hat während des acht Jahre dauernden Kriegs gegen Saddam Hussein schwer gelitten, und ein weiterer Krieg würde bestimmten Machtgruppierungen unter Umständen nicht behagen. Die Aufgabe des Nuklearprogramms wäre möglicherweise kein so großes Opfer, insbesondere wenn die internationale Gemeinschaft bereit wäre, ein neues
  345. Atomabkommen zu schließen, das alle bestehenden Nuklearwaffen unter internationale Kontrolle stellen und alle weiteren Entwicklungen von Nuklearwaffen einfrieren würde. Wenn sich die Mehrheit aller Länder hinter ein solches Abkommen stellen würde, könnte sich der Iran dem kaum verschließen. Und wenn er es doch täte, würde ein Erstschlag seitens der USA sicher auf weniger Ablehnung stoßen als heute.
  346. Die globale Klimaerwärmung
  347. l iin weiteres Problem, dessen Lösung einer internationalen Zusammenarbeit bedarf, ist die globale Klimaerwärmung. Ich bin erst seit relativ kurzer Zeit
  348. bekehrt, was dieses Thema betrifft. Ich dachte stets, dass ich schon zu viele Themen auf meiner Agenda hätte und Umweltfragen lieber anderen überlassen sollte. Aber die globale Klimaerwärmung macht sich bereits so deutlich bemerkbar, dass ich sie nicht länger ignorieren kann. Ich war von der eindringlichen Präsentation des ehemaligen Vizepräsidenten Al Gore .ehr beeindruckt. Ich habe sie mit Hilfe von Wissenschaftlern überprüft, die mir bestätigten, dass man sich in Wissenschaftskreisen über die Gefah- ieii einig ist. Sie sind lediglich uneins über die Geschwindigkeit, mit der sich dieser Prozess vollzieht. Es gibt viele Effekte, die sich mit zeitlicher
  349. Verzögerung bemerkbar machen. Selbst wenn der weltweite Kohlenstoff-austoß heute stoppen würde, würde die Erwärmung der Weltmeere noch eine ganze Zeit lang andauern. Die durchschnittlichen Temperaturen sind bereits die höchsten in der Geschichhte der Menschheit, eine weitere Erwärmung stellt also eine echte Gefahr für das Überleben der menschlichenZivilisation dar. Die Situation ist nicht hoffnungslos, weil wir anpassungsfähiger sind, als wir glauben, aber die Gefahr ist real, und es gibt keine Zeit zu verlieren.
  350. Unglücklicherweise wird dieses Problem von der Bush-Regierung
  351. geleugnet. Die öffendiche Meinung ist der Regierung in diesem Thema weit voraus, aber bestimmte Interessengruppen sorgen für eine Menge Verwirrung und Verschleierung. Exxon- Mobil ist einer der Hauptsponsoren von Lobbygruppen, deren Ziel es ist, die Öffentlichkeit zu verwirren. Wissenschaftliche Publikationen, die von anderen wissenschaftlichen Experten gegengeprüft wurden, sind der einhelligen Auffassung, dass es sich bei der globalen Klimaerwärmung um ein ernsthaftes, von Menschen geschaffenes Problem handelt. Die Berichte in öffendichen Medien sind jedoch gleichmäßig gespalten. Das ist der Verdienst dieser Lobbygruppen.
  352. Dennoch haben Städte und Bundesstaaten damit begonnen, Maßnahmen auf eigene Initiative zu ergreifen. Nur die US-Regierung legt derweil die Hände in den Schoß.
  353. Die internationale Gemeinschaft einigte sich 1997 auf das Kyoto-Proto- koll, das Präsident Clinton in den letzten Tagen seiner Amtszeit unterzeichnete. Präsident Bush trat von dem Protokoll zurück, kaum dass er zum neuen Präsidenten gewählt war, und er hat nie irgendeine reale Alternative an dessen Stelle vorgeschlagen. Er versprach, Wasserstoff als alternativen, sauberen Treibstoff zu entwickeln, aber es gibt keine bewährte Technologie dafür. Und
  354. selbst wenn es sie gäbe, würde es zu lange dauern, einen solchen Treibstoff zu entwickeln. Das war eine reine Ausrede für Untätigkeit. Es herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, dass das Kyoto-Protokoll unzulänglich ist, aber es ist dennoch eine nützliche Aus gangsbasis. Das Protokoll lässt die Entwicklungsländer unberücksichtigt, aber nachdem China und Indien in rasantem Tempo wachsen, müssen sie in der nächsten Runde mit einbezogen werden. Zudem sind die Ziele zu niedrig angesetzt, weil der im Protokoll geregelte Handel mit Emis sionsrechten ein Ungleichgewicht enthält: Er begünstigt diejenigen, die ihre Emissionen reduzieren, ohne aber
  355. diejenigen zu bestrafen, die ihre Emissionen erhöhen. ein Land kann zum Beispiel Pluspunkte für die Pro
  356. Die wirtschaftlichen Aussichten
  357. duktion von Ethanol gewinnen, aber wenn es gleichzeitig den Regenwald brandrodet beziehungsweise abholzt, wird das nicht dagegen aufgerechnet. Insofern können die Ziele des Kyoto- Protokolls eingehalten werden, ohne dass die globale Klimaerwärmung merklich gebremst wird.
  358. Zwar ist das Kyoto-Protokoll auch ohne die Beteiligung der USA in Kraft getreten, aber der zukünftige Fortschritt hängt von der Haltung der USA ab. Es
  359. gibt Pläne zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung, und ich hoffe sehr, dass sie etwas bewirken werden.
  360. Die wirtschaftlichen Aussichten
  361. Die Weltwirtschaft befindet sich zurzeit auf einem guten Kurs. Es gibt einige fundamentale Ungleichgewichte, von denen die hervorstechendsten das Leistungsbilanzdefizit der USA und die Handelsbilanzüberschüsse Asiens sind. Möglicherweise wird das aber ewig so weitergehen, weil ein williger Schuldner auf willige Geldgeber trifft. Es gibt keine Anzeichen einer Finanzkrise, und die globalen Märkte haben sich erstaunlich robust gegenüber Schocks wie dem Anstieg des Olpreises
  362. gezeigt. Die Finanzinstitutionen sehen sich in ihrer Überzeugung gestärkt, dass sich die Finanzmärkte bei angemessener Aufsicht von allein regulieren. Die einzige Wolke am Horizont ist vielleicht die Entwicklung von Ländern wie Indonesien, Südafrika und verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, die nicht schnell genug voranschreitet, um die Wünsche der Bevölkerung zu erfüllen. Insofern sind die Voraussetzungen für politische Unruhen ge- st halfen. Aber die internationalen Finanzbehörden fühlen sich nicht dazu qualifiziert, dieses Problem anzugehen.
  363. Ic h glaube nicht, dass die momentane Ruhe lange anhalten wird. Wie ich zuvor
  364. schon erwähnt habe, glaube ich, dass die Weltwirtschaft bisher von einem linmobilicnboom gestützt wurde, der alle Merkmale einer Blase aiilweisl. In einigen Ländern, namentlich Großbritannien und Australien ist die Blase geplatzt, aber das hatte keine ernsthaften Auswirkungen. Die Konsumausgaben gingen zurück, aber schon eine bescheidene Zins
  365. Senkung genügte, um die Immobilienpreise und die Konsumausgaben wieder zu stabilisieren. Das nennt man eine ,,weiche Landung". Sie hat die Finanzbehörden in dem Glauben bestärkt, dass das Gleiche in den USA
  366. passieren würde. Ich bin da anderer Meinung. Es gibt Grund zu der Annahme, dass der Rückgang der Häuserpreise in den USA ernsthaftere Auswirkungen haben wird als in anderen Ländern. Ein Grund ist allein die Größe der US- Wirtschaft. Eine Abkühlung des Immobilienmarkts in den USA wird sich auf die Weltwirtschaft übertragen. Großbritannien und Australien sind zu klein, um einen solchen Dominoeffekt zu erzeugen. Ein weiterer Faktor ist, dass nicht nur die Immobilienpreise in den USA, sondern gleichzeitig auch die Zahl der neu gebauten Häuser stieg, wohingegen die Zahl der Neubauten in Großbritannien stabil blieb. Das hat zu einem Angebotsüberhang in den USA
  367. geführt, dessen Abbau eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen wird. Und schließlich sind die Kreditbedingungen in den USA lockerer gewesen als in jedem anderen Land. Im Moment werden die Zügel allerdings wieder angezogen. All diese Faktoren zusammengenommen tragen dazu bei, dass sich die Häuserpreise, wenn sie einmal nachgeben, nicht so schnell wieder erholen werden. Wie zuvor schon besprochen, erwarte ich zunächst eine weiche Landung, die sich aber als ziemlich harter Aufprall entpuppen wird, wenn sie kein baldiges Ende findet. Eine Abkühlung des US-Immobilienmarktes wird sich über einen geschwächten Dollar auf die ganze Welt übertragen.
  368. Ich erwarte daher von 2007 an eine Abkühlung der Weltwirtschaft.
  369. Ich kann mich natürlich irren. Ich habe mich auch schon geirrt. Vielleicht ist es unklug, diese These öffentlich aufzustellen, denn wenn dieses Buch einmal im Druck ist, kann ich sie nicht mehr zurücknehmen oder modifizieren. Ich stelle sie zur Diskussion, um die Art der Veränderung der Lage zu illustrieren, die früher oder später eintreten wird. Was ich damit zum Ausdruck bringen will, ist, dass die Weltwirtschaft für periodisch wieder kehrende Abschwünge anfällig ist, und dass eine internationale Koopcra tion nötig ist, um diese in gewissen Grenzen
  370. zu halten.
  371. Selbst in Abwesenheit einer Krise hat die aktuelle Konstellation etwas geradezu Perverses Die Ersparnisse der Welt werden Ins zum letzten Cent19Ü dafiir verbraucht, den exzessiven Konsum der reichsten und größten Nation zu finanzieren. Das kann nicht ewig so weitergehen. Und wenn das aufhört, wird die Weltwirtschaft unter einer mangelnden Nachfrage leiden. Die asiatischen Länder, die den exzessiven US-Konsum finanzieren, wären gut beraten, ihren heimischen Konsum anzukurbeln. Doch selbst wenn das gelänge, käme es zu einem kurzfristigen Einbruch der Nachfrage. Man sollte
  372. eigentlich erwarten, dass die internationalen Finanzinstitutionen für solche Eventualitäten vorausplanen, aber ich kann kein Anzeichen dafür erkennen.20 In der Vergangenheit habe ich vorgeschlagen, dass der IWF Sonderziehungsrechte (SDR) vergeben könnte, mit denen reiche Länder ihren Beitrag zu internationalen Hilfsmaßnahmen zuweisen. Es gibt diverse technische Schwierigkeiten: SDRs zuzuweisen würde bedeuten, dass dafür Haushaltsposten berücksichtigt werden müssten. Wenn meine Erwartung einer Abkühlung der Weltwirtschaft im Jahr 2007 zutreffen sollte, könnte die Zeit für ein solches Konzept jedoch reif sein.
  373. Schlussfolgerung
  374. Iis ist genug gesagt worden, um zu zeigen, dass die herrschende Welt- ordnung mit ungelösten Problemen konfrontiert ist. Einige davon, wie die Verbreitung von nuklearen Massenvernichtungswaffen und die globale K limaerwärmung, könnten unsere gesamte Zivilisation bedrohen; andere sind weniger kataklystisch. Unsere Zivilisation hat viele Tyranneien und Finanzkrisen erlebt und hat sie alle überlebt. Dennoch wäre die Welt ein besserer l.cbensraum, wenn bei einigen dieser Themen Fortschritte erzielt wurden. Das würde jedoch ein größeres Maß an internationaler Kooperation
  375. erfordern, als es derzeit möglich ist. Die Verantwortung liegt bei den USA Die USA müssen ihre Stellung als legitime Führer der freien Welt nicht nur zu ihrem eigenen Nutzen, sondern zum Nutzen der gesamten
  376.  
  377. Welt wiedergewinnen. Eine Weltordnung, die auf der Souveränität der Staaten basiert, erfordert die Führerschaft eines souveränen Staates, der stark genug ist, um diese Vormachtstellung einzunehmen und weitsichtig genug, um die gemeinsamen Interessen einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeiten zu berücksichtigen. Die US-amerikanische Führung war nicht
  378. immer gut beraten, aber die USA sind derzeit das einzige Land, das für diese Stellung qualifiziert wäre.
  379. Um wieder der legitime Führer der freien Welt zu werden, müssen die USA mehr tun, als lediglich zu ihrer Politik vor dem 11. September zurückzukehren. Sie müssten eine wahrhaft demütige Außenpolitik verfolgen, das heißt, die Meinungen und Interessen anderer respektieren. Eine Wohlfühlgesellschaft kann das nicht leisten. Ich fürchte, die USA sind noch nicht so weit, der Manipulation der Wahrheit, die den politischen Prozess charakterisiert, zu widerstehen. Genauso wenig sind sie darauf vorbereitet, die Scheuklappen
  380. ihrer Eigeninteressen abzulegen und diese dem übergeordneten allgemeinen Interesse unterzuordnen. Als Ergebnis werden die USA ihre Führungsposition wohl nicht wiedergewinnen. Allein in den letzten fünf Jahren hat Amerika mehr Boden verloren, als zu der Zeit, als Bush seine Doktrin verkündete, für möglich gehalten wurde. Es stellt sich die Frage, wie stabil die Weltordnung noch sein wird, wenn die US-amerikanische Vorherrschaft endet. Das wiederum veranlasst mich, die Alternativen zu betrachten: die Rolle Europas, der Gemeinschaft der Demokratien und die internationale Zivilgesellschaft.Kapitel 6:
  381. Eine Betrachtung der Alternativen
  382. Unter der Bush-Regierung haben die USA darin versagt, ihre Führungsrolle auszufüllen, die sie seit dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger erfolgreich ausgeübt haben. Woher könnte die Führung, welche die Welt braucht, nun kommen? Die einzige souveräne Institution, die in Betracht kommt, ist die Europäische Union, die allerdings gerade selbst eine Identitätskrise durchmacht. China drängt mit aller Macht nach vorne, aber wenn es versuchen würde, die Welt zu führen, wäre es mit einem unerbittlichen Widerstand konfrontiert, insbesondere seitens der USA. ()hne eine gewisse
  383. gemeinsame Basis ist eine Weltordnung, die auf der Souveränität der Staaten gründet, dazu verurteilt, im Chaos zu versinken. Das ist eigentlich genau das, was gerade passiert, weil sich die mächtigste Nation der Welt - die USA - weltweite Feindschaft zugezogen hat. Diese Feindschaft paralysiert unsere internationalen Institutionen, die schon von Haus aus nicht stark genug sind.
  384. Keine souveräne Institution kann die USA in absehbarer Zeit ersetzen, allerdings sind die USA von den acht Jahren der Präsidentschaft George W. Bushs ernsthaft geschwächt. Selbst wenn die nächste Regierung die Stellung wiedergewinnen will, welche die USA
  385. einst hatten, wird ihr das nicht gelingen. Sie wird stärker als je zuvor auf internationale Kooperation angewiesen sein. Ihre bevorzugten Partner sollten die EU, die breite Gemeinschaft demokratischer Staaten und die internationale Zivilgesellschaft sein. Nachfolgend werde ich mich mit jedem dieser potentiellen Partner auseinandersetzen.
  386.  
  387. Die Europäische Union
  388. Ich habe die EU stets als die Verkörperung des Konzepts der offenen Gesellschaft betrachtet. Sie ist durch die Stückwerk-Sozialtechnik entstanden -
  389. Karl Poppers bevorzugte Methode der Weltverbesserung - und basiert auf der Erkenntnis, dass Perfektion unmöglich ist. Jeder Schritt wurde so geplant, dass ein begrenztes Ziel innerhalb eines begrenzten Zeitraums erreicht werden konnte, und das in dem vollen Bewusstsein, dass jedes neue Abkommen ungenügend sein und einen weiteren Schritt vorwärts erfordern würde. Auf diese Weise wurde die EU aufgebaut - immer ein Schritt nach dem anderen.
  390. Das Ergebnis ist ein Staatenbund, der sich auf eine Übertragung der nationalen Souveränität auf EU-Gremien innerhalb gewisser Grenzen geeinigt hat.
  391. Der Grad dieser Delegation drückt sich in verschiedenen Formen aus, wobei sich die Mitgliedschaften an verschiedenen Einrichtungen wie der Europäischen Zentralbank oder dem Schengener Abkommen überschneiden können. Es gibt keinen großen Plan. Die EU ist eine Ansammlung von Nationen, von denen keine über eine Mehrheit verfügt. Diese Merkmale machen die EU zum Prototyp einer offenen Gesellschaft. Dabei handelt es sich um ein Projekt, das sich in ständiger Weiterentwicklung befindet. In ihrem unvollendeten Zustand leidet die EU unter verschiedenen Defiziten: Sie ist zu behäbig für ihre Größe, sie ist undurchsichtig und bürokratisch, und der demokratische
  392. Einfluss ist zu indirekt, sodass sich die Menschen dieser Institution gegenüber fremd fühlen. Diese Unzufriedenheit hat kürzlich zur Ablehnung der europäischen Verfassung durch die französische und niederländische Bevölkerung geführt.
  393. Beim Aufbau des europäischen Gebäudes wurde nun ein Schritt ausgelassen. Der politische Wille zur Weiterentwicklung des Prozesses hat entschieden nachgelassen. Zugegebenermaßen haben sich die Rahmenbedingungen seit dem Kalten Krieg verändert. Die kommunistische Bedrohung existiert nicht mehr; inzwischen dominiert die Globalisierung die Welt. Der Sozialstaat, der nach dem
  394. Zweiten Weltkrieg entstanden ist, ist aufgrund der Globalisierung in seiner bisherigen Form nic ht mehr
  395. I'M aufrechtzuerhalten. Die europäische Haltung gegenüber der Globalisierung ist deudich gespalten. Einige Länder wollen die EU dazu benutzen, die Errungenschaften des Sozialstaats zu bewahren, indem sie aus Europa eine Festung machen; andere wollen sie dazu benutzen, um die europäischen Ökonomien wettbewerbsfähiger zu machen. Wieder andere sehen die EU als Globalisierung im Kleinformat und daher als Gefahr für den Sozialstaat, den sie schützen wollen.
  396. Nicht nur der internationale
  397. Kapitalverkehr, sondern auch die Migrationsbewegungen der Menschen haben Probleme ausgelöst. Der sprichwörtliche polnische Fliesenleger, der den Einheimischen anderer europäischer Länder ihren Job wegnimmt, die Aussicht auf eine EU- Mitgliedschaft der Türkei und das Wichstum moslemischer, afrikanischer und asiatischer Gemeinden haben alle zu dem Unmut beigetragen, der letztiich zur Ablehnung der europäischen Verfassung gefuhrt hat. Aber die aktuelle Krise wirft auch die Frage auf, ob das Konzept der offenen Gesellschaft überhaupt umsetzbar ist. Die Realität der EU erweist sich als weniger reizvoll als die Idee einer europäischen Gemeinschaft.
  398. Das ist ein generelles Merkmal offener Gesellschaften.
  399. die Krise bedeutet jedoch nicht das Ende der EU. Die EU wird von dem erhalten, was als eines ihrer Defizite gilt: ihrer bürokratischen Schwerfälligkeit. Entscheidungen setzen einen Konsens voraus, und solange kein Konsens erzielt wird, bleiben einfach die bisherigen Entscheidungen güllig Das wird die EU für eine Weile am Laufen halten. Statt einer Krise herrscht vielmehr ein Stillstand vor. In einer hoch dynamischen Welt kön- nen organisationen, die keine Entscheidungen treffen können, allerdings nicht dauerhaft überleben.
  400. Daher muss die EU wiederbelebt werden, wenn sie fortbestehen will.
  401. l iiir Suche ist gewiss: Der Prozess, der die HU bisher vorwärtsgetragen Ii.ii. kann nicht in der gleichen Form wiederbelebt werden wie bisher. Des bisherige Prozess wurde von einei Mite vorangetrieben, während sich die Bevölkerung zum großen Teil ausgeklammert gefühlt hat Das kann so nicht weitergehen und wenn auch nur wegen der zunehmenden Zahl
  402. an Referenden. In Referenden kommt der von keiner Elite gefilterte, unmittelbare Wille des Volkes zum Ausdruck. Wenn die EU also eine neue Dynamik erhalten soll, muss das auf Wunsch der
  403. Bevölkerung ihrer Mitgliedsländer geschehen. Dieser Wunsch fehlt, und eine abstrakte Idee wie die der offenen Gesellschaft kann ihn nicht erzeugen. Eine offene Gesellschaft kann als politisches Ziel in einer repressiven Gesellschaft dienen, aber nicht in einer Gesellschaft, die bereits offen ist. Die abstrakte Idee muss mit konkretem Inhalt gefüllt werden, und was den Inhalt betrifft, spalten sich die Menschen in Europa in zwei Lager. Sie haben noch nicht einmal entschieden, ob die EU eine militärische Macht sein sollte. Auch über die Globalisierung liegen sie sich in den Haaren.
  404. Dass die EU keine Militärmacht ist,
  405. verstärkt das Wirrwarr, in dem sich die gegenwärtige Weltordnung befindet. Die bereits nebulöse Institution des ,,Westens" ist noch nebulöser geworden. Da es keine geschlossene internationale Gemeinschaft gibt, gibt es auch keine legitimierte Autorität, welche die Verantwortung für den Schutz der Menschen übernähme. Als Ergebnis regieren Tyrannen in anderen Teilen der Welt ungestraft, während die Opfer repressiver Regime und gescheiterter Staaten schutzlos sind.
  406. Hierin liegt eine Idee, welche die EU vorantreiben könnte: die Idee einer globalen offenen Gesellschaft, welche die EU als Prototyp braucht. Die EU hat
  407. eine Mission, nämlich die Verbreitung von Frieden, Freiheit und Demokratie. Ähnlich der Agenda von Präsident Bush, aber hoffendich mit einem besseren Fundament, ist die EU darin erfolgreicher gewesen, als die meisten Menschen erkennen. Die Aussicht auf eine Mitgliedschaft hat sich bisher als mächtigstes Instrument erwiesen, um Beitrittskandidaten in offene Gesellschaften zu verwandeln. Wenn die EU ihre Mission erfüllen will, muss sie grundsätzlich für neue Mitglieder offen bleiben.
  408. Ist diese Idee stark genug, um als einende Kraft zu dienen, welche die EU weiter vorantreibt? Für mich ist sie das.
  409. Audi wenn ich kein Bürger Europas bin, halte ich mich für einen europäischen Patrioten. Und ich verfüge über ein Netzwerkt an Stiftungen in Ländern innerhalb und ausserhalbEuropas, die eine Mitgliedschaft in der EU als ihr Hauptziel betrachten. Könnte das die Basis einer breiten Volksbewegung sein?
  410. Die Antwort muss nein lauten. Wie ich bereits erwähnt habe, ist das Konzept der offenen Gesellschaft zu abstrakt, um die breite Unterstützung der Bevölkerung zu erhalten. Die Masse der Menschen ist in erster Linie um Wohlstand und Sicherheit besorgt, nicht um Außenpolitik. Dennoch könnte Europa
  411. als Prototyp einer globalen offenen Gesellschaft die Fantasie einer Minderheit beflügeln, deren Engagement dem Einfluss derjenigen entgegenwirken könnte, die sich von nationalistischen und rassistischen Gefühlen leiten lassen. Der Vorteil der Aktivierung einer Minderheit, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzt, besteht darin, dass sie sich nicht auf andere Themen konzentrieren müsste, die Europa zurzeit spalten. Die Sozialdemokraten, die Christdemokraten und die l'Yeien Demokraten könnten sich gemeinsam hinter die außenpolitische Mission der EU stellen.
  412. I )ie EU steht vor einer Zerreißprobe,
  413. nämlich den Beitrittsverhandlungen inil der Türkei. Ist die abstrakte Idee einer offenen Gesellschaft stärker als die Vorurteile gegen ein moslemisches Land, das einst damit drohte, das (hristliche Europa zu erobern?
  414. I )ie gegenwärtige Perspektive ist nicht ermutigend: Extremisten auf beiden Seilen sind dabei, die Vorurteile zu erhärten. Als gegen den berühmten linkischen Schriftsteller Orhan Pamuk in der Türkei ein Gerichtsprozess eröffnet wurde, geschah das nicht auf Betreiben der Regierung, sondern · hei auf Initiative widerständiger Elemente, die die Regierung blamieren wolllcn. Die Veröffentlichung von Karikaturen über
  415. den Propheten in einer dänischen Zeitung wiederum war kein unschuldiger Scherz, sondern eine handfeste Provokation. Sie zielte auf die moslemische Minderheit im eigenen lLand aber es waren die moslemischen Länder in gesamten Golfregion die darauf reagierten, wobei Syrien und Iran ihre eigenen Beweggründe hatten, um die wütenden Proteste anzuheizen. I.eider führt der Konflikt zwischen zwei extremistischen Gruppierungen immer zu einer Polarisierung der öffentlichen Meinung. Das habe ich auf dem Balkan erlebt und später im Krieg gegen den Terror. Nun geschieht mit dem Zusammenstoß zwischen den Moslems und antimoslemischen Animositäten das
  416. Gleiche in Europa.
  417. Theoretisch sollte es nicht so schwer sein, die Verhandlungen mit der Türkei aufrechtzuerhalten. Die Türkei soll ja nicht kurzfristig Mtglied der EU werden. Wahrscheinlich wird der Prozess mindestens zehn Jahre dauern. Starke politische Kräfte sind jedoch bestrebt, den Prozess zu beenden, indem sie die Position der türkischen Regierung unhaltbar machen. Zypern wird hierbei als Waffe eingesetzt. Die Insel ist seit Jahrzehnten geteilt; die griechische Seite wurde vor Kurzem in die EU aufgenommen. Sie nutzt ihre Mitgliedschaft nun dazu, die Wiedervereinigungspläne, die von der
  418. UNO entworfen wurden und denen die Türkei zugestimmt hat, zu torpedieren. Dabei erhält Zypern die Unterstützung von europäischen Politikern wie Nicolas Sarkozy in Frankreich und der Außenministerin von Österreich, Ursula Plassnik, die es am liebsten sehen würde, wenn die Verhandlungen scheiterten. Die EU verlangt nun einseitige Konzessionen von der türkischen Regierung, die unter dem Druck gegenläufiger Kräfte steht, die jeweils eine EU-Mitgliedschaft ablehnen. Die EU fordert von der Türkei, dass sie Schiffe aus Zypern in ihre Häfen einlaufen lässt, und die Türkei will, dass die EU den Handel mit Nordzypern, dem türkischen Teil der
  419. Insel, aufnimmt, den der südliche Teil als Mitglied der EU blockieren kann. Die Konsequenzen könnten weitreichend sein. Wenn die Aussicht auf eine EU- Mitgliedschaft schwindet, könnte der aufkeimende Bürgerkrieg im Irak auch die Türkei destabilisieren. Eine Splittergruppe kurdischer Nationalisten ist bereits dabei, in der Osttürkei für Unruhe zu sorgen.Sollten die Verhandlungen mit der Türkei eingestellt werden, könnte sich die Zukunft von Europa schneller entscheiden, als wir glauben, und zwar ohne dass die breite Öffentlichkeit eigentlich begreift, was auf dem Spiel steht. Was das Ganze noch verschlimmert: Selbst wenn die Bevölkerung sich darüber im Klaren
  420. wäre, würde sie sich womöglich dennoch nicht hinter die Idee eines Europas als offener Gesellsc hall stellen. Diese Idee wurde nicht ausreichend mit Inhalt gefüllt, als dass sich die Menschen für sie begeistern könnten. Anstatt in eine unsichere, verwirrende und bedrohliche Zukunft zu blicken, richten die Menschen ihren Blick in die Vergangenheit und suchen Halt und Sicherheit in ihren nationalen beziehungsweise lokalen Identitäten. Die Geschichte Europas ist allerdings geprägt von unzähligen Kriegen, und Kriege haben die Tendenz, immer verheerender zu werden. Das ist keine beruhigende Perspektive. Es ist besser, nach vorne zu blicken, auch wenn die
  421. Zukunft ungewiss ist. Die Aufgabe besteht darin, die Nebel zu lichten. Das Eingeständnis unserer Fehlbarkeit reicht nicht aus, wir müssen auch Wege finden, das Überleben unserer Zivilisation zu sichern. Es ist ganz eindeutig, dass die Welt ein größeres Maß an Kooperation benötigt als die USA gegenwärtig zu fördern bereit sind. Darin liegt die Mission einer starken EU mit einem großen Zusammenhalt.
  422. liuropäische Länder haben eine andere Haltung zu Kooperation als die l ISA. Robert Kagan schrieb in seinem Buch OfParadise and Power, dass die Europäer von der Venus kommen und die USA vom Mars.21 Seine These war
  423. neomarxistisch in dem Sinne, dass er den ideologischen Uberbau aus den unterschiedlichen materiellen Bedingungen, die in den USA und in Europa herrschen, ableitete. Die USA sind die einzige verbleibende Super macht, Europa dagegen hat sich noch nicht einmal entschieden, ob es überhaupt eine Militärmacht sein will. Die Europäer lehnen den Einsatz von Waffengewalt ab, während die USA unter Präsident Bush ausgespro- i heu gerne zu den Waffen greifen. Die Europäer sind sich der übergeordeten Bedürfnisse der Menschheit bewusst und bereit, dafür einige Opfer zu erbringen. Sie widmen einen wesentlich größeren Anteil ihres Nationaleinkommens der
  424. Auslandshilfe als die USA, und sie haben das Kyoto- Protokoll gegen die globale Klimaerwärmung unterschrieben.22Die Haltung der Bush Regierung hat desaströse Konsequenzen. Die Welt braucht eine Alternative, und die EU kann sie bieten. Um die Fantasie der Menschen zu beflügeln, muss die Mission ausführlicher kommuniziert werden. Einige der größeren Kontroversen, welche die Meinung derzeit spalten, müssen gelöst werden. Soll die EU eine Macht sein oder eher ein Verbund an verschiedenen Mächten? In welcher Beziehung steht die EU zur Globalisierung? Soll sie für neue Mitglieder offen sein? Soll sie sich für Immigration öffnen?
  425. Als Außenseiter steht es mir nicht zu, diese Fragen zu beantworten. Aber als überzeugter Anhänger der offenen Gesellschaft sehe ich die Richtung, die Europa nehmen sollte, ziemlich deutlich: Es sollte zum Prototypen einer offenen Gesellschaft werden. Das bedeutet anzuerkennen, dass wir Teil einer globalen Gesellschaft sind und dass unsere gemeinsamen Interessen uns zusammenhalten sollten. Es bedeutet auch anzuerkennen, dass die Globalisierung, wie sie heute praktiziert wird, eine Schieflage aufweist und damit eine verzerrte Version einer offenen Gesellschaft darstellt. Wir brauchen globale Institutionen, um globalen Märkten gerecht zu werden. Wir müssen
  426. uns dagegen wehren, dass sich die Werte, welche die Märkte bestimmen, auf Bereiche ausdehnen, auf denen sie nichts zu suchen haben. Gleichzeitig müssen die Regierungen von der direkten Lenkung der Wirtschaft ferngehalten werden. Die Rolle von Regierungen und internationalen Institutionen besteht darin, Regeln aufzustellen, und die Rolle der Wirtschafitsakteure besteht darin, innerhalb dieser Regeln miteinander in Wettbewerb zu treten. Diese Regeln sollten den gemeinsamen Interessen aller dienen. Die Wettbewerber sollten ihre eigenen Interessen verfolgen, aber sie sollten nicht befugt sein, die Regeln nach ihren Interessen zu beugen. Das ist
  427. natürlich ein unerreichbares Ziel. Es ähnelt dem marxistischen Ideal, dass jeder seinen Beitrag nach seinen individuellen Fähigkeiten leisten und nach seinen individuellen Bedürfnissen entlohnt werden soll. Inwieweit wir uns diesem Ziel aber annähern können, hängt von unseren Werten und Einstellungen ab.
  428. Amerika hat den Wettbewerb bis zum Extrem kultiviert. Europas Tradition liegt eher in der Kooperation. Der Einfluss des Kollektivs war zum 'Teil so überwältigend, dass viele Menschen beschlossen, sich ihm ZU entziehen. Aus diesem Grund sind so viele Menschen nach Amerika ausgewandert
  429. Nichtsdestoweniger hat Europa eine Tradition, die es wert ist, bewahrt zu werden. Die Menschen auf dem europäischen Kontinent glauben nach wie vor an soziale Gerechtigkeit und in England an Fair Play. Das ist eine gute Basis, auf der sich aufbauen lässt.
  430. Wie können diese noblen Gefühle in praktische politische Handlungen übertragen werden? Die EU muss wettbewerbsfähig sein, aber sie kann versuchen, die Regeln fairer zu gestalten, damit größere Gerechtigkeit herrscht. Zu diesem Zweck muss Europa in einer Welt der souveränen Staaten eine vereinte Macht sein und nicht nur ein Verbund an verschiedenen Mächten.
  431. Vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung ist Immigration eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Als Prototyp einer globalen offenen Gesellschaft muss sich Europa der Immigration und der zahlenmäßigen Erweiterung seiner Mitgliedsstaaten öffnen, aber natürlich innerhalb gewisser Grenzen. Ein stufenweiser Prozess ist dabei wichtig. Die Fragen der politischen Führung müssen geklärt sein, bevor die EU weiter wächst. Aber aus Gründen des Friedenserhalts in den Nachbarländern darf die Erweiterung nicht gestoppt werden. Das gilt insbesondere Im die Türkei. Die Verhandlungen müssen weitergehen, dennoch werden sie wie ich schon sagte
  432. - noch eine geraume Zeit in Anspruch nehmen. das lässt Zeit für die Klärung der Führungsfragen. Und hier ist jetzt auch die Grenze, bis zu der mich die Prinzipien der offenen Gesellschaften führen. Der Rest liegt bei den Europäern. Möge die Debatte beginnen! Wie ich im nächsten Kapitel noch ausführlich darlegen werde, könnte du- europäische Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland ein gutes Auftaktthema sein. Die Länder Europas sind gezwungen zu kooperieren, um ihre Energieversorgung zu gewährleisten.
  433. die EU, die aus diesen Diskussionen hervorgehen wird, wird den USA vermutlich eine eher antagonistische
  434. Haltung entgegenbringen, zumin-dest unter deren gegenwärtiger Führung. Aber wenn die EU erfolgreich ist wird sie unter Umständen die Richtung beeinflussen, welche die USA und andere Demokratien einschalgen. Das würde dazu 'beilragen, die von der Welt dringend benötigte internationale Gemeinschaft wiederherzustellen
  435. Werden sich die Völker Europas von dieser Mission inspirieren lassen? Die Aussichten sind unklar. Denn die europäischen Länder sind Wohlfühlgesellschaften geworden, und in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich keineswegs von den USA. Was die Konsummentalität und das Fehlen
  436. intrinsischer Werte betrifft, gibt es keine großen Unterschiede zwischen beiden. Auf der anderen Seite könnte die Schaffung eines Prototyps einer globalen offenen Gesellschaft für ein echtes Wohlbefinden sorgen. Es ist einen Versuch wert.
  437. Die Gemeinschaft demokratischer Staaten
  438. Eine Gemeinschaft demokratischer Staaten, welche die Verantwortung zum Schutz der Menschen übernimmt, ist in der Theorie eine attraktive Idee, aber in der Praxis ist sie bisher eine Enttäuschung gewesen. Sie wurde in der Endphase der Regierung unter Präsident Clinton geboren, und zwar im Rahmen
  439. einer Konferenz, die im Sommer des Jahres 2000 in Warschau stattfand. Von Beginn an stand sie auf wackeligen Füßen, weil sie von den Außenministern entwickelt wurde, aber keine Unterstützung der Finanzminister erhielt. Das Ergebnis war, dass die Warschauer Erklärung eine leere Geste blieb, die nicht einmal Erwähnung in den Zeitungen gefunden hätte, wenn Frankreich sich nicht geweigert hätte, sie zu unterzeichnen, weil sie unter der Schirmherrschaft der USA entstanden war.
  440. Die Warschauer Erklärung sieht Konferenzen im Zweijahresrhythmus vor, auf denen der Fortschritt geprüft
  441. werden soll. Zwei dieser Konferenzen habe ich bisher besucht und fand sie frustrierend. Theoretisch ist dieses Format attraktiv, weil es Regierungs- und Nichtregierungsvertreter zusammenbringt. In der Praxis passiert aber gar nichts. Die Diskussionen drehen sich um eine neue Deklaration, die genauso inkonsequent ist, über deren Wortlaut sich die Diplomaten aber streiten, als ginge es um bedeutende Dinge. Die letzte dieser Zusammenkünfte, die im Jahr 2005 in Chile stattfand, war besonders frustrierend, weil sieh die Ge meinschaft der demokraitschen STaaten nicht darauf einigen konnte, dem Die Gemeinschaft demokratischer Staaten
  442. vorgeschlagenen UN-Rat für Menschenrechte zuzustimmen. Viele in der Entwicklung begriffene Demokratien hegten den Verdacht, dass die USA den UN-Rat für Menschenrechte dazu benutzen wollten, ihre imperialistischen Ziele voranzutreiben. Das bestätigt meine Behauptung, dass die l JSA ihre führende Stellung in der Welt verloren haben. In der Folge verabschiedete die UNO-Vollversammlung den UN-Rat für Menschenrechte gegen die einsame Opposition der USA. Diese neue Institution bietet der Gemeinschaft demokratischer Staaten eine Gelegenheit, echte Bedeutung zu gewinnen, indem sie gewährleistet, dass nur demokratische Staaten in den Rat
  443. gewählt werden. Allerdings ist das leichter gesagt als getan, weil UNO- Wahlen das Ergebnis komplizierter Feilschgeschäfte sind. Außerdem haben einzelne Länder ganz andere Interessen, als eine Mtglied- schaft in der Gemeinschaft demokratischer Staaten. Es wäre zum Beispiel nahezu unmöglich, Kuba aus dem Rat auszuschließen. Dennoch könnte die Gemeinschaft demokratischer Staaten einen echten Einfluss ausüben, und zwar nicht nur auf die Auswahl der Länder, die in den Rat gewählt werden, sondern auch auf dessen Funktionsweise. Die Unterstützung, die meine Stiftungen der Gemeinschaft demokratischer Staaten bieten, könnte sich endlich auszahlen.
  444. Wenn die USA ihre Haltung ändern würden, könnte sich die Gemein- .1 hall demokratischer Staaten sowohl innerhalb als auch außerhalb der UNO zu einem einflussreichen Faktor entwickeln. Derzeit würde eine Schirmhcrrschaft beziehungsweise Förderung durch die USA praktisch gauntierten Widerstand bedeuten, vor allem den Widerstand der Ent- » i< I lungsländer. Zwar könnte eine andere Regierung die Führungspositi- übernehmen, aber sie müsste sich damit abfinden, dass die Interessen zwischen den entwickelten Demokratien und den Demokratien, die noch in dri Entwicklung begriffen sind, zu weit auseinandergehen, um sich in i hu i
  445. einzigen Organisation unter einen Hut bringen zu lassen. Es wäre besseri wenn jede Seile ihre eigene Organisation bilden würde, und beide und beide im Falle sich überschneidneder Interessen zusammenarbeiteten. Das ist zum Teil in der gegenwärtigen globalen Architektur mit der Gruppe der G8 Nationen und der Gruppe der G20 verwirklciht. Die demokratischen
  446. Staaten in der Entwicklung haben bereits begonnen, ihren eigenen Staatenverbund zu bilden, als sich die Delegierten von 21 Entwicklungsländern 2003 in Cancün trafen, um ihre Interessen in Verbindung mit den WTO-Verhandlungen zu schützen.
  447. Der Zusammenstoß zwischen den Entwicklungsländern und der entwickelten Welt hat die Doha-Runde der Handelsgespräche ins Stocken gebracht. Die USA könnten unter einem anderen Präsidenten ihren Sinneswandel beweisen, indem sie die Bildung einer Gemeinschaft demokratischer Staaten in der Entwicklung ohne Beteiligung der USA und der Länder der EU fördern. Das könnte die Gruppe der unabhängigen Staaten - die sogenannte G77* -, die innerhalb der UNO eine eigene Fraktion bildet, ersetzen. Aber unabhängig von wem? Die G77 hat ihre Daseinsberechtigung verloren. Eine Gemeinschaft demokratischer Staaten in
  448. der Entwicklung würde zusammen mit den USA und Europa innerhalb der UNO eine regierungsfähige Mehrheit darstellen, sie wären sich deswegen aber nicht notwendigerweise in allen Dingen einig.
  449. Gegenwärtig blicken die entwickelten Länder auf die Entwicklungsländer herab. Zum Beispiel laden die Staatspräsidenten der G8 die Staatspräsidenten der Entwicklungsländer zu einigen ihrer Gipfeltreffen ein. Es wäre wünschenswert, wenn die Staatspräsidenten der Entwicklungsländer ihren eigenen Gipfel veranstalten würden. Es könnte zum
  450. Beispiel eine D6-Gruppe (D = Development) aus sechs demokratischen Staaten in der Entwicklung geben: Brasilien, Mexiko, Indien, Indonesien, Nigeria und Südafrika. Diese Gruppe könnte sich mit den G8-Staaten auf gleicher Augenhöhe - zumindest dem Anschein nach - treffen. Das wäre der erste Schritt in Richtung einer Reduzierung der Kluft zwischen dem Zentrum und der Peripherie und der Etablierung einer ausgewogeneren Weltordnung.
  451.  
  452. Die internationale Zivilgesellschaft
  453. Das wichtigste Entwicklungsland ist
  454. China. China ist zwar keine Demokratie, darf aber bei keiner Konstellation, welche die Entwicklungsländer miteinander verbindet, fehlen. Das größte Hindernis bei der Bildung einer D6-Gruppe besteht darin, dass die betroffenen Länder China nicht vor den Kopf stoßen wollen. China wiederum hat ein handfestes Interesse daran, die Akzeptanz der übrigen Welt zu erhalten. China entwickelt sich in rasantem Tempo zu einer Weltmacht, und je länger das Land weiter wachsen kann, ohne anderen Ländern auf die Füße zu treten, desto besser für seine eigene Entwicklung. Diese Strategie wurde von der gegenwärtigen Führung, die von einer friedlichen und harmonischen
  455. Entwicklung spricht, zur Doktrin erhoben. Gleichzeitig verschafft das Machtvakuum, das die Schwäche der USA erzeugt hat, China zum Nachteil der USA viel zu schnell viel zu große Macht. Bei seinem Bestreben, seine Energieversorgung sicherzustellen, ist China in einen Konflikt mit Japan geraten, und in Afrika (zum Beispiel im Sudan) sowie in Zentralasien (zum Beispiel in Usbekistan) zu einem Kunden diktatorischer Staaten geworden. Es ist wichtig, China eng in jede neue globale Architektur einzubinden. Das würde die Doktrin der harmonischen Entwicklung stärken und China in eine konstruktive Richtung lenken. China könnte als weiteres
  456. Mitglied der
  457. G8 in Betracht kommen. Wobei angesichts der neueren autokratischen 'Icndcnzen in Russland die G8 nicht mehr länger als Gruppe demokratischer Staaten angesehen werden kann. Wenn China in diesen Kreis aufgenommen würde, würde es dem Land nichts ausmachen, aus der Gruppe der D6 Nationen ausgeklammert zu werden. Die D6 wiederum könnten beider Förderung der Demokratie enger mit den G8- Staaten zusammen- arheilcn, während sie sich mit der G9 - das heißt die G8- Nationen plus
  458. China über Wirtschaftsthemen verständigen könnten.
  459. Die internationale Zivilgesellschaft
  460. Ich glaube, dass es viel Raum Im dir zivilgesellschaft und NGOs gibt, um das Führungsvakuum zu füllen, das von der Unordnung in der internationalen Gemeinschafthinterlassen wurde. Die Zivilgesellschaft kann den Platz, der in einer auf dem Souveränitätsprinzip basierenden Weltordnung von souveränen Staaten eingenommen wird, nicht usurpieren, allerdings müssen demokratische Regierungen den Wünschen der Menschen Gehör schenken. Die Zivilgesellschaft kann durchaus effektiv sein, indem sie ihren Einfluss auf die Regierangen geltend
  461. macht oder bei bestimmten Themen im Verbund mit Regierangen arbeitet.
  462. Die Zivilgesellschaft hat sich bei den globalen Themen der letzten Jahre zunehmend deutlich zu Wort gemeldet. Die Bilder der Demonstrationen, die im Fernsehen übertragen wurden, zeigten zum Teil echte Aufstände gegen internationale Organisationen. Das begann mit den Unruhen in Seattle im Jahr 1999 und setzte sich bei jeder Zusammenkunft der WTO, der Weltbank, des IWF oder der G8 fort. Ich halte diese Aktivitäten für traurige Irrtümer, weil sie auf Publicity und das Säen von Unruhe ausgerichtet sind und sich auf die falschen Ziele konzentrieren. Die
  463. internationalen Institutionen reflektieren zum größten Teil die Politik ihrer Mitgliedsstaaten. Sie sind es, die zur Verantwortung gezogen werden müssen. Das meiste Elend und die meiste Armut in der Welt gehen auf die Politik souveräner Staaten zurück - diese sind aber nicht das Ziel der Demonstrationen.
  464. Abseits der Fernsehberichte ließ die Zivilgesellschaft mit den Menschenrechts- und Umweltschutzbewegungen zwei starke Kräfte entstehen. Beide entwickelten sich bei nationalen und internationalen Angelegenheiten zu Dauerthemen. Der Vertrag zur Ächtung von Landminen und die Ratifizierung des Internationalen
  465. Gerichtshofes waren zum großen Teil das Werk von NGOs (Nichtregierungsorganisationen). In jüngerer Zeit hat sich eine neue Bewegung formiert, die sich direkt gegen Korruption im Allgemeinen und den sogenannten Ressourcenfluch - damit ist die Korruption gemeint, welche die Verknappung der Energieressourcen ausgelöst hat - im Besonderen richtet. Diese neue Bewegung genießt die Unterstützung der NGOs, die in den Menschen rechts und Umweltschutzbewegungen aktiv sind. Der Korruptionsindex, der seit 1995 von Transparency International veröffentlicht wird, hat inzwischen einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt. Der Kampf
  466. gegen den Ressourcenfluch datiert aus jüngerer Zeit und ist noch nicht so ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen. Da ich in dieses Thema stark involviert bin, möchte ich an dieser Stelle die Aufmerksamkeit der Leser darauf lenken.
  467. Der Ressourcenfluch
  468. Entwicklungsländer, die reich an Bodenschätzen sind, sind oft genauso arm wie Länder ohne große Vorkommen an natürlichen Ressourcen. Was lirstere von Letzteren allerdings unterscheidet, ist, dass Länder mit reichen Hodenschätzen üblicherweise repressivere und korruptere Regierungen haben und oft von bewaffneten
  469. Konflikten zerstört werden. Das ist als Ressourcenfluch bekanntgeworden. Die Geschichte der Bewegung gegen den Ressourcenfluch ist lehrreich, weil sie eine Illustration dessen ist, was ich als fruchtbaren Irrtum bezeichne.
  470. Alles begann mit einer Kampagne, die Anfang 2002 unter dem Namen ,,Publish What You Pay" gestartet wurde. Sie wurde von einer Reihe internationaler NGOs unterstützt, darunter Global Witness, die ihre Basis in der Umweltschutzbewegung hat und von meiner Stiftung finanziell unterstützt wird.23 Das Ziel der Kampagne war, Öl- und Minenkonzerne dazu zu bewegen, alle Zahlungen offenzulegen,
  471. die sie an einzelne Länder leisten, eine Addition dieser Summen würde Transparenz darüber schaffen, wie viel Gelder jedes Land erhält. Das wiederum würde den Bürgern der jeweiligen Länder ermöglichen, von ihren Regierungen Rechenschaft über den Verbleib der Gelder zu verlangen. Den Namen der Kampagne der sich als ziemlich aufmerksamkeitswirksam erwies, erfand ein Werbefachmann. Die Kampagne sprach die Ressentiments gegenüber multinationalen Konzernen der westlichen Welt an und war von Anfang an erfolgreich- Die Begründung, die zu der Kampagne führte, hielt einer nähreen Betrachtung jedoch nicht stand. (Aus diesem Grund bezeichne
  472. ich sie als frachtbaren Irrtum.) Unternehmen, die an den großen Weltbörsen notiert waren, konnten rechtlich nicht dazu gezwungen werden, ihre landesspezifischen Konten offenzulegen. Als ich diesen Punkt mit verschiedenen Aufsichtsbehörden diskutierte, teilten diese mir mit, dass eine solche Verpflichtung einer besonderen Gesetzgebung bedürfe. Der von den Republikanern dominierte US- Kongress hätte ein solches Gesetz aber niemals verabschiedet. Und selbst wenn alle börsennotierten Unternehmen dem öffentiichen Druck nachgegeben hätten, wären einige wichtige Staatsunternehmen und Privatunternehmen, die sich nicht über
  473. die Börse Kapital beschaffen, von diesem Gesetz ausgenommen gewesen. Somit hätte man die Gesamtsumme der Zahlungen, die einzelne Regierungen erhalten, auch weiterhin nicht genau berechnen können. Aus diesem Grand war ich bestrebt, die Aufmerksamkeit der Bewegungen von den Unternehmen weg und auf die Regierungen zu lenken.
  474. Glücklicherweise übernahm die britische Regierang - auf Betreiben der britischen NGOs - hier die Führung. Die Weltbank und der IWF boten ebenfalls mit großer Bereitwilligkeit ihre Unterstützung an. Mit ihrer Hilfe wurde Ende 2002 die Extractive Industries Transparency Initiative (EITI)
  475. gegründet. Dabei wurden Unternehmen, Regierangen und die Zivilgesellschaft zusammengebracht, um für Unternehmen und Regierangen in öl-, gas- und bergbauabhängigen Ländern Offenlegungsstandards festzulegen. EITI ist kein besonders aufmerksamkeitswirksamer Name, aber dank des Rückhalts der britischen Regierang, der Weltbank und des IWF gewinnt die Initiative zunehmend internationale Unterstützung und Anerkennung. Die Zahl der Länder, die daran interessiert sind, die Offenlegungsstandards einzuführen, wächst. Die Zivilgesellschaft bietet den Impetus, um die Initiative am Laufen zu halten. Mein Stiftungsnetzwerk ist darin
  476. stark involviert. Wir haben in mehreren Ländern sogenannte Revenue Watch Groups eingerichtet, die verfolgen, welche Zahlungen die Regierungen erhalten.EITI basiert auf Freiwilligkeit, aber die Zivilgesellschaft drängt weiter darauf, dass die Teilnahme zur Verpflichtung wird - Das hält den Druck auf Ol und Minengescllschaften hoch.. British Petroleum nicht gedrängt werden. Der Präsident des Unternehmens, Lord John Browne, ist ernsthaft davon überzeugt, dass eine größere Transparenz im Interesse der Aktionäre ist, und so legte er die Zahlungen des Konzerns an Angola detailliert offen. Die Regierung von Angola drohte daraufhin, dem Konzern die
  477. Förderkonzession zu entziehen, und zwar mit der Begründung, British Petroleum verstoße gegen den Vertraulichkeitsparagrafen, der eine Standardklausel in allen internationalen Ol- und Gasverträgen ist. British Petroleum hat dem Druck in diesem Fall nachgegeben, aber zusammen mit Shell angekündigt, dass man die Zahlungen an diejenigen Länder veröffentlichen werde, die eine Offenlegung erlauben. Nigeria hat auf eine Vertraulichkeitsvereinbarung verzichtet und Unternehmen gebeten, ihre individuellen Zahlungen anzugeben. Andere Länder, die sich an die EITI- Standards halten, darunter Aserbeidschan, sehen keine individuelle
  478. Ausweisung vor, sondern fordern alle im Land aktiven Unternehmen auf, ihre Zahlungen in einem Pool zusammenzurechnen. Die Gesamtsumme wird in einem entsprechenden Bericht veröffentlicht. Aserbeidschan, wo British Petroleum der führende Ölkonzern ist, hat einen Ölfonds nach norwegischem Vorbild eingerichtet und die EITI- Prinzipien übernommen. Kasachstan hat ebenfalls einen Ölfonds ein- gerichtet und die EITI-Standards unterschrieben. Ein Dutzend weiterer Läder hat die Absicht geäußert, sich EITIs Transparenzgrundsätzen a n/uschließen.
  479. die beeindruckendsten Fortschritte
  480. wurden in Nigeria erzielt, das lange eom Paradebeispiel für den Ressourcenfluch war, sowie in seinem kleinen Nachbarland Sao Tomé. Der nigerianische Präsident Olusegun Obasankp wurde schon vor seiner Rückkehr nach Nigeria und seiner Wahl zum Präsidenten mit Transparency Interantional in Zusammenhang gebracht. Nach seiner Wiederwahl 2003 holte er mit finanzieller Unterstützung der UNDP Ngozi Okonjo Iweala von der Weltbank zurück und setzte mit Hilfe eines starken Teams reformorientierter Politiker auf weitreichende Steuer, Währungs und Bankreformen. Nigeria ist ein Land, in dem Praktisch alles versucht wurde, und nichts je funktioniert hat. Dennoch haben
  481. Ngozi Okonjo Iweala, Oby Ezekwesili (minister für feste
  482. Minerale und Motor des nigerianischen EITI-Prozesses), Charles Soludo (Gouverneur der Zentralbank) und andere Politiker und Experten große Fortschritte bei den institutionellen Reformen und der Transparenz erzielt. Die ersten unabhängigen forensischen Audits der Einnahmen, der Produktion und der Managementprozesse im Ölgeschäft wurden kürzlich veröffentlicht und weisen den Weg zu weiteren Reformen im Öl- und Gassektor. Mit Hilfe meiner lokalen Stiftungen veröffendichte die nigerianische Regierung auch ihre
  483. Zahlungen an verschiedene staatliche und lokale Behörden. Das führte zu einigen spektakulären Korruptionsprozessen. Die Zivilgesellschaft, die äußerst misstrauisch und feindlich gesinnt war, begann dem Fortschritt allmählich zu trauen. Die Steuerreformen begannen sich ebenfalls in den volkswirtschaftlichen Indikatoren bemerkbar zu machen. Diese Entwicklungen trugen dazu bei, dass Nigeria ein Schuldenerlass in beachtlicher Höhe gewährt wurde und das Land sein erstes internationales Kredit-Rating erhielt.
  484. Der in Nigeria erzielte Fortschritt ist
  485. noch lange nicht irreversibel. Einige der reichsten und mächtigsten Menschen des Landes fühlen sich bedroht. Zudem sehen die Menschen in den Öl produzierenden Regionen bisher keinen Nutzen aus den Reformen. Die Anstrengungen zur Bekämpfung der Korruption, der Piraterie und des Öldiebstahls haben im Nigerdelta buchstäblich zum Aufstand geführt. Die nächsten Präsidentschaftswahlen finden 2007 statt. Es ist kein Nachfolger von Obasanjo in Sicht, wobei sich verschiedene Kandidaten um die Nachfolge streiten. Obasanjo liebäugelt wiederum mit der Idee, die Verfassung zu ändern und für eine dritte Amtszeit zu kandidieren. Bis seine Nachfolge geklärt
  486. ist, sind die Errungenschaften der letzten Jahre immer noch in Gefahr.
  487. Sao Tomé ist eine kleine, verarmte Insel vor der nigerianischen Küste, deren Offshore-Ölfelder in Partnerschaft mit Nigeria entwickelt werden. Eine Gruppe von gemeinnützig arbeitenden Anwälten bot technische Unterstützung um Sao Tome dabei zu helfen, weitreichende Transparenzregeln für seine zukünftige Oel und Gasproduktion aufzustellen. In vielen anderen Teilen der Welt werden ebenfalls Fortschritte erzielt.
  488. Ich bin bereit, viele Initiativen zu unterstützen, aber ich werde das nur tun, wenn diese an Eigendynamik gewinnen. Die Initiative kontra den
  489. Ressourcenfluch hat sich so entwickelt, dass sie auf festeren Beinen steht als die meisten anderen Initiativen, und das hat mich sehr enthusiastisch gestimmt. Ich habe beschlossen, eine unabhängige Organisation zu gründen - das Revenue Watch Institute -, das Strategien entwerfen und als konzeptionelles und praxisbezogenes Ressourcenzentrum füngieren wird, und das auf Wunsch technische Unterstützung leisten soll. Es ist noch sehr früh, aber die Aussichten sind vielversprechend. Es ist viel einfacher, bestehende Ressourcen besser zu nutzen, als neue Ressourcen zu entwickeln. Unsere Initiativen treffen ins Schwarze, wie ich zu sagen pflege.
  490. Die Bemühungen, den Ressourcenfluch zu brechen, sind ein gutes Beispiel dafür, was private Stiftungen in Zusammenarbeit mit NGOs bewirken können. Wie ich zu Beginn dieses Unterkapitels erwähnt habe, kann die Zivilgesellschaft keine souveränen Staaten ersetzen, aber sie kann beeinflussen, wie sie und andere Akteure - zum Beispiel multinationale Konzerne - sich verhalten.
  491. I )ie größten Hürden für weiteren Fortschritt in der Bekämpfung des Ressourcen fluchs sind China und, in geringerem Ausmaß, Indien. In seinem I lunger nach Energie und anderen Rohmaterialien, wird China schnell um l
  492. Interstützer diktatorischer Regime. China ist der wichtigste Handels- | i.n l iier und Protektor der Militärdiktatur von Myanmar. China feierte den usbekischen Präsidenten Islam Karimov unmittelbar nach dem Massaker vi in Andijan, und es verlieh Präsident Robert Mugabe von Zimbabwe eine Ehrenprofessur. China ist der größte Abnehmer von Öl aus Sudan, und es liehinderle die UNO- Mission im Umgang mit den ethnischen Säuberungen in Darfur. Außerdem gewährte es Angola umfangreiche Kredite, als Angola die Bedingungen des IWF nicht erfüllte. Chinas Verhalten stellt nur Hürde dar, welche die Zivilgesellschaft allein nicht überwinden kann. Die Zivilgesellschaft
  493. kann zwar Druck .auf multinationale Konzerne ausüben aber nicht auf China oder Indien. Daher ist es dringend erforderlich, dass die Regierungen ein waches Auge auf diese Länder haben. Im folgenden Kapitel werde ich diesen Punkt näher ausführenKapitel 7:
  494. Die globale Energiekrise
  495. Ein übergeordnetes Thema verbindet viele der im zweiten Teil des Buches diskutierten Probleme miteinander. Lassen Sie mich die vielen Fäden zusammenführen: die globale Klimaerwärmung, der Ressourcenfluch, der zunehmende Energiebedarf der großen Volkswirtschaften - USA, Europa, Japan, China und Indien - und
  496. die damit einhergehende Abhängigkeit von politisch instabilen Ländern und Regionen, die Energieverknappung, die wachsende Instabilität der gesamten Golfregion. Alles zusammen addiert sich zu einer großen Krise, mit der die Menschheit konfrontiert ist: eine globale Energiekrise.
  497. Die verschiedenen Komponenten sind ganz allmählich über einen langen Zeitraum herangereift. Die globale Klimaerwärmung, die wir gegenwärtig zu spüren bekommen, hat ihre Ursachen in den Schadstoffemissionen, die mehr als ein Jahrhundert zuvor begonnen haben. Der Ressourcenfluch hat seine Ursprünge in der Kolonialzeit und trägt
  498. in erheblichem Maße zur Instabilität des Nahen Ostens bei. Die Ölproduktion in den USA hatte ihren Höchststand vor Jahrzehnten - genauer gesagt, 1971. Die Theorie des sogenannten Hubbert's Peak besagt, dass der Ölproduktion auf globaler libene das Gleiche widerfahren wird. Dieser Theorie zufolge befinden wir uns kurz vor diesem Förderhöchststand, aber es wäre ein zu großer Zufall, wenn wir ihn wirklich so genau bestimmen könnten.
  499. All die verschiedenen Komponenten kamen nach dem II. September Zu summen, wobei diesei Anschlug seinerseits ein wichtiger Faktor für ihrZusammentreffen war. Wenn wir das
  500. endlich erkennen, erklären sich viele andere Entwicklungen, die in diesem Buch diskutiert wurden: der Krieg gegen den Terror, die Invasion in den Irak, der Aufstieg des Iran, die Radikalisierung des Islam sowie die zunehmenden religiösen Spannungen innerhalb des Islam, der Niedergang des Einflusses und der Macht der USA, die Verbreitung nuklearer Massenvernichtungswaffen, Chinas Jagd auf natürliche Ressourcen und seine negativen Auswirkungen auf die Bekämpfung des Ressourcenfluchs sowie Russland, das seine Gaslieferverträge dazu nutzt, die Länder des ehemaligen Sowjetimperiums zu manipulieren und die Gefahr, die das für Europa bedeutet.
  501. Der Kern der Krise liegt in der Olverknappung. Die Gründe dafür sind zum Teil ganz profaner Natur und zum Teil zyklisch. Der profane Faktor ist, dass der Ölverbrauch regelmäßig die Entdeckung neuer Ölvorkommen übersteigt. Im Jahr 2004 wurden 30 Milliarden Barrel Rohöl verbraucht, aber nur 8 Milliarden wurden entdeckt. Die Überkapazitäten sind von 12 Millionen Barrel pro Tag im Jahr 1988 auf zurzeit weniger als 2 Millionen Barrel gefallen.
  502. Der US-amerikanische Geophysiker M. King Hubbert entwickelte ein theoretisches Modell der Ölverfügbarkeit (Hubbert's Peak). Auf
  503. Basis dieses Modells prognostizierte er 1956, dass die Ölförderung der USA zwischen 1965 und 1970 ihren Höhepunkt erreichen würde. 1971 sagte er voraus, dass die globale Ölproduktion zwischen 1995 und 2000 am höchsten sein würde. Da er mit seiner Prognose über die US-Förderung so nah an der Realität lag, predigen seine Anhänger, dass die globale Förderung derzeit ihren Höchststand erreicht hat beziehungsweise kurz davor ist. Die Kontroverse rund um diese Prognose geht größtenteils am Kernproblem vorbei. Der Höhepunkt der Ölförderung kann durch den Einsatz aggressiverer und teurerer Fördermethoden durchaus noch eine Weile hinausgezögert
  504. werden.Der wichtige Punkt ist, dass die Förderung des verbleibenden Öls im immer schwieriger wird, sobald ein ölfeld bereits halb ausgebeutet ist . Die meisten großen Ollekler haben diese Grenze bereits überschritten, und seit 1951, als ein riesiges Ölfeld in Saudi- Arabien entdeckt wurde (als riesiges Oelfeld gilt ein Vorkommen von mind. 30 Mrd. Barrel.) sind keine Ölfelder vergleichbarer Größe mehr gefunden worden. Die Daten über den Ausschöpfungsgrad sind bekanntermaßen unzuverlässig, aber alles deutet darauf hin, dass sie eher zu niedrig sind. Viele börsennotierte Unternehmen mussten die Angaben über ihre Reserven nach unten korrigieren, und viele der etablierten
  505. Olförderländer berichten über eine rückläufige Produktion. Das Land, das vermutlich über die reichsten Ölvorkommen verfugt - Saudi Arabien -, veröffendicht erst gar keine Zahlen über den Ausschöpfungsgrad seiner bestehenden Ölfelder.
  506. Auch wenn sich der generelle Trend zum steigenden Ölverbrauch nicht leugnen lässt, haben die kurzfristigen Schwankungen ihre Ursachen doch eher in zyklischen Faktoren. Die Nachfrage ist hoch, teils wegen der boomenden Weltwirtschaft und teils wegen des Wachstums, das China und andere Entwicklungsländer, die ihre Energie weniger effizient nutzen als hoch
  507. entwickelte Länder, in den letzten Jahren erleben. Zusätzlich zur Verknappung von Rohöl sind die Raffineriekapazitäten zu gering. Die Nachfrage nach mittleren Destillaten (Diesel, Kerosin und Heizöl) wächst am schnellsten; die meisten neuen Ölfelder enthalten aber schweres Rohöl, das nur schwer zu mittleren Destillaten zu raffinieren ist. Erdgasvorkommen sind zwar noch deutlich weiter von ihrem Höchststand entfernt, hier liegt das Problem allerdings in Transportmängeln.
  508. Diese Defizite werden zu gegebener Zeit überwunden sein. Auf die vo- rübergehende Verknappung wird fast zwangsläufig eine vorübergehende Sc
  509. hwemme folgen. Derzeit glauben die Öl verbrauchenden Länder, dass
  510. sie nicht genug Ölreserven haben. Diese Annahme in Kombination mit der Oelspekulation treibt die Nachfrage in die Höhe. Wenn der Ölvor-
  511. rat wieder steigt, werden diese zwei Nachfragequellen zurückgehen. Die Energigieverknappung stellt einen Anreiz dar, Öllieferungen für politische
  512.  
  513. Zwecke einzusetzen, wie es in Nigeria geschehen ist und in Venezuela und im Iran noch geschehen kann. Wenn die Versorgungsengpässe beseitigt sind,
  514. sinkt auch der Anreiz, Öl als politisches Instrument zu benutzen. All diese Faktoren werden dazu beitragen, dass der Ölpreis wieder sinkt. Die OPEC wird einem sinkenden Ölpreis mit einer Drosselung der Ölförde- rung entgegenwirken und so die Überkapazitäten schaffen, die notwendig sind, um die Lieferunterbrechungen zu beseitigen. Aber die anderen Elemente der globalen Energiekrise - die globale Klimaerwärmung, die Abhängigkeit von politisch instabilen Regionen, der Ressourcenfluch und schließlich der Hubbert's Peak - werden bestehen bleiben. Eine temporäre Überproduktion wird den politischen Willen dämpfen,
  515. sich mit diesen Herausforderungen zu beschäftigen. Das ist genau das, was in den 1970er- Jahren nach der ersten Energiekrise passiert ist. Und es sieht ganz danach aus, als würde sich das nun wiederholen.
  516. Die globale Energiekrise stellt in vielerlei Hinsicht eine Gefahr dar, wobei einige der Verbindungen schwer zu erkennen sind. Die globale Klimaerwärmung hat wenig mit dem Terrorismus oder dem Erfolg des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez zu tun. Und dennoch sind diese unterschiedlichen Entwicklungen über die globale Energiekrise miteinander verknüpft. Das Erkennen dieser
  517. Verknüpfungen hilft, den gegenwärtigen Zustand in eine neue Perspektive zu rücken. Zum Beispiel pflegte Vizepräsident Dick Cheney die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, indem er andeutete, die Terroristen könnten in Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen. Und die Demokraten versuchen immer noch damit zu punkten, dass sie die Sicherheit unserer Häfen betonen. Die wirkliche, Gefahr besteht darin, dass Terroristen und andere - Piraten in Nigeria, Hugo Chavez in Venezuela und Al-Qaida im Nahen Osten - die Kette der Energieversorgung unterbrechen. Diese Drohung bewahrheitete sich am 24. Februar 2006, als es Terroristen
  518. gelang, die äußeren Absperrungen der Ölraffinerie Abqaiq in Saudi-Arabien zu überwinden deren Kapazitäten ungefähr 10 Prozent des weltweiten Oelbedarfs ausmachen , dann abei von der Nationalgartie aufgehalten wurden. Audi wenn dieses Sindlingen keine direkten Auswirkungen auf die saudiischen Oellieferungen hatte, war
  519. ·lt.
  520. es eindeutig ein Versuch, die Ölinfrastruktur anzugreifen, was auf eine Abkehr von der bisherigen Taktik hindeutet.
  521. Die verschiedenen Elemente der globalen Energiekrise lassen sich
  522. leichter angehen, wenn man die Verbindungen untereinander erkennt, als wenn man sie separat behandeln würde. Nehmen wir ein Beispiel: die Herstellung von kohlenstofffreiem Treibstoff aus Kohle. Wenn dafür eine effiziente Technologie entwickelt würde, könnte dies einen erheblichen Beitrag zur Reduzierung des Kohlenstoffausstoßes leisten. Außerdem würde dadurch für Länder wie die USA und China, die beide über riesige Kohlevorkommen verfügen, die Abhängigkeit von Energieimporten sinken. I )arüber hinaus wäre es ein Gegenmittel gegen den Hubbert's Peak. Keine dieser Überlegungen ist vielleicht ausreichend, um Unterstützung für die
  523. lixtraktion von Kohlenstoff aus Kohle zu gewinnen, aber alle drei zusammen könnten dieses Vorhaben zu einer Top- Priorität machen. Allerdings benötigt die Kohlenstoffextraktion ebenfalls Energie, und die gegenwärtigen Technologien sind nicht effizient genug. Das Ganze würde substanzielle Investitionen in neue Technologien erfordern.
  524. Keine Einzelmaßnahme reicht aus, um die Krise zu bewältigen. Dazu sind zahlreiche Maßnahmen gleichzeitig erforderlich: Neben kohlenstofffreier Kohle sind außerdem Kernenergie, Wind, Biomasse und natürlich eine Senkung der Nachfrage nötig. Hier lässt sich der Preishebel wirkungsvoll
  525. ansetzen: Die Einführung einer Kohlenstoffsteuer kombiniert mit Koh- hlenstoffguthaben könnte ökonomische Anreize setzen, um sowohl auf die Nachfrage- wie auf der Angebotsseite die notwendigen Anpassungen vorzunehmen. Das Kyoto-Protokoll führte Zielwerte für die Kohlen- .stoffemission ein und erleichterte den Handel mit Kohlenstoffguthaben. Das war ein Sc hritt in die richtige Richtung, aber er ging noch längst niicht weit genug.
  526. Die globale Energiekrise ist komplexer als jede andere Krise. Sie reicht an das heran, was Marx als ideologischne überbau bezeichnet hat, sowie an die
  527. materiellen Lebensbedingungen . Es handelt sich dabei nicht um eine einzelne Krise, sondern um ein Zusammenfliessen verschiedener Ent
  528. Wicklungen, die sich gegenseitig verstärkt und nahezu gleichzeitig einen kritischen Punkt erreicht haben. Sie bedrohen unsere Zivilisation in unterschiedlicher Weise. Die globale Klimaerwärmung und die Verbreitung von Nuklearwaffen wurden schon angesprochen. Aber auch sie sind nur Teilaspekte einer komplexen Situation, die in eine globale Desintegration zu entgleiten drohen. Zwar ist der Kern der Energiekrise die angespannte Versorgungslage, aber die
  529. Entwicklungen, die zu einer Desintegration fuhren könnten, sind in erster Linie politischer Natur.
  530. Man könnte die globale Energiekrise als die Kehrseite der Globalisierung interpretieren. Das Ausmaß ihrer Bedrohung unserer Zivilisation hängt davon ab, wie wir mit diesem Problem umgehen. Unsere Zivilisation hat viele Krisen überlebt. Die Finanzmärkte brechen häufig ein und erholen sich dann wieder. Nur sehr selten kollabieren sie völlig, wie das 1997 während der Asienkrise der Fall war. Und selbst damals intervenierten die Finanzbehörden, als das Zentrum des globalen Finanzsystems in Gefahr geriet.
  531. Das ist der Grund, warum dieser Einbruch heute als Asienkrise bezeichnet wird und sich nicht zu einer ernsthaften Krise des globalen Kapitalismus entwickelte. Unser politisches System dagegen ist weniger gut darauf vorbereitet, Katastrophen abzuwenden. Wir haben zwei Weltkriege erlebt, und wir haben einige Male kurz vor einem dritten Weltkrieg gestanden. Kriege haben die Tendenz, immer verheerender zu werden. Unsere Zivilisation wird von Energie angetrieben; die globale Energiekrise könnte sie zerstören.
  532. Die Vielzahl und Größenordnung der Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, übersteigen unsere
  533. Kapazitäten, sie zu bewältigen oder auch nur vollständig zu erfassen. Die gegenwärtige akute Phase der Krise besteht darin, dass Fehlinterpretationen überhandnehmen, insbesondere solche, die sich auf den 11. September beziehen. Zwar können wir Fehlannahmen nicht vermeiden, aber wir können sie korrigieren, wenn wir sie erkennen. Der größte Fehler der USA besteht möglicherweise darin, dass sie glauben, sie seien mächtig genug, all diese Probleme allein zu lösen. Die Wettbewerbsposition eines Landes gegenüber einein anderen Land hilft nicht weiter, wenn die Existenz unserer Wellordnung auf dem Spiel steht.
  534. .'IM
  535. Unsere Definition von nationaler Sicherheit ist zu kurzsichtig, und die herrschende Sichtweise, dass die Weltordnung sich wie ein Markt selbst reguliert, ist grundfalsch. Die globale Klimaerwärmung, die Energieabhängigkeit, der Ressourcenfluch und die Verhinderung der Verbreitung von Atomwaffen erfordern eine internationale Kooperation.
  536. Dennoch müssen wir uns davor hüten, ins andere Extrem zu verfallen und die nationalen Interessen souveräner Staaten zu vernachlässigen. Egal welche Systemveränderungen vorgenommen
  537. werden, sie müssen die nationalen Interessen berücksichtigen. Denken Sie an China. Bis 1993 verließ sich China auf seine inländische Olförderung. Inzwischen importiert China fast die Hälfte seines Verbrauchs. Sein Anteil am Ölweltmarkt beträgt nur 8 Prozent, aber es steht für 30 Prozent des Nachfragewachstums. China hat ein ernsthaftes Interesse an einem harmonischen Wachstum. Außerdem ist das Land überaus energieabhängig und hat große Umweltprobleme. Daher ist es ein natürlicher Partner für die Entwicklung alternativer, sauberer Treibstoffe, insbesondere solcher, die sich aus Kohle entwickeln lassen, von der China mehr als genug hat. Dagegen
  538. ist China kein natürlicher Partner in der Beseitigung des Ressourcenfluchs. Im Gegenteil, auf seiner Suche nach alternativen Energiequellen ist China Kunde von diktatorischen Regimes in Afrika und Zentralasien geworden - eine Situation, die Chinas Interesse an einer harmonischen Entwicklung entgegensteht. Chinas Führung sieht jedoch keine Alternative, vor allem, nachdem sein l Ibernahmeangebot für Unocal abgeschmettert wurde. Es wäre gut, wenn die US-Regierung zuließe, dass China Anteile an legitimierten Energiekonzernen erwirbt, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass China an der Beseitigung des Ressourcenfluchs mitwirkt.
  539. Huropa sollte als Führer in der Energiekooperation vorangehen. Europa hängt stark von Erdgas ab, das es hauptsächlich aus Russland bezieht. Die Iii) importiert 50 Prozent ihres Energiebedarfs, wobei geschätzt wird, dass die Importe bis zum Jahr 2020 auf 70 Prozent steigen werden. Russland ist bei Weitem Europas größter Lieferant von Öl (20 Prozent) und Erdgas ('10 Prozent) Zahlreiche EU Länder sind stark von russischem Gas abhängig Russland liefert 40 Prozent des deutschen Gasbedarfs, 65 bis 80 Prozent des gesamten Gasbedarfs von Polen, Ungarn und Tschechien und fast 100 Prozent des Bedarfs von Osterreich, der Slowakei und den baltischen Staaten.
  540. Das macht Europa besonders verwundbar, weil Russland begonnen hat, seine Kontrolle über die Gaslieferungen als politische Waffe einzusetzen.
  541. Die Geschichte ist kompliziert, und ich kann hier nur eine Kurzfassung liefern. Als das Sowjetimperium auseinanderfiel, wurde der Energiesektor auf chaotische Art und Weise privatisiert. Es fanden alle möglichen dubiosen Transaktionen statt wie die Kreditgewährung im Tausch gegen Unternehmensaktien, und so entstanden riesige Vermögen. Als Wladimir Putin Präsident wurde, nutzte er seine Staatsmacht dazu, die Kontrolle
  542. über die Energieindustrie zurückzugewinnen. Er ließ Michail Chodorkowski, den ehemaligen Präsidenten von Yukos, ins Gefängnis sperren und zerschlug den Konzern. Dann setzte er Alexej Mller an die Spitze von Gazprom und drängte das bisherige Management, das ein privates Imperium aufgebaut hatte, aus dem Unternehmen und dessen Besitztümern. Allerdings löste er dieses Imperium nicht auf, sondern nutzte es, um die Produktion und die Gaslieferungen in Nachbarländer zu kontrollieren. Das führte zur Entstehung eines Netzwerkes an undurchsichtigen Unternehmen, das zwei Zwecken diente: der Ausweitung des russischen Einflusses und dem
  543. Aufbau privater Vermögen. Mlliarden Dollar sind im Verlauf der Jahre in dunklen Kanälen versickert. Den größten Reichtum bildete das Gas aus Turkmenistan, das von einem in Ungarn eingetragenen Unternehmen zu einem Vielfachen des Kaufpreises weiterveräußert wurde. Auch wenn die tatsächlichen Besitzverhältnisse des Unternehmens Eural Trans Gas nie offengelegt wurden, unterlag das Unternehmen der gemeinsamen Kontrolle von Präsident Putin und Leonid Kutschma, dem ehemaligen Präsidenten der Ukraine. Ich glaube, das war einer der Gründe, weshalb Putin sich 2004 öffentlich so für Kutschmas Präsidentschaftskandidaten Viktor
  544. Janukowitsch stark gemacht hat. Nach der Orangen Revolution ging der Vertrag mit Turkmenistan in die Hände der RosUkrEnergo über, ein Unternehmen mit undurchsichtigen Eigentümerstrukturen, bei dessen Gründung die Osterreichische Raiffeisenbank ihre Haende im Spiel hatte
  545. Anfang des Jahres 2006 stoppte Russland die Gaslieferungen an die Ukraine. Die Ukraine wiederum zapfte die Gasleitungen an, durch die russisches Gas an Europa geliefert wurde. Das zwang Russland dazu, die Gaslieferung an die Ukraine wieder aufzunehmen, aber in den darauf
  546. folgenden Vereinbarungen setzte sich Russland durch. Es versprach sechs Monate lang Gaslieferungen über die RosUkrEnergo zu einem reduzierten Preis, während sich die Ukraine verpflichtete, die Durchleitungsgebühren fünf Jahre lang einzufrieren. Nach Ablauf von sechs Monaten kann Russland auf die Ukraine politischen Druck ausüben, indem es mit einer Erhöhung der Gaspreise droht. Russland hat bereits die Kontrolle über Weißrussland.
  547. Unter dem Strich führt das dazu, dass Europa zu einem großen Teil von den Energielieferungen aus einem Land abhängt, das nicht zögert, sein
  548. Machtmonopol auf willkürliche Weise zu missbrauchen. Bis jetzt standen die europäischen Länder miteinander in Konkurrenz um die Gaslieferungen aus Russland. Damit haben sie sich Russland ausgeliefert. Die Energieabhängigkeit hat einen großen Einfluss auf die Haltung und die Politik der EU gegenüber Russland und seinen Nachbarn. Es wird im Interesse der Mtgliedsstaaten der EU sein, eine europäische Energiepolitik zu entwickeln. Ein gemeinsamer Auftritt kann die Machtungleichgewichte ausbalancieren. Auf kurze Sicht sitzt Russland am längeren Hebel. Eine Aussetzung der Gaslieferungen hätte eine augenblickliche Lähmung der europäischen Volkswirtschaften zur
  549. Folge, während eine Unterbrechung der Einnahmen aus den Gaslieferungen sich in Russland erst mit einer gewissen Verzögerung bemerkbar machen würde. Auf lange Sicht stellt sich die Situation aber umgekehrt dar. Russland braucht einen Markt für sein Gas, und solange Europa zusammenhält, bieten sich Russland wenig Alternativen. Europa könnte seine Einkaufsmacht dazu nutzen, Russland mitzuteilen, dass seine Abhängigkeit von russischem Gas unter den gegenwärtigen Bedingungen zu groß ist. Wenn Russland seinen Markt in Huropa aufrechterhalten und ausbauen will, muss es einer Änderung der Konditionen zustimmen, indem es die Europäische Energie-Charta und die
  550. ExtractiveIndustries Transpareney Initiative (EITI) unterzeichnet. Das würde das russische Ciasmonopol aulheben, die Pipelines in Schnellslra
  551. Ml
  552. ßen verwandeln und Europa erlauben, seine Gasimporte aus der früheren Sowjetunion zu erhöhen, ohne die Sicherheit seiner Energieversorgung zu gefährden. Mit einer effektiven gemeinsamen Energiepolitik könnte die EU, die ihren Ursprung in der Montanunion hat, ihre politische Dynamik wiedergewinnen.
  553. Ermutigt durch die knappe Energieversorgung ist Russland in der
  554. Zwischenzeit dabei, eine zunehmend machtorientierte Position einzunehmen, die weit über die Energiepolitik hinausgeht. Russland hat Flugabwehrsysteme des Typs Tor Ml und (über Weißrussland) des Typs S300 an den Iran verkauft und es trotz des großen Drucks seitens der USA abgelehnt, den Verkauf zu stoppen. Diese Raketen werden im Herbst 2006 aufgestellt, und danach wird es für Israel sehr viel schwerer werden, einen vorbeugenden Angriff auf die iranischen Nuklearanlagen zu unternehmen. Außerdem unterstützt Russland die Hamas mit 10 Millionen Dollar pro Monat, zum Ausgleich für den Entzug der EU-Subventionen. Berichten zufolge
  555. soll Russland darüber hinaus Waffen an Syrien liefern.
  556. Diese Entscheidungen bedeuten, dass Russland sich als Machtfaktor im Nahen Osten etablieren will, indem es gegen die Interessen des Westens agiert. All diesen Aktivitäten liegt eine Veränderung in Russlands Doktrin der nationalen Sicherheit zugrunde, die zwar öffentlich verkündet wurde, aber bisher wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Es verdichten sich die Hinweise darauf, dass Russland möglicherweise ganz bewusst einen israelischen Raketenangriff auf den Iran provozieren will, indem es den Iran mit Raketen beliefert und gleichzeitig für Israel einen
  557. Satelliten zur Überwachung der nuklearen Aktivitäten des Iran installiert.
  558. Es ist schwierig, eine wohlüberlegte Bewertung der Situation vorzunehmen, weil sich die Ereignisse ständig überschlagen, auch jetzt, während der Entstehung dieses Manuskripts (Mai 2006). Alles was ich tun kann, ist, einige der Fäden zu nennen, die miteinander verwoben werden müssen. Erstens der Ressourcenfluch: die eigenartige Dynamik, die in Ländern vorherrscht, deren Wirtschaft in erster Linie auf Einnahmen aus der Ausbeutung ihrer natürlichen Ressourcen basiert. Zweitens Russlands Entwicklung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion:
  559. die chaotischen Zustände, die weit verbreitete Armut, die im krassen Gegensatz zu dem unglaublichen Reichtum und Erfolg einiger weniger Abenteurer steht, die Demütigung, die Russland als Supermacht erfahren hat - die viel größer ist, als die Demütigung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg. Drittens: das Entstehen einer neuen Führungsriege in Russland, die ihre Wurzeln im KGB hat und deren Weltsicht von dem Zustand großen Ungleichgewichts geprägt wurde, der seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrscht. Viertens: die Gefahr, welche die sogenannten Orangen Revolutionen in Georgien, der Ukraine und Kirgisistan darstellen. Fünftens: die
  560. Unruhen im Nahen Osten, die Energieverknappung und der steile Niedergang der einzigen verbleibenden Supermacht - der USA.
  561. Wenn man versucht, alle diese Themen miteinander zu verknüpfen, entsteht ein Muster, das hochgradig schockierend ist: ein abenteuerliches Regime in Russland (das ganz anders ist als die bürokratisch-fade, vorsichtige und konservative Regierung der Sowjetunion), das eine Gelegenheit sieht, auf Basis seiner natürlichen Ressourcen seine Macht zu konsolidieren und zu immensem Reichtum zu gelangen. Russland scheint sich zu einer neuen Art Akteur auf der
  562. internationalen Bühne zu entwickeln, nämlich einer < >1 Supermacht, die den Konflikt im Nahen Osten braucht, um die eigenen Ziele erreichen zu können.
  563. Ich bin darüber sehr erstaunt. Zwar verfolge ich die Entwicklungen in Russland aus nächster Nähe, aber damit habe ich nicht gerechnet. In dieser Hinsicht geht es mir genauso wie der übrigen Well Wir sind so mit unseren internen Auseinandersetzungen beschäftigt, dass wir die externenEntwicklungen aus den Augen verlieren. Während wir immer noch einen phantasmagorischen Krieg gegen den Terror fuhren, lauert bereits eine echte Feuersbrunst.
  564. Präsident Bush hat trotz Russlands Weigerung, die Raketenlieferungen an den Iran einzustellen, seine Absicht bekräftigt, den G8-Gipfel in St. Petersburg im Juli 2006 nicht zu boykottieren. Er wird versuchen, Russland als Vermitder zu benutzen, um den Iran zu Konzessionen zu bewegen, so wie wir China als Vermittler gegenüber Nordkorea benutzen. Das ist aber der falsche Weg. Die USA sollten direkt mit dem Iran verhandeln. Russland verfolgt nämlich seine eigene Agenda. Das Putin-Regime lechzt nach der Respektabilität, die das Treffen der G8 in St. Petersburg verleiht. Putin wird anschließend mehr Spielraum für die Verfolgung einer unabhängigen Linie
  565. haben. Im Rückblick könnte Bushs Teilnahme am G8-Gipfel in St. Petersburg durchaus dem Besuch Neville Chamberlains in München ähneln, es sei denn, die Raketenlieferungen an den Iran würden gestoppt. Russland scheint auf die Uneinigkeit und Untätigkeit des Westens zu bauen. Unglücklicherweise geht seine Rechnung womöglich auf. Sowohl die USA als auch Europa sind intern gespalten und einander entfremdet. Die EU wird von bürokratischer Schwerfälligkeit zusammengehalten. Die Wirtschaftsgemeinde neigt auch eher dazu, individuelle Verhandlungen mit Russland zu fuhren, anstatt auf bestimmte Verhaltensstandards zu pochen. Es ist
  566. dringend notwendig, dass der Westen an einem Strang zieht.
  567. Eine internationale Kooperation sollte über die Grenzen der EU hinausreichen. Die globale Klimaerwärmung erfordert eine globale Lösung, aber die Haltung der Bush-Regierung steht dabei im Weg. Bei diesem Thema ist die amerikanische Bevölkerung ihrer Regierung voraus, und sie sollte ihre Sicht der Dinge gegenüber der Regierung durchsetzen.Die vordringlichste Aufgabe besteht in der Einigung auf einen neuen Atomwaffensperrvertrag. Der bestehende Vertrag ist mehr als brüchig. Der Iran ist dazu entschlossen, seine nuklearen Fähigkeiten auszubauen, und
  568. wenn er nicht gestoppt wiid, kann eine Keihe änderet Länder auch nicht daran gehindert werden, es dem Iran gleich zu tun. Ein Raketenangriff auf den Iran wäre unter den aktuellen Umständen kontraproduktiv. Das würde die Unterstützung der Bevölkerung für das Regime und dessen Entschlossenheit zur Entwicklung der Atombombe nur weiter verstärken. Die Moslems und große Teile der Entwicklungsländer würden eine Front gegen die USA bilden. Es würde die Position der Besatzungsmächte im Irak unhaltbar machen und die Weltwirtschaft schwer schädigen, ohne dass der Iran daran gehindert werden könnte, in den Besitz von Atombomben zu gelangen. Beide
  569. Szenarien würden in einem Desaster enden. Der einzige Ausweg ist die Einigung auf einen gerechteren Vertrag über den Verzicht auf Atomwaffen mit beinahe universeller Unterstützung. Der Iran würde einen solchen Vertrag entweder freiwillig unterschreiben, oder er könnte dazu gezwungen werden, ohne die katastrophalen Konsequenzen, die ein Raketenangriff in der derzeitigen Situation hätte.
  570. Die globale Energiekrise ist eine der größten Herausforderungen unserer globalen Zivilisation, aber keineswegs die einzige. Sie sollte aber dennoch ausreichen, um einen Sinneswandel der USA auszulösen, einen Brennpunkt der
  571. Aufmerksamkeit für den Zusammenhalt der EU zu bieten und das Konzept der globalen offenen Gesellschaft mit Inhalt zu füllen. Mit Sicherheit bietet sie einen Brennpunkt der Aufmerksamkeit für mein persönliches zukünftiges Engagement und für die Aktivitäten meiner Stiftungen. Wir stehen bei dem Kampf gegen den Ressourcenfluch bereits an vorderster Front, wir sind dabei, uns in der Bekämpfung der globalen Klimaerwärmung zu engagieren, wir beabsichtigen, uns aktiver für die Zukunft der EU zu interessieren, und ich persönlich werde weiterhin für einen tief greifenden Sinneswandel in den USA plädieren.
  572. Anhang:
  573. Der ursprüngliche konzeptionelle Rahmen
  574. Der konzeptionelle Rahmen, der hier vorgestellt wurde, ist Teil eines un- veröffendichten Manuskripts mit dem Titel The Bürden of Consciousness, das ich 1963 verfasst habe. Ich habe es leicht überarbeitet, um es in mein 1990 erschienenes Buch Opening the Soviet System aufzunehmen. Seit seinem Erscheinen in einer Auflage von 1300 Exemplaren, von denen ich selbst 1000 erworben habe, hatte ich das Gefühl, es sei notwendig, diesen Rahmen erneut in dieses Buch einzufügen.
  575. Das Konzept der Veränderung
  576. Veränderung ist ein abstrakter Begriff. Veränderung existiert nicht aus sich selbst heraus, sondern immer in Kombination mit einer Substanz, die sich verändert. Natürlich ist diese Sache auch nur eine Abstraktion, die nicht unabhängig existiert. Das Einzige, das wirklich existiert, ist eine ,,Sache und ihre Veränderung", was vom menschlichen Verstand in seinem Bestreben, einem verwirrenden Universum Sinn zu verleihen, wiederum in Sache und Veränderung aufgespalten wird. Hier beschäftigen wir uns nicht mit Veränderungen, wie sie tatsaechlich vollziehen, sondern mit Veränderung als
  577. theoretischem Konzept
  578. ffl
  579. Worauf es im Hinblick auf Veränderung als Konzept ankommt, ist, dass dies ein abstraktes Denken verlangt. Das Bewusstsein über Veränderung ist mit einer Denkhaltung verbunden, die sich durch die Verwendung von Abstraktionen auszeichnet. Ein mangelndes Bewusstsein beinhaltet daher einen Mangel an Abstraktion. Wir können anhand dieser Abfolge zwei unterschiedliche Denkhaltungen herauskristallisieren.
  580. Wenn es keine Veränderung gibt, muss sich der menschliche Verstand nur mit
  581. einem Katalog an Bedingungen auseinandersetzen, und zwar mit dem, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt existiert. Was vorher war und was in der Zukunft geschieht, ist identisch mit dem, was in diesem Moment existiert. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft bilden eine Einheit, und die ganze Bandbreite an Möglichkeiten ist auf einen konkreten Fall beschränkt. Die Dinge sind, wie sie sind, weil sie nicht anders sein können. Dieses Prinzip vereinfacht die Aufgabe nachzudenken ganz erheblich. Der Verstand muss sich nur mit konkreter Information beschäftigen; alle Komplikationen, die sich aus der Anwendung von Abstraktionen ergeben, können so
  582. vermieden werden. Ich bezeichne das als traditionelle Denkhaltung.
  583. Nun lassen Sie uns eine sich ständig verändernde Welt betrachten. Der Mensch muss lernen, über die Dinge nicht nur in ihrem gegenwärtigen Zustand nachzudenken, sondern auch darüber, wie sie einmal gewesen sind und wie sie zukünftig sein könnten. Folglich muss man nicht nur über die Gegenwart nachdenken, sondern auch über eine unendliche Bandbreite an Möglichkeiten. Wie können diese in verdauliche Portionen unterteilt werden? Nur durch die Einführung von Verallgemeinerungen. Je größer die Verallgemeinerung, desto vereinfachter
  584. die Darstellung der Dinge.Die Welt lässt sich am besten als allgemeine Gleichung darstellen, in der die Gegenwart von einer Reihe Konstanten repräsentiert wird. Auch wenn man die Konstanten verändert, lässt sich dieselbe Gleichung trotzdem auf alle vergangenen und zukünftigen Situationen anwenden. Bei der Anwendung dieser Ari allgemeinci Gleichungen muss man darauf vorbereitet sein, jedes Set an Konstanten zu akzeptieren, das mit den Gleichungen konform geht. In anderen Worten: Alles gilt als möglich, bis es sich als unmöglich erweist. Das bezeichne ich als kritische Denkhaltung.
  585. Die traditionelle und die kritische
  586. Denkhaltung basieren auf zwei diametral entgegengesetzten Prinzipien. Dennoch präsentiert jede von ihnen eine in sich konsistente Sicht der Realität. Wie ist das möglich? Nur indem eine verzerrte Sicht präsentiert wird. Die Verzerrung muss aber nicht so groß sein, wie sie bei einer Anwendung desselben Sets an Bedingungen wäre, denn in Übereinstimmung mit der Theorie der Re- flexivität werden die Umstände beziehungsweise die Bedingungen von der vorherrschenden Denkhaltung beeinflusst. Die traditionelle Denkhaltung wird mit dem, was ich als organische Gesellschaft bezeichne, assoziiert, die kritische Denkhaltung mit der offenen Gesellschaft. Das bietet eine
  587. Ausgangsbasis für den konzeptionellen Rahmen, den ich etablieren möchte.
  588. Wie sehr eine vorherrschende Gesellschaftsform mit der vorherrschenden Denkhaltung konform gehen muss, wird eine der Fragen sein, die wir bei der Entwicklung von theoretischen Modellen stellen müssen. Selbst wenn die gesellschaftlichen Bedingungen dem Einfluss des Denkens der Mitglieder der Gesellschaft unterworfen sind, gibt es andere Aspekte der Realität, die nicht so leicht beeinflusst werden können.
  589. Die Natur ist in dieser Hinsicht besonders widerstandsfähig: Wie die Menschen im Verlauf der Geschichte
  590. feststellen konnten, gehorcht sie den Wünschen der Menschen einfach nicht. Jede Denkhaltung muss daher einen Mechanismus des Umgangs mit Phänomenen entwickeln, die mit ihrem Konzept der Veränderung nicht konform gehen. Das wird ein weiteres Thema sein, über das man sich Gedanken machen muss. Und was am wichtigsten ist: Jedes Modell hat zwangsläufig eine Schwäche, die für uns als ausstenstehende Betrachter offensichtlich für die unmittelbar Beteiligten jedoch nicht sichtbar ist
  591. Die traditionelle Denkhaltung
  592. Die Dinge sind, wie sie immer gewesen
  593. sind - daher können sie nicht anders sein. Das kann als zentraler Leitsatz der traditionellen Denkhaltung angesehen werden. Die Logik dieser Denkhaltung ist alles andere als perfekt. Sie enthält die Schwäche, die wir eigentlich in unserem konzeptionellen Modell erwarten würden. Die Tatsache, dass ihr Glaubenssatz weder wahr noch logisch ist, enthüllt ein wichtiges Merkmal der traditionellen Denkhaltung: Sie ist weder so kritisch noch so logisch, wie wir gelernt haben zu sein. Das ist auch nicht notwendig. Logik und andere Formen der Argumentation sind nur nützlich, wenn man zwischen Alternativen zu entscheiden hat.
  594. Eine Gesellschaft, die sich nicht verändert, ist durch das Fehlen von Alternativen gekennzeichnet. Es gibt nur ein Set an Bedingungen, mit dem sich der menschliche Verstand beschäftigen muss: die Dinge, so wie sie sind. Zwar kann man sich Alternativen vorstellen, aber diese erscheinen eher als Märchen, weil der Weg fehlt, der zu ihnen fuhren würde.
  595. Unter solchen Umständen ist die beste Haltung, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind. Die Möglichkeiten zu Spekulation und Kritik sind begrenzt, schließlich richtet sich das Denken nicht darauf, die Dinge zu hinterfragen, sondern sich mit einer gegebenen
  596. Situation zu arrangieren - eine Aufgabe, die von den prosaischsten Formen der Verallgemeinerung geleistet werden kann. Das erspart den Menschen viel Mühe. Gleichzeitig beraubt es sie ausgefeilterer Instramente des kritischen Denkens. Ihre Sichtweise neigt zu Primitivität und Verzerrung.
  597. Sowohl die Vorteile als auch die Nachteile werden offensichtlich, wenn wir die Probleme der Epistemologie betrachten. Die Beziehung der Gedanken zur Realität erscheint nicht als Problem. Neben der Welt der Fakten gibt es keine Ideenwelt. Und, was noch wichtiger ist, dem Denken scheint nichts Subjektives oder Persönliches anzuhaften. Es ist fest
  598. in der Tradition verwurzelt, die von Generation zu Generation überliefert wurde; seine Gültigkeit steht außer Frage. Die herrschenden Vorstellungen werden als
  599. 2)0
  600. Realität akzeptiert oder, um genauer zu sein, zwischen Ideen und Realität wird keine Trennlinie gezogen.
  601. Das lässt sich vielleicht anhand der Verwendung der Sprache demonstrieren. Einem Gegenstand einen Namen zu geben, bedeutet, ihm ein Etikett aufzukleben. Wenn wir in konkreten Begriffen denken, gibt es immer einen ,,Gegenstand", der einer
  602. bestimmten Bezeichnung entspricht. Wir können den Gegenstand und seine Bezeichnung unterschiedslos verwenden. Das Denken und die Realität sind koexistent. Erst wenn wir in abstrakten Begriffen denken, beginnen wir, Dinge zu benennen, die nicht unabhängig von ihrer Bezeichnung existieren können. Wir mögen zwar den Eindruck haben, dass wir den existierenden Dingen lediglich Bezeichnungen geben, tatsächlich sind diese Dinge jedoch nur dadurch entstanden, dass wir sie bezeichnet haben. Die Bezeichnungen beziehen sich auf etwas, das in unserer Vorstellung entstanden ist. An diesem Punkt trennen sich das Denken und die Realität.
  603. Indem sich die traditionelle Denkhaltung auf konkrete Begriffe beschränkt, vermeidet sie diese Trennung. Allerdings hat diese extreme Vereinfachung einen hohen Preis. Wenn zwischen dem Denken und der Realität kein Unterschied besteht, wie lässt sich dann wahr und unwahr voneinander unterscheiden? Die einzige Aussage, die abgelehnt werden kann, ist eine Aussage, die nicht mit der herrschenden Tradition konform geht. Traditionelle Sichtweisen müssen automatisch akzeptiert werden, weil es kein Kriterium zu ihrer Ablehnung gibt. Wie die Dinge erscheinen, so sind sie auch. Tiefer reicht die traditionelle Denkhaltung nicht. Sie kann keine zufälligen
  604. Beziehungen zwischen verschiedenen Ereignissen herstellen, weil diese sich entweder als wahr oder unwahr herausstellen könnten. Wenn sie unwahr wären, gäbe es eine Realität außerhalb unseres Denkens, damit wäre das Fundament der traditionellen Denkhaltung angegriffen. Wenn das Denken und die Realität hingegen als identisch betrachtet werden, muss es für alles eine Erklärung geben. Die Existenz einer Frage, auf die es keine Aul wort gibt, würde die Einheit des Denkens und der Realilaet genauso zerstören, wie die Existenz einer richtigen und einer falschen Antwort
  605. .MI
  606. Glücklicherweise ist es möglich, die Welt zu erklären, ohne auf Kausalgesetze zurückzugreifen. Da es keine Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen gibt, können alle Fragen im Keim erstickt werden, indem man allen Objekten den Charakter des Übernatürlichen verleiht, dessen Einfluss jedwedes Vorkommnis erklärt und die Möglichkeit interner Widersprüche verhindert. Die meisten Objekte scheinen dann einer solchen Kraft zu unterliegen, denn in Ermangelung von Kausalgesetzen haftet jedem Verhalten etwas Willkürliches an.
  607. Wenn die Unterscheidung zwischen
  608. Gedanken und Realität fehlt, hat eine Erklärung stets dieselbe Überzeugungskraft, egal ob sie auf einer Beobachtung oder einem irrationalen Glauben beruht. Der Geist eines Baumes genießt die gleiche Existenz wie sein eigentlicher Körper - vorausgesetzt, wir glauben daran. Dabei haben wir keinen Grund, unseren Glauben in Frage zu stellen, denn unsere Vorväter glaubten das Gleiche. Auf diese Weise kann die traditionelle Denkhaltung mit ihrer simplen Epistemologie leicht zu Überzeugungen führen, die mit der Realität nichts zu tun haben.
  609. An übernatürliche Kräfte und deren Magie zu glauben, ist das Gleiche, wie
  610. zu akzeptieren, dass sich unsere Umgebung außerhalb unserer Kontrolle befindet. Diese Haltung ist ganz typisch für eine Gesellschaft ohne Veränderung. Da die Menschen machtlos sind, die Welt, in der sie leben, zu verändern, müssen sie sich mit ihrem Schicksal abfinden. Indem sie demütig die Autorität der übernatürlichen Kräfte akzeptieren, welche die Welt regieren, können sie diese vielleicht besänftigen. Aber in die Geheimnisse des Universums einzutauchen, wird überhaupt keinen Nutzen bringen. Selbst wenn die Menschen die Ursachen bestimmter Phänomene entdecken würden, würde ihnen dieses Wissen keinen praktischen Nutzen bieten, es sei
  611. denn, sie gelangten zu der Überzeugung, dass sie die Bedingungen ihrer Existenz verändern können - was undenkbar ist. Das einzige verbleibende Motiv für den Wunsch, die Dinge zu hinterfragen, ist reine Neugier. Aber egal wie groß der Drang auch ist, der Neugier nachzugeben, wird sie die Gefahr, den Zorn der Geister auf sich zu ziehen, davon abhalten. Als Folge wird die Suche nach kausalen Erklärungen aus den Gedanken der Menschen verschwinden
  612. In einer unveränderlichen Gesellschaft sind die gesellschaftlichen Bedingungen nicht von Naturphänomenen unterscheidbar. Sie werden von der
  613. Tradition bestimmt, und ihre Veränderung liegt genauso außerhalb der Macht der Menschen wie deren übrige Umgebung. Die traditionelle Denkhaltung ist nicht in der Lage, eine Unterscheidung zwischen sozialen Gesetzen und Naturgesetzen zu treffen. Daher ist gegenüber der Gesellschaft die gleiche Haltung unterwürfiger Demut erforderlich wie gegenüber der Natur.
  614. Wir haben gesehen, dass die traditionelle Denkhaltung nicht in der Lage ist, zwischen Gedanken und Realität, Wahrheit und Unwahrheit, sozialen Gesetzen und Naturgesetzen zu unterscheiden. Bei weiterem Nachforschen würden wir noch auf
  615. weitere Defizite stoßen. Zum Beispiel ist die traditionelle Denkhaltung äußerst vage, was die Zeitfrage betrifft: Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft tendieren dazu, zu verschmelzen. Für uns dagegen sind solche Kategorien unerlässlich.
  616. Wenn wir die traditionelle Denkhaltung von unserem günstigen Ausgangspunkt aus betrachten, erscheint sie uns ziemlich inadäquat. Das ist in den Bedingungen, in denen sie vorherrscht, aber nicht der Fall. In einer wahrhaft unveränderlichen Gesellschaft erfüllt sie ihre Funktion perfekt; sie enthält alle notwendigen konkreten Informationen und vermeidet unnötige Komplikationen.
  617. Sie repräsentiert die einfachste Art und Weise, mit der einfachstmöglichen Welt umzugehen. Ihre größte Schwäche ist nicht ihr Mangel an Ausgefeiltheit, sondern die Tatsache, dass die konkrete Information, die sie enthält, geringer ist, als diejenige, die sich durch einen anderen Ansatz erreichen ließe. Das ist für uns, die wir über ein überlegenes Wissen verfügen, offensichtlich, muss diejenigen, die über kein anderes Wissen verfügen als Tradition, aber nicht stören. Allerdings macht das die gesamte Struktur extrem anfällig für Einflüsse von außen, Einrivalisierendes Gedankensystem kann die monopolistische Position bestehender Überzeugungen zerstören und sie dazu
  618. zwingen, sich einer kritischen Untersuchung zu unterziehen das würde das Ende der traditionellen un den Beginn der kritischen Denkhaltung bedeutenNehmen wir als Beispiel die Medizin. Ein Medizinmann hat ein völlig falsches Bild von der Funktionsweise des menschlichen Körpers. Lange Erfahrung hat ihn den Nutzen bestimmter Behandlungsmethoden gelehrt, aber es besteht die Gefahr, dass er die richtigen Dinge aus den falschen Gründen tut. Nichtsdestoweniger bringt ihm sein Stamm große Ehrfurcht entgegen. Seine Msserfolge werden den bösen Geistern zugeschrieben, mit denen er zwar vertraut, für deren Handlungen er aber nicht verantwortlich ist. Nur wenn sich
  619. die moderne medizinische Wissenschaft im direkten Vergleich mit der primitiven Medizin misst, wird die Überlegenheit korrekter Erklärungen über falsche Erklärungen deutlich. Der Stamm ist schließlich unter großem Misstrauen und Zähneknirschen gezwungen, die Medizin des weißen Mannes anzuerkennen, weil sie besser wirkt.
  620. Die traditionelle Denkhaltung kann auch auf hausgemachte Schwierigkeiten treffen. Wie wir gesehen haben, ist zumindest ein Teil des herrschenden Sets an Überzeugungen vermutlich falsch. Selbst in einer einfachen und unveränderlichen Gesellschaft muss man mit ungewöhnlichen Ereignissen
  621. rechnen. Die neue Erklärung kann im Widerspruch zu den herkömmlichen Erklärungen stehen, und der Kampf zwischen ihnen kann die wunderbar simple Struktur der traditionellen Welt zerstören. Die Tradition ist äußerst flexibel, solange sie nicht von Alternativen bedroht ist. Sie umfasst definitionsgemäß alle vorherrschenden Erklärungen. Sobald sich eine neue Erklärung durchsetzt, wird diese sofort zur traditionellen Erklärung, und angesichts des verschwommenen Übergangs zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird es so aussehen, als habe es diese Erklärung schon immer gegeben. Auf diese Weise kann eine veränderliche Welt innerhalb ziemlich
  622. weit gesteckter Grenzen unveränderlich erscheinen.
  623. Man kann daher erkennen, dass die traditionelle Denkhaltung in einer relativ unveränderlichen Welt die Bedürfnisse der Menschen bis in alle Ewigkeit erfüllen kann. Wenn die Menschen aber ihnen fremden Gedankengängen ausgesetzt sind, oder wenn neue Entwicklungen eine komplexere Situation schaffen, besteht das Risiko, dass die traditionelle Denkhaltung in sich zusammenfallt.
  624. Die organische Gesellschaft
  625. Traditionelle Überzeugungen können durchaus in der Lage sein, ihre
  626. Überlegenheit im Wettstreit mit anderen Ideen zu wahren, vor allem, wenn sie von dem nötigen Druck unterstützt werden. Unter diesen Umständen kann die traditionelle Denkhaltung jedoch nicht mehr länger als traditionell angesehen werden. Es ist nicht dasselbe, darauf zu bestehen, dass die Dinge so sein müssen, wie sie immer gewesen sind, oder einfach daran zu glauben. Um ein solches Prinzip aufrechtzuerhalten, muss eine Sichtweise als die korrekte propagiert und alle anderen müssen eliminiert werden. Die Tradition kann dann als Prüfstein dafür dienen, was genehm ist und was nicht, aber sie kann nicht mehr länger für sich in Anspruch nehmen, was sie nach der traditionellen
  627. Denkhaltung gewesen ist: die einzige Wissensquelle. Um die pseudo- traditionelle von der traditionellen Denkhaltung zu unterscheiden, bezeichne ich Erstere als ,,dogmatische Denkhaltung" und behandle sie separat.
  628. Die organische Gesellschaft
  629. Die traditionelle Denkhaltung kennt keine Unterscheidung zwischen sozialen Gesetzen und Naturgesetzen. Der gesellschaftliche Rahmen gilt als ebenso unveränderlich wie die übrige Umgebung der Menschen. Daher ist die Ausgangsbasis in einer unveränderlichen Gesellschaft stets die Gesellschaft als Ganzes und nicht die Individuen, aus denen sich die Gesellschaft
  630. zusammensetzt. Während die Gesellschaft die Existenz ihrer Mitglieder allumfassend bestimmt, haben die Mtglieder selbst keinerlei Mitsprache in der Bestimmung der Gesellschaft, in der sie leben, weil die Tradition das für sie festgelegt hat. Das heißt nicht, dass es einen Inter- essenskonflikt zwischen dem Individuum und dem Ganzen, in dem das Individuum keine Rolle spielt, geben muss. In einer unveränderlichen Gesellschaft existiert das Individuum als solches überhaupt nicht. Überdies ist das gesellschaftliche Ganze keine abstrakte Idee, die im Gegensatz zur Idee des Individuums steht, sondern es ist ein konkretes, geschlossenes System, das alle
  631. Mitglieder umfasst. Die Dichotomie zwischen dem gesellschaftlichen Ganzen und dem Individuum ist wie so vieles andere das Ergebnis unserer Angewohnheit, abstrakte Begriffe zu verwenden. Um die innere Geschlossenheit zu verstehen, die eine unveränderliche Gesellschaft kennzeichnet, müssen wir uns von einigen unserer tief verwurzelten Denkgewohnheiten verabschieden, vor allem von unserem Konzept des Individuums.
  632.  
  633. Das Individuum ist ein abstraktes Konzept und hat als solches keinen Platz in einer unveränderlichen Gesellschaft.
  634. Die Gesellschaft hat Mitglieder, von denen jedes einzelne zum Denken und Fühlen in der Lage ist. Aber anstatt sich grundsätzlich zu ähneln, sind sie je nach ihrer Lebensstation fundamental verschieden. Es würde ihnen nicht einmal in den Sinn kommen, dass sie in irgendeiner Weise gleich sind.
  635. So wie das Individuum als Abstraktion keine Existenz besitzt, existiert auch das gesellschaftliche Ganze nicht als Abstraktion, sondern als konkretes Faktum. Die innere Geschlossenheit einer unveränderlichen Gesellschaft ist vergleichbar mit der Geschlossenheit eines Organismus. Die Mitglieder einer unveränderlichen Gesellschaft sind wie
  636. Organe eines Körpers. Sie können nicht außerhalb der Gesellschaft leben, und innerhalb der Gesellschaft können sie nur eine einzige Position einnehmen, nämlich die, die sie gerade innehaben. Sie erfüllen die Funktionen, um ihre Rechte und Pflichten zu bestimmen. Ein Bauer unterscheidet sich von einem Priester so grundsätzlich wie ein Magen von einem Gehirn. Es stimmt zwar, dass die Menschen die Fähigkeit zu denken und zu fühlen besitzen, aber ihre Position in einer organischen Gesellschaft ist festgelegt. Unter dem Strich macht es also keinen großen Unterschied, ob sie ein Bewusstsein haben oder nicht.
  637. Diese Analogie lässt sich nur so lange anwenden, wie die Mtglieder die ihnen zugewiesene Rolle nicht in Frage stellen. Paradoxerweise wird diese Analogie üblicherweise dann herangezogen, wenn der traditionelle gesellschaftliche Rahmen bereits bedroht ist. Menschen, die in einer wahrhaft unveränderlichen Gesellschaft leben, hätten weder das Bedürfnis noch die Fähigkeit, darüber nachzudenken. Der Umstand, dass es Mencnius Agrippa für nötig befind, diese Analogie aufzubringen, weist darauf hin, dass die etablierte Weltordnung bedroht war. Der Begriff ,,organische Gesellschaft" lässt sich nur auf eine Gesellschaft anwenden, in der nie über diese Analogie
  638. nachgedacht würde, denn sonst wäre sie bereits nicht mehr organisch.
  639. Die innere Geschlossenheit einer organischen Gesellschaft ist das Anathema einer anderen Art von Einheit - der Geschlossenheit der Menschheit. Da die traditionelle Denkhaltung keine abstrakten Konzepte kennt, ist jede Beziehung konkret und besonders. Die grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen den Menschen sowie die unveräußerlichen Menschenrechte sind Ideen eines anderen Zeitalters. Die reine Tatsache der menschlichen Existenz bringt keine Rechte mit sich: Ein Sklave unterscheidet sich in den Augen des Gesetzes nicht von irgendwelchem
  640. anderen beweglichen Vermögen. In einer Feudalgesellschaft ist das Land zum Beispiel wichtiger als sein Eigentümer. Letzterer leitet seine Privilegien allein aus dem Land ab, das er besitzt.
  641. Rechte und Titel mögen erblich sein, aber das macht sie nicht zu Privateigentum. Wir sind vielleicht geneigt, Privateigentum als etwas ganz Konkretes zu betrachten; tatsächlich ist es das genaue Gegenteil. Eine Beziehung in Rechte und Pflichten zu unterteilen, stellt bereits eine Abstraktion dar. In ihrer konkreten Form beinhaltet sie beides. Und als solche steht sie dem Prinzip der organischen Gesellschaft diametral entgegen, in der
  642. jeder Besitz entsprechende Verpflichtungen mit sich bringt.Eine organische Gesellschaft kennt auch keine Justiz als abstraktes Prinzip. Die Justiz existiert nur als Sammlung konkreter Rechte und Pflichten. Dennoch beinhaltet die Administration der Gesetze eine gewisse Form der Generalisierung. Mt Ausnahme einer Gesellschaft, die so unveränderlich ist, dass man sie als tot bezeichnen kann, unterscheidet sich jeder Fall in der Präjudiz, um anwendbar zu sein. Ohne abstrakte Prinzipien als Leitfaden hängt es von dem jeweiligen Richter ab, wie er seine Aufgabe bewältigt. Iis gibt zumindest die Chance, dass eine neue Entscheidung in in Konflikt steht . Glücklicherweise
  643. muss dies nicht unbedingt eine Schwierigkeit dar stellen, da die neue Entscheidung sofort zum Präzedenzfall wird, an der sich folgende Entscheidungen orientieren.
  644. Das Ergebnis eines solchen Prozesses ist Gewohnheitsrecht, im Gegensatz zur legislativen Gesetzgebung. Sie basiert auf der unausgesprochenen Annahme, dass die Entscheidungen der Vergangenheit bis in alle Ewigkeit weiterhin gültig sind. Diese Annahme ist streng genommen falsch, aber so nützlich, dass sie womöglich noch lange vorherrscht, nachdem die Gesellschaft längst aufgehört hat, organisch zu sein.
  645. Eine effektive juristische Administration
  646. erfordert, dass die Regeln vorab bekannt sind. Angesichts des unvollkommenen Wissens kann die Gesetzgebung nicht alle Eventualitäten vorhersehen; folglich sind Präzedenzfälle nötig, um Statuten zu ersetzen. Das Gewohnheitsrecht kann neben dem Gesetz existieren, weil es sich trotz der zugrunde liegenden Annahme der Unveränderlichkeit unmerklich an veränderte Bedingungen anpassen kann. Auf dieselbe Weise würde die organische Gesellschaft die Kodifizierung ihrer Gesetze nicht überleben, weil sie dann ihre Flexibilität verlieren würde. Sobald die Gesetze kodifiziert sind, lässt sich der Anschein der Unveränderlichkeit nicht länger wahren, und die organische
  647. Gesellschaft löst sich auf. Glücklicherweise besteht kein großer Drang danach, Gesetze zu kodifizieren, Verträge zu formulieren oder die Tradition in irgendeiner Weise schriftlich zu verewigen, solange die Tradition nicht von Alternativen bedroht wird.
  648. Die Geschlossenheit der organischen Gesellschaft bedeutet, dass ihre Mitglieder keine andere Wahl haben, als dazuzugehören. Das geht sogar noch weiter: Es beinhaltet, dass sie auch gar nicht den Wunsch haben, nicht dazuzugehören, da ihre Interessen und die der Gesellschaft eins sind. Das heißt, sie entschädigen sich selbst über
  649. die Gesellschaft. Die Geschlossenheit ist kein von den Autoritäten proklamiertes Prinzip, sondern eine von allen Teilnehmern akzeptierte Tatsache. Dazu gehören keine großen Opfer. Der eigene Platz in der Gesellschaft mag mühsam oder unwürdig sein, aber es gibt keinen anderen. Ohne ihn hat man überhaupt keinen Platz in der Welt.
  650. Dennoch gibt es immer Menschen, die sich nicht an die herrschende Denkhaltung halten. Wie die Gesellschaft mit diesen Menschen umgeht, ist der beste Test für ihre Anpassungsfähigkeit. Unterdrückung ist meist kontraproduktiv, weil sie Konflikte auslöst und die Entstehung
  651. einer alternativen Denkhaltung fördern kann. Toleranz gemischt mit Zweifel ist wahrscheinlich die beste Antwort. Verrücktheit beziehungsweise Wahnsinn in all seinen Varianten kann im Umgang mit anders denkenden Menschen besonders nützlich sein. Primitive Gesellschaften sind für ihren toleranten Umgang mit mental beeinträchtigten Menschen bekannt.
  652. Nur wenn die traditionellen Bande ausreichend gelockert sind, um die Menschen in die Lage zu versetzen, ihre relativen Positionen innerhalb der Gesellschaft zu verändern, fangen sie an, zwischen ihren eigenen Interessen und denen der Gesellschaft als Ganzes zu
  653. unterscheiden. Wenn das geschieht, bricht die Geschlossenheit der organischen Gesellschaft auseinander, und jeder konzentriert sich nur noch auf die Verfolgung der eigenen Interessen. Traditionelle Beziehungen mögen in solchen Umständen erhalten bleiben, aber dann nur durch Ausübung von Zwang. Dabei handelt es sich dann nicht mehr länger um eine organische Gesellschaft, sondern um eine Gesellschaft, die künstlich unveränderlich gehalten wird. Die Unterscheidung ist die gleiche wie zwischen der traditionellen und der dogmatischen Denkhaltung. Um das zu betonen, bezeichne ich diesen Zustand als geschlossene Gesellschaft.
  654. Die kritische Denkhaltung
  655. Abstraktionen
  656. Solange die Menschen glauben, die Welt sei unveränderlich, können sie glücklich an der l Iberzeugung festhalten, dass ihre Weltsicht die einzig mögliche ist. Die Tradition, so fernab der Realität sie auch sein mag, bietet Orientierung Das denken muss sich nie auf Gebiete jenseits der Betrachtung konkreter Situationen vorwagen
  657. In einer veränderlichen Welt ist die Gegenwart jedoch keine sklavische Wiederholung der Vergangenheit. Statt eines von Tradition bestimmten Geschehnisverlaufs bietet sich den
  658. Menschen eine schier unendliche Bandbreite an Möglichkeiten. Um eine gewisse Ordnung in ein Universum zu bringen, das andernfalls als verwirrend empfunden würde, sind die Menschen gezwungen, zu Vereinfachungen, Verallgemeinerungen, Abstraktionen, Kausalgesetzen und anderen mentalen Hilfsmechanismen zu greifen.
  659. Denkprozesse helfen nicht nur bei der Problemlösung, sie schaffen darüber hinaus ihre eigenen Probleme. Abstraktionen öffnen die Realität für verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Da sie alle jeweils nur Teilaspekte der Realität sind, schließt eine Interpretation andere
  660. Interpretationen nicht aus. Jede Situation hat so viele Aspekte, wie der menschliche Verstand in ihr entdeckt. Wenn dieses Merkmal des abstrakten Denkens in seiner Gesamtheit verstanden würde, würden Abstraktionen weniger Probleme bereiten. Die Menschen würden dann erkennen, dass sie vor einem vereinfachten Bild der Situation stehen und nicht vor der eigentlichen Situation. Aber selbst wenn jeder mit den Kompliziertheiten der modernen linguistischen Philosophie vollständig vertraut wäre, würden die Probleme nicht verschwinden, weil Abstraktionen eine doppelte Rolle spielen. In Bezug auf die Dinge, die sie beschreiben, stellen sie Aspekte der Realität dar,
  661. ohne selbst eine konkrete Existenz zu haben. Das Gesetz der Schwerkraft verursacht zum Beispiel nicht, dass Äpfel auf den Boden fallen, sondern erklärt lediglich die Kräfte, die dies bewirken. In Bezug auf die Menschen, die Abstraktionen verwenden, sind sie jedoch ein wesentlicher Teil der Realität. Indem Abstraktionen die Einstellungen und Handlungen der Menschen beeinflussen, haben sie große Auswirkungen auf alles, was geschieht. Die Entdeckung des Gesetzes der Schwerkraft veränderte zum Beispiel das Verhalten der Menschen: Eine Situation wird reflexiv, sobald die Menschen über ihre eigene Situation nachdenken. Statt einer scharfen
  662. Trennung zwischen den Gedanken und der Realität wird die unendliche Vielfalt einer veränderlichen Welt von einer unendlichen Vielfalt an Interpretationen, die das abstrakte Denken produzieren kann, verstärkt.
  663. inAbstraktes Denken tendiert dazu, Kategorien zu erzeugen, die gegensätzliche Aspekte der realen Welt einander gegenüberstellen: Zeit und Raum, die Gesellschaft und das Individuum, Materialismus und Idealismus sind solche typischen Dichotomien. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass die Modelle, die ich hier entwerfe, auch zu dieser Sammlung gehören. Diese Kategorien sind nicht
  664. realer als die Abstraktionen, die sie haben entstehen lassen. Das soll heißen, sie sind in erster Linie Vereinfachungen oder Verzerrungen der Realität, aber durch den Einfluss des menschlichen Denkens können sie auch zu Spaltungen und Konflikten in der realen Welt führen. Sie tragen dazu bei, dass die Realität komplexer wird und Abstraktionen notwendiger werden. Auf diese Weise nährt sich der Abstraktionsprozess aus sich selbst heraus. Die Komplexitäten einer veränderlichen Welt sind zum großen Teil von den Menschen selbst herbeigeführt.
  665. Warum greifen Menschen angesichts
  666. dieser Komplikationen überhaupt zu Abstraktionen? Die Antwort lautet: Sie vermeiden sie, wo immer es geht. Solange die Welt als unveränderlich betrachtet werden kann, verzichten die Menschen auf Abstraktionen. Und selbst wenn Abstraktionen unvermeidlich werden, versuchen die Menschen, sie als Teil der Realität zu betrachten und nicht als Produkt ihrer eigenen Gedanken. Erst die bittere Erfahrung wird sie lehren, zwischen ihren Gedanken und der Realität zu unterscheiden. Die Neigung, Komplikationen zu vermeiden, die mit der Verwendung von Abstraktionen verbunden sind, muss als eine Schwäche der kritischen Denkhaltung angesehen werden, weil Abstraktionen ein
  667. unvermeidlicher Bestandteil dieser Denkhaltung sind. Und je weniger sie verstanden werden, desto größer ist die Verwirrung, die sie erzeugen.Trotz ihrer Nachteile erweisen uns Abstraktionen einen guten Dienst. Es stimmt, dass sie neue Probleme schaffen, aber der Verstand antwortet darauf so lange mit erneuter Anstrengung, bis das Denken einen neuen Grad an Komplexität und Differenziertheit erreicht hat, der in der traditionellen Denkhaltung unvorstellbar wäre, liine veränderliche Welt bietet nicht die Sicherheit und Gewissheit, die unveränderliche Gesellschaften bieten. Dafür bietet sie in ihm alles andere als perfekten Denkhaltung sehr viel wertvolles Wissen. Abstraktionen
  668. generieren eine unendliche Vielfalt an Sichtweisen. Solange es eine hinreichend effektive Methode zur Auswahl unter den vielen Alternativen gibt, kommt die kritische Denkhaltung der Realität wahrscheinlich wesentiich näher als die traditionelle Denkhaltung, die nur eine einzige Interpretationsmöglichkeit bietet.
  669. Der kritische Prozess
  670. Die Auswahl zwischen verschiedenen Alternativen kann somit als Schlüsselfunktion der kritischen Denkhaltung betrachtet werden. Die Menschen können nicht eine bestimmte Sichtweise einnehmen, ohne sich zumindest der Alternativen bewusst zu
  671. sein und diese aus irgendeinem Grund abzulehnen.
  672. Die traditionelle Denkhaltung akzeptiert unkritisch jede dargebotene Erklärung. In einer sich wandelnden Gesellschaft kann aber niemand sagen: ,,Die Dinge verhalten sich so und nicht anders." Die Menschen müssen ihre Sichtweise mit Argumenten stützen, sonst werden sie niemanden überzeugen außer sich selbst. Der bedingungslose Glaube an eine Idee, an die sonst niemand glaubt, ist eine Form der geistigen Verwirrung. Selbst diejenigen, die glauben, dass sie die ultimative Antwort gefunden haben, müssen mit möglichen Einwänden rechnen und sich gegen Kritik
  673. verteidigen.
  674. Die kritische Denkhaltung ist mehr als eine Haltung, sie ist eine vorherrschende Kondition. Sie beschreibt eine Situation, in der es eine große Zahl an divergierenden Interpretationen gibt, deren jeweilige Verfechter bestrebt sind, Akzeptanz zu gewinnen. Wenn die traditionelle Denkhaltung ein intellektuelles Monopol darstellt, kann die kritische Denkhaltung als intellektueller Wettbewerb bezeichnet werden. Dieser Wettbewerb besteht unabhängig von der Haltung einzelner Individuen oder Denkschulen. Einige der Ideen, die miteinander im Wettstreit stehen, sind provisorisch und
  675. fordern dadurch Kritik heraus, andere sind dogmatisch und wehren jeden kritischen Einwand ab
  676. Die kritische Haltung
  677. Eine kritische Haltung sollte den Bedingungen einer dynamischen Welt eher entsprechen als eine dogmatische Haltung. Provisorische Meinungen sind nicht unbedingt korrekt, und dogmatische Meinungen sind nicht unbedingt komplett falsch. Ein dogmatischer Ansatz kann nur dann an Durchdringungskraft einbüßen, wenn es mehrere unterschiedliche Sichtweisen gibt - Kritik ist für den dogmatischen Ansatz eine Bedrohung und keine Hilfe. Im Gegensatz dazu profitiert eine kritische Haltung von
  678. Kritik: Die fragliche Sichtweise wird so lange angepasst, bis sich keine fundierten Einwände mehr dagegen erheben lassen. Egal wie das Ergebnis dieser rigorosen Vorgehensweise aussieht, wird die neue Sichtweise ihren Zweck wahrscheinlich wesentlich besser erfüllen als die ursprüngliche Sichtweise.
  679. Kritik ist grundsätzlich unangenehm und schwer anzunehmen. Sie wird
  680. - wenn überhaupt - nur akzeptiert, wenn sie effektiv ist. Daraus folgt, dass die Einstellungen der Menschen zum großen Teil davon abhängen, wie gut der kritische Prozess funktioniert. Umgekehrt
  681. hängt die Funktionsweise des kritischen Prozesses von der Einstellung der Menschen ab. Daher ist sowohl der Erfolg des kritischen Prozesses als auch die Dauerhaftigkeit der kritischen Denkhaltung alles andere als gesichert.
  682. Das große Verdienst des kritischen Prozesses liegt darin, dass er ein besseres Verständnis der Realität bietet als die traditionelle, beziehungsweise
  683. - wie wir später sehen werden - die dogmatische Denkhaltung. Ob der kritische Prozess seine Versprechen erfüllt, hängt von einer Reihe von Betrachtungen ab. Ist es den Menschen wichtig genug, die Realität zu verstehen, um die Unbequemlichkeiten
  684. des kritischen Prozesses in Kauf zu nehmen? Bietet die Realität wirklich ein verlässliches Kriterium für die Bewertung miteinander konkurrierender Interpretationen? Herrscht Einigkeit darüber, wie der kritische Prozess funktionieren soll? Diese Fragen sind miteinander verknüpft. Wir werden feststellen, dass der Erfolg des kritischen Prozesse funktionieren soll? Diese Fragen sind miteinander verknüpft. Wir werden feststellen, dass der Erfolg des kritischen Prozesses je nach Thema und Denkabsicht variiert
  685. Die wissenschaftliche Methode
  686. Der kritische Prozess funktioniert am
  687. besten in den Naturwissenschaften. Die Realität bietet ein verlässliches Kriterium für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer wissenschaftlichen Aussage, und es herrscht allgemeine Einigkeit sowohl über die Absicht des Denkens als auch die Art und Weise, wie der kritische Prozess funktioniert. Das liegt daran, dass die Natur unabhängig vom menschlichen Denken existiert. Das Verständnis der Naturgesetze ist der beste Weg, um sich die Natur Untertan zu machen. Folglich gibt es keinen Konflikt zwischen der Suche nach der Wahrheit und dem Bestreben, die Realität dem eigenen Willen zu unterwerfen. Das Forschungswissen
  688. dient jedoch nicht nur dazu, die Wahrheit herauszufinden, es hilft uns auch dabei, das Leben besser zu bewältigen. Die Verbindung macht sich nicht auf den ersten Blick bemerkbar, aber wenn man sie einmal erkannt hat, lässt sie sich nicht leugnen. Feuerwaffen sind einfach wirkungsvoller als Pfeil und Bogen.
  689. Die Menschen hätten trotz Galileo Galileis Experimenten vielleicht glücklich in dem Glauben weitergelebt, die Erde sei eine Scheibe. Was Galileis Argumente so unwiderstehlich machte, waren die Gold- und Silberfunde in Amerika. Die praktischen Ergebnisse wurden nicht vorhergesehen: Tatsächlich wären sie gar nicht erzielt
  690. worden, wenn die wissenschaftliche Forschung auf rein praktische Ziele beschränkt worden wäre. Dennoch waren sie ein durchschlagender Beweis für den Wert wissenschaftlicher Methoden. Nur weil es eine Realität gibt und das menschliche Wissen darüber unvollkommen ist, war es möglich, dass die Wissenschaft bestimmte Facetten der Realität entdeckte, deren Existenz sich die Menschen bis dahin nicht einmal hatten vorstellen können.Die wissenschaftlichen Methoden haben ihre eigenen Regeln und Konventionen hervorgebracht, auf die sich alle Forschungsteilnehmer stillschweigend geeinigt haben. Diese Regeln erkennen an, dass kein Individuum, egal wie
  691. begabt und integer es auch sein mag, in der Lage ist, ein perfektes Verständnis der Dinge zu erlangen. Jede Theorie muss sich der kritischen Überprüfung durch die wissenschaftliche Gemeinde unter- ziehen. Das Ergebnis dieses Prozesses der gegenseitigen Überprüfung erreicht einen Grad an Objektivität, zu der kein individueller Denker allein in der Lage wäre. Wissenschaftler wahren ihre kritische Haltung nicht, weil sie rationaler oder toleranter als der Durchschnittsbürger wären, sondern weil der kritische Prozess für den Erfolg der wissenschaftlichen Methoden unabdingbar ist. Ihre Haltung ist also eher das Ergebnis des kritischen
  692. Prozesses als dessen Ursache.
  693. Die wissenschafdiche Methode hat sich als sehr erfolgreich im Studium von Naturphänomenen erwiesen, nicht so dagegen auf der sozialen Ebene. Die Natur funktioniert unabhängig von unseren Wünschen, die Gesellschaft hingegen kann von Gesellschaftstheorien beeinflusst werden. Bei den Naturwissenschaften muss eine Theorie wahr sein, um effektiv zu sein. Das ist bei den Sozialwissenschaften anders. Hier gibt es eine Abkürzung: Die Menschen können von Theorien beherrscht werden. Der Drang, sich an die Konventionen der Wissenschaften zu halten, ist weniger ausgeprägt, und als
  694. Ergebnis leidet der Prozess der gegenseitigen Überprüfung. Theorien, die darauf abzielen, die Gesellschaft zu verändern, können zum Beispiel unter dem Deckmantel der Wissenschaft verbreitet werden. Dabei machen sie sich den Ruf zunutze, den sich die Wissenschaft erworben hat - allerdings ohne sich an die gleichen Konventionen zu halten. Der kritische Prozess bietet hier nur wenig Schutz, weil die Einigung über die Absicht auf der gesellschafdichen Ebene nicht so authentisch ist wie in den Naturwissenschaften. Es gibt zwei Kriterien, nach denen sich Theorien beurteilen lassen: Wahrheit und Effektivität - aber sie treten nicht mehr
  695. länger zusammen auf.Die Lösung, die von den meisten Verfechtern der wissenschaftlichen Methode befürwortet wird, besteht darin, die Regeln, welche die Naturwissenschaften aufgestellt haben, mit größtmöglichem Nachdruck zu verstärken. Karl Popper hat die Doktrin der Geschlossenheit der Wissenschaften propagiert, der zufolge für die Naturwissenschaften und die Sozialwissenschaften die gleichen Methoden und Kriterien gelten sollen. Ich stimme dem nicht zu. Iis gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen beiden Richtungen: Der Gegenstand mit dem sich die Sozialwisschenschaften beschäftigen, ist reflexiv; die Reflexivität aber hebt die Trennung
  696. zwischen Aussage und Tatsache - die den kritischen Prozess in den Naturwissenschaften so effektiv gemacht haben - auf.
  697. Die Reflexivität bereitet dem kritischen Prozess einige Probleme, die sich in den Naturwissenschaften nicht stellen. Wir müssen hier zwei deudich voneinander abgegrenzte Probleme begreifen. Eines besteht darin, dass die Theorien das Objekt der Untersuchungen beeinflussen können, auf das sie sich beziehen. Das andere besteht darin, dass das mangelhafte Verständnis der am kritischen Prozess beteiligten Akteure dem Gegenstand der Untersuchung eine gewisse Unschärfe verleiht, die dazu
  698. führt, dass widerlegbare Vorhersagen und Erklärungen schwer auszumachen sind.
  699. Karl Popper hatte Recht, als er darauf bestand, dass Theorien widerlegbar sein müssen, um als wissenschafdich gelten zu können, und er hatte Recht, als er darauf hinwies, dass der Marxismus sich nicht als wissenschafdich qualifiziert hat. Aber Popper hat nicht weit genug ausgeholt. Er erkannte nicht, dass ein grundlegender Glaubenssatz der herrschenden ökonomischen Lehre, nämlich dass die Finanzmärkte stets nach Gleichgewicht streben, sich ebenfalls als nicht wissenschaftlich erweisen würde. Das Gleichgewicht ist ein
  700. abstraktes Konzept, das nach den physikalischen Erkenntnissen Isaac Newtons formuliert wurde und auf Annahmen basiert, die in der Realität nicht vorherrschen. Empirische Beweise, dass die Finanzmärkte nicht stets nach Gleichgewicht streben, machen die Theorie als solche deswegen aber nicht ungültig.
  701. Die mit der Reflexivität verbundenen Schwierigkeiten sind nicht wirklich anerkannt. Die Sozialwissenschaften haben sich sehr bemüht, die Naturwissenschaften zu imitieren, um sich den Anschein der Reputation zu verschaffen, den die Naturwissenschaften genießen.
  702. Insbesondere die ökonomische Theorie hat alles getan, um die Reflexivität zu leugnen.
  703. Indem sie davon ausgeht, dass die Bedingungen von Angebot und Nachfrage zwei Dinge sind, die unabhängig voneinander existieren, ist es der ökonomischen Theorie gelungen, die Reflexivität vom Gegenstand ihrerTheorie auszuklammern. Als Ergebnis präsentiert die ökonomische Theorie ein irreführendes Bild der Realität. Die Verzerrung ist jedoch schwer zu beweisen, solange die Sozialwissenschaften nach denselben Kriterien beurteilt werden wie die Naturwissenschaften. Man erwartet,
  704. dass wissen- schafdiche Theorien unmissverständliche Vorhersagen und Erklärungen bieten; Theorien, welche die Reflexivität anerkennen, tun das aber nicht.
  705. Der kritische Prozess trifft außerhalb der Wissenschaft auf noch größere Schwierigkeiten. Das erklärte Ziel der Wissenschaft besteht in der Wis- sensgenerierung. Wissen beruht auf wahren Aussagen. Der kritische Prozess ist daher fest in der Suche nach der Wahrheit verwurzelt. Das trifft auf andere Gebiete aber nicht zu. Der Hauptzweck des Denkens besteht in der Verfolgung von Eigeninteressen - egal wie diese aussehen mögen -, aber nicht
  706. in der abstrakten Wahrheitssuche, es sei denn, jemand hätte ein spezielles Interesse daran. Da die Menschen unterschiedliche Sichtweisen der Realität haben, ist die Wahrheitssuche eine äußerst ineffiziente Methode zur Verfolgung der eigenen Interessen, und daher widmen sich ihr nur wenige Menschen. Dennoch besteht dringender Bedarf an der Korrektur von Fehlannahmen, weil verzerrte Sichtweisen unbeabsichtigte Konsequenzen haben. Wie kann man diesem Bedarf gerecht werden ?
  707. Marktökonomie und Demokratie
  708. In der Wirtschaft bieten die Finanzmärkte einen effizienten
  709. Feedbackmechanismus für die Bestimmung, ob Investmententscheidungen richtig gewesen sind oder nicht. Finanzmärkte sind weit davon entfernt, perfekt zu sein. Sie neigen dazu, Blasen bildende Prozesse zu erzeugen, die zunächst aus sich selbst heraus an Dynamik gewinnen, sich aber schließlich selbst zerstören. Sie tendieren aber nicht dazu, ein Gleichgewicht zu bilden, und in jedem Fall sind sie nur für die Allokation knapper Ressourcen auf konkurrierende private Bedürfnisse geeignet, nie Iii aber für die Befriedigung iibcrgeordnctei Interessen einer Gemeinschaft . Für die Befriedigung dieserBedürfnisse ist ein politischer Prozess notwendig. Dennoch
  710. sind die Finanzmärkte willkürlichen Investmententscheidungen überlegen. Ähnlich verhält es sich in der Politik, in der eine demokratische Regierungsform wahrscheinlich eher in der Lage ist, schwere Fehler zu vermeiden, als eine Willkürherrschaft. Eine autoritäre Regierung muss alternative Sichtweisen aktiv unterdrücken, denn sie kann eine allgemeine Akzeptanz nur durch das Verbot von Kritik und die Unterdrückung neuer Ideen erreichen - also durch die Eliminierung der kritischen Denkhaltung und der Verhinderung irgendeiner Veränderung. Wenn Menschen hingegen über die Fragen der gesellschaftlichen Organisation selbst entscheiden können, müssen die Lösungen keinen endgültigen
  711. Charakter besitzen. Sie können mittels des gleichen Prozesses revidiert werden, der zu den ursprünglichen Lösungen geführt hat. Jeder hat die Freiheit, seine beziehungsweise ihre Sichtweisen zu äußern, bis sich schließlich - sofern der kritische Prozess effektiv funktioniert - diejenige Sichtweise durchsetzt, die den Interessen der am Prozess Beteiligten am besten dient. Das ist das demokratische Prinzip.
  712. Damit eine Demokratie richtig funktionieren kann, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, die mit denen vergleichbar sind, welche die wissenschaftlichen Methoden so erfolgreich gemacht haben. In erster
  713. Linie muss es ein Kriterium geben, anhand dessen sich konkurrierende Ideen beurteilen lassen. Zweitens muss die allgemeine Bereitschaft vorhanden sein, sich an dieses Kriterium zu halten. Die erste Voraussetzung ist durch die Gewinnung der Stimmenmehrheit nach den Bestimmungen der Verfassung erfüllt, und die zweite durch die Überzeugung, dass Demokratie eine Lebensweise ist. Eine Meinungsvielfalt allein macht noch keine Demokratie. Wenn verschiedene Parteien gegensätzliche Dogmen verfechten, ist das Ergebnis nicht Demokratie, sondern Bürgerkrieg. Die Menschen müssen an die Demokratie als Ideal glauben. Sie müssen es als wichtiger erachten, dass
  714. Entscheidungen mit verfassungsgemäßen Mitteln erreicht werden, als dass sich ihr Wille durchsetzt. Diese Bedingung wird nur erfüllt, wenn die Demokratie tatsächlich positive Ergebnisse hervorbringt.
  715. Hier handelt es sich um eine kreisförmige Beziehung: Die Demokratie kann nur als Ideal dienen, wenn sie effektiv ist, und sie kann nur effektivsein, wenn sie allgemein als Ideal akzeptiert wird. Diese Wechselbeziehung entwickelt sich durch einen reflexiven Prozess, in dem die Errungenschaften der Demokratie das Ideal der Demokratie verstärken und umgekehrt. Demokratie lässt sich nicht per Dekret
  716. verordnen.
  717. Die Ähnlichkeit mit der Wissenschaft ist auffallend. Die Konvention der Objektivität und die Effektivität der wissenschaftiichen Methoden stehen ebenfalls in wechselseitiger Beziehung. Die Wissenschaften stützen sich auf ihre Entdeckungen, um den Teufelskreis zu durchbrechen - Entdeckungen sind schlagkräftiger als jedes Argument. Auch die Demokratie verlangt nach positiven Errungenschaften: Wirtschaftswachstum, intellektuelle und spirituelle Stimulierung, ein politisches System, das die Ziele und Wünsche der Bürger besser erfüllt als rivalisierende Regierungsformen.
  718. Die Demokratie ist dazu in der Lage. Sie lässt dem, was als positiver Aspekt des unvollkommenen Wissens angesehen werden kann - der Kreativität - freien Lauf. Man kann nie wissen, was die Kreativität hervorbringt. Die unvorhersehbaren Ergebnisse sind vielleicht die beste Rechtfertigung für Demokratie, so wie sie es auch für die Naturwissenschaften sind. Der Fortschritt ist jedoch nicht gesichert. Konstruktive Beiträge zum Fortschritt können nur von den Teilnehmern der Demokratie kommen. Die Ergebnisse ihres Denkens sind nicht vorhersehbar; sie können dafür sorgen, dass die Demokratie auch weiterhin erfolgreich bleibt, müssen es aber nicht.
  719. Der Glaube an die Demokratie als Ideal ist eine notwendige, aber keineswegs ausreichende Voraussetzung. Das macht die Demokratie zu einem sehr komplizierten Ideal. Selbst durch die Gewinnung der allgemeinen Akzeptanz lässt sie sich nicht garantieren. Die Demokratie kann einfach deswegen nicht garantiert werden, weil sie von den kreativen Energien ihrer Teilnehmer abhängt. Und dennoch muss sie als Ideal betrachtet werden, wenn sie sich durchsetzen soll. Diejenigen, die von ihr überzeugt sind, müssen auf den positiven Aspekt des unvollkommenen Wissens setzen und holten, dass ei die gewünschten Resultate produziert
  720. Das Verlangen nach Gewissheit
  721. Die Demokratie als Ideal lässt einiges zu wünschen übrig. Sie bietet kein endgültiges Programm und keine klar abgegrenzten Ziele, außer in den Fällen, in denen Menschen ihrer Freiheit beraubt wurden. Wenn Menschen frei zwischen einer Vielzahl alternativer Ziele wählen können, müssen sie sich für ihre höchstpersönlichen Ziele entscheiden. Und hier erweist sich die kritische Haltung als höchst unbefriedigend. Sie bietet keinerlei Sicherheit, dass die getroffenen Entscheidungen richtig sind.
  722. In den Naturwissenschaften können belastbare Schlussfolgerungen gezogen
  723. werden, weil objektive Bewertungskriterien zur Verfügung stehen. Die Sozialwissenschaften stehen auf wackeligeren Füßen, weil ihre Refle- xivität mit der Objektivität im Konflikt steht. Und wenn es darum geht, über ein politisches Programm zu entscheiden, ist eine kritische Haltung allein nicht sehr hilfreich. Sie muss mit einem Katalog an Werten und Uberzeugungen kombiniert werden, der dann einer kritischen Bewertung unterzogen wird. Ein unerschütterlicher Glaube an die eigenen Interessen kann eine wesentlich größere Durchschlagskraft entfalten als eine tastende Suche nach den gemeinsamen Interessen.
  724. Die traditionelle Denkhaltung erfüllt das Verlangen nach Gewissheit wesentlich besser als die kritische Denkhaltung. Erstere zieht keine Trennungslinie zwischen Glaube und Realität. Die Religion beziehungsweise ihr primitives Äquivalent, der Animismus, umfasst das gesamte Denken und erwartet bedingungslose Gefolgschaft.
  725. Kein Wunder, dass sich die Menschen nach dem verlorenen Paradies ur- zeitlicher Glückseligkeit sehnen! Dogmatische Ideologien versprechen dieses Sehnen zu erfüllen. Das Problem ist, dass sie das nur können, wenn sie dafür sorgen, dass es keine miteinander in Konflikt stehenden
  726. Glaubensrichtungen gibt. Das macht sie für die kritische Denkhaltung so gefährlich wie das Vorhandensein alternativer Erklärungen für die traditionelle Denkhaltung.Die offene Gesellschaft
  727. Zu dem Zeitpunkt, als ich meinen konzeptionellen Rahmen entwickelte, dachte ich an die offene Gesellschaft als eine hundertprozentig dynamische Gesellschaft, die im Gegensatz zum völligen Mangel an Veränderung einer organischen Gesellschaft steht. Meine Sichtweise hat sich seitdem verändert. Ich sehe die offene Gesellschaft inzwischen als eine ziemlich stabile Gesellschaft, die sich für Innovation und
  728. Verbesserung offen hält. Unerwartete Veränderungen und Ungewissheit können zu einer existenziellen Bedrohung für die offene Gesellschaft werden. Ich präsentiere den konzeptionellen Rahmen hier so, wie ich es Anfang der 1960er- Jahre ursprünglich entwickelt hatte. Dieser Rahmen diente mir als Leitfaden, als ich mich aktiv für die Öffnung des Sowjetsystems engagierte. Die nachfolgenden Überarbeitungen wurde in Teilen schon in Kapitel 2 dargestellt.
  729. Der perfekte Wettbewerb
  730. Eine hundertprozentig dynamische Gesellschaft erscheint schwer vorstellbar. Eine Gesellschaft muss natürlich eine dauerhafte Struktur
  731. besitzen, andernfalls könnte sie das komplizierte Beziehungsgeflecht einer Zivilisation nicht erhalten. Eine Gesellschaft des steten Wandels lässt sich nicht nur postulieren, sie wurde bereits ausführlich in der Theorie des perfekten Wettbewerbs untersucht. Der perfekte Wettbewerb bietet wirtschaftlichen Einheiten Alternativen, die nur unwesendich schlechter sind als die aktuelle Situation. Bei der geringsten Veränderung der Umstände sind die wirtschafdichen Einheiten daher sofort bereit zu reagieren. Dabei achten sie immer auf eine geringstmögliche Abhängigkeit von den gerade aktuellen Bedingungen. Das Ergebnis ist eine hoch dynamische Gesellschaft, die sich als
  732. Ganzes aber möglicherweise überhaupt nicht verändert.
  733. Zwar betrachte ich die Theorie des perfekten Wettbewerbs als unrealistisch, aber ich verwende sie dennoch als Ausgingsbasis, weil sie einen so großen Einfluss hat. Indem ich die Unterschiede zwischen meinem An satz und dem der klassischen ökonomischen Lehre aufzeige, kann ich das Konzept der offenen Gesellschaft deudicher machen, als wenn ich versuchen würde, es für sich allein genommen zu erklären. Mein Haupteinwand gegen die Theorie des perfekten Wettbewerbs besteht darin, dass dieser ein statisches Gleichgewicht
  734. produziert, während ich behaupte, dass eine offene Gesellschaft zu einem dynamischen Ungleichgewicht tendiert.
  735. Der perfekte Wettbewerb wird von der ökonomischen Theorie folgendermaßen beschrieben: Eine große Zahl an Individuen, von denen jedes einzelne seinen persönlichen Wertekatalog hat, ist mit einer großen Zahl an Alternativen konfrontiert, aus denen es frei wählen kann. Wenn jeder Mensch seine Wahl nach rationalen Kriterien trifft, wird er die Alternative wählen, die seinen Werten und Präferenzen am meisten entspricht. Die klassische Theorie fährt nun mit der Argumentation fort, dass die Wahl einer Alternative, die ein
  736. Individuum trifft, angesichts der Vielfalt der vorhandenen Alternativen nicht mit Alternativen in Konflikt gerät, die andere Individuen für sich ausgewählt haben, sodass der perfekte Wettbewerb der Maximierung des Wohlergehens aller dient.
  737. Diese Theorie geht davon aus, dass es eine große Zahl an wirtschaftlichen Einheiten gibt, die jeweils über ein vollkommenes Wissen und völlige Mobilität verfügen. Jede Einheit hat ihren eigenen Katalog an Präferenzen und steht vor einer bestimmten Bandbreite an Möglichkeiten. Ich halte diese Annahme für unrealistisch. Mein Ansatz basiert auf der Unvollkom-
  738. menheit des Wissens. Eine perfekte Mobilität steht im Widerspruch zu festen Anlagen und speziellen Fertigkeiten, die beide für eine Produktion nach kapitalistischem Muster unerlässlich sind. Der Grund, warum Volkswirte derart inakzeptable Annahmen so lange toleriert haben, ist, dass ihre Ergebnisse in verschiedener Hinsicht erstrebenswert waren. Erstens etablierten sie die Ökonomie als eine Wissenschaft von vergleichbarem Status wie die Physik. Die Ähnlichkeit zwischen dem statischen Gleichgewicht des perfekten Wettbewerbs und der Thermodynamik Isaac Newtons ist kein Zufall. Zweitens bestätigten sie die These, dass der perfekte Wettbewerb
  739. den allgemeinen Lebensstandard hebe.
  740. 212
  741. In der Realität nähern sich die Bedingungen denen des perfekten Wettbewerbs nur dann an, wenn neue Ideen, neue Produkte, neue Methoden oder neue Präferenzen Menschen und Kapital mobil halten. Wobei die Mobilität nicht ohne Nachteile ist: Sie hat ihren Preis. Die Menschen sind dennoch mobil; sie lassen sich von neuen Chancen locken oder werden von veränderten Umständen aus ihrem Umfeld gerissen. Und wenn sie sich einmal auf den Weg gemacht haben, bewegen sie sich immer in Richtung der attraktivsten Chancen. Zwar verfugen sie
  742. über kein vollkommenes Wissen, aber auf ihrem Weg lernen sie eine größere Zahl an Alternativen kennen, als wenn sie ein Leben lang in derselben Position verharren würden. Sie werden sich dagegen wehren, dass andere Menschen ihren Platz einnehmen, aber nachdem sich so viele Chancen eröffnen, ist ihr Bestreben, an der bestehenden Situation festzuhalten, nicht besonders ausgeprägt, und sie werden weniger Unterstützung von anderen erhalten, die sich tatsächlich oder potenziell in derselben Situation befinden. Da die Menschen öfter ihren Standort wechseln, entwickeln sie eine gewisse Leichtigkeit in der Anpassung, was die Bedeutung spezieller Fertigkeiten, über die sie
  743. möglicherweise verfügen, verringert. Was wir vielleicht als ,,effektive Mobilität" bezeichnen können, ersetzt das irreale Konzept der perfekten Mobilität, und die kritische Denkhaltung ersetzt das perfekte Wissen. Das Ergebnis ist kein perfekter Wettbewerb nach der Definition der ökonomischen Theorie, sondern eine Kondition, die ich als ,,effektiven Wettbewerb" bezeichne. Was ihn vom perfekten Wettbewerb unterscheidet, ist, dass die Werte und Chancen nicht fixiert, sondern einem ständigen Wandel unterworfen sind.Sollte je ein Gleichgewicht erzielt werden, wären die Bedingungen des effektiven Wettbewerbs nicht mehr anwendbar. Die wirtschaftlichen
  744. Einheiten würden bestimmte Positionen einnehmen, die für andere weniger erreichbar wären, und zwar aus dem einfachen Grund, dass eine Einheit ihre Position gegenüber anderen Einheiten verteidigen würde. Wer spezielle Fertigkeiten erworben hätte, würde diese bei einem Standortwechsel nicht mehr einsetzen können I )nher würde sie h jeder mit aller Macht gegen jjeden Versuch einer anderen wirtschaftlichen einheit stemmen, auf ihrangestammtes Terrain vorzudringen. Wenn notwendig, würden die Menschen als wirtschafdiche Einheiten eher Gehaltseinbußen in Kauf nehmen, als sich in Bewegung zu setzen, insbesondere weil sie dann jemand
  745. anderem aktiv den Platz streitig machen müssten. Angesichts ihrer festgefahrenen Position und der Opfer, die sie zu erbringen bereit wären, um ihre Position zu verteidigen, wäre es für einen Außenstehenden schwer, mit ihnen in Wettbewerb zu treten. Anstelle beinahe unbegrenzter Möglichkeiten wäre jede Einheit beziehungsweise jedes Individuum in seiner bestehenden Situation mehr oder weniger gefangen. Und nachdem sie nur über ein unvollkommenes Wissen verfügen, erkennen sie womöglich nicht einmal die Chancen, die sie verpassen. Was hat das mit perfektem Wettbewerb zu tun?
  746. Instabilität
  747. Die Unterschiede zum klassischen Konzept des perfekten Wettbewerbs sind eine nähere Betrachtung wert. Klassisch geprägte Wirtschaftswissenschaftler gehen davon aus, dass Werte und Chancen unabhängig voneinander bestehen. Ich dagegen sehe eine Wechselbeziehung zwischen beiden. Daraus folgt, dass die Instabilität ein endemisches Problem ist. Diese Schlussfolgerung steht im direkten Widerspruch zur klassischen Theorie des perfekten Wettbewerbs, nach der die rationale Verfolgung von Eigeninteressen automatisch zu einem Gleichgewicht führt. Statt eines Gleichgewichts produziert das freie Spiel der Marktkräfte aber einen nicht
  748. enden wollenden Veränderungsprozess, in dem ein Exzess den nächsten jagt.Mit dieser Schlussfolgerung öffnet man die Büchse der Pandora. Die klassische Analyse basiert vollständig auf Eigeninteressen. Wenn die Verfolgung von Eigeninteressen aber nicht zu einem stabilen System führt, erhebt sich die Frage, ob sie ausreicht, um das Überleben des Systems zu garantieren. Die Antwort lautet rundweg: nein. Die Stabilität der Finanzmärkte lässt sich nur durch irgendeine Form der Regulierung erhalten. Wenn man Stabilität zum Ziel erhebt, folgen andere Dinge, deren Erhalt ebenfalls wertvoll ist. Natürlich muss unter stabilen Bedingungen der Wettbewerb aufrechterhalten werden.
  749. Die öffendiche Politik des Erhalts von Stabilität und Wettbewerb ist mit dem Laisserfaire-Vnnzvp nicht vereinbar. Eines von beiden ist also falsch.
  750. Das 19. Jahrhundert kann als ein Jahrhundert in die Geschichte eingehen, in dem Laisser-faire breite Akzeptanz fand und in großen Teilen der Welt eigendich auch die Wirtschaftsordnung bestimmt hat. Ganz eindeutig war diese nicht von dem Gleichgewicht gekennzeichnet, das die Wirtschaftstheorie beschreibt. Es war eine Epoche der rapiden wirtschaftlichen Veränderungen, in der neue Produktionsmethoden entwickelt wurden, neue Formen wirtschaftlicher
  751. Organisationen entstanden und sich die Grenzen der wirtschafdichen Aktivitäten in jede Richtung ausdehnten. Die alte Ordnung der wirtschafdichen Kontrollen hatte ausgedient. Der Fortschritt vollzog sich in einem Tempo, das keine Zeit für Planung ließ. Die Entwicklungen waren so neu, dass Methoden zu ihrer Kontrolle fehlten. Der Staatsmechanismus erwies sich als ungeeignet, um weitere Aufgaben zu übernehmen. Er war kaum in der Lage, in den anschwellenden Städten und an den sich immer weiter ausdehnenden Grenzen für Recht und Ordnung zu sorgen.
  752. Sobald sich das Wachstum
  753. verlangsamte, gelang es den Mechanismen der staatlichen Regulierung allmählich wieder, die Anforderungen, die an sie gestellt wurden, zu erfüllen. Statistiken wurden erstellt, Steuern erhoben, und einige der gröbsten Anomalien und Missbräuche des freien Wettbewerbs wurden korrigiert. Länder, die sich neu auf den Pfad der Industrialisierung begaben, konnten dem Beispiel anderer folgen. Zum ersten Mal war der Staat in einer Position, in der er eine effektive Kontrolle über die industrielle Entwicklung ausüben konnte, und die Menschen hatten eine echte Chance zwischen Laisser-faire und Planung. Das markierte das Ende des goldenen
  754. Zeitalters des Laisser-faire: Zunächst folgten der Protektionismus und dann andere Formen der Staatskontrolle.
  755. Das Laisser-faire-Prinzip erlebt seit den 1980er-Jahren eine ausgeprägte Renaissance. Präsident Reagan beschwor die Magie des Marktes, und Margaret Thatcher propagierte den Darwinismus. Seitdem hat die Globalisie rung den Kapitaleignern die Möglichkeit geboten, in denjenigen Ländern zu investieren, in denen sie die besten Bedingungen vorfinden. Das hat die Möglichkeit der einzelnen Regierungen zur Kapitalbesteuerung und -regulierung drastisch beschnitten. Die herrschenden Bedingungen sind weit von
  756. der unrealistischen Annahme des perfekten Wettbewerbs entfernt, aber sie sind für die hemmungslose Verfolgung des privaten Profits zulasten anderer Interessen äußerst günstig. Lassen Sie uns untersuchen, wie dieses System funktioniert.
  757. Freiheit
  758. Effektiver Wettbewerb erzeugt kein Gleichgewicht, aber er maximiert die Freiheit des Einzelnen, indem er dessen Abhängigkeit von den herrschenden Bedingungen reduziert. Freiheit wird allgemein als ein Recht beziehungsweise eine Reihe von Rechten - Redefreiheit, das Recht des freien Aufenthaltsorts, Religionsfreiheit
  759. - betrachtet, die von der Verfassung garantiert werden. Diese Sicht ist zu schmalspurig. Ich würde dem Begriff Freiheit gerne eine breitere Bedeutung verleihen. Ich betrachte Freiheit als die Verfügbarkeit von Alternativen.
  760. Wenn die Alternativen zur gegenwärtigen Situation wesentlich schlechter sind, oder wenn sie mit großen Anstrengungen und Opfern verbunden sind, verharren die Menschen in ihrer bestehenden Situation und setzen sich allen möglichen Formen der Beschränkung und Ausbeutung aus. Wenn Alternativen zur Verfügung stehen, die nur unwesentlich schlechter als die bestehende Situation sind, stehen die
  761. Menschen weniger unter Druck. Sollten sie einmal unter Druck geraten, greifen sie einfach zu einer Alternative. Freiheit ist demnach eine Funktion der Möglichkeit des Menschen, sich aus seiner bestehenden Position zu befreien. Wenn die Alternativen nur marginal schlechter sind, ist das eine Maximierung der Freiheit.
  762. Das unterscheidet sich stark von der Art und Weise, wie Menschen üblicherweise Freiheit definieren, Freiheit wird nämlich generell als Ideal bc-
  763. 2V) trachtet und nicht als Tatsache. Als Ideal ist die Freiheit es wert, dass man für sie Opfer bringt. Als Tatsache stellt
  764. sie die Möglichkeit dar, zu tun, was man möchte, ohne dafür Opfer erbringen zu müssen.
  765. Menschen, die an Freiheit als einem Ideal glauben, kämpfen unter Umständen leidenschafdich für ihr Ideal, aber das bedeutet nicht automatisch, dass sie es verstehen. Da sie der Freiheitsidee als einem Ideal dienen, neigen sie dazu, sie als einen uneingeschränkten Segen zu betrachten. Tatsächlich hat die Freiheit durchaus auch unerwünschte Seiten. Wenn die Opfer Früchte getragen haben und die Freiheit erreicht ist, treten diese Seiten offener zutage, als zu dem Zeitpunkt, an dem sie lediglich ein Ideal war. Die Aura des Heldentums
  766. verblasst, und die Solidarität, die auf einem gemeinsamen Ideal beruhte, schwindet. Was übrig bleibt ist eine große Masse an Individuen, von denen jedes einzelne seine ganz persönlichen Eigeninteressen verfolgt. Diese können, müssen aber nicht mit den öffentlichen Interessen konform gehen. Das ist die Freiheit, die man in einer offenen Gesellschaft findet, und sie kann für diejenigen, die sie erkämpft haben, eine herbe Enttäuschung sein.
  767. Privateigentum
  768. Freiheit wie sie hier definiert wird, beschränkt sich nicht nur auf die Freiheit der Menschen, sondern gilt auch für andere Produktionsmittel. Land und
  769. Kapital können auch ,,frei" sein, und zwar in dem Sinne, dass sie nicht an bestimmte Zwecke gebunden sind, sondern über klein abgestufte Alternativen verfügen. Das unterstützt das Privateigentum.
  770. Produktionsfaktoren werden immer in Verbindung mit anderen Faktoren eingesetzt, sodass jede Veränderung eines Faktors Einfluss auf die anderen Faktoren hat. Als Konsequenz ist Reichtum nie wirklich privat - er hängt von den Interessen anderer Faktoren ab. Effektiver Wettbewerb verringert die Abhängigkeit der Faktoren untereinander, wobei diese Abhängigkeil laut der irrealen These
  771. vom perfekten Wettbewerb gänzlich beseitigt wird Das befreit jeden Besitzer produktiver Ressourcen von jeder
  772. IV
  773. Verantwortung gegenüber anderen Wettbewerbsteilnehmern und bietet eine theoretische Rechtfertigung für die Betrachtung von Privateigentum als einem Grundrecht.
  774. Es ist offensichdich, dass das Konzept des Privateigentums die Theorie des perfekten Wettbewerbs zu seiner Rechtfertigung braucht. Ohne die irrealen Annahmen über die perfekte Mobilität und das perfekte Wissen bringt das Privateigentum nicht nur Rechte,
  775. sondern auch Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft mit sich.
  776. Auch der effektive Wettbewerb begünstigt den Privatbesitz, aber auf eine qualifiziertere Art und Weise. Die gesellschafdichen Konsequenzen individueller Entscheidungen sind diffus, wobei die negativen Effekte von der Möglichkeit der Betroffenen abgefedert werden, nach Alternativen Ausschau zu halten.
  777. Die gesellschaftlichen Verpflichtungen, die mit Reichtum einhergehen, sind ebenso vage und allgemein. Es lässt sich wenig gegen den Besitz von und die eigene Kontrolle über privates Eigentum einwenden, vor allem, da die
  778. Alternative des Staatseigentums noch größere Nachteile mit sich bringt. Aber im Gegensatz zur klassischen Analyse können die mit Privateigentum verbundenen Rechte nicht als absolut angesehen werden, weil der Wettbewerb eben nicht perfekt ist.
  779. Der gesellschaftliche Vertrag
  780. Wenn die Freiheit eine Tatsache ist, wird der Charakter der Gesellschaft vollständig von der Entscheidung ihrer Mitglieder bestimmt. So wie die Position der Mitglieder einer organischen Gesellschaft nur in deren Beziehung zum großen Ganzen verständlich wurde, ist das große Ganze
  781. hier für sich genommen bedeutungslos und wird nur durch die Entscheidungen der Individuen verständlich. Um diesen Gegensatz hervorzuheben, verwende i(li den Begriff der offenen Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft ist auch in dem üblicheren Sinne frei, als ihre Mitglieder frei entscheiden können, ob sie ein Teil der Gesellschaft sein oder ob sie die Gesellschaft
  782. verlassen wollen. Das ist fur ihre Bedeutung, wie ich sie verstehe, aber nebensächlich.
  783. In einer zivilisierten Gesellschaft sind die Menschen in zahlreiche Beziehungen und Verbände involviert. Während diese in einer organischen
  784. Gesellschaft von der Tradition bestimmt werden, werden sie in einer offenen Gesellschaft von den Entscheidungen der betroffenen Individuen geprägt: Sie werden durch geschriebene und ungeschriebene Verträge geregelt. Diese vertraglichen Bindungen ersetzen die traditionellen Bindungen.
  785. Traditionelle Beziehungen sind insoweit geschlossen, als ihre Bedingungen und Bestimmungen außerhalb der Kontrolle der betroffenen Parteien liegen. Zum Beispiel ist die Vererbung von Ländereien vorbestimmt. Dasselbe gilt fur die Beziehung zwischen einem Großgrundbesitzer und einem Leibeigenen. Die Beziehungen sind
  786. außerdem in dem Sinne geschlossen, dass sie nur diejenigen betreffen, die direkt involviert sind und alle anderen ausschließen. Vertragliche Beziehungen sind dahingehend offen, dass ihre Bedingungen von den betroffenen Parteien ausgehandelt und in gegenseitigem Einvernehmen geändert werden können. Sie sind auch insoweit offen, als jede Vertragspartei durch eine andere ersetzt werden kann. Die Vertragsinhalte sind zudem häufig allgemein bekannt, sodass sich grobe Abweichungen zwischen verschiedenen Verträgen, die sich auf den gleichen Vertragsgegenstand beziehen, durch Wettbewerb korrigieren lassen.
  787. In gewisser Hinsicht entspricht der Unterschied zwischen traditionellen und vertraglichen Beziehungen den Unterschieden zwischen konkreten und abstrakten Gedankengängen. Während eine traditionelle Beziehung nur diejenigen betrifft, die direkt in sie involviert sind, können die vertraglichen Bestimmung als allgemein gültig betrachtet werden.Wenn die Beziehungen von den Mitgliedern der Gesellschaft bestimmt werden, sollte die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Institutionen einer zivilisieren Gesellschaft ebenfalls einer vertraglichen Regelung unterlie gen. Diese Argumentationslinie hat zum Konzept des gesellschaftlichen Vertrags
  788. gefuhrt. Wie von Rousseau dargelegt, hat dieses Konzept weder theoretisch noch historisch Gültigkeit. Die Gesellschaft als Vertrag zu definieren, den völlig unabhängige Individuen nach ihrem freien Willen schließen, wäre irreführend. Und die historische Genese der zivilisierten Gesellschaft einem solchen Vertrag zuzuschreiben, wäre ein Anachronismus. Dennoch bringt Rousseaus Konzept die Quintessenz der offenen Gesellschaft genauso deutlich auf den Punkt, wie Menenius Agrippas Allegorie die organische Gesellschaft definierte.
  789. Die offene Gesellschaft mag als theoretisches Modell angesehen werden,
  790. in der alle Beziehungen vertraglicher Natur sind. Das Vorhandensein von Institutionen mit eingeschränkter Mitgliedschaft oder mit Zwangsmitgliedschaft widerspricht dieser Interpretation nicht. Die individuelle Freiheit ist gewährleistet, solange es mehrere unterschiedliche Institutionen von ungefähr vergleichbarem Rang gibt, die jedem Individuum offen stehen, sodass ein Individuum wählen kann, welcher es angehören möchte. Das gilt selbst für einige derjenigen Institutionen - wie zum Beispiel den Staat -, welche die Macht besitzen, Zwang auszuüben, wohingegen andere Institutionen - wie gesellschaftliche Klubs - Individuen nur
  791. bedingt ,,ausgrenzen" können, weil diese die Freiheit haben, vertragliche Beziehungen mit anderen Institutionen einzugehen.
  792. Die offene Gesellschaft garantiert nicht allen die gleichen Chancen. Im Gegenteil, wenn eine Produktion nach kapitalistischem Muster mit Privateigentum gekoppelt ist, wird sie wahrscheinlich zu großer Ungleichheit fuhren, die ohne eine Regulierung von außen eher noch größer wird. Die offene Gesellschaft ist nicht unbedingt eine klassenlose Gesellschaft. Tatsächlich ist es schwer - wenn nicht sogar unmöglich -, sich eine klassenlose Gesellschaft vorzustellen. Wie kann das
  793. Vorhandensein von Gesellschaftsklassen mit der Idee der offenen Gesellschaft in Einklang gebracht werden? Die Antwort ist einfach. In einer offenen Gesellschaft sind Klassen lediglich Generalisierungen über soziale Schichten. Vor dem Hintergrund der ausgeprägten gesellschaftlichen Mobilität kann es die Art Klassenbewusstsein, von der Marx gesproc hen hat, nicht geben. SeinKonzept bezog sich nur auf eine geschlossene Gesellschaft. Darauf werde ich im letzten Kapitel dieses Buches noch einmal ausführlicher zurückkommen.
  794. Schöne neue Welt
  795. Lassen Sie mich eine logische Schlussfolgerung aus dem Konzept der offenen Gesellschaft ziehen und beschreiben, wie eine Gesellschaft des steten Wandels beschaffen wäre. Es würde Alternativen in allen Aspekten des Lebens geben: in persönlichen Beziehungen, bei Meinungen und Ideen, bei Produktionsprozessen und - materialien, der gesellschafdichen und wirtschaftlichen Organisation etc. Unter diesen Umständen hätte das Individuum eine überaus wichtige Position. Die Mitglieder einer organischen Gesellschaft besitzen überhaupt keine Individualität. In einer wenig veränderlichen bis starren Gesellschaft umschreiben die etablierten Werte und
  796. Beziehungen nach wie vor den Umfang der Beziehung zwischen Mensch und Nation, die Beziehungen zur Familie und den Mitmenschen basieren dagegen völlig auf der individuellen Entscheidung. Wenn man die Kehrseite der Medaille betrachtet, bedeutet das, dass die Beständigkeit der sozialen Beziehungen verschwunden ist. Die organische Gesellschaftsstruktur hat sich so weit aufgelöst, dass ihre Atome - die einzelnen Menschen - ohne Wurzeln oder Bindungen umhertreiben.
  797. Wie sich das Individuum zwischen den Alternativen entscheidet, ist Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften. Die wirtschaftswissenschaftliche Analyse
  798. bietet dafür einen guten Ausgangspunkt: Man muss sie nur ausdehnen. In einer Welt, in der jede Handlung eine Wahl zwischen mehreren Alternativen darstellt, charakterisiert das ökonomische Verhalten alle Handlungsbereiche. Das heißt nicht automatisch, dass Menschen dem Besitz von materiellen Gütern mehr Wert beimessen als den spirituellen, künstlerischen oder moralischen Werten, sondern lediglich, dass sich alle Werte auf monetäre Bedingungen reduzieren. Das macht die Prinzipien des Marktmechanismus selbst für so weite Gebiete wie Kunst, Politik, soziales Leben, Sex und Religion relevant. Nicht alles, das einen Wert be sitzt, ist den
  799. Gesetzen von Kauf und Verkauf unterworfen. Einige Werte
  800. sind rein persönlicher Natur und können nicht eingetauscht werden (zum Beispiel Mutterliebe), andere verlieren ihren Wert, wenn sie eingetauscht werden (zum Beispiel eine Reputation), wieder andere sind physisch nicht gegen etwas anderes eintauschbar (zum Beispiel das Wetter oder die Berufung in ein politisches Amt). Die Reichweite des Marktmechanismus würde allerdings bis an ihre äußerste Grenze ausgedehnt werden. Selbst wenn das Wirken der Marktkräfte durch Gesetze reguliert würde, wäre die Gesetzgebung selbst das Ergebnis eines Feilschprozesses,
  801. der dem ökonomischen Verhalten nicht unähnlich ist.
  802. Es treten Wahlmöglichkeiten auf, die man sich in einem früheren Zeitalter nicht hätte träumen lassen. Euthanasie, Genmanipulation und Gehirnwäsche werden zu Problemen von praktischer Bedeutung. Die komplexesten menschlichen Funktionen, wie zum Beispiel das Denken, können in ihre einzelnen Bestandteile aufgespalten und künstiich reproduziert werden. Solange es sich nicht als unmöglich erweist, erscheint alles machbar.
  803. Die vielleicht auffälligste Eigenschaft einer vollkommen dynamischen Gesellschaft ist der Niedergang der
  804. persönlichen Beziehungen. Was eine Beziehung so persönlich macht, ist, dass sie an eine bestimmte Person gebunden ist. In einer Gesellschaft des ständigen Wandels würde man Freunde, Nachbarn und Ehepartner - wenngleich diese nicht völlig austauschbar sind - zumindest problemlos durch kaum weniger gute Ersatzpartner auswechseln können; sie würden den Wahlmöglichkeiten einer wettbewerbsgeprägten Umgebung unterliegen. Eltern und Kinder würden ihre Beziehungen vermudich aufrechterhalten, aber die Bande zwischen ihnen würden sich unter Umständen lockern. Der persönliche Kontakt könnte völlig an Bedeutung verlieren, da effizientere
  805. Kommunikationswege den Bedarf an physischer Anwesenheit verringern.
  806. Das Bild, das sich hier entfaltet, ist alles andere als schön. Als Relativierung soll hier daran erinnert werden, dass jedes gesellschaftliche System absurd wird, wenn man es streng logisch zu Ende denkt. Das gilt für Thomas Morus' Utopia genauso wie für Daniel Defoes Fantasicländcr, Aldous Huxleys Brave New World und Orwells 1984
  807. Dennoch sollte inzwischen klar sein, dass die offene Gesellschaft, sobald sie Wirklichkeit geworden ist, sich für Mitglieder einer geschlossenen Gesellschaft als weitaus weniger erstrebenswert erweist, als sie
  808. anfanglich scheinen mag.
  809. Die Frage der Werte
  810. Der große Segen der offenen Gesellschaft und die Errungenschaft, die sie zu einem Ideal macht, ist die Freiheit des Individuums. Die größte Attraktion der Freiheit ist gleichzeitig ein Negativaspekt: die Abwesenheit von Beschränkung. Freiheit hat aber auch positive Aspekte, und diese sind wesentlich wichtiger. Sie ermöglicht den Menschen eigenständiges Denken, sie erlaubt ihnen selbst zu entscheiden, was sie möchten und ihre Träume zu verwirklichen. Die Menschen können die Grenzen ihrer Fähigkeiten ausloten
  811. und intellektuelle, organisatorische, künstlerische und praktische Leistungen vollbringen, die sie sonst nie für möglich gehalten hätten. Das kann eine höchst aufregende und befriedigende Erfahrung sein.
  812. Auf der Negativseite bürdet die herausragende Stellung des Individuums diesem eine große Last auf, die mitunter unerträglich erscheint. Wo können Menschen die Werte finden, die sie als Orientierung brauchen, um zwischen allen Wahlmöglichkeiten entscheiden zu können? Die ökonomische Analyse geht davon aus, dass Werte und Chancen unabhängig voneinander existieren. Wir haben gesehen, dass diese Annahme dem
  813. Prinzip der hundertprozentig dynamischen Gesellschaft diametral entgegengesetzt ist. Es ist ein Widerspruch in sich, zu erwarten, dass ein völlig bindungsloses Individuum nach einem festen Wertekatalog handelt. Werte sind genauso frei wählbar wie alles andere. Die Auswahl kann bewusst und das Ergebnis einer intensiven Gewissensprüfung und ausgiebiger Reflexion sein. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie impulsiv, auf Basis des familiären Hintergrunds, auf Ratschlag, aufgrund von Werbung oder irgendeinem anderen äußeren Einfluss erfolgt. Wenn Werte änderbar sind, dann wird deren Änderung mit großer Wahrscheinlichkeit eine wichtige Geschäfts- aktivilül.
  814. Individuen müssen ihren Wertekatalog unter großem Druck von außen festlegenWenn das allein eine Frage des Konsums wäre, wäre das nicht weiter schwierig. Bei der Entscheidung über die Marke der Frühstücksflocken mag das Gefühl des Genusses schon genug Orientierung bieten, auch wenn selbst das angesichts der Unsummen, die in die Werbung für Zerea- lien investiert werden, zweifelhaft ist. Eine Gesellschaft kann jedoch nicht ausschließlich auf dem Genussprinzip aufgebaut werden. Zum Leben gehören Schmerzen, Risiken, Gefahren und die Aussicht auf den Tod. Wenn Genuss der einzige Standard wäre, würde kein Kapital angesammelt, und viele der
  815. Verbände und Institutionen, die zu einer Gesellschaft gehören, könnten nicht überleben. Auch viele der Entdeckungen und der künstlerischen und technischen Erfindungen, die eine Zivilisation ausmachen, würden nicht geschehen.
  816. Ein Mangel an Sinngebung
  817. Wenn man die Wahlmöglichkeiten beiseitelässt, die dem Individuum sofortige Bedürfnisbefriedigung verschaffen, stellt man fest, dass die Gesellschaft an etwas krankt, das als ein Mangel an Sinngebung bezeichnet werden kann. Damit meine ich nicht, dass es keinen Sinn gibt, sondern lediglich, dass jedes Individuum ihn für sich selbst suchen und finden muss.
  818. Einen Sinn zu finden, wird zu einem Problem. Menschen versuchen vielleicht, sich mit einem größeren Zweck zu identifizieren, indem sie sich einer Gruppe anschließen oder sich einem Ideal hingeben. Aber ein freiwilliger Anschluss bietet nicht dieselbe unausweichliche Sicherheitsqualität wie eine organische Gesellschaft. Man gehört nicht von Natur aus dazu, sondern aufgrund einer bewussten Entscheidung. Und es ist schwer, sich mit ganzem Herzen einer bestimmten Gruppe zu verschreiben, wenn es so viele gibt, zwischen denen man wählen kann. Selbst wenn man eine Entscheidung trifft, ist die Gruppe
  819. umgekehrt zu nichts verpflichtet. Iis besteht also die ständige Gefahr, abgelehnt oder ausgeschlossen zu werden.Das Gleiche gilt für Ideale. Religiöse und gesellschaftliche Ideale stehen miteinander im Wettstreit. Ihnen fehlt also die allumfassende Vollkommenheit, die Menschen in die Lage versetzen würde, sie bedingungslos anzunehmen. Ein Ideal auszuwählen, dem man folgen möchte, ist genauso eine freiwillige Entscheidung wie die Auswahl der Gruppe, der man angehören möchte.
  820. Das Individuum bleibt eine unabhängige Einheit. Seine Zugehörigkeit bedeutet keine naturgegebene Identität, sondern
  821. eine bewusst getroffene Wahl. Diese bewusste Wahlmöglichkeit steht zwischen dem Individuum und dem gewählten Ideal.
  822. Das Bedürfnis nach Sinnfindung bringt das Individuum in ein Dilemma. Das Individuum ist das schwächste aller Elemente, aus denen sich eine Gesellschaft zusammensetzt, und hat eine kürzere Lebensspanne als die meisten der Institutionen, die von ihm abhängen. Es ist für sich genommen als Fundament zu schwach, als dass sich darauf ein Wertesystem aufbauen ließe, das in der Lage wäre, eine das Individuum überdauernde Struktur aufrechtzuerhalten und in den Augen der Individuen einen
  823. Wert darzustellen, der größer als ihr eigenes Leben und Wohlergehen ist. Und dennoch ist ein Wertesystem notwendig, um die offene Gesellschaft zu bewahren.
  824. Die mangelnde Eignung des Individuums als Wertequelle drückt sich in unterschiedlicher Weise aus. Einsamkeit, Minderwertigkeitsgefühle, Schuld und Sinnlosigkeit gehen vielleicht direkt auf einen Mangel an Sinngebung zurück. Derartige psychische Störungen werden von der Neigung der Menschen verstärkt, sich persönlich für diese Gefühle verantwortlich zu halten, anstatt ihre persönlichen Schwierigkeiten in einem gesellschaftlichen Kontext zu betrachten.
  825. Die Psychoanalyse ist hier keine große Hilfe: Unabhängig von ihrem therapeutischen Werl hat ihre exzessive Beschäftigung mit dem Individuum die Tendenz, das Problem, das sie eigentlich lösen will, nur noch zu verschlimmern
  826. Je größer der Reichtum und die Macht eines Individuums, desto größer werden seine Probleme. Jemand, der kaum genug zum Leben hat, kann es sich nicht leisten, innezuhalten und sich Fragen über den Sinn des Lebens zu stellen. Aber was ich als einen ,,positiven Aspekt des unvollkommenen Wissens" bezeichnet habe, ist eben genau für den Wohlstand der offenen Gesellschaften verantwortlich, sodass sich das
  827. Dilemma wahrscheinlich mit voller Wucht bemerkbar macht. Es ist durchaus möglich, dass ein Punkt erreicht wird, an dem selbst das Genussprinzip in Gefahr gerät, weil die Menschen unter Umständen nicht mehr in der Lage sind, genügend Zufriedenheit aus den Ergebnissen ihrer Arbeit ziehen, um die Mühen zu rechtfertigen, die zur Erzielung dieser Ergebnisse notwendig sind. Der Aufbau von Vermögen mag seine eigene Rechtfertigung als Form einer kreativen Aktivität bieten. Die eigentlichen Probleme tauchen erst dann auf, wenn es um den Genuss der Früchte dieses Aufbaus geht.
  828. Diejenigen, die unfähig sind, einen
  829. Lebenssinn in sich selbst zu finden, verfallen möglicherweise einem Dogma, das dem Individuum einen vorgefertigten Wertekatalog und einen sicheren Platz im Universum bietet. Ein Weg, um das Defizit an Sinngebung zu beseitigen, ist, sich von der offenen Gesellschaft abzuwenden. Wenn Freiheit zur unerträglichen Last wird, kann die geschlossene Gesellschaft als Rettung erscheinen.
  830. Die dogmatische Denkhaltung
  831. Wir haben gesehen, dass die kritische Denkhaltung die Last der Entscheidung über das, was richtig und was falsch, wahr oder unwahr ist, einzig und allein dem Individuum aufbürdet. Angesichts
  832. des mangelhaften Verständnisses des Individuums, gibt es eine Reihe zentraler Fragen, nämlich solcher, die sich auf die Beziehung zwischen dem Individuum und dem Universum sowie auf den Platz, den das Individuum in der Gesellschaft einnimmt, beziehen. Diese Fragen kann das Individuum nicht abschließend beantworten. Ungewissheit ist schwer zu ertragen, und der menschliche Verstand unternimmt alles Mögliche, um sie zu beseitigen.
  833. Es gibt einen Zufluchtsort: die dogmatische Denkhaltung. Sie besteht darin, eine mächtige Doktrin zu etablieren, von der man glaubt, dass sie ihren Ursprung nicht im Individuum hat.
  834. Dieser Ursprung kann Tradition sein oder eine Ideologie, die sich im Wettbewerb mit anderen Ideologien erfolgreich durchgesetzt hat. In beiden Fällen wird sie als höchste Instanz über gegensätzliche Sichtweisen verkauft. Diejenigen, die mit ihr konform gehen, werden akzeptiert, und wer nicht an sie glaubt, wird abgelehnt. Es gibt keine Notwendigkeit zur Abwägung von Alternativen, weil die Wahl bereits feststeht. Keine Frage bleibt unbeantwortet; das Schreckgespenst der Ungewissheit ist gebannt.Die dogmatische Denkhaltung hat viel mit der traditionellen Denkhaltung gemeinsam. Indem eine Autorität postuliert wird, die als Quelle allen
  835. Wissens gilt, versucht diese Denkhaltung die wunderbare Einfachheit einer Welt, in der die vorherrschende Sicht weder angezweifelt noch in Frage gestellt wird, zu bewahren beziehungsweise wiederherzustellen. Allerdings ist es genau der Mangel an Einfachheit, der die dogmatische Denkhaltung von der traditionellen Denkhaltung unterscheidet. In der traditionellen Denkhaltung ist Veränderungslosigkeit eine universell akzeptierte Tatsache. In der dogmatischen Denkhaltung ist es ein Postulat. Anstelle einer einzigen universell akzeptierten Sichtweise existieren zahlreiche mögliche Interpretationen, aber nur eine ist gemäß dem Postulat akzeptabel. Die anderen
  836. müssen zwangsläufig abgelehnt werden. Verkomplizierend wirkt hier, dass die dogmatische Denkhaltung nicht zugeben kann, dass sie ein Postulat aufstellt, weil ein solches Eingeständnis die uneingeschränkte Autorität unterminieren würde, die sie ja gerade etablieren will. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, sind unter Umständen unglaubliche mentale Verrenkungen notwendig. Aber auch mit noch so großen Anstrengungen wird es der dogmatischen Denkhaltung nicht gelingen, die Bedingungen, die in der traditionellen Denkhaltung vorherrschend waren, wiederherzustellen. Der grundsätzliche Unterschied ist folgender: Eine wahrhaft unveränderliche Welt kann keine
  837. Geschichte haben. Sobald ein Bewusstsein über die Konflikte zwischen der Vergangenheit und die Gegenwart entsteht, verlieren Erklärungen ihren Charakter der ewigen Gültigkeit. Das bedeutet, dass die traditionelle Denkhaltung auf die frühesten Phasen der menschlichen Entwicklung beschränkt ist. Nur wenn Menschen in der Lage wären, ihre frühere Geschichte zu vergessen, wäre eine Rückkehr zur traditionellen Denkhaltung möglich.
  838. Ein direkter Übergang von der kritischen zur traditionellen Denkhaltung kann daher völlig ausgeschlossen werden. Wenn eine dogmatische Denkhaltung
  839. über einen unendlich langen Zeitraum vorherrschen würde, könnte die Geschichte allmählich verblassen - aber gegenwärtig ist das keine Möglichkeit, die sich realistischerweise in Betracht ziehen lässt. Es gibt nur eine Wahl zwischen der kritischen und der dogmatischen Denkhaltung.
  840. Tatsächlich dehnt die dogmatische Denkhaltung die These der Verände- rungslosigkeit (die ein perfektes Wissen erlaubt) auf eine Welt aus, die nicht länger ohne Veränderung ist. Das ist keine leichte Aufgabe. Angesichts des mangelhaften Verständnisses, das die Menschen von der Realität haben, kann überhaupt keine Erklärung vollkommen
  841. deckungsgleich mit der Realität sein. Solange die Beobachtung irgendeine Auswirkung darauf hat, was als unwiderlegbare Wahrheit angesehen wird, müssen Diskrepanzen auftreten. Die einzige wirklich effektive Lösung besteht darin, die Wahrheit der Beobachtung zu entziehen, indem man sie auf eine höhere, der Allgemeinheit nicht zugängliche Bewusstseinsebene hebt, auf der sie ungeachtet störender Beweise regieren kann.
  842. Die dogmatische Denkhaltung zeigt daher die Tendenz, bei einer übermenschlichen Autorität wie Gott oder Geschichte Zuflucht zu nehmen, die sich den Menschen auf irgendeine Weise
  843. offenbart. Diese Offenbarung ist die einzige und ultimative Quelle der Wahrheit. Während die Menschen mit ihrem alles andere als perfekten Intellekt endlos über die Anwendung und die Implikationen der Doktrin streiten, leuchtet die Doktrin selbst in erhabener Reinheit. Während die Beobachtung einen konstanten Strom an Veränderungen protokolliert, bleibt die Herrschaft der übermenschlichen Macht ungestört. Dieser Kunstgriff erhält die Illusion einer klar definierten dauerhaften Weltordnung, wenn zahlreiche Beweise vorliegen, die sie andernfalls diskreditieren würden Die Illusion wird durch die Tatsache verstärkt, dass die dogmatische
  844. Denkhaltung - sofern sie erfolgreich ist - die gesellschaftlichen Bedingungen starr und unveränderlich hält. Doch selbst wenn sie noch so erfolgreich ist, besitzt die dogmatische Denkhaltung nicht die Einfachheit, die das erlösende Merkmal der traditionellen Denkhaltung ist.
  845. Die traditionelle Denkhaltung beschäftigte sich ausschließlich mit konkreten Situationen. Die dogmatische Denkhaltung stützt sich auf eine Doktrin, die auf alle denkbaren Situationen anwendbar ist. Ihre Glaubenssätze sind Abstraktionen, die jenseits und oft auch entgegen direkter Beobachtung existieren. Die Verwendung von Abstraktionen bringt alle
  846. Komplikationen mit sich, welche die traditionelle Denkhaltung nicht kennt. Obwohl die dogmatische Denkhaltung per se schon alles andere als einfach ist, kann sie sogar noch wesentlich komplizierter als die kritische Denkhaltung werden. Das kann kaum überraschen. Die Annahme der Unveränderlichkeit unter Bedingungen aufrechtzuerhalten, die dieser These nicht ganz entsprechen, ohne aber einzugestehen, dass ganz bewusst eine These aufgestellt wurde, ist eine Verzerrung der Realität. Es bedarf schon einer äußerst verschlungenen Argumentation, um wenigstens den Anschein von Glaubwürdigkeit zu erreichen. Zudem fordern diese
  847. Verrenkungen einen hohen Preis, und zwar in Form von höchster geistiger Anstrengung und gehörigem Kopfzerbrechen. Eigentlich wäre es schwer zu glauben, dass der menschliche Verstand überhaupt zu einer solchen Selbsttäuschung in der Lage ist, wenn die Geschichte dafür keine Beispiele parat hätte. Es hat den Anschein, als sei der Verstand ein Instrument, das jeden selbst herbeigeführten Widerspruch durch die Erzeugung neuer Widersprüche an anderer Stelle auflösen kann. Die dogmatische Denkhaltung lässt dieser Tendenz freien Lauf, weil - wie wir sehen werden - ihre Glaubenssätze einem geringstmöglichen Kontakt mit beobachtbaren Phänomenen ausgesetzt
  848. sind.
  849. Trotz aller Anstrengungen zur Auflösung der internen Widersprüche bietet die dogmatische Denkhiiltung wenig Raum liir die Erweiterung des verfügbaren Wissensrepertoires. sie kann die direkte Beobachtung als Beweis nicht zulassen, weil die Autorität des Dogmas im Falle eines Kon flikts unterminiert würde. Sie muss sich auf die Anwendung der Doktrin beschränken. Das führt zu Debatten über die Bedeutung von Worten, insbesondere solche der ursprünglichen Offenbarung - sophistische, talmudische, theologische und ideologische Debatten, die für jedes Problem, das sie lösen, ein neues
  850. kreieren. Da das Denken in geringem bis gar keinem Kontakt zur Realität steht, nehmen die Spekulationen oft immer ver- schlungenere und unwirklichere Pfade, je weiter sie gedeihen. Wie viele Engel können auf einer Nadelspitze tanzen?
  851. Worin der eigentliche Inhalt einer Doktrin besteht, hängt von den historischen Umständen ab und lässt sich nicht verallgemeinern. Tradition kann dazu gehören, aber dafür muss sie radikal umgekrempelt werden. Die dogmatische Denkhaltung erfordert universell anwendbare Aussagen, wohingegen die Tradition ursprünglich in konkreten Aussagen formuliert wurde.
  852. Nun muss sie verallgemeinert werden, um auf eine größere Bandbreite an Geschehnissen anwendbar zu sein, als es ihrer Bestimmung entsprach. Wie sich das erreichen lässt, lässt sich klar an der Veränderung der Sprache ablesen. Eine der Methoden, mit denen sich eine Sprache an veränderte Bedingungen anpasst, besteht in der fi- gurativen Verwendung von Worten, die ursprünglich eine ganz konkrete Bedeutung hatten. Die Bedeutung im übertragenen Sinne bewahrt einzig und allein einen charakteristischen Aspekt der konkreten Wortbedeutung und lässt sich dann auf andere konkrete Umstände übertragen, welche die gleichen Merkmale aufweisen. Dieselbe Methode
  853. wird von Pfarrern angewendet, die Bibeltexte predigen.
  854. Eine Doktrin kann durchaus auch Ideen beinhalten, die ihren Ursprung in einer offenen Gesellschaft haben. Jede philosophische und religiöse Theorie, die umfassende Erklärungen für die Existenzprobleme bietet, hat etwas Doktrinäres. Alles, was sie benötigt, ist eine bedingungslose Akzeptanz und universelle Durchsetzungskraft. Der geistige Vater dieser umfassenden Philosophie hatte vielleicht gar nicht die Absicht, eine Doktrin zu entwickeln, die bedingungslos akzeptiert und universell durchgesetzt werden muss. Allerdings haben die persönlichen Absichten wenig
  855. Einfluss auf die Entwicklung von Ideen. Wenn sich eine Ideologie
  856. ,1/0 einmal zur einzigen Wissensquelle entwickelt hat, nimmt sie bestimmte Eigenschaften an, die dann unabhängig von den ursprünglichen Intentionen dominieren.
  857. Nachdem die kritische Denkhaltung wirkungsvoller als die traditionelle Denkhaltung ist, tendieren Ideologien, die durch eine kritische Denkhaltung entstanden sind, eher dazu, als Basis für ein Dogma zu dienen als die Tradition selbst. Wenn es sich einmal etabliert hat, kann es sich aber durchaus einen traditionellen Anschein geben. Wenn die Sprache flexibel genug ist, um den
  858. Gebrauch konkreter Aussagen im übertragenen Sinn zu erlauben, kann sie auch den umgekehrten Prozess ermöglichen: Abstrakte Ideen können persönlich werden. Gott im Alten Testament ist ein Beispiel dafür, und Frazers Der goldene Zweig bietet viele weitere. In der Praxis stellen wir unter Umständen fest, dass das, was wir als Tradition bezeichnen, zahlreiche Produkte der kritischen Denkhaltung beinhaltet, die in konkrete Begriffe übersetzt wurden.
  859. Die hauptsächliche Voraussetzung, die ein Dogma erfüllen muss, ist, dass es allumfassend sein muss. Es muss einen Maßstab bieten, an dem jeder Gedanke
  860. und jede Handlung gemessen werden kann. Wenn sich nicht alles daran messen ließe, müsste man nach anderen Methoden der Unterscheidung zwischen richtig und falsch Ausschau halten. Eine solche Suche würde die dogmatische Denkhaltung zerstören. Selbst wenn die Gültigkeit des Dogmas nicht direkt angegriffen würde, kann die bloße Tatsache, dass die Anwendung anderer Kriterien zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann, die Autorität des Dogmas aushöhlen. Wenn eine Doktrin ihre Funktion als Quelle allen Wissens erfüllen soll, muss ihre Überlegenheit auf jedem Gebiet gesichert sein. Dabei ist es gar nicht nötig, sich ständig auf sie zu beziehen.
  861. Land kann kultiviert werden, Bilder können gemalt, Kriege geführt und Raketen abgeschossen werden - und zwar auf die jeweils gemäße Art und Weise. Aber wann immer eine Idee oder eine Handlung in Konflikt mit der Doktrin gerät, gilt die Doktrin als Maßstab aller Dinge. Aul diese Weise kann sie immer größere Bereiche der menschlichen Aktivität unter ihre Kontrolle bringen.
  862. Das zweite wesentliche Merkmal eines Dogmas ist seine Rigidität. Die traditionelle Denkhaltung ist extrem flexibel. Da Tradition zeitlos ist, wird jede Veränderung sofort akzeptiert, und zwar nicht nur als etwas, das
  863. gegenwärtig gültig ist, sondern das seit ewigen Zeiten existiert hat. Anders die dogmatische Denkhaltung. Ihre Doktrin bietet einen Maßstab, an dem sich alle Gedanken und Handlungen messen lassen müssen. Folglich muss sie dauerhaft festgelegt sein, und keine noch so hohe Zahl an Abweichungen kann eine Veränderung rechtfertigen. Jede Abweichung von der Norm muss augenblicklich korrigiert werden. Das Dogma selbst bleibt unantastbar.
  864. Im Lichte unseres inhärent mangelhaften Verständnisses wird klar, dass neue Entwicklungen mit etablierten Doktrinen kollidieren oder auf unvorhersehbare Weise interne Widersprüche erzeugen
  865. können. Jede Veränderung bedeutet eine potenzielle Gefahr. Um die Gefahr so gering wie möglich zu halten, behindert die dogmatische Denkhaltung häufig von vorneherein die Entstehung einer neuen Abweichung, und zwar sowohl im Denken wie auch in der Handlung. Das geschieht einerseits durch die Eliminierung unkontrollierter Veränderungen aus der eigenen Weltsicht, und andererseits durch die aktive Unterdrückung unkontrollierter Gedanken und Handlungen. Wie weit diese Eliminierungsbestrebungen gehen, hängt davon ab, mit welcher Intensität die Doktrin angegriffen wird.
  866. Im Gegensatz zur traditionellen
  867. Denkhaltung ist die dogmatische Denkhaltung untrennbar mit Zwang verbunden. Zwang ist notwendig, um die Vorherrschaft des Dogmas über die tatsächlichen und potenziellen Alternativen sicherzustellen. Jede Doktrin wirft Fragen auf, die sich nicht durch reine Kontemplation beantworten lassen. In Abwesenheit einer Autorität, welche die Doktrin definiert und ihre Reinheit verteidigt, wird die Geschlossenheit der dogmatischen Sicht in miteinander in Konflikt stehende Interpretationen zerfallen. Die effektivste Art und Weise, mit diesem Problem umzugehen, besteht darin, eine menschliche Autorität damit zu beauftragen, den Willen der
  868. übermenschlichen Macht zu interpretieren. So kann die Doktrin an die Veränderungen , die sich in der Realität vollziehen, angepasst werden und ihre zeitlose Gültigkeit bewahren. Neben den von dieser Autorität sanktionierten Innovationen können keine weiteren Innovationen toleriert werden, wobei die auserwählte Autorität über genügend Macht verfügen muss, um abweichende Sichtweisen eliminieren zu können.
  869. Unter manchen Umständen muss diese Autorität keine großen Druckmittel einsetzen. Solange das vorherrschende Dogma seine Funktion erfüllt und allumfassende Erklärungen bietet,
  870. werden die Menschen diese fraglos akzeptieren. Schließlich verfügt das Dogma über ein Monopol. Zwar mag es zu einigen Themen unterschiedliche Sichtweisen geben, aber soweit die Realität als Ganzes betroffen ist, gilt nur eine Sichtweise als akzeptabel. Die Menschen ordnen sich ihr unter, denn sie sind darauf trainiert, nach ihren Vorgaben zu denken. Es ist für sie also normal, sie zu akzeptieren statt zu hinterfragen.
  871. Wenn interne Widersprüche jedoch in immer unrealistischere Debatten münden, oder wenn neue Ereignisse auftreten, auf die keine der etablierten Erklärungen passt, beginnen die
  872. Menschen, die Grundlagen in Frage zu stellen. Wenn das geschieht, lässt sich die dogmatische Denkweise nur noch durch Zwang wahren. Die Anwendung von Zwang hat einen großen Einfluss auf die Evolution von Ideen. Das Denken entwickelt sich nicht mehr entlang seiner eigenen Linien, sondern verknüpft sich eng mit Machtpolitik. Individuelle Gedanken verbinden sich mit individuellen Interessen, und der Sieg einer Interpretation über andere hängt mehr von der relativen politischen Stärke ihres Verfechters ab, als von den Argumenten, die zu ihrer Verteidigung hervorgebracht werden. Der menschliche Verstand wird zum Schlachtfeld politischer Kräfte, und
  873. umgekehrt werden die Doktrinen zu Waffen in den Händen der sich bekämpfenden Parteien.
  874. Die Überlegenheit einer Doktrin lässt sich somit durch Mittel verlängern, die wenig mit der Qualität der Argumente zu tun haben. Je größer der Druck, der ausgeübt wird, iini das Dogma aufrechtzuerhalten, desto weniger wird es wahrscheinlich die Bedürfnisse eines kritischen Verstandsbefriedigen. Wenn die Hegemonie des Dogmas schließlich beendet ist, haben die Menschen das Gefühl, sie seien von schrecklicher Unterdrückung befreit worden. Dem Blick eröffnen sich breit gefächerte neue Sichtweisen; die Vielfalt der Chancen
  875. generiert Hoffnung, Enthusiasmus und eine ausgeprägte intellektuelle Aktivität.
  876. Es ist offensichtlich, dass es der dogmatischen Denkhaltung nicht gelingt, irgendeine der Qualitäten wiederherzustellen, welche die traditionelle Denkhaltung so attraktiv gemacht haben. Die dogmatische Denkhaltung ist verschlungen, rigide und repressiv. Sicher, sie beseitigt die Ungewissheiten, welche die kritische Denkhaltung plagen, aber nur um den Preis von Bedingungen, die der menschliche Verstand intolerabel fände, wenn er wüsste, dass es andere Alternativen gibt.
  877. So wie eine Doktrin, die auf einer
  878. übermenschlichen Autorität basiert, eine Zuflucht vor den Schwächen der kritischen Denkhaltung bietet, kann die kritische Denkhaltung denjenigen als Rettung erscheinen, die unter der Unterdrückung durch ein Dogma leiden.
  879. Die geschlossene Gesellschaft
  880. Die organische Gesellschaft bietet dem Betrachter einige sehr attraktive Merkmale: eine konkrete gesellschaftliche Geschlossenheit, eine unzweifelhafte Zugehörigkeit und die Identifikation eines jeden Mitglieds mit dem Kollektiv. Die Mitglieder einer organischen Gesellschaft würden dies allerdings kaum als einen Vorteil
  881. betrachten. In ihrer Ignoranz erkennen sie nicht, dass sich die Beziehungen auch ganz anders darstellen könnten. Nur diejenigen, die sich des Konflikts zwischen dem Individuum und dem gesellschaftlichen Ganzen in ihrer eigenen Gesellschaft bewusst sind, werden die organische Geschlossenheit als ein erstrebenswertes Ziel betrachten. In anderen Worten: Die Vorteile einer organischen Gesellschaft werden dann am meisten geschätzt, wenn die Bedingungen zu ihrer Exis tenz bereits nicht mehr gegeben sind,Es ist kaum eine Überraschung, dass die Menschheit im Verlauf der gesamten Geschichte den intensiven Wunsch nach Rückkehr zum ursprünglichen Zustand
  882. der Unschuld und Glückseligkeit verspürt hat. Die Vertreibung aus dem Garten Eden ist ein wiederkehrendes Thema. Aber die verlorene Unschuld lässt sich nicht wiedergewinnen - außer vielleicht, indem man alle gemachten Erfahrungen vergisst. Bei jedem Versuch, die Bedingungen einer organischen Gesellschaft künstlich zu schaffen, ist es genau die unzweifelhafte und fraglos akzeptierte Identifikation aller Mtglieder mit der Gesellschaft, der sie angehören, die am schwierigsten herzustellen ist. Um die organische Einheit wiederherzustellen, ist es notwendig, die Vormachtstellung des Kollektivs zu proklamieren. Das Ergebnis wird sich von einer
  883. organischen Gesellschaft jedoch in einem zentralen Aspekt unterscheiden: Die individuellen Interessen werden mit denen des Kollektivs nicht identisch sein, sondern sie werden ihnen untergeordnet.
  884. Die Unterscheidung zwischen persönlichen und öffentlichen Interessen wirft die unbequeme Frage auf, was das öffendiche Interesse eigendich ist. Es muss definiert, interpretiert und - falls notwendig - gegen mit ihm im Konflikt stehende persönliche Interessen durchgesetzt werden. Diese Aufgabe kann am besten von einem Herrscher als natürlicher Person übernommen werden, der seine Politik den Umständen
  885. anpassen kann. Wenn diese Aufgabe einer Institution anvertraut wird, besteht die Gefahr, dass sie schwerfällig, unflexibel und letzdich ineffektiv ausgeführt wird. Die Institution wird zwar bestrebt sein, Veränderungen zu verhindern, aber langfristig ist sie aufgrund ihrer Funktionsweise zum Scheitern verurteilt.Unabhängig davon, wie das kollektive Interesse theoretisch definiert wird, wird es in der Praxis wahrscheinlich die Interessen der Regierenden widerspiegeln. Denn diese proklamieren die Überlegenheit des gesellschaftlichen Ganzen, und sie zwingen widerspenstigen Individuen ihren Willen auf. Die Regierenden sind es, die davon profitieren, es sei denn,
  886. man unterstelle ihnen völlige Selbstlosigkeit. Zwar bedienen sie nicht un- bedingl ihre egoistischen Interessen als Individuen, aber als gesellschafdi- che Klasse profitieren sie auf alle Fälle von dem bestehenden System. Per Definition sind sie die herrschende Klasse. Die die Klassenzugehörigkeit klar definiert ist, ergibt sich daraus ein hierarchisches Klassensystem. Geschlossene Gesellschaften können daher als Gesellschaften beschrieben werden, die auf der Ausbeutung der Klassen beruhen. Ausbeutung mag auch in einer offenen Gesellschaft auftreten, aber da die Stellung des Individuums nicht fixiert ist, funktioniert die Gesellschaft nicht auf Basis von
  887. Klassen. Die Ausbeutung der Klassen im marxistischen Sinne gibt es nur in einer geschlossenen Gesellschaft. Marx leistete mit der Entwicklung dieses Konzepts einen wertvollen Beitrag, so wie Menenius Agrippa, als er die Gesellschaft mit einem Organismus verglich. Beide wandten ihre Konzepte jedoch auf die falsche Gesellschaftsform an.
  888. Wenn das erklärte Ziel einer geschlossenen Gesellschaft darin besteht, die Vorherrschaft einer Klasse (beziehungsweise Rasse oder Gruppe) zu sichern, mag sie dieses Ziel durchaus effektiv erfüllen. Aber wenn es ihr Ziel ist, die idyllischen Bedingungen einer
  889. organischen Gesellschaft wiederherzustellen, muss sie scheitern. Zwischen dem Ideal der gesellschaftlichen Einheit und der Realität der Klassenausbeutung klafft eine Lücke. Um diese Lücke zu schließen, bedarf es eines ausgefeilten Erklärungskatalogs, der schon definitionsgemäß im Widerspruch zu den Fakten steht.
  890. Die universelle Akzeptanz der Ideologie durch die Mitglieder der Gesellschaft zu erreichen, ist die Hauptaufgabe der herrschenden Regierung und das Kriterium, an dem sich ihr Erfolg bemisst. Je breiter die Akzeptanz der Ideologie, desto geringer der Konflikt
  891. zwischen dem kollektiven Interesse und der tatsächlich verfolgten Politik, und umgekehrt. Bestenfalls gelingt es einem autoritären System, sich der Wiederherstellung der ruhigen Harmonie einer organischen Gesellschaft anzunähern. Meistens lässt sich das nicht ohne einen gewissen Zwang erreichen. Zu dessen Rechtfertigung sind äußerst verschlungene Argumente nötig, die der Ideologie ihre Überzeugungskraft rauben. Das wiederum erfordert noch mehr Ausübung von Druck, bis das System schlimmstenfalls auf Unterdrückung basiert und seine Ideologie jeglichen Bezug zur Realität verliert.
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